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Leichte Sommerwölkchen

Lutz und Fritz trabten heimwärts von der Schule, mitten durch den Wald.

Die beiden gingen nicht etwa fein säuberlich neben der Landstraße auf dem Fußsteig, behüte; sie wateten mitten im Staub, und je höhere Wolken sie aufwirbelten, desto wohler war's ihnen.

Die Sonne schien, und der Sommer hatte Einzug gehalten; die großen Sommerferien sollten beginnen. Lutz und Fritz trugen ihre halbjährliche Zensur im Ranzen.

»Du, Fritz,« sagte Lutz, »meine ist einfach miserabel.«

Fritz wußte, was er meinte, er hatte auch nichts Besseres zu melden und ließ die Ohren hängen.

»Wenn Vater fragt,« entgegnete er dann, »ich – ich sag', ich hätt' keine gekriegt!«

»Lügen ist gemein,« sagte Lutz.

»Na ja, aber –«

»Du, willst du das Nest mal sehen?« fragte da Lutz, dem leidigen Gespräch eine andere Wendung zu geben; er kannte alle Vogelnester weit in die Runde. Fritz nickte.

»Aber nicht anrühren,« mahnte noch Lutz.

Wie auf Verabredung wirbelten die beiden nochmal eine Staubwolke auf zum Ersticken, dann sprangen sie seitwärts in den Wald. Die Ranzen hinderten dabei am raschen Durchbrechen des Unterholzes.

»Legen wir sie hierher,« schlug Lutz vor.

Da lagen auch schon die Ranzen am Waldrand. Ihre beiden Träger aber eilten flink zu einem hohen Baum, an dem sie hinaufkletterten, Lutz voran als Wegweiser. Hoch oben hielt er und zeigte auf etwas.

»Da,« sagte er.

»Das ist ja leer!« meinte Fritz sehr enttäuscht.

»Na nu! Denkst du etwa, im Juli sitzen die Jungen noch da und warten, bis der Fritz Rödern kommt?« Zugleich tippte Lutz mit nicht mißzuverstehender Gebärde an die Stirn.

Das beleidigte Fritz schwer; er schlug mit Armen und Beinen aus. Darüber kam er ins Rutschen. Lutz erschrak, griff nach ihm, rutschte aber gleichfalls aus. Schließlich sausten beide an dem Stamm nieder. Zu Schaden waren sie nicht gekommen, außer ein paar Schürfungen an Armen, Händen und Beinen. Dafür klaffte es in den Kleidern wahrhaft erschreckend! Bei Lutz hingen Winkelhaken an beiden Knieen. Fritz hatte den halben Ärmel und sämtliche Westenknöpfe auf Nimmerwiedersehen oben gelassen. Ziemlich verblüfft standen sie da und sahen sich an.

»Du bist schuld!«

»Nein, du!«

In der nächsten Sekunde lagen sie schon in enger Umschlingung am Boden. Ein Büschel Haare kostete es jeden; Lutz blutete die Nase und Fritz hatte ein dickes Auge. So richteten sie sich dann wieder auf und der Frieden war hergestellt; sie trugen sich weiter nichts nach.

»Du siehst nett aus, Ferkel!« sagte dann Lutz.

»Selber eins,« entgegnete Fritz, »siehst's bloß nicht.«

Hastig brachen sie nun wieder durchs Unterholz zurück nach der Landstraße.

»Da war's,« sagte Lutz.

»Nee du, da!« rief Fritz.

Sie rannten hin und her; aber die Ranzen waren und blieben verschwunden.

»Weg sind sie,« sagte dann Lutz, rot, heiß und atemlos. »Je, du, was tun wir nur?«

Fritz sah ihn mit offenem Mund an.

»Je, du und –« Dann lachte er plötzlich wie toll, schlug sich auf die Kniee, warf die Beine und lachte. Lutz sah ihn mit großen Augen fast ängstlich an; war er am Ende »übergeschnappt«? wie sich Lutz in Gedanken elegant ausdrückte.

»Fritzel,« sagte er sehr sanft, denn er hatte seinen Fritz lieb.

Der sah ihn mit verkniffenen Augen an, das blau verschwollene sah besonders komisch aus.

»Du,« stöhnte er schließlich, schnappte nach Luft und bekam doch noch einen Lachanfall, den er erst überstehen mußte, »futsch sind sie.«

»Dummkopf,« antwortete Lutz brüderlich zärtlich, »du brauchst nicht so zu lachen! Das wird ein netter Radau daheim werden! Muttchen –«

»Aber die – die – die –« Fritzchen stotterte vor Eifer – »die – die – ich mein' ja die – die Zen–su–ren!«

Da stand Lutz starr; so weit hatte er noch gar nicht gedacht. Und dann stieß er einen gellenden Schrei aus, der selbst Fritzchen zusammenschrecken ließ.

Aber er faßte sich rasch wieder und stimmte ein. Wie toll rasten die beiden im Straßenstaub der Heimat zu; die Staubwolken wirbelten himmelhoch.

