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Drittes Kapitel.

Der Sohn des Malers

Wir wollen Herrn Roquet seiner Gesellschaft nachlaufen lassen und zu Rosa Maria zurückkehren, so heißt nämlich das reizende Kind, welchem wir im Walde begegnet sind.

Nachdem das junge Mädchen den Herrn mit der Brille, dessen Manieren ihr sehr unschicklich zu scheinen anfingen, verlassen hatte, schlug sie, allem Anscheine nach mit den Waldwegen sehr bekannt, einen schmalen, kaum in dem Dickicht des Gehölzes bemerkbaren Pfad ein, und schritt in demselben ohne Zagen, ja ohne nur vor sich hin zu blicken, fort, wie Jemand, der seines Weges vollkommen sicher ist.

Nach fünf Minuten, während welchen sie sich öfters bückte, um den Strauß zu vergrößern, den sie in der Hand hatte, befand sich das junge Mädchen auch in der That außerhalb des Gehölzes in einer großen Lichtung; vor ihr ragten schwarze steile Felsen empor, und zu ihren Füßen lagen untereinander zusammengehäufte Sandblöcke, die zum Theil schon zu Pflastersteinen bearbeitet und behauen waren; auf der einen Seite erhoben sich stolze Buchen, die bis zum Himmel hinan zu ragen schienen, während gegenüber andere vom Blitze getroffene zu Boden gestreckt da lagen. Dieser Theil des Waldes gewährte einen wilden majestätischen Anblick, der Personen, welche nicht daran gewöhnt waren, Achtung und ein gewisses Entsetzen einflößen mußte.

Allein Rosa-Maria setzte ihren sorglosen Gang fort; ihre Blicke spähten nach allen Richtungen, bald aber blieben sie auf einem jungen Manne haften, der in einer kleinen Künstlerblouse und mit im Winde flatternden Haaren, am Fuße einer alten Eiche saß, eine kleine auf einem Pulte liegende viereckige Leinwand vor sich und eine Farbenschachtel neben sich hatte. Der junge Mann malte oder machte vielmehr Studien, wie die Maler sagen. In diesem Augenblicke zeichnete er die malerische Ansicht der vor ihm befindlichen Felsen ab, und ganz in seine Arbeit vertieft, hat er das junge Mädchen nicht kommen hören, welches seit einer Weile hinter ihm steht, und ihm, ohne sich zu rühren, fast ohne zu athmen, damit er ihre Anwesenheit nicht ahne, zusteht.

Plötzlich reißt sie aber das Gefühl der Bewunderung hin und sie ruft aus: »O, wie schön das ist!«

Der Maler kehrt sich augenblicklich um und entgegnet, mit einem zärtlichen Blicke auf die Jungfrau: »Wie, Sie waren da, ohne daß ich es wußte? Ach, das ist recht böse von Ihnen!« – Warum? ... was that ich denn Böses hinter Ihnen? – »Sie beraubten mich des Glückes, Sie zu sehen und Ihre Gegenwart zu genießen, und dieses Glück ist von so kurzer Dauer, es verschwindet so schnell, daß ich karg damit sein muß.«

Rosa Maria erröthet, schlägt die Augen nieder und stammelt: »Herr Leopold, Sie vergessen immer unser Uebereinkommen und Ihr Versprechen ... Ich thue vielleicht, was ich nicht thun sollte, indem ich alle Tage komme, um Sie in diesem Walde malen zu sehen, denn es sind erst drei Wochen, daß ich Sie kenne ... ich bin Ihnen zufällig hier begegnet ... Sie waren gerade wie gegenwärtig mit Zeichnen beschäftigt, ich näherte mich Ihnen, um zu sehen, denn ich bin ein wenig neugierig. Sie sagten aber, es genire Sie durchaus nicht, wenn man Ihnen zusehe, und ich fand Ihre Arbeit so hübsch, so gut gemacht, daß Sie die Gefälligkeit hatten, mir zu sagen, Sie würden einige Zeit hier malen, und ich könne, wenn es mir Vergnügen mache, so oft ich wolle, kommen und Ihnen zusehen. Somit bin ich wieder gekommen ... Ach, das ist ein schönes Talent, die Schöpfungen der Natur so auf der Leinwand wiederzugeben!« – Ja, reizende Rosa, so haben wir Bekanntschaft mit einander gemacht, und ich preise den Zufall, der Ihre Schritte, während ich arbeitete, hierher gelenkt hat. In allem Diesem liegt aber, so viel mir scheint, kein Unrecht, und ich sehe nicht ein, welchen Vorwurf Sie sich machen könnten. – »O! entschuldigen Sie, weil ich vielleicht immer hinter Ihnen hätte bleiben sollen, so wie jetzt! Aber eines Tages baten Sie mich, mich Ihrer Leinwand gerade gegenüber zu setzen. Ich glaubte zuerst, die Sonne genire Sie, und es geschehe, um Sie davor zu schützen; ich setzte mich auf einen Baumstamm und rührte mich nicht, aber da nahmen Sie eine andere Leinwand, und als ich sehen wollte, was Sie machten, verbargen Sie dieselbe schnell. Dann am folgenden Tage ersuchten Sie mich wieder, mich vor Sie hinzusetzen; ich willigte ein, obgleich keine Sonne schien, aber nur unter der Bedingung, daß Sie mir zeigen würden, was Sie auf der andern Leinwand machten.« – Nun, ich habe es Ihnen gezeigt, Rosa! – »Ja, und ich war ganz erstaunt, denn ich war es selbst, das heißt mein Bild ... hier auf diesem Baumstamme, in meinem einfachen Anzuge sitzend, und doch schon so ähnlich ... das heißt ... nein, ich bin nicht so hübsch, als Sie mich gemacht haben! ...« – Sie sind noch hundertmal hübscher, liebenswürdige Rosa, denn das Bild kann nie alle die Empfindungen, alle die anmuthigen Gefühle ausdrücken, die mit jedem Augenblicke Ihre Züge beleben. Ich kann wohl ein Lächeln anbringen, einen Blick ... aber ich kann nicht alle die reizenden Schätzungen darstellen, die pfeilschnell über Ihr bewegliches Antlitz hingleiten, und aus Ihren zugleich milden und freundlichen Augen strahlen, kurz, die Schuld sind, daß man Sie nicht sehen kann, ohne ... – »Ach! Herr Leopold, Sie vergessen abermals Ihre Zusagen! Als Sie letzthin schon einmal Worte zu mir sprachen, die ein braves junges Mädchen nicht anhören soll, wollte ich gehen, und ich wäre nicht wieder gekommen, wenn Sie mir nicht versprochen, sogar geschworen hätten ... ja ich glaube, Sie haben mir geschworen ... daß Sie in Zukunft keine solche Dinge mehr an mich hinreden wollten; allein von Zeit zu Zeit fangen Sie immer wieder an, und ich komme doch immer wieder. Sie sehen also, daß ich Grund habe, Ihnen Vorwürfe zu machen, und was würde mein Vater sagen, mein Vater, der so gut ist und soviel Vertrauen in mich setzt, was würde er sagen, wenn er erführe, daß ich mich von einem Herrn malen lasse, den ich beinahe nicht kenne?«

