Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Lichtblicke

Lu, Li, ein Brief! Rasch, nehmt! Viel Zeit hab' ich nicht, Fee muß ihr Bad haben.«

»An uns, Muttchen? Muttchen, der Brief ist an uns?«

Sie nahmen den Brief und bestaunten ihn, Muttchen Friedel war schon weitergegangen, ihren Pflichten nach.

»Kurios,« sagte Lu und kicherte.

»Von wem der sein mag?« fragte Li nicht minder belustigt.

Dann lasen sie:

»An die wohledele Dame
Luisa und Elisabetha von Rödern
auf Rödershof bei Loberg.«

Lu und Li sahen einander an und lachten hellauf.

»Das sind wir, Lu!«

»Je ja, Li, das sind wir. Aufmachen, flink!«

Rasch war das Brieflein geöffnet und Li las:

»Hochgeehrte, junge gnädige Dame!

Indem daß ich Ihne mitteilen kann, daß das Petterche auch rechts wieder Gottes Gnade erlangt hat, indem daß es auch rechts wieder sehe kann, bin ich Ihre freidige

Elisabetha Küster.

Mir kome bald heim.«

Ein Freudenlärm ging nun durchs Haus.

»Muttchen, Muttchen, er sieht!«

»Muttchen, das rechte Auge ist auch gerettet!«

Sie stürmten über die Treppe zu Fees Zimmer. Muttchen Friedel stand unter der offenen Tür und zankte: »Lu, Li, seid ihr denn außer Rand und Band? Ich verbitte mir –«

Da legten sie von rechts und links die Arme um ihr Muttchen und die sah in zwei tränennasse Gesichter.

»Muttchen, Muttchen, wir haben's ja gar nicht verdient mit unserer Tollheit!«

»Muttchen, Muttchen, denk doch, das Glück!«

Muttchen Friedel zankte nun nicht mehr, sie wischte sich selber die Tränen.

»Ich bin so froh für euch, Lu, Li! So was schleppt sich schwer durchs Leben. Kommt zu Fee!«

Die hatte schon die Arme weit offen und ihre Augen leuchteten. Lu und Li setzten sich rechts und links neben sie und ließen sich liebkosen; immer noch flossen ihnen die Tränen.

Sie hatten schwer getragen an Peterchens Mißgeschick, das sie verschuldet hatten, die zwei Wildlinge, wenn sie's auch nicht so zeigen konnten! Sie hatten darauf bestanden, daß der arme Junge in der Klinik blieb, solange irgend Aussicht auf Besserung war. Ihre Sparbüchsen und Patengelder hatten unweigerlich herhalten müssen, auch für jeweilige Sendungen an den kleinen Mann und Gaben an die arme Mutter. Mit dem Arzt hatten sie in Briefwechsel gestanden; er hatte sich lange nicht bestimmt ausgesprochen, nur immer auf die Zeit vertröstet, die viel hilft und heilt. Nun hatte er recht behalten, hier war nun der Lohn. Und daß die arme Mutter gerade dabei sein konnte, als die Wendung zum Guten eintrat, das freute Lu und Li noch ganz besonders.

Das war ein Glückstag! Alle im Hause mußten teilnehmen. Lu und Li verkündeten die Freudenbotschaft allen, vom Kutscher bis zum kleinen Gänsejungen.

Aber dann mußten Pfeil und Unverdrossen aus dem Stall und sehr bald hallte es in Dresdorf wider von Lus und Lis frohen Stimmen. Küche und Milchkammer mußten für einen Tag ohne sie fertig werden.

Solch ein Glückstag!

»Li,« sagte Lu am Abend, »mir ist eine große Last vom Herzen gefallen. Ich hab' mir oft ein Auge zugehalten, um zu sehen, wie dem Peterchen zu Mut sein muß. Lieber hält' ich mein eigenes hergegeben, als daß – andere leiden machen ist schwerer als selber leiden, Li!«

Die nickte sinnend vor sich hin, dann legte sie beide Arme um die Schwester. Das war ein Ungewohntes. Fast scheu sah Lu auf und nun traten auch ihr die Freudentränen in die Augen.

Ja, das war ein Glückstag! Und ein zweiter zog über Rödershof herauf.

Ostern kam mit den: Auferstehungsfest! Wie sehr es ein solches just für die auf Rödershof werden sollte, ahnte weder Klaus von Rödern, als er in den goldklaren Ostermorgen schaute, noch Lu und Li, als sie der Ostersonne mit blitzenden Augen und blinkenden Zähnen ins Gesicht lachten.

Und wie auch die Sonne lachte! So besonders warm und zärtlich und mütterlich besorgt um ihr Kind, die Erde, das sie wieder einmal wachküssen und schmücken wollte mit zartem jungem Grün und kleinen bunten Blümelein, zu Frühlings Glück und Leben!

»Klaus,« sagte Muttchen Friedel nach dem Frühstück, und ihre Stimme klang eigentümlich, »Klaus, wenn du doch die beiden da« – sie wies nach Lu und Li – »die beiden da mitnehmen wolltest zu einem Ostergang. Du weißt ja, Klaus: Vom Eise befreit sind Strom und so weiter. Ich –«

»Komm mit, Muttchen, Muttchen, komm mit!« Lu und Li hingen an ihr von rechts und links. Das heißt, sie hatten jede einen Arm um ihr Muttchen geschlungen, und sahen von ihrer schlanken Höhe herab in deren braunes Gesicht mit den strahlenden Grauaugen. Lu und Li waren in diesem Winter recht in die Höhe geschossen, ihre Gesichter aber noch ebenso braun wie Muttchens Gesicht und die Augen genau so grau und groß und strahlend. Sie waren nicht völlig mehr die Kinder von ehedem. Der Ernst war durch ihr Leben gegangen und hatte den Kindertagen eine Grenze gesetzt; Lu und Li wollten heranreifen, von innen und von außen.

Das sah jetzt Muttchen Friedel mit einem Male. Es gibt solche Augenblicke, wo man plötzlich sieht, woran man bis dahin trotz sehender Augen wie blind vorübergegangen ist.

»Lu, Li, wie alt seid ihr eigentlich?« fragte sinnend Muttchen Friedel.

»Achtzehn,« sagte Lu.

»Siebzehn,« sagte Li.

»Drum eben,« fuhr Muttchen Friedel fort, noch tief in Sinnen. »Das wächst und wächst, und aus meinen Kindern werden erwachsene Menschen! Schade drum!« Es klang so bedauerlich, daß Lu und Li lachen mußten.

»Aber nun fort mit euch,« mahnte Frau Friedel jetzt. »Da kommt der Vater und ist schon bereit. Klaus, wenn ihr wiederkommt –«

Sie hing an seinem Hals und umarmte ihn so heftig, daß er ganz betreten stand, und ihr ebenso nachschaute, als sie wieder unvermittelt und rasch zur Tür hinauseilte.

Dann lachte er vor sich hin. »Immer dieselbe!«

Es klang so froh und so zärtlich, dies Lachen!

Sie machten also den von Muttchen Friedel angeratenen Ostergang, Vater Klaus, Lu und Li.

Da Ostern dieses Jahr sehr spät fiel, hatte die Sonne auch schon mehr vorgelockt als nur »grünendes Hoffnungsglück« und geputzte Menschen statt Blumen. Mit zartem jungem Grün bedeckt stand Busch und Baum. Dies erste, frische, noch unberührte Grün, so kinderzart und weich, so frühlingshell und duftig!

Blauveigelein standen in duftender Pracht und kleine weiße Anemonensterne hoben die Köpfchen sonnenwärts. Purpurner Storchschnabel wiegte sich stolz auf schwankem Stengel, am Rain hinauf kroch Ehrenpreis und Sauerklee. Jedes kleine Moos reckte sich und streckte die zarten Spitzen der Sonne zu.

Auch Lu und Li und Vater Klaus schauten zu ihr auf mit hellen Augen und waren froh und festlich gestimmt. Ein Summen und Klingen, ein Jubilieren war in der Luft: die Loberger Osterglocken tönten von ferne in tiefem, vollem Akkord, dem die helleren Töne des Dresdorfer Kirchleins sich einten; dazu die schmetternden, jubelnden Vogelstimmchen von nah und fern.

»Li,« sagte Lu, »war's schon mal so schön auf Erden? Ich erinnere mich nicht. Woran das wohl liegt?«

Sie schlenderten Hand in Hand vor Vater Klaus her, und der sah stolz auf seine beiden Jüngsten.

Also die Augen waren ihnen nun aufgegangen für Gottes Wunderwelt? Ja, ja, in Lu und Li wollte der fertige, denkende, sinnende Mensch die Augen aufschlagen.

Vater Klaus faßte jetzt eine rechts und eine links, schob seine Arme durch die der beiden und nickte ihnen zu.