Das nahm ein Esel übel, der da am Wegrand vor einem Karren stand; sein Herr pflegte wohl der Ruhe irgendwo im Schatten. Grauchen war ohnehin gereizt über diese ungleiche Arbeitsverteilung. Hier in der Sonne zu schmoren, gesattelt und gezäumt auf allen vieren zu stehen, während sein Herr dort im Schatten friedlich auf dem Rücken lag und schnarchte. Und nun fuhren auch noch die Schreihälse daher mit Gebrüll und Staub.

Der Esel bockte und schlug aus, während Lutz und Fritz herantollten. Der Himmel weiß, wie jeder plötzlich einen langen Grashalm in Händen hielt.

Und nun hatte der Esel eine schlimme Zeit. Die Grashalme kitzelten ihn ohne Unterlaß und ohne Erbarmen an den empfindlichsten Stellen. Er ärgerte sich gewaltig, umsomehr, als Ausschlagen nichts nutzte. Aber ein Esel war unser Esel nicht; quälen ließ er sich nicht. Ein Ruck, und fort sauste er im Trab.

Das nahm nun der Karren recht übel, ein wackeliger, gebrechlicher seiner Art, und bald lagen im Staub der Straße seine Trümmer. Gelb quoll es dazwischen vor, weiß floß es in Strömen. Milch und Eier waren die Ladung des Karrens!

Lutz und Fritz hatten sich bei des Esels ersten Verzweiflungssätzen ausschütten wollen vor Lachen; jetzt änderte sich die Sachlage. Das Gelb und Weiß dort im Staub machten sie sehr bedenklich.

»Racker, ihr! Ihr – ihr – ihr –«, Der Mann, der dort aus dem Wald setzte und zur Unglücksstätte rannte, schnaubte vor Wut.

Lutz und Fritz warteten weitere Ehrentitel nicht ab. Sie stürmten davon, daß ihnen die Füße fast auf den Rücken schlugen, über den Wiesenpfad auf die rettende Tür des Elternhauses los und Muttchen Friedel just in die Arme, die auf den Freistufen stand und nach ihnen ausschaute.

Hätten sie das gewußt, sie wären ins Hoftor eingebogen. Jetzt gab's kein Entrinnen mehr. Muttchen Friedel stand zuerst starr, aber rasch kam Leben in das Steinbild, recht bedenkliches Leben. Lutz und Fritz fühlten sich am Schopf genommen.

»Ihr Taugenichtse,« zankte Muttchen Friedet, »Lutz, Fritz, wie seht ihr aus?«

Ja, wie sahen sie aus! Voll Staub, zerschunden, die Fetzen hingen an ihnen herunter.

Aber ehe das erledigt werden konnte, kam's drüben auf der Landstraße angerattert, bog es in die Wiesen ein und ratterte über die Rödershofer Steinbrücke. Der Mann mit dem Eselskarren! Drohend schwang er die Peitsche. Von ferne schon hörte man ihn die Liste der Lutz und Fritz zugedachten Ehrentitel vervollständigen. Kriegerisch schmetterte der Esel dazu sein I–ah! I-ah!

Muttchen Friedel stand wieder wie ein Steinbild. Rechts und links hielt sie die Ohrläppchen ihrer Sprößlinge gepackt.

»Malefizbuwe,« kreischte der Mann, »mein' Milch! Mein' Eier!« Drohend schwang er die Peitsche, die entsetzlich klatschte. »Alleweil do her! Nix als wie do her! He, Madamche, nit loslasse, beileib nit loslasse!«

Damit war er schon in Hörweite, und schließlich ganz zur Stelle. Lutz und Fritz waren sehr blaß. Der Mann keuchte noch, während er berichtete.

»Un jetz kenne Se sich, wann Se wolle, en Pannekuche dervon backe, Madamche,« schloß er höhnisch. »Es fehlt bloß des Fett. Awer ich will mein Geld. Finfhunert Eier war'ns un zwanzig Liter Milch. E schön' Pestche, Dunnerhagel! Ihr werd mehr Esel kitzele, ihr Racker!« Das galt Lutz und Fritz.

»Habt ihr den Esel gekitzelt?« fragte Muttchen Friedel.

Sie nickten, schluckten und ließen die Köpfe hängen.

»Geht und holt eure Sparkassen!«

»Muttchen, wir –«

»Wir-«

Eine drohende Bewegung Muttchens trieb sie davon. Gleich danach standen sie wieder da und hielten zwei Blechbehälter in den Händen, eine Hundehütte und einen Taubenschlag darstellend. Muttchen Friedel griff danach; sie waren bedenklich leicht.

»Die sind ja leer, Lutz, Fritz!«

Noch tiefer sanken die Köpfe.

»Wofür?«

»Schokolade,« stammelte Fritzchen.

»Pulver!« gestand Lutz und erhob zugleich den Kopf; das war doch männlicher als Naschwerk!

»Nichtsnutzige Schlingel!« wetterte Muttchen Friedel.

»Nette Plänzcher,« setzte der Mann grinsend hinzu.

Er bekam alsbald sein Geld und zog mit Eselein und Karren ab. Beim Abschied rückte er noch die Mütze und sagte mit einem bezeichnenden Blick auf Lutz und Fritz: »Na, ich winsch' viel Glick, Madamche!«

Muttchen Friedel erwiderte nichts; sie war aber sehr blaß und verschwand mit den beiden im Hause.