Der junge Maler legte seinen Pinsel und sein Farbenbrett auf den Rasen nieder, kehrte sich dann gegen Rosa-Maria und erwiderte ihr in ernstem, beinahe feierlichem Tone: »Ich habe Ihnen meinen Namen gesagt, Fräulein, und Sie kennen meine Beschäftigung; ich wollte, Sie wären im Stande, sich zu überzeugen, daß ich Sie nie auf irgend eine Weise zu täuschen beabsichtige. Ich will Ihnen in wenigen Worten die Geschichte meiner Familie mittheilen, denn es ist mir von Wichtigkeit, nicht als ein Fremder oder Unbekannter von Ihnen angesehen zu werden. Ich heiße Leopold Bercourt; mein Vater war Genremaler und besaß hinlänglich Talent, um sich einen gewissen Wohlstand zu schaffen; er hatte sich sehr jung mit einem Frauenzimmer verheirathet, das er zärtlich liebte, das ihm jedoch kein Vermögen zugebracht hatte; er gehörte indeß zu der geringen Anzahl Menschen, welche glauben, die Liebe und ein rechtschaffenes Betragen seien hinreichend, um glücklich zu sein, und er war es auch in der That in dem Schooße seines häuslichen Lebens. Meine Mutter liebte ihn so innig; sie hatte dieselben Neigungen, dieselben Gefühle wie er; es schien, als ob ein Geist, ein Herz die beiden Gatten beseele, denn oft geschah es, daß Beide im nämlichen Augenblicke denselben Gedanken, denselben Wunsch aussprachen und dieselben Betrachtungen über Etwas anstellten. Und während zwanzig Jahren hatten sie sich nie getrennt, war kein Tag ganz vergangen, ohne daß sie sich gesehen hätten. Ach, Fräulein, es ist eine schöne Sache um eine glückliche Ehe! Es ist das wahrhaftigste Glück, welches den Menschen hienieden gewährt ist, und daß es so viele Leute gibt, welche dieses Verhältniß ins Lächerliche ziehen, oder sich stellen, als glaubten sie, es erzeuge nur Langeweile und Reue, kommt nur daher, weil sie, gleich dem Fuchse in der Fabel, nie dazu gelangten, diese Glückseligkeit die sie so leichtsinnig geringschätzen, kennen zu lernen oder ihrer werth zu sein.«

Rosa-Maria, welche sich auf dem Rasen niedergelassen hatte, um dem jungen Künstler zuzuhören, rückte näher zu ihm und rief aus: »Sie sprechen wie mein Vater, auch er war glücklich in seiner Ehe; nur dauerte sie nicht lange! ... Fahren Sie fort, Herr Leopold!«

»Ein Sohn und eine Tochter erhöhten noch das Glück meiner Eltern, denn sie liebten sich Beide zu sehr, um nicht auch Pfänder ihrer Zärtlichkeit zu wünschen. Wer hat überhaupt keine Freude an Kindern? Koketten und Egoisten. Meine Eltern waren weder das eine noch das andere. Ich wurde acht Jahre vor meiner Schwester geboren; noch vor zwei Jahren, ich war damals einundzwanzig und meine Schwester dreizehn Jahre alt, waren wir vollkommen glücklich. Meine Mutter schien mit ihrer Lebhaftigkeit, Heiterkeit und Liebenswürdigkeit immer jung; sie war ihrem Gatten eine Geliebte, ihren Kindern eine Schwester. Obgleich sie empfindsam und feinfühlend war, wußte sie doch durch ein geistreiches Wort oder einen pikanten Einfall alle Gesellschaften zu beleben und aufzuheitern. Meine zarte niedliche Schwester wuchs unter den Augen meiner Mutter auf, die auch zu Denen gehörte, welche nicht begreifen, wie man Fremde mit der Bildung des Herzens, Charakters und Geistes der eigenen Tochter beauftragen könne, als ob eine Mutter nicht von Natur die beste Erzieherin wäre. Ein junges Mädchen mag allerdings hinsichtlich der Kenntnisse Etwas verlieren, aber gewiß wird sie dadurch an Eigenschaften des Herzens gewinnen. Und wenn man sich erst die Mühe geben möchte, nachzuforschen was denn eigentlich die zu Damen herangewachsenen Fräulein später noch von den um theures Geld in ihren Pensionen erworbenen Kenntnissen im Kopfe behalten haben? Nun, Einige derselben, fünf bis sechs Worte Italienisch oder Englisch, die sie schlecht aussprechen, und womit ich ihnen nicht rathen möchte, sich im Auslande hören zu lassen; Andere, einige Begriffe von Geographie, von alter und neuer Geschichte, die sie gewöhnlich mit einander verwechseln und am ungelegenen Orte citiren; wieder Andere das Talent, ein Profil, einen Kopf, eine Skizze zu zeichnen, was sie aber im Leben gänzlich vernachlässigen. Ich frage Sie noch einmal, lohnt es sich deßhalb der Mühe, sich der Liebkosungen und Küsse seiner Tochter zu berauben? Ach, entschuldigen Sie, Fräulein Rosa, ich lasse meinem Geplauder den Lauf; ich bin ein Schwätzer, nicht wahr?«