»Woran das liegt, ihr Mädel, daß die Welt heute schöner ist als zuvor? Einmal daran, daß ihr's nicht mehr bloß mit den Augen, sondern auch mit dem Herzen seht, und dann, daß ihr brauchbare Menschen seid, die eine Pflicht haben und erfüllen. Das macht die Augen hell und das Herz froh. Ihr seid meine guten lieben Mädchen und ich bin zufrieden mit euch.«

Wirklich, so hatte die Sonne noch nie geschienen! Wie auf Wolken gingen Lu und Li.

»Väterchen,« sagte Lu, »wenn wir Muttchen dabei haben könnten und Fee, gäb's noch was zu wünschen in der Welt?«

Da zog's wie ein Schatten über die strahlende Sonne. Vater Klaus seufzte.

»Ja, Fee!«

Lu und Li drängten sich näher zum Vater.

»Daß es Fee treffen mußte,« sagte Li leise. »Jedes von uns vier anderen – – –«

Da preßte Vater Klaus ihren Arm, so daß sie unwillkürlich schwieg.

»Sag das nicht, Li, mein Mädchen! Gott im Himmel weiß, was er tut, wo er die Geduldigsten im Leid findet. Fee soll uns nicht umsonst leiden – wir wollen stille halten wie sie.«

Eine heilige Stille war unter den Waldbäumen und in den Herzen der drei. Mit hellen Augen und weit offenen Herzen gingen sie durch die Ostersonne heraus aus dem Wald, über die grünen weiten Wiesen ihrem Heim zu.

Dort lag es, so lieb und traut, umflossen vom Ostersonnenschein, übergoldet und durchwärmt.

Jetzt bogen sie in den Park ein, in den Baumgang, der zur großen Terrasse und dem Gartenzimmer führte. Eben öffneten die Kastanien ihre dicken Blattknospen, die quollen über von zartgekräuseltem Grün. Das kahle Geäst warf eine leicht verzweigte Schattenzeichnung über den Kies. Darüber hin ging Vater Klaus mit Lu und Li.

Mit hellen Augen sahen sie zum Hause. Dort auf der Terrasse in einer der drei weitoffenen Türen stand Muttchen Friedel und winkte.

Was bedeutete das?

Lu und Li wollten sich in Trab setzen, aber Vater Klaus, der sie noch am Arm hatte, hielt fest.

»Dageblieben, ihr Mädel? Ausgekniffen wird hier nicht! Der alte Vater will auch sein Teil an der Überraschung haben!«

Und das bekam er, sein vollgerüttelt Maß!

Muttchen Friedel war den dreien über die Terrasse entgegengeeilt. Hastig, unsicher schienen ihre Schritte, unsicher auch ihre Stimme; aber ihre Augen strahlten, wie kaum je zuvor.

»Lu, Li,« sagte sie, »laßt mal den Vater los und bleibt ihr ein bißchen zurück. Er muß der erste sein, der –« und nun schluchzte sie ein wenig auf. Oder war's gejauchzt?

Ein sonderbares Gefühl bemächtigte sich da der drei Heimkommenden, ein schier andächtiges Staunen wie vor einem Wunder, das sich begeben sollte. Beklommen und feierlich war ihnen zu Sinn, sie wußten selbst nicht warum.

Muttchen Friedel hatte Vater Klaus beim Arm gefaßt und sah ihm mit leuchtenden Augen immerzu ins Gesicht.

»Ich bin so glücklich, Klaus, so glücklich!«

»Ist's was mit Lutz und Fritz, Friedelchen?« Er flüsterte es nur, als scheue er sich, die Stille zu stören.

»Sieh selbst, Klaus, hier!«

Nun trat er ein und sah – und sah –

Inmitten des Raumes war der alte ungefüge Familientisch zur Seite geschoben und dort stand – – ja, konnte er denn seinen Augen trauen oder war's ein Blendwerk der Sinne, das ihn äffte? – – Dort stand Doktor Mühren und auf seinen Arm gelehnt stand Fee! Seine Älteste, sein Stolz, sein Schmerz – sein ganzes Glück! Zum ersten Male wieder auf den Füßen, seit der unbarmherzige Balken sie niedergeschmettert hatte!

»Fee! Fee!«

Wie er an ihre Seite gekommen war, er wußte es selber nicht; er wollte seine Älteste an sich pressen. Doktor Mühren legte aber den Finger an den Mund.

»Mein Mädchen!« sagte da Vater Klaus, so ruhig er konnte, »mein Mädchen!« Es war derselbe Ton wie bei Muttchen Friedel, ein Jauchzen und Schluchzen zugleich. Dann fuhr er unvermittelt im Alltagstone fort: »Aber nun genug der Kraftprobe, was, Doktor? Nun wird sich fein ruhig wieder hingelegt und –«

»Gesetzt, Väterchen, gesetzt!«

Mit leuchtenden Augen wies Fee nach einem Fahrstuhl, der hinter ihr und Doktor Mühren stand. »Jetzt kann ich tagsüber wieder bei meinen Lieben sein. Und darf mit hinaus ins Grün, in die Sonne, wenn jemand den Stuhl schiebt und – und – Väterchen, ist Gott nicht gut? Bin ich nicht glücklich?«

Da legte er den Arm um sie und half Doktor Mühren, sie in dem Stuhl zurechtsetzen. Dabei suchte er sein Gesicht zu verbergen. Es sollte niemand die Tränen sehen.

Aber Fee sah sie doch und legte ihr weiches Gesicht gegen das seine.

»So glücklich bin ich, so glücklich, glaubt's doch! Felicitas habt ihr mich genannt, der Name hat mir Segen gebracht!«

»Felicitas – unser Glück!« sagte leise Vater Klaus.

Mit großen, weitoffenen Augen starrten Lu und Li auf ihre Schwester. Hatte sich da nicht vor ihnen leibhaftig ein Wunder der Auferstehung vollzogen an diesem Oster- und Auferstehungsfest?

Laute Lust vertrug sich damit nicht. Still im Herzen mußte es gefeiert werden.

Rechts und links von Fees Stuhl knieten sie nieder, sahen mit schimmernden Augen zu ihr auf, und die Schwester verstand sie ohne Worte.

Doktor Mühren war der erste, der dies beredte Schweigen brach. Er mußte sich zuvörderst ein paarmal gewaltig räuspern, ehe ihm die Stimme gehorchte.

»Ich werde mich also jetzt verabschieden und wünsche den Herrschaften insgesamt recht fröhliche Ostern! Meine Patientin bitte ich, sich sehr still zu halten; ein Doktor muß ja immer ein wenig Dämpfer und Störenfried sein, was? Aber mit Gottes Hilfe werden Sie noch mein Renommierstück, Fräulein Fee! Ich bin so froh, wie ich es lange nicht war.«

Er faßte die Hand, die sie ihm hinstreckte, und drückte sie herzhaft.

»Solch eine Herzensfreude,« sagte er noch einmal.

Den anderen nickte er bloß zu und ging nach der Tür. Klaus von Rödern kam ihm nach.

Draußen faßte ihn Doktor Mühren an der Hand, schüttelte ihm die, als ob er sie nicht freigeben wolle, und beantwortete die unausgesprochene Frage in seinen Augen.

»Der erste Schritt wäre dies wohl, Herr Baron. Wie viel weitere der Herr in seiner Güte gewährt oder Mutter Natur zuläßt, um mit den Herren Fachgenossen zu reden, müssen wir abwarten. Unser Wissen ist Stückwerk. Ich muß vor allzu großen Erwartungen warnen. Anderseits ist jeder kleinste Fortschritt ein Geschenk des Himmels. Ist das ein Kind, Herr Baron! Wir Alten können von ihr lernen.«

Schweigend schüttelten sich die Männer noch einmal die Hand. Dann fuhr Doktor Mühren seines Weges.

Vater Klaus ging zurück zu den Seinen.

Muttchen Friedel streckte ihm beide Hände entgegen: »Es sollte die Osterüberraschung sein für dich, Klaus. Ist sie gelungen, he?«

Er antwortete nur mit den Augen.

Und als ob die Ostersonne sich nicht genug darin tun könne, ihre leuchtendsten Strahlen über Rödershof auszugießen an diesem Glückstag, führte sie noch etwas daher durch die Wiesen.

Wie sie jagten, die zwei, in treibender Hast. Zwei Knabengestalten, die Mützen in der Hand, die braunen Schöpfe hintüber geworfen, die lachenden Augen der Sonne zugekehrt. Und die lachte zurück und griff fast zärtlich mit ihren leuchtenden Strahlenfingern nach den braunen Kraushaaren, über die goldene Lichter hinblitzten.

Lutz und Fritz Rödern waren es, die da durch die Sonne trabten. Jetzt Seite an Seite, rennend, keuchend, was die Lungen hergaben, und dann etwas langsamer, neuen Atem zu sammeln. Sie hielten sich an der Hand und sagten kein Wort, sahen zur Sonne auf oder vorwärts, dem Ziel, der Heimat, Rödershof zu.