Ein hartes Strafgericht mußte dann ergangen sein, denn Lutz und Fritz saßen nachher sehr sauber, aber zugleich sehr geknickt am Mittagstisch.

Fee hatte Lutz und Fritz die Suppe in ihre Teller gefüllt und dazu leicht über die Krausköpfe gestrichen. Scheue dankbare Blicke waren die Folge. Lu und Li hingegen fühlten kein Mitleid mit ihnen; geschah den Schlingeln sehr recht! Sie waren in der letzten Zeit gar zu übermütig. Lu und Li wußten ein Wörtchen davon zu erzählen; kein Tag verging, ohne daß ihnen die Brüder irgend einen Streich spielten. Bald fanden sie Steine in den Schuhen oder Sand im Bett. Neulich Abends war ihnen eine Anzahl Fledermäuse in ihrem Zimmer entgegengeflattert. Da das Fenster zu war, mußten sie auf einem ungewöhnlicheren Wege hereingekommen sein. Bald darauf fand Lu eine tote Maus in ihrer Nachttischschieblade und Li Tags danach eine große lebendige Heuschrecke, die ihr mitten ins Gesicht hopste. Lu und Li bemitleideten daher die beiden Sünder kein bißchen.

Vater Klaus warf zuweilen einen Blick nach seinen Söhnen. Es lag was Ernstes drin.

»Jungen,« sagte er plötzlich, »solltet ihr denn nicht heute die Zensur bringen?« Lutz und Fritz wurden feuerrot.

»Ja, Vater,« gaben sie nach einer Pause zu.

»Und?« fragte Vater Klaus weiter.

»Wir haben keine,« sagte Lutz.

»Nee, wir haben sie nicht,« gestand auch Fritz.

»Habt ihr etwa keine bekommen?«

»Doch, Vater,« lautete die gedehnte Antwort.

»Und?«

»Sie stecken im Ranzen,« sagte Lutz.

»Im Ranzen, ja,« bestätigte Fritz.

»Jungen, ihr habt wohl den Sonnenstich?« zankte nun Muttchen Friedel. »Wollt ihr den Mund aufmachen?«

Lu und Li hoben die Nasen; schadenfroh witterten sie Unheil.

»Wenn wir aber die Ranzen nicht haben, Muttchen,« sagte Lutz.

»Ja, die sind weg und die Zensuren auch,« fügte Fritzchen erklärend hinzu und hinten in seinen Augen glimmte etwas wie Triumph.

»Ihr seid wohl furchtbar unglücklich darüber, was?« erkundigten sich da Lu und Li recht spöttisch.

»Werdet ihr reden, Lutz, Fritz! Was für ein Benehmen ist das?« donnerte gleich darauf Vater Klaus. Da beichteten nun die beiden.

»Ein netter Tag,« sagte Vater Klaus am Schluß. »Zerrissene und beschmutzte Kleider, die Eier- und Milchrechnung, und nun die Ranzen fort mit allen Büchern, dazu die leeren Sparbüchsen! Was habt ihr zu sagen, he?«

Sie wußten nichts zu sagen, gar nichts, sondern ließen nur die Köpfe hängen.

Auch Muttchen Friedel tat schuldbewußt das gleiche. In all dem Wintertrubel waren ihr die Zügel entfallen, womit sie die beiden wilden Fohlen bisher im Zaum hielt. Auch das Frühjahr hatte allerhand Ablenkung gebracht, und sie war nicht auf ihrem Posten gestanden. Nun sollte sie den Lohn aller ihrer Unterlassungen ernten. Sie seufzte tief.

Es war ein so ungewohnter Ton, daß alle nach ihr hinsahen. Vater Klaus strich beruhigend über ihre rechte Hand, Fee beugte sich über die andere und küßte sie. Lu und Li erdolchten Lutz und Fritz fast mit ihren Blicken. Die aber sahen's nicht, denn sie hielten die Köpfe tief gesenkt.

»Eure Strafe soll sein, daß ihr morgen selbst zu eurem Direktor geht, ihm erzählt, was ihr getrieben habt, und ihn um neue Zensuren bittet! Habt ihr verstanden, Lutz, Fritz?«

Sie hatten nur zu gut verstanden und schlichen hinaus.

Sie drückten sich noch den ganzen Tag so betrübt im Haus herum, daß es Muttchen Friedel fast erbarmen wollte. Aber sie hielt an sich.

»Klaus,« sagte sie des Abends zu ihrem Mann, »Klaus, leichtfertige Buben sind's ja geworden, wahrhaftig, ich muß es zugeben. Ich hab' eben meine Pflicht in der letzten Zeit an ihnen nicht getan; das rächt sich. Aber wirklich schlechte Streiche haben sie nicht gemacht, das ist mein Trost, Klaus.« Und Muttchen Friedel blickte mit ungewohnter Bekümmernis ins Licht.

»Hm,« brummte Vater Klaus und räusperte sich. »Wir wollen hoffen, daß das nicht noch nachkommt, Kind.« Er sagte das sehr ernst.

»Meine Jungen, Klaus? Deine Söhne?« Muttchen Friedel war entrüstet und wandte sich ab. Vater Klaus blieb still.