»Sprechen Sie immerhin, Herr Leopold. O, es langweilt mich gar nicht, Ihnen zuzuhören, im Gegentheil!«

»Ich wollte auch Maler werden und besuchte daher die Schule eines berühmten Meisters. Ich ging in die Akademie, und um ungestörter zu arbeiten, um aus- und einzugehen, ohne meine Eltern zu stören, vielleicht auch um jene Freiheit zu genießen, nach welcher die jungen Leute so eifrig trachten und dann das höchste Glück erreicht zu haben glauben ... hatte ich mir eine eigene, kleine Wohnung gemiethet; aber ich speiste fast alle Tage bei meinen Eltern, die es übrigens ganz natürlich gefunden hatten, daß ich im einundzwanzigsten Jahre und mit den Neigungen eines Künstlers mein eigener Herr sein wollte. Verzeihen Sie, daß ich mich bei diesen häuslichen Details und jenem Zeitraum meines Lebens so lange aufhalte, aber es war für mich der schönste, und ich glaubte nicht, daß irgend Etwas mein Glück und die Familienfreuden stören könnte, die ich stets im Kreise der Meinigen empfand. Ich wußte nicht, daß, wenn man am glücklichsten ist ... man am meisten vor den Schlägen des Schicksals sich fürchten und zittern sollte. Allein Niemand denkt daran ... so hat es die Vorsehung gewollt! ... denn wenn wir die Macht hätten, in die Zukunft zu blicken, so würden wir die Gegenwart niemals genießen.

»Meine Eltern liebten das Land. Die reine Luft der freien Natur that meiner Mutter gut, welche ohne gerade leidend oder kränklich zu sein, doch oft über Beengung und kurzen Athem klagte, was aber bei einer so schlanken und beweglichen Frau, deren Lebhaftigkeit beinahe in Ungestüm überging, keine ernstlichen Besorgnisse erregte; überdies vergaß meine Mutter ein Unwohlsein oder ein Leiden ebenso schnell, als sie sich davon in Schrecken setzen ließ. Die Aerzte gaben alle ihre Leiden den Nerven Schuld. Ihre Beklemmungen waren nervös; fühlte sie Anwandlungen von Schwäche, daß sie beinahe zu Boden sank, so war das nervös; bekam sie manchmal heftige Kopfschmerzen, so war das abermals nervös. Und zum Unglück gehören die Nervenleiden zu denjenigen, die man am wenigsten versteht, und wegen deren Heilung man einen fast immer auf die Zeit vertröstet. Auch zu meiner Mutter sagte man: es ist nicht gefährlich; es wird vorübergehen.

»Mein Vater hatte ein kleines Landhaus in St. Mandé gemiethet. Ich ging oft hin, blieb aber nicht jede Nacht dort. Was meinen Vater betrifft, so schlief dieser selten ohne seine Frau in Paris, nur bisweilen, wenn ihn ein neues Stück oder Geschäfte lange in der Stadt zurückhielten, war meine Mutter die Erste, welche ihm rieth, dort über Nacht zu bleiben, weil sie befürchtete, es möchte ihm Etwas zustoßen, wenn er so spät nach St. Mandé zurückkehrte, und mein Vater ließ dann beruhigt seine Frau und seine Tochter mit ihrer Bonne in seiner Landwohnung, weil diese von Häusern und zahlreichen Nachbarn umgeben war.

»Vor nun bald zwei Jahren, im Monat September, gegen das Ende der schönen Jahreszeit, befand ich mich in Paris und hatte meine Eltern seit zwei Tagen nicht gesehen. Mein Vater, nachdem er mit seiner Frau und seiner Tochter zu Mittag gespeist, erinnerte sich, daß er für den Abend eine Einladung nach Paris erhalten hatte; er fühlte sich jedoch an diesem Tage nicht aufgelegt, von seiner Ordnung abzuweichen und seine Familie zu verlassen; allein meine Mutter, in der Voraussetzung, er werde sich in der Gesellschaft, zu der er gebeten war, gut unterhalten, und stets befürchtend, er möchte sich ihretwillen ein Vergnügen versagen, drang unablässig in ihn, doch hinzugehen. Mein Vater entschloß sich endlich dazu, und sollte demgemäß in Paris übernachten, weil die Gesellschaft, die er besuchte, voraussichtlich etwas lange dauern werde. Er küßte seine Frau und seine Tochter und verließ sie heiter, ein Liedchen vor sich hintrillernd, wie dieses seine Gewohnheit war, und kehrte nach einem mit Künstlern und Freunden angenehm verlebten Abend um halb ein Uhr nach seiner Wohnung in Paris zurück, wo er alsbald zu Bette ging und ruhig einschlief ... Ach, Fräulein! man soll deßhalb nicht sagen, man habe stets Ahnungen.

»Gegen zwei Uhr Morgens wurde mein Vater durch ein heftiges Läuten aufgeweckt; er steht hastig auf und besinnt sich, ob er nicht träume. Allein es ist ihm bereits bange, er empfindet eine tödtliche Unruhe, denn er ist entfernt von seiner Frau und seinen Kindern, und um ihn mitten in der Nacht aufzuwecken, muß einem derselben ein Unfall zugestoßen sein. Er macht auf und der Portier sagt zu ihm: »›Es ist Jemand da von St. Mandé, der Sie holen will ... ein Nachbar ... Es scheint, daß Ihre Frau Gemahlin krank ist.‹«

»Mein Vater geht kaum bekleidet hinunter, erblickt einen Nachbar aus dem Dorfe, einen braven Landmann, dessen Haus an das unserige stößt, und dieser sagt zu ihm: »›Ihre Jungfer Tochter hat an meine Thüre geklopft und mir gesagt: ihre Mutter sei sehr krank und mich gebeten, Sie unverzüglich zu holen. Drauf habe ich mich schnell angezogen und bin so geschwind ich konnte von St. Mandé hierher gerannt.‹«

»Mein Vater nimmt sich nicht die Zeit, dem Nachbar zu danken; in wenigen Minuten hat er sich angekleidet und geht mit ihm fort. Vor dem Hause fällt ihm ein, daß sein Arzt nur ein paar Schritte davon weg wohne, und er hält es für gerathen, ihn auf der Stelle mitzunehmen. Er läuft zu dem Doktor, weckt ihn auf und sagt ihm, daß er mitgehen müsse. Dieser steht sogleich auf, ist in wenigen Augenblicken fertig, kommt zu meinem Vater herunter, und alle Drei machen sich auf den Weg. Durch Zufall stoßen sie auf ein leeres Cabriolet, steigen ein, der Kutscher setzt sich auf das Spritzleder und so fährt man fort.