»In fünf Minuten packen wir's, du,« keuchte Lutz.

Fritzchen nickte nur, pustend, schnaubend, stampfend und trabend.

Und richtig, in fünf Minuten hatten sie's gepackt.

In der mittleren der offenen Parktüren des Gartenzimmers lagen mit einem Male zwei kleine Schatten am Boden hingezeichnet. Gehört hatten die drinnen im Zimmer nichts. Sie standen noch wie zuvor um Fees Stuhl vereint, sprachen nicht viel und nur abgerissen, hatten ans der Weihestunde noch nicht zum Alltag zurückgefunden.

Muttchen Friedel hob zuerst den Kopf. War's ein Mutterahnen, das durch sie hinzuckte? Sie sah die zwei kleinen Schatten dort am Boden im Sonnenviereck der offenen Tür.

»Lutz,« sagte sie, »Fritz!«, noch ehe sie die beiden wirklich gesehen hatte. Erschreckt klang's, traurig und hilflos. »Klaus, da sind sie doch wieder! Was nun?«

Der trat rasch vor die beiden, ernst und streng.

Aber Lutz und Fritz sahen ihn freimütig, mit leuchtenden Augen an. Dann drängten sie an ihm vorüber zu Muttchen Friedel, sprangen von rechts und links an ihr empor und jubelten: »Muttchen! Muttchen! Da sind wir! Und dürfen diesmal, weil –«

»Weil unsere Zeugnisse gut sind, sagt der Professor.«

»Und wir sollen sie selber zeigen, sagt er.«

»Und ihr würdet eine Freude haben, sagt er.«

»Und zehn Tage dürfen wir bleiben, sagt er.«

»Nimm doch, Muttchen, nimm!«

»Da, Vater, lies!«

Vor dem Vater stand Lutz, vor Klein-Muttchen Fritz, beide hatten hochrote Gesichter und hielten ein Papier in Händen, das sie triumphierend hin und her schwenkten.

»Nimm doch! Lies!«

Damit stopften beide zugleich die betreffenden Papiere in Vaters und Mutters Hände. Dann hielten sie den Atem an, freudeheiß, zitternd vor Erwartung und sehr stolz. Für die Schwestern hatten sie noch keinen Blick einstweilen.

Vater Klaus und Muttchen Friedel lasen, bekamen nun selber leuchtende Augen und wollten sich ihre beiden Söhnlein haschen: »Lutz! Fritz! Sowas! Das laß ich mir gefallen!«

Aber die beiden hielten sich in der Erregung schon selber umschlungen, daß man nicht wußte, war's eine Umarmung oder ein Ringen. Dann wälzten sie sich mit einem Male am Boden in wirrem Knäuel; aber ehe Vater Klaus zugreifen und den Knäuel lösen konnte, standen die zwei schon wieder auf den Beinen, drehten sich um die eigene Achse und fuhren mit Indianergeheul zur offenen Tür hinaus. Es klang wie: »Daheim! Hurra, daheim!«

Die Mützen flogen in die Luft, wurden wieder gefangen, und fort trabten Lutz und Fritz über die Terrasse, um die Hausecke. Man hörte das Lärmen im Hof verklingen.

Wie ein Sturm war's über die im Zimmer hingebraust, daß sie wie betäubt dastanden. Muttchen Friedel faßte sich zuerst.

»Mach mal ein Weilchen die Augen zu, Fee, und sag gar nichts. Das war ja wohl ein bißchen toll. Aber so Kerlchen, nein, so Kerlchen! Was sagst du! Klaus, he? Ich bin so stolz, Klaus, und so glücklich, Lu, Li, flink, die zwei müssen was zu essen haben. Schneid nur getrost den Schinken jetzt schon an, Lu. Papa und Tante Lenchen werden's verstehen. Und die Lene soll doppelte Ration zum Reispudding nehmen und – und – ich will lieber selbst –«

Da eilte Muttchen Friedel hinter den beiden ausgerissenen Helden her.

Vater Klaus lachte.

»Muttchen weiß, wie man derlei feiert.«

»Muttchen weiß eben alles,« sagten Lu und Li und folgten fröhlich der Mutter.

Vater Klaus beugte sich jetzt zu seiner Ältesten: »War es zu viel, mein Mädchen?«

Fee sah ihn sinnend an. »Kann Frohes zu viel sein?«

»Soll ich dich in die Ostersonne fahren?« fragte Vater Klaus.

»Tu's, Väterchen,« antwortete Fee mit einem dankbaren Blick.

Da rollte er sie hinaus auf die Terrasse, immer hin und her, her und hin.

Sie lehnte sich zurück in die bunten Kissen und hielt die Augen geschlossen. Er beugte sich über sie.

Groß und still sahen ihre Augen ihn an.

»Wie hab' ich das verdient, Vaterherz? Verzagt war ich und voll Kleinmut; dachte, sie werde mich nie mehr bescheinen! Und nun – und nun –« Sie hob die Arme der Sonne zu. »Wie das wohl tut! Väterchen, du hast ein glückliches Kind!«

Leise küßte er sie auf den goldenen Scheitel. Das Gesicht zeigte er ihr nicht; sie brauchte nicht zu lesen, was drinnen stand.

Bald darauf trabten Lutz und Fritz nach Dresdorf, dort selbst ihren Ruhm zu verkünden.

Ganz so leicht ging das Traben nicht, als da sie's der Heimat zu trieb. Die Schinkenbrote, womit Lu und Li die Helden des Tages bis zum Rande vollgestopft hatten, waren beschwerender Ballast. Aber es kümmerte die beiden wenig. Ging's nicht leicht, ging's eben schwerer, aber nach Dresdorf mußten sie. Es war ihnen, als müßten sich gleich in den ersten Morgen alle Freuden der Heimat zumal drängen.

»Daß ihr mir nichts von Fee verratet! Es soll eine Überraschung für Großpapa sein,« hatte Muttchen ihnen nachgerufen.

Sie fanden das völlig in der Ordnung, da sie doch allein schon solche wichtige Freudenkunde zu bringen hatten die gute Zensur und – sich selber!

»Denn siehst du, Fritz, allzugroße Freude ist schädlich. Sie wirkt auf den Magen, glaub' ich, und Großpapa ist doch schon alt,« sagte Lutz.

Fritz nickte. Er hatte großen Respekt vor des Bruders medizinischen Kenntnissen. Die waren recht bedeutend, nur wußte Lutz noch nicht gewiß, wollte er Mediziner oder Weltreisender werden.

Er, Fritzchen selber, wußte gewiß, daß er ruhig bei Muttchen bleiben wollte, wenn er erst wieder einmal glücklich aus der Fremde daheim war; vom Professor fort und von der Universität und von den Soldaten! Bei diesen, bei den Soldaten nämlich, dachte sich's Fritzchen noch am nettesten, und wenn ihn der Vater nicht daheim haben wollte – man konnte ja nie wissen, was so ein Vater wollte und dachte – so meinte Fritzchen, dort ließe es sich noch am ehesten aushalten. Ihm gefielen die bunten Röcke und die goldenen Knöpfe, und reiten tat er auch gern.

So trabten also die beiden nach Dresdorf, sich selber als Helden des Tages vorzustellen und den Großvater und Tante Lenchen zurück zum Festmahl auf Rüdershof zu geleiten.

Die Wirkung ihres Erscheinens war vielleicht nicht ganz so riesig, als sie erwartet hatten. Großpapa und Tante Lenchen blieben bei ihrem Anblick und der Kunde, die sie brachten, leidlich gefaßt. Auch in Hof und Stall, sowie in der Küche und den Wirtschaftsräumen gab es nicht gerade ein Sich-auf-den-Kopf-stellen oder ein Auf-den-Rücken-fallen. Im ganzen hatten sich Lutz und Fritz die Sache doch etwas dramatischer gedacht. Dennoch waren sie mit der bei Großpapa erzielten Hauptwirkung, dem in ihren Taschen klimpernden Taler, zufrieden, und trabten ohne allzugroße Enttäuschung neben dem Großvater und Tante Lenchen alsbald wieder heimat- und festmahlwärts.

Das große Geheimnis von Rödershof, die Überraschung, die der beiden Alten dort wartete, hatten sie richtig nicht verraten, und zwar, weil sie – einfach nicht mehr daran dachten. Sie waren sich selber viel zu wichtig an diesem wichtigen Tage, Held Lutz und Held Fritz!

Von der Mitte des Weges an waren sie überhaupt abhanden gekommen. Dort im kleinen Gehölz am Wegrand hatte ein Vogel so eigenartig geschlagen, den mußte man belauschen und verfolgen. Sie brachen durchs Gehölz und rasten über den Wiesengrund; erst als der kleine Sänger jauchzend himmelwärts stieg, da gaben sie's auf. Pfeifend und gröhlend ging's der Heimat zu.