Am andern Morgen trabten also Lutz und Fritz die Landstraße hin, dem Städtchen, der Schule und dem Direktor zu. Wohl war ihnen aber diesmal nicht auf dem Wege. Sie wirbelten keine Staubwolken auf, sondern gingen fein gesittet den Fußpfad am Waldsaum hin.

Dann standen sie vor dem Direktor, stotterten, stammelten und brachten ihr Anliegen vor. Der sah sie über seine Brille hin an, was sein Gesicht noch strenger als gewöhnlich machte.

»Große Freude wird's eurem Vater ja nicht machen, Jungen; aber ihr sollt die Abschrift haben. Und nun noch das mit den verlorenen Ranzen! Wenn ihr mein wäret –«

Das übrige verlor sich in Brummen. Lutz und Fritz fühlten sich sehr klein, und trabten danach auch sehr geknickt wieder heimwärts, ohne sich viel aufzuhalten.

Daheim beachtete sie niemand.

Muttchen Friedel und Fee waren mit Einmachen beschäftigt. Lu und Li hatten helfen sollen, im letzten Augenblick aber sonst allerlei äußerst Notwendiges zu tun gefunden; dann waren sie unsichtbar geworden.

Lutz und Fritz saßen allein an ihrem Tisch, die Unglückszensuren vor sich.

»Du, Fritz,« sagte Lutz. »Wenn statt der Sechser da Nullen stünden und die Vierer Einer wären!«

Fritzchen seufzte tief, aber blieb schweigsam.

»Leicht zu machen war's, du; bloß so, sieh!« fuhr Lutz fort; er hatte plötzlich den Federhalter in den Händen und aus dem einen Sechser war schnell eine Null geworden!

»Fein, was?« sagte Lutz.

Fritzchen nickte.

Dann hantierte Lutz mit dem Radiermesser; statt eines Vierers prangte ein Einer, statt des Fünfers ein Dreier.

»Fein, was?« sagte er noch einmal.

»Aber, du –« Fritzchen wurde mit einmal bedenklich.

»Gib deins her!« befahl aber Lutz; er war in Feuereifer.

»Aber –« sagte Fritzchen wieder. Doch dann schob er sein Zeugnis hin.

Völlig klar machten sich die beiden nicht, was sie im Eifer des Augenblicks taten. Und als die Erkenntnis dämmern wollte, war's geschehen. Es war auch zu spät, es noch zu ändern. Eben kam Muttchen Friedel.

»Na, Jungen, her damit!«

Sehr rot waren sie, sehr heiß und sehr ungewiß. Ihre Hände, die Muttchen Friedel die Papiere reichten, zitterten. Die sah hinein und blickte strahlend auf.

»Aber, Jungen, das ist ja vorzüglich! So was ist ja noch nicht dagewesen! Wie der Vater sich freuen wird! Kommt mal her und laßt euch umarmen! Lutz, Fritz, bravo, euer Muttchen ist glücklich! Und Muttchen Friedel schloß sie in die Arme.

Sehr scheu und bockbeinig ließen sie's geschehen; Muttchen Friedel schob's auf angeborene Bengelhaftigkeit und dachte sich weiter nichts dabei.

Bei Tisch, dem Vater gegenüber, hatten sie sich dann schon mehr in die Heldenrolle gefunden und spielten sie vor Lu und Li sogar tadellos; sie fanden Gefallen daran.

Ein paar Tage gingen so drüber hin.

»Es ist erstaunlich, wie zahm die beiden sind, Klaus,« sagte Muttchen Friedel und sah ziemlich verdutzt aus, »dabei die gute Zensur! Wenn nur keine Krankheit in ihnen steckt!«

»Die Vernunft kommt ihnen eben allmählich,« erwiderte Vater Klaus.

»I wo, Klaus, so schnell geht das nicht,« sagte Muttchen Friedel im Brustton der Überzeugung.

»Ach so!« erwiderte Vater Klaus lachend. »Aus dir spricht die Erfahrung.«

Muttchen Friedel zuckte die Schultern. Aber sie beobachtete ihre Söhne und setzte sich eines Abends auf den Rand ihrer Betten.

»Sagt mal, Lutz, Fritz, was ist das mit euch? Wo drückt's? Los, gebeichtet!«

»Nichts ist's,« sagte Lutz fast grob.

»Gar n–nichts,« stotterte Fritzchen.

»Jungen, ihr habt was, ich fühle es. Hat euch euer Muttchen je im Stich gelassen?«

Nie Zärtlichkeit der Mutter schien zu siegen.

»Der Lutz –« schluchzte Fritzchen.

Der hob drohend die Faust. »Wenn du –«

Aber da hielt ihn Muttchen Friedel schon im Arm.

»Lutz, Junge!« Sie küßte ihn und schmeichelte: »Komm zu Muttchen, Lutzi!« als ob er ein kleiner Hemdenmatz wäre. Zu anderen Zeiten hätte dies Lutz im Gefühl seiner Manneswürde empört. Heute – heute heulte er laut auf.

»Ich hab's nicht tun wollen, gewiß und wahrhaftig nicht. Muttchen! Ich hab's nur mal probiert und da – da war's ein Null. Und – und –«

Er schluchzte bitterlich.

Muttchen Friedel fühlte, wie sie an allen Gliedern zitterte, aber sie blieb sehr ruhig.