»›Dem Himmel sei Dank! wir werden bald ankommen!‹« rief mein Vater aus, und der Doktor, welcher seine Befürchtungen nicht theilte, antwortete: »›Es ist ohne Zweifel irgend eine nervöse Krisis, wie sie Ihre Frau Gemahlin öfters hat. Ihre Fräulein Tochter wird nur, weil sie Niemand als die Bonne bei sich hat, um der Mutter Hülfe zu leisten, erschrocken sein und gedacht haben, man müsse Sie holen; das Alles darf Sie aber nicht beunruhigen. War sie gestern schon krank?‹«

»›Durchaus nicht, Herr Doktor, ich habe gestern mit ihr zu Mittag gegessen und bin erst um sieben Uhr Abends nach Paris gegangen, wo ich sie heiter und gesund verließ; sie klagte über gar nichts.‹«

»›Ich wiederhole Ihnen, es kann nicht gefährlich sein; aber nervöse Personen scheinen im Augenblick tödtlich krank; wenn wir ankommen, ist es vielleicht vorbei und Ihre Frau Gemahlin wird dann bedauern, daß man Sie in Angst versetzt hat.‹«

»Endlich langten sie vor unserem Hause an, welches an der Chaussee stand. Mein Vater läutet; bald darauf öffnet ihm seine Tochter in Begleitung der Bonne.

»›Nun! wie geht es Deiner Mutter?‹« fragt mein Vater.

»›Ich glaube etwas besser; sie schläft in diesem Augenblicke,‹« antwortet meine Schwester, noch ganz blaß und zitternd in Folge der erlittenen Gemüthsbewegung.

»Mein Vater athmet wieder auf. Er geht mit großen Schritten durch den Hausgang die Treppe hinauf und der Arzt folgt ihm, wiederholend: »›Ich sagte es Ihnen ja! es war nur ein nervöser Anfall und man hätte Sie nicht so erschrecken sollen.‹«

»Endlich kommen sie oben an und treten in das Zimmer meiner Mutter. Sie lag auf dem Rücken ausgestreckt mit halbgeschlossenen Augen auf dem Bette. Mein Vater ist bestürzt über die leichenfarbige Blässe ihres Angesichts, und der Doktor murmelt die schrecklichen Worte: »›O mein Gott! das ist kein Schlaf!‹«

»Mein Vater glaubt ihn zu verstehen, will aber weder an die Wahrheit noch an die Möglichkeit des Todes glauben. Der Arzt will ihn entfernen, ihn aus dem Zimmer wegführen.

»Nein, nein, ich entferne mich nicht!« ruft er, seine Frau in die Arme schließend, aus, drückt ihren Kopf an seine Brust und ruft die Theure laut bei ihrem Namen: »›Nein! ich verlasse sie nicht ... O, sie kann nicht todt sein! ... Sehen Sie, mein Herr, ihre Arme, ihre Hände sind noch warm, ihre Augen glänzen noch; es ist wahrscheinlich nur eine Ohnmacht. O, Herr Doktor, sie lebt ... man kann nicht so sterben! Helfen Sie ihr, helfen Sie ihr schnell! ... es muß noch Zeit sein!‹«

»Der Arzt wußte den Tod zu genau zu unterscheiden, als daß er sich hätte täuschen können. Indeß beeilte er sich, Alles zu thun, was die Wissenschaft kennt, um Diejenigen wieder ins Leben zu rufen, bei denen es noch nicht ganz erloschen ist. Während er verschiedene Mittel anwendete, hielt mein Vater den Kopf seiner Frau in den Händen, betastete ihre Wangen und ihre Stirne; er bat sie flehentlich, noch einmal mit ihm zu sprechen ... und in dem Nebenzimmer saß meine arme Schwester, von dem Dienstmädchen unterstützt, auf ihrem Bette, weinte und flehte zum Himmel, er möchte ihr die Mutter erhalten; denn sie konnte gleichfalls nicht an den Tod derselben glauben!

»Sie weinen, Fräulein ... Ach, entschuldigen Sie, ich halte inne, denn auch ich muß weinen!«

Einige Augenblicke darauf fuhr der junge Maler in seiner Erzählung wieder fort: »Meine Mutter war gestorben, Fräulein, und zwar in wenigen Stunden; sie war nach Mitternacht mit entsetzlichen Kopfschmerzen erwacht, und ihre arme Tochter hatte auf jede Weise versucht, ihr Linderung zu verschaffen, indem sie ihr Alles reichte, was sie sonst in ähnlichen Fällen zu sich genommen hatte; sie war fern von ihrem Gatten und ihrem Sohne gestorben! ... ohne diese zu küssen und ihnen Lebewohl sagen zu können! Ach, Fräulein, man sagt: ein plötzlicher Tod sei süß für Diejenigen, welche er treffe, weil sie keine Zeit haben, ihn vorauszusehen oder zu fürchten. Aber wie grausam ist er für die, welche uns lieben und welche wir zurücklassen; für die, welche ihr Glück für gesichert haltend, dasselbe genossen, ohne es vielleicht gehörig zu schätzen! Ein solcher Schlag ist fürchterlich, denn Nichts hat uns auf ihn vorbereitet. Nichts uns die Vergänglichkeit unseres Glückes ahnen lassen! Wenn Einen der Blitz trifft, so hat man doch wenigstens sich die Wolken anhäufen gesehen, den Donner rollen gehört und ein Vorgefühl der drohenden Gefahr gehabt. Aber seine Frau oder seine Mutter gesund verlassen und einige Stunden darauf todt finden ... ihren letzten Seufzer, ihre letzten Worte nicht hören, o, sehen Sie, das ist schrecklich und das sind Schmerzen, die man nie vergißt! Ich weiß wohl, daß die Zeit alle Leiden mildert, denn wenn das nicht der Fall wäre, würden wir mit Denen, welche wir lieben, unterliegen. Aber ich sage es noch einmal, selbst die Zeit ist nicht im Stande, das Bittere unseres Kummers zu vertilgen, wenn wir uns an den Verlust eines theuern Gegenstandes erinnern, der von so grausamen Umständen begleitet war.