»Was für Radau so 'n Junge machen muß,« seufzte Tante Lenchen. »Erbarm dich, meine Ohren!« Und sie schüttelte mißbilligend den Graukopf.

»Immer besser, als so 'n Frauenzimmergepiepse,« knurrte Papa Polten unhöflich. »Fixe Rangen, die zwei. Basta!«

Wohlgefällig sah er ihnen nach, wie sie eben im väterlichen Hoftor verschwanden.

»Und da ist Jungchen,« sagte er vergnügt. »Schaut nach den Alten aus, das Kind. So 'n Jungchen!«

Er setzte sich in Trab, soweit es die alten Knochen und Madam Gicht erlaubten.

»Sachte, Papa, sachte!« rief Muttchen Friedel hell und klingend.

Und nun war er heran, faßte sein Kind an den Schultern und sah ihm mit Blinzeläuglein ins Gesicht.

»Quietschfidel, was, Jungchen?«

»Glückselig, Papa!«

»Fixe Rangen,« fuhr er fort, »fixe Kerlchen deine Söhne!«

Da war auch Tante Lenchen heran und sagte ihr Sprüchlein.

»Und nun kommt zu Fee!« rief Muttchen Friedel, und durch ihre Stimme klang ein Frohlocken. Sie bog an der Freitreppe des Hauseingangs vorüber in den Park ein.

Die beiden Alten blieben verwundert stehen.

»So 'n Umweg, Jungchen? Durch den Park? Madam Gicht!«

Aber Muttchen Friedel hörte nicht, sondern winkte nur. Da folgten sie ihr.

Als sie dann hinter ihr her zur Terrasse kamen und Klaus von Rödern ihnen da Fee im Fahrstuhl entgegenschob, da wußten sie, weshalb der Umweg gemacht worden war, und sie schämten sich der Tränen nicht, die ihnen über die alten Gesichter liefen.

Solch ein Freuen war an diesem Ostersonn- und -sonnentag auf Rödershof, solch ein stummes, heiliges, weihevolles Freuen!

Dann gingen die Tage wieder ihren alten Gang.

Längst hatten sie Lutz und Fritz wieder aus der Heimat und zu dem Professor geführt, zurück zur Schule und den Büchern, zu des Lebens Ernst und Mühen. Sie hatten den Frühling vollends ins Land geleitet seit jenem Osterfest, und hinausgebracht, seinem Nachfolger, dem Sommer, Platz zu machen. Der herrschte nun schön ein Weilchen im Land, denn es war mittlerweile Juli geworden.

Eines Morgens traten Vater Klaus und Doktor Mühren unter die Kastanien im Park, die nun ihr dichtes Blätterdach schattend wölbten.

Dort saß Fee in ihrem Fahrstuhl, Muttchen Friedel ihr zur Seite.

»Guten Morgen,« sagte Doktor Mühren, »guten Morgen, meine Damen. Ich komme mit des Herrn Barons Einverständnis wieder mal als Störenfried, verzeihen Sie. Hier ist übrigens gut sein!« Er setzte sich umständlich und behaglich auf einem Stuhl zurecht, den Klaus von Rödern ihm hinschob. »So 'ne Art Paradies hier, weiß der Himmel! Ich komme mir sozusagen wie der Engel mit dem feurigen Schwert vor, der unseren Urvätern selig seinerzeit so mitspielte. Na also, was ich sagen wollte: ich bin ja im ganzen sehr zufrieden mit meiner Patientin, aber – na ja, wollen doch noch ein bißchen nachhelfen, denke ich. Da meine ich nun so: Die Frau Baronin packt schleunig zusammen, Fahrstuhl, Patientin und was drum und dran hängt, Kleider und Jäckchen, Hüte und Firlefanz, und geht nach Warmbad. Von den Bädern dort verspreche ich mir viel. Keine Wunder und Zeichen, meine Damen, bitte, wohl zu verstehen, aber ein wenig mehr Kraft, und will's der Himmel, doch einen kleinen Ruck nach vorwärts. Wie gut, daß ich nicht Aussicht habe, in den Reichstag gewählt zu werden! Es ist eine kitzliche Sache, so eine Rede halten!« Er fuhr sich mit dem Tuch über die Stirn und fächelte sich dann Kühlung zu. »Was sagen die Damen?«

Muttchen Friedel lachte ihm ins Gesicht. »Ja, sagen wir, natürlich ja, wo es sich um Fee handelt! Was, Klaus?«

Der nickte, und Muttchen Friedel sprudelte weiter: »Wann reisen wir, Klaus? Ich bin gleich fertig mit Vorbereitungen. Aus dem Kleiderkram habe ich mir nie viel gemacht. Was ich habe, zieh' ich an, basta.«

»Bravo,« sagte Doktor Mühren, »bravissimo!«

Vater Klaus lachte. Fee war ein bißchen blaß und sah erschreckt drein.

»Meinetwegen soll sich doch Muttchen nicht all die Last und Vater die Kosten aufladen. Ich –«

»Papperlapapp!« sagte Muttchen Friedel, »gereist wird, basta!«

»Und Vater?«

»Bleibt daheim,« rief der fröhlich, »und tut die Ernte ein. Es ist ja ein Segen und eine Lust dieses Jahr!«

Muttchen Friedel sah ihn nun doch ein bißchen zweifelhaft an.

»Wir sollen allein gehen, Klaus?«

»Ich geb' euch Lu und Li mit. Die haben ein Extravergnügen verdient.«

Muttchen Friedel war noch immer nicht völlig beruhigt.

»Dann bist du ja selbst ganz allein, Mann.«

»Behüte! Hast du Lutz und Fritz vergessen? Die kommen doch zu den Ferien heim. Und nun sag kein Wort mehr, Friedel, es bleibt dabei!«

Sie konnten freilich nicht schon am nächsten Tage abreisen, wie Muttchen Friedel bereit gewesen wäre, aber acht Tage danach setzte sich die Karawane von Rödershof in Bewegung.

Papa Polten ließ sein »Jungchen« diesmal ohne Knurren ziehen. Wo es Fees Wohl galt, schwieg auch bei ihm alles andere. Auf dem Bahnhof in Loberg hatte sich noch Doktor Mühren eingefunden. Er hielt Fees Hand lange in der seinen, sah ihr bedeutsam in die ernsten Augen und hob den Finger.

»Kind, wie ich sagte, Wunder und Zeichen geschehen nicht mehr auf unserer armen Erde; daran denken Sie immer, bitte! Ich sage es, weil die Enttäuschung jedes Leid doppelt schwer macht.«

»Ich weiß es, Herr Doktor,« gab Fee mit festem Tone zurück, »ich hoffe nichts Großes und bin für das Kleinste dankbar.«

Er nickte ihr zu und drückte ihre Hand.

Vater Klaus geleitete die Seinen an Ort und Stelle, wie Muttchen Friedel sich ausbedungen hatte, blieb zwei Tage und machte sie in der Fremde heimisch.

Er brachte sie auch bequem und behaglich unter, nahe den Bädern, mit Rücksicht auf Fee, und doch am Rande des großen Kurparks, so daß sie die gewohnte freie Luft nicht zu entbehren hatten. Da sollten sie nun also für die nächsten fünf bis sechs Wochen hausen.

In ihren weißen Kleidern, mit weißen Hüten und großen weißen Schirmen, gingen Lu und Li nun des Morgens bei der Kurmusik in dem großen alten Baumgang auf und ab. Sie taten das gern und fast regelmäßig. Fee nahm zu der Zeit ihr Bad und Muttchen Friedel war vollauf damit beschäftigt, sie ins Badehaus und wieder zurückzubringen.

Lu und Li hatten anfänglich sich zur Hilfe erboten.

»Dafür ist Anna da,« erwiderte Muttchen Friedel. »Geht in den Wald, zur Musik oder wohin ihr wollt, ihr zwei. Solange wir hier sind, sollen wirklich Ferientage für euch sein.«

So gingen also Lu und Li, wohin sie just wollten, am meisten aber zur Musik.

Mit großen, neugierigen, frohen Augen sahen sie sich um, sahen selbst so niedlich, jung und froh aus, daß manch einer und manch eine den Kopf nach ihnen wandte.

Ein altes Ehepaar saß auch regelmäßig da; er mit einem auffallend großen, silberweißen Bart, sie schlank, sein und vornehm, einige Silberfäden im dunkelblonden Haar, und ebenso einige Fältchen im klaren, freundlichen Gesicht.