»Sag mir alles, Lutz,« mahnte sie ernst. Da kam die Beichte.

Muttchen Friedel ließ ihren Jungen nicht aus den Armen, als sie alles wußte, und er klammerte sich an sie, zitternd und schluchzend. Fritzchen hing von der anderen Seite an ihrem Rock; auch um ihn legte sie den Arm.

»Wir wollen es dem Vater sagen,« sprach sie nach einer Weile.

»Muttchen,« schrieen die Buben jammernd auf, »Muttchen!«

Sie blieb fest.

»Wer unrecht tut, muß die Folgen tragen,« sagte sie ernst. »Flink, kommt!«

Wie sie waren, nahm sie ihre beiden Söhne mit: im Nachthemd, mit bloßen Füßen.

Vater Klaus blickte sehr erstaunt von seiner Zeitung auf; Fee, Lu und Li waren im Garten, man hörte ihre hellen jungen Stimmen.

»Nun,« sagte Vater Klaus, »was –?«

Da trat Lutz vor ihn, sehr blaß, aber sehr aufrecht. Wie ein kleiner Held stand er da, dachte Muttchen Friedel, ziemlich stolz trotz all ihrer Not, denn ihr selbst zitterten die Kniee.

»Vater, ich hab' die Zensuren gefälscht, auch Fritz seine,« sagte Lutz, nicht sehr laut, aber so, daß jedes Wort verständlich war.

»Aber ich hab's ihn tun lassen, Vater,« heulte Fritzchen; er war weniger heldenhaft als Lutz, doch stecken ließ er den Bruder nicht. Muttchen Friedel liefen die Tränen übers Gesicht.

»Das habt ihr tun können, Lutz, Fritz?« Vater Klaus schien durchaus nicht zornig, aber seine Stimme klang tief traurig. »Ich hätte das von unseres Muttchens Jungen, von meinen Söhnen, nicht geglaubt.«

Jetzt schluchzten Lutz und Fritz bitterlich.

»Geht!« sagte Vater Klaus. »Ihr habt mich schwer betrübt und ich muß erst mit mir ins reine kommen, was geschehen soll.«

Wie arme Sünder auf ihrem letzten Wege schlichen sie hinaus.

»Du bist hart, Klaus,« schluchzte nun Muttchen Friedel.

»Ich muß es sein, Kind, das ist meine Pflicht; hart auch gegen dich, Friedel. Denn die Jungen müssen fort, sie müssen unter eine stramme Zucht. Ich kann mich ihrer nicht so annehmen, wie ich sollte. Und du – du hast eben auch andere Pflichten, Kind.«

»Klaus,« jammerte sie auf, »wenn du mir das antust –«

»Wir können ihnen die Aufsicht nicht geben, die sie nötig haben; du hast's ja jetzt gesehen.«

Muttchen Friedel war sehr still geworden. Jetzt hob sie den Kopf.

»Ich habe mir zu viel zugetraut, Klaus, und ich will's büßen.«

»Brav,« sagte er da einfach und griff nach ihrer Hand.

Ungewohnt trübe Tage folgten nun auf Rödershof; Muttchen Friedel trennte sich so schwer von ihren Jungen.

Die Ranzen waren ihren Eigentümern von der Polizei wieder zugestellt worden; drin fanden sich die ursprünglichen Zensuren in ihrer ganzen Schwärze. Sie wurden zur gegebenen Zeit bescheinigt dem Direktor wieder zugestellt. Die wahre Ursache des Schulaustritts von Lutz und Fritz erfuhr außer der Familie niemand; das hatte Muttchen Friedel von Vater Klaus erfleht.

Sie ging übrigens so tieftraurig herum, daß es Papa Polten kaum mit ansehen konnte. Er wetterte: »Wozu dies alberne Fortschicken, Klaus? Jungchen heult sich noch die Augen aus! Laß 'nen Magister kommen, der haut die Bengel zurecht! Basta!«

Da hob Muttchen Friedel den Kopf. »Klaus hat recht, Papa, und ich bin einfach eine dumme Pute.«

»Meinethalben,« brummte Papa Polten. »Pack schlägt sich, Pack verträgt sich.«

»Zwischen Mann und Frau muß eben niemand mit drein reden wollen, Konrad,« sagte Tante Lenchen sehr weise.

»Frauenzimmerschnack,« erwiderte Papa Polten sehr unhöflich.

Seine Einsprache nutzte übrigens nichts. Muttchen Friedel brachte ihre beiden Sorgenkinder selber an Ort und Stelle, zu einem Professor in der nächsten großen Stadt. Mit viel Tränen gingen Lutz und Fritz und mit viel guten Vorsätzen. Alle vermißten sie auf Rödershof und, wunderbar, fast am meisten Lu und Li. Ihnen fehlten die Plagegeister und mehr noch fehlte ihnen der gesunde Ärger über die täglichen Plagen.

Entschlossen und getröstet kam Muttchen Friedel wieder heim.

»Sie sind in guten Händen, glaub' ich, Klaus, da meine zu ungeschickt und zu unachtsam waren.«

Muttchen Friedel hatte sich wieder gefunden; aber ein Schatten war doch auf ihr sonniges Glück gefallen – ein Sommerwölkchen war über Rödershof hingezogen.