»Welche Nacht, mein Gott! welche Nacht für meinen Vater und meine arme Schwester, die noch so zart, so kindlich war, aber deren Herz den ganzen Umfang ihres erlittenen Verlustes begriff! Und doch war dieses junge, trostlose Geschöpf stark genug, den eigenen Schmerz zu bemeistern, um den ihres Vaters zu lindern. Wenn sie ihn schluchzen hörte, eilte sie in seine Arme und sagte: »›Unsere Mutter sieht immer auf uns herab; sie verlangt, daß Du Muth habest und Dich Deinen Kindern erhaltest.‹«

»Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie groß meine Verzweiflung war, als ich von einem Freunde benachrichtigt, ich solle nach St. Mandé kommen, dort die unheilvolle Nachricht erfuhr. Gleich meinem Vater wollte ich nicht daran glauben. Ich küßte mit ihm die theure Verblichene. Ihr liebenswürdiges, schönes Gesicht war noch unverändert; sie war nur blaß. Mein Vater, der sich erinnerte, daß schon oft eine tiefe Ohnmacht für Tod gehalten wurde, versuchte einmal um das andere, Diejenige zu beleben, die er anbetete, und von der er sich zu trennen nicht entschließen konnte, selbst als sie bereits aufgehört hatte zu sein! Und es gibt Leute, welche sich schnell von dem Gegenstand ihrer Neigung entfernen, wenn ihn der Tod getroffen hat! Diese müssen sehr wenig Muth oder vielmehr sehr wenig Liebe besessen haben!

»Ich will Ihnen den Schmerz meines Vaters, welcher in wenigen Stunden seine Lebensgefährtin verloren hatte, nicht schildern. Er hatte zwanzig Jahre, zwanzig der schönsten Jahre erfüllt von Herzensgenüssen und all' den Wechselfällen, die uns treffen, ehe wir zu Glück und Ruhm gelangen, mit ihr zugebracht. Ach! das ist ein ganzer Lebenslauf, den man nicht von Neuem anfangen kann! Aber es blieben ihm zwei Kinder und besonders eine noch so junge, so wackere Tochter übrig, die ihre Mutter von ganzer Seele geliebt hatte!

»Jetzt, wo mehr als zwei Jahre seit diesem Ereigniß verflossen sind, hat sich unser Gram in Wehmuth verwandelt. Wir sprechen oft von meiner Mutter, denn statt daß wir unsern Schmerz dadurch erneuern, scheint er sich im Gegentheil dadurch zu lindern. Und mein Vater wiederholt dann oft eine sehr wahre Behauptung: Wenn wir einen unserer Bekannten durch den Tod verlieren, so nehmen wir die Nachricht davon vielleicht mit Betrübniß auf, betrachten es aber als eines derjenigen Ereignisse, die kommen müssen und in der Ordnung der Natur liegen; verlieren wir aber einen angebeteten Gegenstand, so ist es uns unmöglich, an unser Unglück zu glauben, und es scheint uns, als ob ein solches Ereigniß nie eintreten dürfte.

»Das ist die Geschichte meiner Familie, liebenswürdige Rosa; meine Erzählung hat Sie Thränen gekostet, aber ich kann mich nicht kurz fassen, wenn ich von Der spreche, die ich so sehr liebte. Nun muß ich Ihnen auch bekennen, daß der Tod meiner Mutter meinen Charakter plötzlich verändert hat. Die Tollheiten und Lustpartien junger Leute, die früher mein Glück ausmachten, freuen mich nicht mehr. Ich habe mich mit größerem Eifer dem Studium hingegeben; der Wunsch, Talent zu erwerben, ist in mir rege geworden. Es ist mir, als ob die Theure, die nicht mehr unter uns weilt, von oben herab meinem Treiben zusehe, mich aufmuntere und meinen Erfolgen Beifall zulächle. Und außerdem muß ich meinen Vater trösten, meine Schwester beschützen. Zu diesem Zwecke muß ich mir einen Namen machen und durch mein Talent eine edle Unabhängigkeit verschaffen. O, es wird mir gelingen, ich hoffe es! ... ich fühle es an dem Eifer, der mich beseelt?«

Die Augen des jungen Künstlers glänzten, seine Stirne schien zu strahlen und eines Kranzes zu harren. In diesem Augenblick sah er das hübsche, unbeweglich vor ihm sitzende Mädchen nicht mehr; die Liebe zu seiner Kunst beschäftigte ihn ausschließlich. Doch bald kehrten andere Gefühle in ihm zurück; er lächelte Rosa-Maria zu und sprach: »Nun bin ich kein Fremdling mehr für Sie. Sind Sie böse, daß Sie mich Ihr Bild malen ließen?«

– Nein! aber was wollen Sie damit machen? – »Ich behalte es für mich und bewahre es auf. Es ist mir doppelt theuer; erstens: weil es ein Versuch ist, der mir weit besser gelang, als ich voraussetzte, und dann, weil es Ihre Züge sind; es wird mich sehr glücklich machen, das Bild zu betrachten, wenn ich Sie nicht mehr sehen kann.« – Gehen Sie bald nach Paris zurück?