»Marie,« sagte der Herr, »wenn ich nur wüßte, wer die beiden schlanken Braunen dort sind? Gesehen hab' ich die schon mal irgendwo. Ich erkenne die fidelen Augen genau wieder, weiß aber nicht, wohin ich sie tun soll.«

»Je, Dietrich,« sagte die Dame, »man lernt viele kennen unterwegs. Seit die Menschheit so auf Reisen geht, hat ja wohl jeder jeden schon mal irgendwo gesehen.«

»Hm,« sagte er noch immer nachdenklich, »wenn ich nur wüßte ...«

»Die dort übrigens sind mir lange nicht so interessant, Dietrich, als die zwei, zu denen sie gehören. Es müssen ihre Mutter und Schwester sein, denke ich mir. Ich sehe sie meist am Nachmittag, wenn ich hinten im Park irgendwo, wo's einsam ist, meinen Brunnen trinke. Du liest dann ja die Zeitung.«

Er nickte zerstreut und behielt immerzu die beiden schlanken Braunen im Auge.

»Die beiden da sind der Mutter sehr ähnlich, nur schlanker,« fuhr die Dame fort. »Die Mutter hat die gleichen stets frohen, glücklichen Augen, obwohl sie schon schweres Leid erfahren hat. Denn eine dritte Tochter – diese sagt Klein-Muttchen zu ihr, wie ich selbst hörte – ist gelähmt und sitzt im Fahrstuhl. Und dennoch dies Gesicht, Dietrich! Rührend schön, in den Zügen und im Ausdruck, Augen wie Veilchen, still, groß und tief. Wie ein Engel, Dietrich!«

Er lachte. »Ei, das muß ich mir mal anschauen! Ich habe dich noch nicht oft so schwärmen hören, Marie. Aber – wenn ich's nur herauskriegte, wer die beiden Mädel dort sind!«

Wieder sah er nach Lu und Li, die eben in einem Seitenweg verschwanden.

Fee nahm inzwischen ihre Bäder immer einen Tag um den anderen. Sie fühlte sich davon zwar sehr angegriffen, aber der Arzt, der sie behandelte und mit Doktor Mühren ihretwegen in Briefwechsel getreten war, drang auf Fortsetzung der Kur, und empfahl nur größte Ruhe und viel Liegen.

An ein Ausfahren im Stuhl war also zunächst nicht zu denken. Nur zum Bad und zurück kam Fee, sonst lag sie still ausgestreckt auf einer Veranda, die ins Grüne ging. Die Nachmittagsfahrten im Park fielen fort, denn Muttchen Friedel wich nicht von Fees Seite. Sie war sehr betrübt über diese Wirkung der Bäder; sie hatte anderes erwartet, aber dennoch blieb sie tapfer und zeigte niemandem, wie ihr ums Herz war. Fee selbst lag still und geduldig. Trotz dieses scheinbaren Rückschritts blickten ihre Augen immer hell, hatte sie immer frohe Worte.

So kam es, daß Lu und Li nun auch Nachmittags viel auf sich selbst angewiesen waren. Es gab wohl Anschluß in der Pension, aber der war nicht nach ihrem Geschmack. Da gingen sie lieber allein, und Muttchen Friedel ließ sie gewähren.

Vierzehn Tage waren sie nun schon hier, der dritte Teil des geplanten Aufenthalts! Von der weiteren Umgebung Warmbads hatten Lu und Li eigentlich noch nichts gesehen.

»Muttchen, Muttchen, dürfen wir heute nachmittag auf den Waldkopf?« bettelte nun Li.

»Laß uns, Muttchen! Der Herr Regierungsrat sagte heute bei Tisch, es wäre der schönste Punkt in der ganzen Umgebung. Laß uns, Muttchen,« drängte auch Li.

»Allein?« fragte Muttchen Friedel.

Nun schmeichelten beide. »Wir sind gewiß vernünftig, bitte, bitte.«

»Was meinst du, Fee?« Das war Frau Friedels letzte Instanz in diesen Tagen.

Fee lächelte. »Natürlich doch, Muttchen! Was soll ihnen zustoßen?«

Da nickte Klein-Muttchen vergnügt und erlöst: »Ja, was soll ihnen zustoßen, natürlich! Fort mit euch, Rangen!«

Das hatte Muttchen Friedel lange nicht gesagt! Sie mußte dafür erst einmal ein bißchen gequetscht und gedrückt werden. Auch Fee bekam eine allerdings sanftere Liebkosung. Dann stürmten Lu und Li davon.

Herrlich war's! Wie die Sonne schien! Als habe sie für Lu und Li noch extra Öl aufgegossen! Durch den Park gingen Lu und Li sehr gesittet. Als aber der Wald mit seinem Schatten und seiner Einsamkeit kam, da veranstalteten die beiden einen kleinen Wettlauf, um sich erst einmal auszutoben.

Hier sah's ja niemand, so wundervoll menschenleer war's, beinahe wie daheim! Vergnüglich war ja dies Badeleben und -treiben, vergnüglich auch, all die Menschen zu sehen und zu beobachten, ihnen einen selbsterfundenen Lebenslauf anzudichten oder allerlei Gehörtes zusammenzureimen. Lu und Li waren groß im Phantasieren.

Aber schöner noch war so ein Gang auf stillen Waldwegen, Gottes Wunderwelt aus hellem Auge zu bestaunen. Wie Lu und Li das genossen!

Jetzt standen sie am Waldrand unter einer großen alten Eiche und sahen hinunter auf Warmbad.

Zwischen Parken, Gärten und weiten Wiesen gebettet, lag es ins Tal geschmiegt. Zu beiden Seiten hoben sich die Waldberge; talauf und talab schweifte der Blick ungehindert. Dort, wo das Tal weiter wurde, glänzte etwas in der Ferne: der Fluß, der da vorbeizog. Dorthin wies Lu. »Kannst du die Schiffe sehen, Li? Jetzt der Dampfer, sieh! Mir ist, als hörte ich Musik!«

»Sehen kann ich's, hören nicht,« antwortete Li. »Und weitergehen möchte ich jetzt!«

Vorwärts stürmten die beiden Schwestern also, bis zum nächsten Ausblick. Der Weg hatte sich gewendet, man sah diesmal in ein stilles, grünes, weltverlorenes Seitentälchen. Ein Bächlein schlängelte sich durch die Wiesen und trieb eine kleine verschlafene Mühle. »Solch ein weltferner Erdenwinkel ist mir lieber als das Häusermeer drüben,« sagte Li.

»Mir auch,« gab Lu zurück.

Eine kleine Rindenhütte stand am Wege. Die helle Birkenrinde sah so freundlich aus, einladender noch die tannenen Bänke drinnen. Lädchen und Türe standen offen.

Unwillkürlich traten Lu und Li hinein, setzten sich Seite an Seite, Hand in Hand nieder und träumten durch die offene Tür zum blauen Himmel auf und ins grüne stille Tälchen hinunter.

Sie waren ganz still geworden. Li hatte den Kopf an Lus Schulter gelegt und blinzelte sie neckend an. »Mehr brauchte ich eigentlich gar nicht. Nur du und ich!«

Und einer plötzlichen Eingebung folgend, fuhr sie auf, zog die Tür zu und schob den Riegel vor. Der wollte erst nicht, mußte dann aber doch gehorchen.

»So,« sagte Li und drückte sich dicht an Lu, »nun sind wir zwei allein auf der Welt!«

Lu lachte. »Die ist aber mit Brettern vernagelt, scheint mir. Mach die Tür auf, Li, ich ersticke sonst in dem engen Raum!«

Lachend trat Li wieder an die Tür, rüttelte daran, rückte am Riegel, schüttelte den Kopf, rüttelte und riß stärker. Aber sie lachte nicht mehr, sondern sah Lu hilflos an.

»Du, die ist festgewachsen.«

Lu stand schon neben Li.

»Das wäre! Laß mich mal 'ran.«

Nun erprobte Lu ihre Kraft. Umsonst! Eingerostet der Riegel, festgekeilt die Tür!

Sie sahen einander an, Lu und Li, erst noch mit Lachen, dann aber doch recht bedenklich.

»Je du –«

»Ja, was nun?«

Gemeinsam rüttelten sie noch einmal; um keines Haares Breite wichen Riegel und Tür.

»Wie die Maus in der Falle,« wollte Li scherzen, aber Lu hatte dafür keinen Sinn.

»Vermodern will ich hier nicht, du, also 'raus!« Sie trat an eines der kleinen Fenster und besah sich die Gelegenheit. Aber abgesehen davon, daß die Öffnung überhaupt zu klein war, ließ auch das Fensterchen sich nicht öffnen. In Wind und Wetter war's verquollen.

Lu ließ die Arme ratlos sinken. »Was nun?«

Li machte ein sehr sonderbares Gesicht, so etwas zwischen Weinen und Lachen, und Schuldbewußtsein dazu.

Lu hatte sich auf die Bank gesetzt, Li huschelte sich daneben.

»Sei nicht böse, Lu. Das hab' ich, weiß der Himmel, nicht gewollt.«

»Albern war's, weißt du!«

»Nun ja, aber so was kommt öfters vor!«

»Wenn wir nun hier eingesperrt sitzen müssen, hundert Jahr vielleicht, und sie kommen und finden dann unsere Gerippe und –« Lu hatte förmlich eine hohle Stimme.