Und ein zweites stieg auf.

Fee saß in ihrem Zimmer. Die Eltern hatten ihr bei ihrer Heimkehr ein eigenes gegeben. Lu und Li hausten nebenan.

Also Fee saß in ihrem weichen Lackstuhl, der mit buntseidenen Kissen bequem ausgelegt war, und las. Sie hatte wieder einmal ihr Lieblingsbuch vorgenommen und war für die Außenwelt verloren.

Aber plötzlich richtete sie sich auf und legte die Hand an die Stirn. Was war doch gleich?

Richtig! Um diese Zeit pflegte sie ja ein Stündchen mit den Schwestern zu lesen. Die klassische Stunde nannten's Lu und Li und rümpften die Nasen. Aber sie fügten sich doch der Schwester.

Fee zog die Uhr. Ein Viertel über die gewohnte Stunde! Nun eilte sie an die Tür zum Zimmer der Schwestern.

»Lu! Li!«

Keine Antwort, nur ein Kichern und ein heftiges Türzuwerfen.

»Lu! Li!« rief Fee lauter und lief hinaus.

Von der Treppe her kicherten Lu und Li und hoben grüßend die Reitpeitschen; sie waren im Reitanzug.

»Hast die Zeit verpaßt, Fee. Wir waren bereit,« rief lachend Lu.

»Grüß mir die Braut von Messina, Fee! Heut mögen die Chöre ohne uns deklamieren!« rief auch Li. Sie war schon unten.

Umsonst lockte Fees weiche Stimme von neuem.

Bald stoben flüchtige Pferdehufe übers Pflaster.

Fee seufzte tief auf.

»Was gibt's, mein Mädchen?« fragte da Vater Klaus; er war hinter seine Älteste getreten, bog ihren Kopf zurück und sah ihr zärtlich in die Blauaugen. Fee wurde dunkelrot.

»Ich hab' mich über einem Buche versäumt, statt an die Lesestunde zu denken, und Lu und Li –«

»Sind ausgekniffen! Kann ich mir denken!«

»Meine Schuld ist's, Vater! Eine Viertelstunde haben sie auf mich gewartet!«

»Das war wirklich edel, muß ich sagen.«

»Ich denke, ihr lest, Fee,« sagte Muttchen Friedel, die eben von einem Inspektionsgang in den Wirtschaftsregionen zurückkam.

»Die Rangen sind ausgerückt,« entgegnete Vater Klaus.

»Da soll doch gleich –« Muttchen Friedel hob bedrohlich die Hand. »Es war die einzig vernünftige Stunde im Tag!«

Fee klagte sich an.

»Laß sein, mein Mädchen,« tröstete Vater Klaus gutmütig. »Begleite den alten Vater in den Wald. Kommst du mit, Friedel?«

»Ich muß nach Papa sehen, Klaus.«

»Dann bringen wir dich hin, Kind.«

Die drei schritten durch die Wiesen und dann unter den Waldbäumen hin, Dresdorf zu.

»Geht ihr nur weiter, ihr zwei; Papa ist nicht sehr gastlich, wenn's ihn zwickt. Er soll heut einen schlimmen Tag haben, erzählte die Webern, die Tante Lenchen mit den Frühbirnen schickte.«

»Dafür ist ›Jungchen‹ der beste Trost,« neckte Vater Klaus.

Muttchen Friedel gab ihm einen Nasenstüber und huschte durch die Wiesen.

Vater Klaus und seine schlanke, blonde Älteste sahen ihr zärtlich nach. Als ob sie den Blick gespürt habe, wandte sich Muttchen Friedel noch einmal, faßte mit gespreizten Fingern ihr Kleid, knickste wie ein kleines Schulmädchen und verschwand im Baumgang, der zu dem Dresdorfer Herrenhaus führte.

Vater Klaus und Fee lachten hell auf.

Dann schob er seinen Arm in den der Tochter und sie gingen in den Wald. In fröhlichem und ernstem Plaudern schritten sie Seite an Seite; Vater Klaus und Fee fanden immer etwas, das sie beide interessierte.

Da horchte Fee auf. Es tönten Laute wie fernes Hussa und Hallo an ihr Ohr.

»Lu und Li!« rief sie.

Vater Klaus nickte. »Wo die ihr Unwesen treiben mögen?«

»Wohl auf der Waldwiese, Vater.«

Er horchte. »Kannst recht haben, Fee. Schnell komm; sie scheinen's toll zu machen!«

Mittlerweile war das Hallo und Hussa lauter geworden. Helles, jubelndes Lachen, dazwischen Peitschenknallen und dann Hetzlaute, die offenbar den Pferden galten.

Dort blinkte das Lichtgrün der kleinen Waldwiese durch die Baumstämme. Vater Klaus hielt Fee am Arm fest.

»Laß uns anschleichen. Ich muß sehen, was sie treiben.«

Dann sahen sie's und Fee griff entsetzt nach des Vaters Arm. Er lachte.

»Keine Angst, mein Mädchen; die beiden sitzen fest! Der reine Zirkus übrigens! Wie die reiten!«

Der Stolz des Vaters und die Anerkennung des Sportsmanns kamen zum Durchbruch. Berechtigt war er vom Sportstandpunkt aus.