– »Heute Abend, Fräulein, heute Abend noch.«

Rosa-Maria erbleichte, wendete sich ab und stammelte: »Warum denn so schnell? Gestern gedachten Sie doch erst in fünf bis sechs Tagen zurückzukehren.« – Weil ich heute Morgen einen Brief von meinem Vater erhalten habe. Er verlangt mich wiederzusehen, er ist etwas unpäßlich – »O! Sie haben Recht, Herr Leopold, da müssen Sie sogleich gehen. Somit sehen wir uns heute zum letztenmal!« – Wenn ich das denken müßte, wäre ich zu unglücklich, Fräulein. O! ich komme bald, so bald als möglich Wieder. Jetzt, wo es Eisenbahnen gibt, ist es eine Kleinigkeit.

– »Ja, aber ... ich werde nicht immer im Walde sein. Ich bin seit einigen Tagen bloß deßhalb hergekommen, weil ich bei einer Dame unserer Bekanntschaft, welche in Fontainebleau wohnt, arbeitete. Sie hatte Hemden zu machen, und da ich gut mit Weißzeug umgehen und fein nähen kann, hatte sie meinen Vater gebeten, mich ihr helfen zu lassen. Weil ich nun gerne spazieren gehe, eine Freude daran habe, Blumen zu pflücken und mit den Waldwegen genau bekannt bin, schweifte ich bisweilen etwas umher ... so sah ich Sie malen; es würde aber, glaube ich, besser gewesen sein, wenn ich gerade aus gegangen wäre.«

Die Stimme des jungen Mädchens hatte sich verändert; sie schlug die Augen nieder, zerknitterte ihre Schürze, biß sich in die Lippen und that ihr Möglichstes, damit der junge Maler nicht bemerke, daß sie gute Lust zu weinen hatte.

Viele jungen Leute hätten die Bewegung des hübschen Kindes benützt, um ihr einige Gunstbezeigungen zu rauben; denn wenn ein junges Mädchen lebhaft gerührt ist, hat sie sehr wenig Kraft, sich zu vertheidigen. Zum Glück für Rosa-Maria empfand der junge Maler für sie eben so viel Achtung als Liebe; er hatte diese unschuldige und naive Seele, welche seinen Versprechen Glauben schenkte, begriffen; er hätte sich geschämt, einen Gedanken zu haben, den er nicht laut hätte aussprechen dürfen. Auch war Leopold nicht mehr wie die meisten jungen Leute, welche nur an das Vergnügen denken und überall darnach jagen, wo sich eine Gelegenheit darbietet. Die Liebe zu seiner Kunst hatte seinen Gedanken und seinen Neigungen einen höhern Schwung gegeben. Jene vorübergehenden Liebschaften, die ihm im zwanzigsten Jahre so entzückend geschienen, waren jetzt ohne Reize für ihn. In der Liebe gleich wie in der Malerei suchte er das Schöne, Wahre, Natürliche, und als er mit Rosa-Maria zusammentraf, hatte ihm eine innere Stimme gesagt, daß sie alles Dieses vereine.

»Fräulein!« sagte Leopold, indem er sich der Jungfrau näherte, sie bei der Hand nahm und diese herzlich drückte: »Sie haben mir gesagt, Sie wohnen in dem Dorfe Avon; wären Sie vielleicht so gütig, mir die Adresse Ihres Herrn Vaters zu geben? Wenn ich zurückkehre, würde ich mir die Freiheit nehmen, Sie zu besuchen ... Sie erlauben mir es doch, nicht wahr? Und da Sie Ihr Vater so lieb hat, bin ich gewiß, daß er mich gut aufnehmen wird, denn Sie werden ihm sagen, daß ich mich immer achtungsvoll und ganz wie es sein soll gegen Sie betragen habe.«

»Ach, wenn Sie wieder in Paris sind, denken Sie nicht mehr an das junge Mädchen vom Fontainebleauer Wald! ... Man sagt, die jungen Leute haben gar vielerlei Unterhaltung in Paris.«

»Haben Sie die traurige Geschichte schon vergessen, die ich Ihnen erzählte? Ich versichere Sie, seit ich das Unglück hatte, meine Mutter zu verlieren, bin ich nicht mehr so leichtsinnig, so gleichgültig und flatterhaft wie früher! Vorher glich ich all' den jungen Leuten, die nur an ihr Vergnügen denken. Jetzt lebe ich besonnen und zurückgezogen ... oft zankt mich sogar mein Vater, weil er meint, ich sei es zu sehr. Ich werde Sie nicht vergessen, reizende Rosa, selbst wenn ich nicht das Glück hätte. Ihr Portrait zu besitzen. O! aber weil Sie jetzt gerade da sind, würden Sie mir den Gefallen thun, noch ein letztes Mal zu sitzen? ... nur noch ein halbes Stündchen ... wegen eines Theiles, mit dem ich nicht ganz zufrieden bin!«

Rosa-Maria verzog ihr holdes Gesichtchen ein wenig, setzte sich wie gewöhnlich auf den Baumstamm und murmelte: »Da es Ihnen Vergnügen macht und es das letzte Mal ist, will ich es nicht verweigern. Wenn Sie übrigens Etwas an meinem Gesichte verbessern wollen, so ist der Augenblick nicht gut gewählt ... ich habe rothe Augen und bin schlechter Laune.« – Nein, nein, nicht wegen des Gesichtes ... So, jetzt sitzen Sie recht ... o, es wird bald geschehen sein.«