Li lachte zwar, aber es war ein sehr nervöses Lachen, wohl war ihr gar nicht dabei.

»Na, mittlerweile kommt doch jemand vorüber.«

»In dem einsamen Wald? Sind wir bisher vielleicht einer Seele begegnet?«

Das war richtig, und Li hing den Kopf.

»Aber Muttchen läßt doch nach uns suchen!«

»Nachdem sie sich zuvor tot geängstigt hat, ja.« Lu sah heute durch die schwärzeste Brille, und Li lachte auch nicht mehr.

Stumm saßen sie ein Weilchen und rückten enger und enger zusammen.

Dann stürzte Li noch einmal nach der Tür, nahm all ihre Kraft zusammen, rüttelte und riß. Derselbe Erfolg wie vorher.

»Laß,« sagte Lu von der Bank her matt. »Komm her, es ist nun schon so.«

Li schlich stumm herzu.

Da – plötzlich ertönten Schritte draußen.

Li wollte rufen, Lu hielt ihr den Mund zu.

»Wenn's nun Strolche sind!« Da schwieg auch Li.

Sie näherten sich dem einen Fensterlein, das war aber blind von Staub und Spinnweben; wirklich sehen konnte man nichts. Die Schritte ertönten jetzt schon ganz aus der Nähe, zwei Schatten wurden sichtbar und Stimmen laut, Männerstimmen.

»Schön ist's hier, wirklich schön,« sagte die eine, und die andere darauf: »Eil dich! Wir können die Aussicht nachher bewundern. Ich bin so begierig, ob wir die Eltern oben treffen. Werden die Augen machen!«

Lu und Li horchten beim Klang der Stimmen auf, nickten einander zu und schüttelten den Kopf. Das bedeutete soviel wie: »Nein, Strolche sind das nicht!«

Als die draußen nun Anstalt machten, sich zu entfernen, was man wieder an den Schritten hören konnte, da klang es aus dem Innern der Hütte wie aus einer Kehle: »Ach bitte, gehen Sie nicht fort, helfen Sie uns erst!«

Überrascht blieben die beiden Herren stehen und traten zur Hüttentür.

»Ja, was ist denn da geschehen?!«

»Ach, wir sind hier eingesperrt.« Das sagte Lu, und Li erklärte noch genauer: »Die Tür ist nämlich zu.«

»Das sehen wir,« riefen die beiden draußen belustigt und stemmten sich mit, aller Kraft gegen die Tür. Oben und unten klaffte der Spalt, aber in der Mitte hielt's fest.

»Das ist der Riegel,« sagte Li wieder und so kläglich, daß die draußen lachen mußten.

»Nur keine Furcht, meine Damen! Wir erlösen Sie schon aus der Falle.«

»Wir wären Ihnen so dankbar, meine Schwester und ich,« sagte nun eine ruhigere, etwas tiefere Stimme, die Lus.

»Wo hab' ich die Stimmen nur schon gehört?« flüsterte der eine draußen dem anderen zu.

Der hörte gar nicht darauf. Er hatte einen Baumast aufgerafft, an dem er mit seinem Messer herumschnitt, sichtlich, um ihn als Keil in den Spalt zu treiben. Das dauerte eine Weile.

»Sind Sie noch da?« fragte schließlich die klägliche Stimme von innen wieder.

Beide lachten auf. »Aber natürlich, Gnädigste! Wir werden doch die Damen nicht in der Klemme stecken lassen!«

»Die denken gewiß Wunder, wer hier drin steckt,« flüsterte Li der Schwester zu. »Tu nur recht gesetzt!«

Lu nickte; beiden saß das Lachen schon wieder in der Kehle.

Jetzt trieben die Herren von außen den Keil ein und stemmten sich kräftig dagegen. Ein Knacken, ein Krachen und Splittern folgte, aber nicht die Tür war's, nein, der Ast.

»O weh,« riefen Lu und Li. »O weh,« sagten auch die Herren, und »Was nun?« fragten sie alle vier.

»Jetzt will ich's versuchen!« sagte dann der zweite Herr. Er zog ein kunstvoll zusammengestelltes Taschenhandwerkszeug aus der Tasche, sein Stolz und zugleich der Zankapfel zwischen ihm und dem anderen.

»Lächerlich,« sagte denn auch der jetzt, »das schwache Ding!«

»Sollst schon sehen und Abbitte tun,« triumphierte der Besitzer. »Ich säge die Türfüllung heraus.«

»Lächerlich,« behauptete der erste noch einmal, und in diesem Augenblick zersprang wirklich die Säge.

»Denn nicht,« sagte ihr Eigner ärgerlich, »Nette Ware, das! Aber was nun?«

Lu und Li hatten währenddem nur den Atem angehalten. Jetzt sagte Lu schüchtern: »Es ist uns so leid, meiner Schwester und mir, wirklich.«

»So leid,« echote Li.

Die beiden draußen hörten es kaum. »Wir werden wohl Hilfe holen müssen in der Stadt,« meinte der eine.

»Laß uns noch mal probieren, mit aller Kraft,« gab der andere zurück.

»Meinetwegen! Stemm dich mit der Schulter dagegen. Hierher! Vielleicht geben die Angeln nach, wenn der Riegel zu widerspenstig ist. Los!« Sie setzten all ihre Kraft ein.

Endlich, endlich wich das morsche alte Gefüge der verdoppelten jungen Manneskraft; die Tür gab immer mehr nach, noch ein erneutes Ansetzen, ein letzter Druck – die Bahn war frei.

»So, meine Damen, dürfen wir bitten?« sagten die Herren, während sie zurücktraten, neugierig zu erfahren, wem sie aus der Enge da drinnen zurück ans Licht verholfen hatten.

Zuerst kam Lu durch den Spalt, ein bißchen geblendet, ein bißchen verlegen. Li schob sich hinterher, blinzelte ebenfalls ein bißchen und fühlte sich nicht besonders sicher.

»Aber ist denn das nicht –? Aber das ist ja –«

»Die Überraschung! Nein, die Überraschung!«

So gingen nun die vier aufeinander los mit ausgestreckten Händen und frohen Augen.

»Ja, wie kommen Sie hierher?« fragten alle wie aus einem Munde.

»Muttchen und Fee sind auch da,« sagten Lu und Li.

»Wir besuchen unsere Eltern,« erklärten die Brüder Western, denn die waren es.

»Und wie steht's in Loberg?«

»Und wo sind Sie jetzt?« ging's dann wieder hin und her. Keines wußte, ob zuerst fragen oder antworten. Wie die besten, ältesten Freunde, die in der Fremde zusammentreffen, kamen sie sich vor, alle vier, und man sah ihnen die Freude an den blitzenden Augen, dem lachenden Munde an.

Als Lu und Li endlich erzählt hatten, daß in Loberg alles beim alten stand, und die Brüder Western, daß sie nun in F.... beim Gericht waren, mußten Lu und Li von ihrem Abenteuer berichten.

Sie taten es sprudelnd, immer eine der anderen das Wort vom Mund nehmend.

»Und natürlich müssen Sie wieder kommen und uns aus der Klemme helfen wie immer,« schloß Li und lachte.

»Und wohin wollten die Damen?« fragten die Herren jetzt.

»Auf den Waldkopf,« sagte Lu.

»Dahin gehen wir eben auch,« antwortete Assessor Paul. »Unsere Eltern sollen oben sein, wie wir im Hotel hörten. Wir wollen sie nämlich mit unserem Besuch überraschen.«

»Also gehen wir zusammen,« schlug Assessor Heinz vor.

»Natürlich,« sagte Li, und Lu nickte. Keinen Augenblick zweifelten sie daran, daß dies das Rechte wäre. »Solch gute alte Freunde,« dachten beide.

Dahin gingen nun die vier unter den Waldbäumen in junger Lust, mit Lachen und Freuen. Lu und Li erzählten von daheim, von den Lieben allen, von ihrem Tun und Treiben, sprachen, von Fee, ihrer Geduld im Leiden, der frohen Wendung zu Ostern, dem Hoffen und Wünschen, das sich an den Aufenthalt hier knüpfte.

»So haben die Damen diesen Winter wenig in Loberg verkehrt? Keine Gesellschaften mitgemacht? Keine Bälle?«

»Wie hätten wir gekonnt, wo Fee so leiden mußte?«

In die übermütigen Augen der Mädchen war mit einem Male ein sinnender Ernst gekommen, ein warmes Fühlen. Sie hatten den beiden Brüdern noch nie vorher so gut gefallen. Bald lichtete sich der Wald, der Gipfel schien erreicht.

Richtig, auf einer grünen Blöße stand das Forsthaus, das Ziel aller derer, die den Waldkopf besteigen. An einer Reihe von Tischen saßen vereinzelte Gruppen. Hier eine größere laute Gesellschaft, dort zwei und drei zusammen. Einzelne Beschauliche da und dort, im Laubengang am Haus das ältere Ehepaar von der Kurmusik im Park unten.