Dort jagten Lu und Li in gestrecktem Trab auf Pfeil und Unverdrossen in der Runde herum. Einmal sprengten sie aneinander vorüber, beim nächsten Begegnen rissen sie die Pferde zurück, daß die sich bäumten und stiegen, ehe sie sich wendeten. Bei der nächsten Runde das gleiche Spiel. Peitschenknallen und Zungenschnalzen spornten die Tiere immer noch mehr an.

»Vater,« sagte Fee vorwurfsvoll, »es geht um ihre gesunden Glieder!«

Da erwachte die Vaterangst.

»Anrufen darf ich sie nicht, Fee; sie könnten erschrecken. Ich muß sehen, wie ich der Tollheit sonst Einhalt –«

Da war der Einhalt schon da, und was für ein Einhalt!

Eben stiegen Pfeil und Unverdrossen kerzengerade, wieder einmal rissen die tollen Reiterinnen sie herum; aber dann schlugen die Tiere mit den Hufen wie blind und toll, ehe sie sich in die Wendung fanden. Da – ein gellender Schrei – aus dem Munde eines Kindes!

Gleich darauf standen Pfeil und Unverdrossen, an allen Gliedern zitternd. Lu aber und Li kauerten am Boden neben einem kleinen wirren Knäuel; ein umgestürzter, zerschmetterter Beerentopf lag daneben. Und ein Kinderstimmchen wimmerte, schluchzte und jammerte.

»Peterche, Peterche! Mach doch die Eigelcher uf!«

Lu und Li hatten noch keinen Ton von sich gegeben. Wie leblos, mit gefalteten Händen kauerten sie da.

Jetzt sahen sie auf. Eilige Schritte kamen über die Wiese. Der Vater und Fee!

Aber Lu und Li regten sich kaum. Todblaß waren sie, entsetzt starrten die Augen und stumm wiesen die Finger auf die Kinder am Boden vor ihnen.

Der Vater und Fee waren schon heran, dicht bei dem kleinen wirren Knäuel am Boden. Der Vater hob ein kleines jammerndes Dirnlein auf; Fee beugte sich über den kleinen, anscheinend leblosen Körper eines Bübchens.

»Es lebt, Gott sei Dank! Lu, Li, es lebt!« sagte Fee. Sie hatte sich über die Brust des Verletzten gebeugt und richtete sich jetzt auf. Dann setzte sie sich und legte den Körper des Kleinen weich und erbarmend auf ihren Schoß. Lu und Li schauerten zusammen und schluchzten laut auf.

»Vater! Fee!«

»Tränen nützen hier nichts,« sagte der Vater, mehr traurig als streng. »Hier gilt's zu handeln! Li reitet zum Arzt, Lu setzt sich auf ihr Tier und nimmt den Kleinen vorsichtig vor sich; ich führe das Pferd, Fee sorgt für die Kleine. Sei still, Kindchen, ganz still; dein Brüderchen wird wieder gesund! Wie heißt du?«

»Ei, Liesche. Mir wolle Beere robbe. Des Peterche hat nur emol gucke wolle.«

»Sind's die Kinder, die ihr schon einmal im Wald fandet?«

Lu nickte nur mit großen, angststarren Augen; reden konnte sie kein Wort. Li war schon davon geeilt.

Und nun setzte sich der traurige Zug langsam in Bewegung.

Schritt für Schritt ging das Tier, das der Vater sorgsam führte. Lu hielt die traurige kleine Last auf ihrem Schoß und konnte die Augen nicht davon losbringen. Fee hatte ihr Taschentuch mitleidig über das arme getroffene Gesichtchen gebreitet, sich selbst aber hatte sie mit dem schluchzenden kleinen Mädchen beladen. So bogen sie über die Wiesen nach Rödershof ein.

Muttchen Friedel, die eben auch des Wegs von Dresdorf kam, blieb schreckensbleich stehen. Vater Klaus verständigte sie mit ein paar Worten. Lu sah sie mit großen, entsetzten Augen an. Muttchen Friedel nickte ihr still zu; die Tränen liefen ihr übers Gesicht.

»Das ist eine harte Strafe für eure Tollheiten, Kind. Gott gebe –« Muttchen Friedel konnte nicht mehr sagen, die Stimme gehorchte ihr nicht.

In Rödershof betteten sie den Kleinen in ein helles, luftiges Zimmer. Ein Bote war an seine Mutter abgegangen und die saß bald darauf an seinem Bett. Er war noch immer bewußtlos, aber das kleine Herz schlug; Muttchen Friedel und Fee überzeugten sich immer abwechselnd davon. Lu kauerte in einer Zimmerecke; sie hatte sich noch nicht an die Frau herangewagt.

illustration

Lu hielt das verletzte Bübchen auf ihrem Schoß.

»Wenn er nur. käme,« flüsterte Muttchen Friedel Fee zu; die nickte, sie wußte, daß der Arzt gemeint war.

Da klapperten Pferdehufe. In rasender Eile kam jemand daher –Li! Und gleich danach hörte man Wagenrollen.