Der junge Maler stellte das Bild des jungen Mädchens auf seine Staffelei, nahm seine Pinsel zur Hand und machte sich gleich ans Geschäft. Anfangs behielt das reizende Original seine ernste Miene, aber bald verklärte ein liebliches Lächeln Rosa's Züge, und sie fragte: »Erlauben Sie, daß ich sprechen darf?« – O! so viel Sie wollen! es wird mir nur um so lieber sein, denn Sie zu sehen und zu hören ist ein doppeltes Vergnügen für mich. – »Und es hindert Sie nicht am Malen?« – Ganz und gar nicht, und selbst wenn ich in diesem Augenblick Ihr Gesicht malte, würde es mich keineswegs geniren. Ich habe bisweilen den Sitzungen von berühmten Künstlern beigewohnt, und ich versichere Sie, diese sind durchaus nicht der Ansicht derer, welche ihren Originalen eine völlige Unbeweglichkeit anempfehlen! Im Gegentheile bringen sie solche während der ganzen Sitzung zum Sprechen, und erfassen auf diese Weise den Charakter ihrer Physiognomie, den sie durch einen Blick, ein Lächeln oder den Ausdruck einer Empfindung beurtheilen und begreifen lernen. Was erhält man dagegen, wenn man einer Person, welche man malt, vollkommene Regungslosigkeit anempfiehlt? Ein kaltes, abgespanntes, ausdrucksloses Gesicht; deßhalb hat auch das Bild nie den Reiz, das Leben und den Geist, den man ihm gerade zu geben suchen sollte. Sprechen Sie nur, Fräulein Rosa, ich höre Ihnen zu. – »Sie haben mir die Geschichte Ihrer Eltern erzählt, ich will Ihnen die der meinigen erzählen. O, sie wird kurz sein! Zunächst also heißt mein Vater Hieronynms Gogo; er hat zwei Brüder, welche natürlicher Weise meine Oheime sind, aber ich kenne sie nicht; allem Anscheine nach haben sie frühzeitig ihre Heimath verlassen; sie sind ans der Gegend von Orleans, wo ihr Vater ein einfacher Landmann war, wie der meinige. Er hatte auch eine Schwester, aber diese ist schon lange todt. Sie hat, glaube ich, einen Sohn hinterlassen, der demnach mein Vetter ist; aber ich kenne Niemand von der ganzen Familie. Sie werden bald begreifen, warum. Mein Vater ist Landmann geblieben ... Bauer, wie man in der Stadt sagt; während seine Brüder, so viel es scheint, Glück gemacht haben oder wenigstens eine große Rolle in der Welt spielen ... und sich deßhalb nicht bei uns sehen lassen.« – Wie? sind Ihre Onkel stolz ... wären sie einfältig genug, sich ihres Ursprungs zu schämen? – »Ich weiß es nicht ... ich kann darüber nichts sagen ... es ist möglich, daß sie meinen Vater immer noch lieben und bloß durch ihre Geschäfte und Angelegenheiten in Paris zurückgehalten und verhindert werden, uns zu besuchen. Alles, was ich weiß, ist, daß mein Vater sehr an ihnen hängt. Er spricht oft von seinen beiden Brüdern Eustachius und Nikolaus, und ruft dann immer aus: »Ach! wenn ich Zeit hätte, würde ich sie besuchen, sie in meine Arme schließen und Dich ihnen vorstellen.« – Und was machen Ihre Oheime in Paris? – »Was sie machen? Je nun! ihr Glück, wie es scheint?« – Das ist aber kein Geschäft; ich wollte wissen, was sie treiben. – »Was sie treiben? ... warten Sie ... Der Aelteste, Nikolaus Gogo, ist Handelsmann oder Bankier, ich weiß es so genau nicht. Dieser ist, so viel es scheint, der Reichere; der Andere, Eustachius Gogo, macht ... mein Gott! wie soll ich Ihnen das erklären ... macht seinen Geist zu Geld; ... er muß viel besitzen, weil er davon verkauft.« – Er verkauft Geist ... das verstehe ich nicht recht, Sie müßten denn sagen wollen: er handle mit Liqueurs. – »Nein, das meine ich nicht; sehen Sie, er schreibt Sachen, die gelesen werden und macht Werke, die man in den Schauspielhäusern aufführt.« – Ah! nun verstehe ich; dieser ist ein Dichter oder Gelehrter. – »So ist es, Herr Leopold, er ist ein Gelehrter ... ja ... Nicht wahr, man muß sehr viel Geist haben, um ein Gelehrter zu werden?« – Das sollte allerdings der Fall sein, Fräulein; leider ist es aber nicht mehr so! Man hat diesen Titel gleich vielen andern entheiligt und entwürdigt! Ein Mensch, der in seinem Leben zwei Drittel eines Vaudeville's gemacht, ein paar Artikel in die Zeitungen gerückt hat oder bisweilen ein schlechtes Feuilleton zusammenflickt, dessen Gegenstand er aus andern Büchern entlehnt hat, läßt sich auch einen Gelehrten nennen, wie der Sudler, der Schilder malt, ebenfalls den Titel Maler annimmt! aber am Ende übt das Publikum immer Gerechtigkeit aus und beurtheilt einen Jeden nach seinen Werken. Ihr Herr Onkel mag übrigens allerdings ein verdienstvoller Mann sein ... Wie sagen Sie, daß er heißt? – »Nun natürlich wie mein Vater, da sie ja Brüder und Söhne eines Vaters sind. Eustachius Gogo heißt er.« – Eustachius Gogo ... das ist sonderbar! ... Ich kenne eine Masse Schriftsteller, lese viel, gehe häufig ins Theater und doch ist mir dieser Name weder zu Ohren noch zu Gesicht gekommen. – »Er ist übrigens originell unser Name. Kurz, meine Onkel sind glücklich in Paris und mein Vater, der nicht vom Ehrgeiz beseelt wurde, ist glücklich hier, wo er sein Feld bebaut. Er verheirathete sich und ließ sich mit seiner Frau in Avon, dem Geburtsorte meiner Mutter, nieder. Meine Eltern liebten sich ebenso zärtlich wie die Ihrigen und waren sehr glücklich in ihrer Ehe. Aber meine Mutter starb, ehe ich fünf Jahre alt war; ich kann mir sie nicht mehr vorstellen wie Sie sich die Ihrige; indeß ist mir doch ein unbestimmtes, undeutliches Bild in der Erinnerung geblieben, welches ich mir oft in meinen Gedanken klarer zu vergegenwärtigen suche. Es ist mir noch im Gedächtniß, daß sie mir zulächelte, daß sie schön, ihre Stimme sanft und sie immer liebevoll gegen mich war. Aus allem Diesem zusammen bilde ich mir meinen guten Engel, der über mich wacht, wenn ich schlafe, und mich schützt, wenn ich wach bin ... Ach, nicht wahr, so muß man sich seine Mutter stets vorstellen?«

Leopold malte nicht mehr; er blickte Rosa-Maria an und hörte ihr andächtig zu.