Assessor Paul und Assessor Heinz Western sahen sich scharf um.

»Dort sitzen sie ja!« riefen sie dann fröhlich, »dort am Haus!« Damit eilten sie auf das Ehepaar zu. Ihre Begleiterinnen aber blieben unwillkürlich zurück.

Eben hatte der alte Herr mit dem Silberbart zu seiner Frau gesagt: »Marie, wo die Jungen wohl heute sein mögen? Wir müssen sie uns doch nächstens mal kommen lassen. Was meinst du?«

Sie hatte bloß vor sich hingenickt und wie träumend in den Wald gesehen. Da waren ihre Augen mit einem Male groß geworden und sie war halb vom Stuhl aufgefahren.

»Dietrich, Dietrich, aber da – da –«

Er hatte sich umgewendet, der Richtung zu, wohin ihre Augen wiesen.

»Ei Blitz, da sind ja die zwei Braunen und – und –«

Sie waren schon heran, die zwei blonden Söhne schüttelten dem Vater die Hand und umfaßten die Mutter, einerlei wer zusah. Dann wandten sie sich.

»Meine Damen, dürfen wir Sie mit unseren Eltern hier bekannt machen. Unsere Mutter! Professor Western, unser Vater, Fräulein Elisabeth von Rö–«

Weiter kam Herr Assessor Paul Western nicht. Professor Western, der Vater, war aufgefahren, seine Augen funkelten und beide Hände streckte er Lu und Li entgegen.

»Ei, nun weiß ich doch endlich, wo ich die zwei Braunen – entschuldigen Sie, meine Damen – hinzutun habe. Es hat mich beinahe den Schlaf meiner Nächte gekostet, fragen Sie nur meine Frau da. Natürlich, natürlich, wie man so blind sein kann! Erkenne ich meine zwei freundlichen Wegweiserinnen zum Wirtshaus am Wege nicht! So 'n alter Maulwurf, wie ich bin! Willkommen, meine Damen, herzlich willkommen!«

Lu und Li waren bei der Erwähnung ihres einstigen Schelmenstreichs recht rot und heiß geworden; fast scheu blinzelten sie nach der Dame hin. Die reichte nun auch ihre Hand, in die Lu und Li aber nur zögernd die ihren legten.

»Gnädige Frau müssen einen schönen Begriff von uns bekommen,« stotterte Lu.

»So schlimm sind wir wirklich nicht mehr,« stammelte Li.

Beide sahen so treuherzig, komisch und niedlich zugleich in ihrer Verlegenheit aus, daß es die vier anderen, jeder in seiner Art, genossen.

Frau Professor Western sah sich die zwei jetzt erst genauer mit freundlichen, forschenden Augen an. Der alte Herr lachte in sich hinein und seine Augen funkelten. Und die beiden jungen Herren – nun, die waren sichtlich sehr vergnügt, was auch kein Wunder war in Anbetracht dessen, daß es immer nett ist, alte gute Freunde wiederzusehen.

Dann setzten sich alle sechs um den runden Tisch im Laubengang am Forsthaus auf dem Waldkopf; es wurde eine sehr frohe, muntere Gesellschaft.

»Woher kennen die jungen Damen eigentlich unsere beiden Söhne?« fragte Frau Professor Western im Lauf der Unterhaltung.

»Ach, das ist 'ne uralte Sache,« erklärte Li. »Allemal, wenn wir in der Klemme stecken, tauchen die beiden Herrn irgendwie als Helfer auf. Es scheint nun fast in der Weltordnung so begründet.«

»Aber Li,« tadelte Lu und bekam einen roten Kopf; Li war wirklich zu übermütig. Dann gab sie selber Auskunft auf die Frage.

Da kam denn ein recht sonderbares Ergebnis zu Tage.

»Also wenn ich Sie recht verstehe, haben Sie und meine Söhne sich eigentlich kaum drei- oder viermal wirklich gesehen und gesprochen,« sagte die Frau Professor und lächelte ein wenig.

Alle vier protestierten stürmisch. Behüte, unmöglich, alte Freunde wie sie! Dann wurde überlegt, zusammengezählt; wahrhaftig, viel mehr kam nicht heraus!

Das erste Mal waren Lu und Li durch die Herren vor zu naher Bekanntschaft mit dem Straßenpflaster behütet worden. Dann kam die Begegnung und Hilfe bei der Errettung der Staatsgewänder aus dem Landstraßenstaub. Dann – ja auf dem Basar damals hatte man sich eigentlich zum ersten Male länger gesehen und gesprochen. Kleinere kurze Begegnungen dazwischen und nun heute – hier. Na ja, viel war's ja gerade nicht, aber –

»Einerlei,« sagte Li und hob die Stubsnase hoch, »manche Menschen lernen sich eben schneller kennen als andere.«

Sie hatte damit sichtlich den anderen drei aus dem Herzen gesprochen, denn die stimmten eifrigst zu.

»Und den Herrn Professor kennen wir doch auch schon länger,« sagte Li schelmisch, »der gehört doch auch zur Familie.«

»Sozusagen,« meinte dieser schmunzelnd und strich sich den Silberbart.

Allen viel zu früh mahnte die Frau Professor zum Aufbruch.

»Ich meine, wir sind es Ihrer Frau Mutter schuldig, Sie nicht zu spät abzuliefern,« sagte sie zu Lu und Li.

Da waren die mit einem Male sehr erschrocken.

»Muttchen! Muttchen, natürlich!«

»Wie man so vergeßlich sein kann!«

»Sie wild sich doch nicht schon geängstigt haben?« Große runde Augen machten die zwei.

Dann gingen sie Seite an Seite mit der Frau Professor, erzählten von Klein-Muttchen, von Fee, vom Vater, von daheim. Und Frau Professor lernte hier unter den hohen Waldbäumen zwei andere kennen als die, die da oben am Forsthaus gescherzt und sich mit den Söhnen herumgeneckt hatten. Und die zwei anderen gefielen der Frau Professor noch weit besser, gefielen ihr sehr!

Der Herr Professor ging mit seinen beiden Söhnen hinterher. Doch sonderbar, eine Unterhaltung wollte bei ihnen nicht recht in Gang kommen. Alle drei lauschten nach vorn, hörten auf das, worauf auch die Frau Professor hörte, und – es erging ihnen genau, wie es der erging. Dafür gehörten sie eben zu derselben Familie!

Vor der Pension, in der Lu und Li wohnten, verabschiedete man sich.

»Wir werden uns die Ehre geben, Ihrer Frau Mutter morgen unsere Aufwartung zu machen,« sagten Assessor Paul und Assessor Heinz.

»Muttchen wird sich sehr freuen,« gaben Lu und Li zurück.

»Glauben Sie, daß wir sie auch aufsuchen dürfen, ja? Mein Mann und ich. Wird es nicht zu viel sein?« fragte nun die Frau Professor.

Lu und Li strahlten.

»Muttchen hat so wenig Umgang hier. Und wenn auch Fee ihre Zeit ausfüllt, freut sie sich doch, jemand zu sehen.«

Damit trennte man sich.

Lu und Li stürmten die Treppe hinauf und brachen ins Zimmer, wo Fee wie immer ausgestreckt auf ihrem Langstuhl lag und Muttchen Friedel ihr vorlas. Es war eine etwas gewaltsame Unterbrechung.

»Lu, Li,« zankte drum Muttchen Friedel, »seid ihr denn ganz toll? Ihr bleibt erst so unverantwortlich lang, daß man sich ängstigt, und wenn man dann liest, um euch ein bißchen zu vergessen, fahrt ihr daher wie die wilde Jagd! Ist das ein Benehmen für erwachsene Menschen, Lu, Li?«

Aber sie hielten Klein-Muttchen umfaßt von rechts und von links und lachten ihr in die Augen, ganz aus Rand und Band. Sie wollten erzählen, aber sie brachten nur halbe, verworrene Sätze zu stände, und wie Sturzwellen kam's; kein Einhalt war möglich.

Endlich nahm Muttchen Friedel die Gelegenheit wahr, schüttelte sich frei, faßte ihre beiden Rangen ins Auge und machte ihr strengstes Gesicht.

»Wollt ihr mir nun vielleicht einmal mit Ruhe und Anstand sagen, was eigentlich los ist? Aus solchem Gewelsche wird niemand klar, abgesehen davon, daß man von erwachsenen Menschen anderes erwarten kann. Also?«

Da kam der Bericht, klar und faßlich vom Abenteuer in der Hütte an bis zum Forsthaus.

Muttchen Friedel schüttelte den Kopf; sie kam einstweilen nicht über das Abenteuer hinaus.