Nach einigen Minuten des Schweigens fuhr das junge Mädchen fort: »Jetzt kennen Sie uns auch. Mein Vater nennt sich Hieronymus Gogo und Jedermann im Dorfe kann Ihnen unsere Wohnung zeigen. Mein Vater ist ganz einfach, ganz schlicht, denn er hat keine Erziehung genossen, aber er ist ein rechtschaffener Mann. O! in diesem Punkte kann er es mit Jedem aufnehmen! Außerdem ist er gutmüthig und hat ein weiches Herz; bisweilen ist er zwar auch ein wenig hitzig, ein wenig ungestüm, aber nie bösartig und gehässig. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß er mich zärtlich liebt; ich bin sein einziges Kind, Alles, was ihm von der theuren Gattin übrig geblieben ist; deßhalb hat mir auch mein Vater, der mein Glück will und eine Zukunft für mich träumte, die sich wahrscheinlich nie verwirklichen wird ... eine sorgfältige Erziehung geben lassen und mich in die Schule nach Fontainebleau geschickt. Ich bin zwar nicht sehr gelehrt, aber ich kann doch ziemlich gut schreiben und rechnen, und man sagt auch, daß ich nicht zu viele Fehler beim Sprechen mache. Ich denke nun, das sei hinreichend für ein Mädchen, welches allem Anscheine nach bestimmt ist, in einem Dorfe zu leben und zu sterben. Mein Vater hat freilich andere Gedanken; er hat schon oft zu mir gesagt: »›Ich habe Unrecht gehabt, es meinen Brüdern nicht nachzumachen, den Pflug zu verlassen und mich in der Stadt zu etabliren; ich wäre vielleicht reich geworden wie sie, und Du hättest eine gute Heirath machen und glücklicher sein können.‹« – Ah! so spricht Ihr Herr Vater? – »Ja, aber ich antworte immer, daß ich durchaus ohne Ehrgeiz sei, mich recht glücklich in meiner gegenwärtigen Lage befinde und nicht für's Stadtleben tauge.« – Wie, Fräulein Rosa, würde es Ihnen unangenehm sein, in Paris zu leben? – »Ja ... das heißt ... noch vor kurzer Zeit hätte es mich erschreckt ... aber jetzt, meine ich, könnte ich mich vielleicht eher daran gewöhnen ... in Gesellschaft von Leuten ... kurz ... Doch ich werde genug gesessen haben, nicht wahr?« – Wenn es Sie ermüdet ... – »O! nicht deßhalb, aber ich muß nach Hause gehen, denn ich befürchte, mein Vater könnte in Unruhe sein.« – In diesem Falle wage ich es nicht, Sie länger aufzuhalten, und doch ... werde ich Sie morgen und in den nächsten Tagen nicht sehen, wie es mir zur süßen Gewohnheit geworden war. – »Sie haben gesagt, daß Sie wiederkommen werden ... Ist es wahr?«

Der junge Maler näherte sich Rosa-Maria und ließ seine Augen auf ihr ruhen, die vielleicht beredter sprachen, als er es mit Worten zu thun im Stande gewesen wäre, denn das junge Mädchen reichte ihm die Hand und sagte zu ihm: »Dann wird mir die Zeit weniger lang werden ... ich werde an Ihre Wiederkehr denken und derselben harren.« – Sie werden also an mich denken?«

Rosa-Maria vermochte nicht zu antworten, aber ihre Blicke sprachen so ausdrucksvoll wie Leopolds ... und ohne sich gegenseitig ihre Liebe gestanden zu haben, war es den beiden jungen Leuten doch klar, daß es für sie auf Erden kein Glück mehr geben könne, so lange sie von einander entfernt seien.

»Wohlan, ich gehe!« sagt Rosa-Maria. »Ach, wollen Sie mich vorher mein Bild sehen lassen?« – Gewiß, Fräulein!«

Der Maler reichte der Jungfrau die Leinwand, worauf sie abgebildet war. Rosa-Maria erröthete, als sie sich so hübsch sah, und stammelte: »Finden Sie es denn ähnlich?« – O! freilich, Fräulein! Nie ist mir eine Arbeit so gut gelungen! ... Ich bin stolz darauf, Ihre Züge und Ihre Physiognomie so getreulich wiedergegeben zu haben. Ich schwöre Ihnen sogar, daß es nicht geschmeichelt ist ... Sie sind es auf und nieder. – »Nun, es ist möglich! ... Sie wissen, daß man sich selbst nicht kennt ... Und Sie nehmen das Bild mit nach Paris?« – Das versteht sich. – »Und wo stellen Sie es dort auf?« – In meinem ... in meinem Arbeitszimmer. – »Und werden Sie es alle Tage ansehen?«

Leopold ergriff die Hand des Mädchens und drückte sie an sein Herz.

»Nun, so will ich gehen ... Leben Sie wohl, Herr Leopold.« – Leben Sie wohl, Fräulein Rosa. – »Bis wann gedenken Sie zurückzukehren?« – In drei Wochen oder spätestens in einem Monat. – »Verschieben Sie es nicht, bis der Sommer vorüber ist und die Witterung trüb und unfreundlich wird.« – Wenn sich auch die Witterung ändert ... ich werde derselbe bleiben. – »Auf Wiedersehen also!« – Soll ich Sie nicht bis zum Ausgange des Waldes begleiten? – »Nein ... es könnte uns Jemand begegnen ... Es ist noch nicht spät; zudem kenne ich die Wege gut und werde das Dorf bald erreicht haben. Ich gehe ... Adieu! Leben Sie wohl, Herr Leopold!« – Nein, nicht Adieu, theure Rosa, sondern auf Wiedersehen! – »Ach ja, auf Wiedersehen! das klingt weniger traurig ... Nun denn, ich gehe! ... Ach! dieses Mal aber ganz gewiß!«

Mit diesen Worten bezwang sich das hübsche Mädchen gewaltsam, winkte mit der Hand dem jungen Maler ein Lebewohl zu und verschwand in einem der Waldwege.


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