»Das beweist also, daß ich euch doch nicht allein gehen lassen kann. Es tut mir leid, ich hatte euch für reifer gehalten.«

»Aber Muttchen, es war doch nur der alberne Riegel,« sagte Lu kläglich. Li kam ihr zu Hilfe.

»Und ein Glück war's, Muttchen, sonst hätten wir sie am Ende gar nicht wiedergesehen und –«

»Ja so, die Herren,« sagte nun Muttchen Friedel und kam zum zweiten Teil des Abenteuers. »Ich fürchte, ihr habt euch da gar nicht benommen, wie erwachsene junge Damen es fremden Herren gegenüber tun sollen.«

»Fremde Herren, Muttchen? Solch gute alte Freunde, bedenk doch!«

Aber Muttchen Friedel zuckte die Schultern und war gar nicht beruhigt oder überzeugt.

»Muttchen,« sagte da Fee, »sie wollen doch morgen kommen, auch die Eltern. Da wird ja schon alles recht sein.« Die glühend dankbaren Blicke von Lu und Li, die Liebkosungen für Fee!

»Wollen wir's also abwarten,« sagte nun auch Muttchen Friedel, und damit war die Sache zunächst erledigt.

Lu und Li aber behielten die glänzenden Augen, und es war ihnen zu Mut, als sei heute ein besonderes Fest.

Am anderen Tag kamen zuerst einmal Herr und Frau Professor Western und dann später die beiden jungen Herren. Man fand gegenseitig großes Gefallen aneinander und versprach ein öfteres Zusammenkommen. Lu und Li brauchten nun nicht mehr einsame Gänge zu gehen und Muttchen Friedel war die Sorge für die zwei abgenommen. Professor Western und seine Frau nahmen sie ganz unter ihre Obhut.

Assessor Paul und Assessor Heinz Western reisten zunächst wieder ab, kamen aber nach acht Tagen zurück, ihren Urlaub in Warmbad bei den Eltern zu verbringen.

Das waren schöne frohe Tage, die nun folgten.

Morgens zur Frühmusik schon fanden sich Lu und Li ein, Professor Western den Brunnen zu trinken helfen. Daß die beiden Söhne nicht fehlten, war natürlich. Die waren doch immerhin die Nächsten dazu. Dann gab's Morgengänge in den Wald, bei denen sich auch die Frau des Professors, zuweilen auch Muttchen Friedel anschloß. Um letzteres bat inständig Fee; sie konnte mit Hilfe der Jungfer und der Badefrau ganz gut ohne Muttchen in ihr Bad und zurück gelangen, und da sie sich in letzter Zeit entschieden kräftiger fühlte, so tat ihr Muttchen Friedel zuweilen den Willen und ging mit in den Wald.

Am Nachmittag gab's dann wohl größere Ausflüge oder auch nur das Kurkonzert, Abends zuweilen Reunion, zuweilen Beleuchtung und Feuerwerk. Alles genossen Lu und Li mit der Familie Western zusammen; man hätte die Begegnungen mit den Freunden nun nicht mehr so leicht am Finger herzählen können.

Ja, es war, eine wunderschöne Zeit, und Lu und Li genossen sie in vollen Zügen. Sie strahlten nur so und schienen alle Tage hübscher zu werden.

Muttchen Friedel sah sich die beiden zuweilen von der Seite an; sie kamen ihr fast fremd vor.

»Was sie bloß haben, Fee?« sagte sie zu dieser. »Wenn sie sich nur nicht verwöhnen mit dem vielen Vergnügen! Das Alltagsleben auf Rödershof wird ihnen danach recht sauer werden. Aber ich kann's ihnen nicht wehren, Fee, sie haben doch auch vorher brav ihre Pflicht getan.«

»Laß du sie nur, Muttchen, sie werden's auch wieder tun, so oder so.« Fee lächelte dazu sehr eigen und sah träumerisch ins Weite. War denn Muttchen Friedel blind? Oder sah sie, Fee, etwas, das nicht existierte?

Muttchen Friedel sollte bald sehend werden.

Eines Morgens kam Professor Western zur Visitenzeit, sehr feierlich und förmlich, und bat, Frau von Rödern allein sprechen zu dürfen.

Als er wieder gegangen war, gab Frau Friedel eine Depesche an Vater Klaus auf:

»Komme sofort! Ich finde mich hier nicht allein zurecht.

Friedel.«

Ein Glück, daß die Ernte eben bis zum letzten Halm eingetan und auch die Frist für Lutz und Fritz abgelaufen war. Vater Klaus brachte also seine beiden Söhne zu dem Professor zurück. Von daheim konnte er ja nun getrost weg; die Hauptarbeit war getan und sein Inspektor war zuverlässig.

Die Depesche hatte ihn nicht weiter aufgeregt. Frau Friedel hatte wohl ein bißchen Heimweh nach ihm, und das war nicht mehr als ihre Pflicht und Schuldigkeit. Er hatte eigentlich schon ein Weilchen auf einen solchen Ruf gewartet. Telegraphisch hätte der ja nicht gerade zu sein brauchen; aber das sah Friedel so recht ähnlich.

Er schmunzelte vor sich hin, als er zu Papa Polten ritt, sich zu verabschieden.

»Alberne Sitte,« brummte der ungnädig. »Zu meiner Zeit ist man nicht so in Bädern herumgefahren. Da hat man sich hübsch daheim kuriert und –«

»Erbarm dich, Konrad, das Kind, die Fee, hat's doch nötig gehabt.« Tante Lenchen wußte nicht, sollte sie sich über den Bruder entrüsten oder vor Mitgefühl vergehen mit »dem Kind; der Fee.«

Papa Polten knurrte dann nur etwas, was man deuten konnte, wie man wollte. »Grüß mir das Jungchen!« war das einzig Verständliche.

Dann flog Vater Klaus Warmbad und seiner Frau zu. Die empfing ihn mit einem etwas zweifelhaften Gesicht, worin etwas von Verwunderung und Staunen, etwas Neckerei und auch ein leiser Stolz und ein Glück, das sich noch nicht recht vortraute, zu lesen war.

Als er dann hörte, was sie zu sagen hatte, da sah er ein, daß nicht nur ihr Heimweh ihn herbeirief, sondern Vater- und Mutterpflichten.

»Hm, hm,« sagte er und neigte den Kopf hin und her, kniff ein Auge zu und sah seiner Frau neckend ins Gesicht. »Mir scheint, wir werden alte Leutchen, Friedel. Und was sagen die zwei dazu?«

»Ich hab' sie nicht gefragt, Klaus. Ich wollte das dir überlassen. Du bist doch der Vater.«

»Will sie mir mal vornehmen!« schmunzelte er.

Das tat er, und das Ergebnis war ein sonderbares.

Fee lag auf ihrem Langstuhl auf der Veranda und sah träumend in die grün-goldene Sonnenpracht über dem weiten Park. Muttchen Friedel saß an ihrer Seite und hatte ihre Hand fest, fest gefaßt. Beide waren stumm, lauschten in sich hinein und in nähere und weitere Fernen, auch auf ein Stimmengemurmel, das aus der Tür nebenan kam.

Da hatte sich eben Vater Klaus seine beiden Jüngsten, Lu und Li, »vorgenommen«, wie er sagte, und er hatte sonderbarerweise dazu auch den Assessor Paul und den Assessor Heinz Western nötig gehabt.

Und das Ergebnis?

Mit einem Male kamen Schritte durchs Zimmer, lebhafte, hastige.

Zwei Paare traten in die offene Verandatür und dahinter sah man das lachende Gesicht von Vater Klaus. Er rief: »Da, Friedel! Lu und Li Rödern, Assessor Heinz und Assessor Paul Western empfehlen sich als Verlobte!«

Lu und Li lösten sich aus den Armen, die sie gefaßt hielten, und flogen auf Muttchen Friedel und Fee zu.

»Muttchen! Muttchen!«

»Fee! Schwester Fee!« Jubelndes, jauchzendes Glück klang aus ihren Stimmen.

Da geschah etwas, das mit einem Male jeden lauten Freudenausbruch dämpfte, die Herzen mit heiligem Staunen und stummem heißen Dank füllte und das junge himmeljauchzende Glück der viere in den Hintergrund drängte vor dem Wunder, das sich da vor aller Augen vollzog.

Als die zwei Paare in der offenen Tür erschienen waren, hatte sich Fee mit einem Ruck aufgesetzt. Und ehe jemand wußte, wie ihm geschah, oder gar zufassen konnte, stand sie hochaufgerichtet, nein, tat ein paar Schritte den jungen, bräutlichen Schwestern entgegen, und rief ihnen, die Arme weit ausgebreitet, zu: »Lu! Li! Alles, alles Glück!«

Fee konnte wieder gehen! Wer könnte schildern und sagen, was sie da alles empfanden? Eine arme kleine, schwache Feder kann es nicht; es muß das jeder im eigenen Herzen nachfühlen.


 << zurück weiter >>