Der Arzt trat ans Bett des Kleinen, wies alle hinaus bis auf die Mutter und Muttchen Friedel, dann wusch er, untersuchte und verband. Der Kleine war wieder bei Bewußtsein, schaute aber wirr um sich; er jammerte um seine Augen, die stachen und brannten, wie er sagte. Schließlich gab der Arzt der Mutter Bescheid.

Lu und Li, die vor der Tür reglos warteten, hörten es, verstanden aber nicht, was er sagte; aber ihre Herzen klopften fast hörbar.

Rechts und links erfaßten die beiden Mädchen seine Hände.

»Herr Doktor? Lieber Herr Doktor?«

»Wir –«

»Wir sind doch schuld daran.« Li war's, die das Schwerste sagte.

Der Doktor nickte sehr ernst zu diesem Bekenntnis.

»Ich hab's gehört. Ja, ja, das kommt wohl mal anders, als man denkt. Aber, Kopf hoch, Kinder! Irgendwie lebensgefährlich verletzt scheint er mir nicht zu sein, soviel ich bis jetzt beurteilen kann. Die Augen freilich, die Augen –« Doktor Mähren schüttelte den Kopf.

Lu und Li rissen die ihren entsetzt auf; sie wollten eben aufatmen.

»Aber wie gesagt, Bestimmtes läßt sich noch gar nicht feststellen,« fuhr der Doktor fort. »Also Mut, Kinder, Mut!«

Heute sagte er nichts von jungen Damen wie damals bei dem Tanzkränzchen. Und Lu und Li waren auch nur zwei arme, hilflose, zu Tod erschreckte, für ihre Tollheit schwer bestrafte Kinder!

Doktor Mühren ging, von Vater Klaus geleitet, und Muttchen Friedel kam. Ihre zwei armen Kinder, Lu und Li, hingen ihr schluchzend am Halse. Sie streichelte sie und schluchzte selbst: »Kein Wörtchen sag' ich, Lu, Li, kein Wörtchen! Ihr seid so hart bestraft, meine Mädchen. Aber nun geht zu der armen Mutter des Kleinen.«

Sie fuhren zurück, als ob sie sich verbrannt hätten.

»Muttchen!« Entsetzt starrten Lu und Li sie an.

»Das geht doch nicht anders, Lu, Li,« sagte Muttchen Friedel sehr fest. »Daß ich es euch erst sagen muß!«

Da schlichen sie schon an die Tür und zu der Frau hin. Die sah sie mit müden, tränenlosen Augen an.

»Es tut uns so leid,« sagte Lu.

»Können Sie uns verzeihen,« schluchzte Li; beide hielten ihre rechte Hand gefaßt.

Mit der andern fuhr sich die Frau übers Gesicht. Ehe sie etwas sagen konnte, schrie Lieschen, die neben ihr am Boden kauerte, auf: »Dere ihr Pferd war's, Mutter, dere ihr's!« Sie wies auf Lu.

Die fuhr zusammen, ihr zitterten die Kniee so, daß sie kaum stehen konnte; Li legte den Arm um sie.

»Ich glaube, daß es meins war, Frau Küster, wirklich. Lieschen kann das nicht so genau sagen.«

Die Frau nickte trübselig. »Doderdruf kimmt's nit an. Do leit mein Bub –« Sie konnte nicht weiter reden.

Lu und Li weinten jetzt so bitterlich, daß die Frau sie fast mitleidig anblickte.

»Mit dene Träne wird er nit gesund gemacht, awer mir dun se doch gut,« sagte sie dann. »Mir arme Leit sein des nit so gewehnt, daß mer um uns flennt. Un die Freileincher hawe e gut Herz, des hab' ich selwigsmol erfahre, wie ich so krank war, un sie mim Dokter komme sin. Peterche – ach Gott, ach Gott, du wirscht mer 'n doch nit blind wer'n losse.«

»Blind!« Durch Lu und Li fuhr es wie ein heftiger Schlag hin, der sie betäuben wollte. Sie hatten es nur gehaucht, standen schreckensstarr da und sahen scheu nach dem kleinen Kranken, der sich eben regte. Er hatte in einem leisen, Erschöpfungsschlaf gelegen. Die Frau hob die Hand.

»Alleweil will er wach wern. Gehe Sie liewer. Er braucht Ruh, hot der Dokter gesacht.«

Lu und Li faßten nach der Hand, die sie hinauswies.

»Verzeihen, ach, verzeihen Sie uns!«

Die Frau sah sie an. In ihren Augen lag etwas Weiches.

»Wann Ihne an so eme arme Weib was licht; ich verzeihe Ihne, des Peterche wird's auch dun. Un unser Herrgott – no, der sicht ufs Herz un des is gud – des is gud –«

Wie im Traum hatte sie das zweite wiederholt. Mit einem leichten Stöhnen warf sich der Kranke auf die andere Seite.

»Bscht –« sagte die Frau und hob wieder die Hand; Lu und Li verschwanden lautlos.

Der Himmel gab in seiner Güte, daß dies zweite Sommerwölkchen, das über Rödershof hinzog, nicht zu einer schattenden Wolke wurde. Alle trugen schwer mit Lu und Li. Wochenlang lag der kleine Peter auf Rödershof; Lu und Li teilten sich mit Fee treulich in die Pflege. So zart waren sie, so geduldig; denn der kleine Peter war ein Tyrann. Aber er erholte sich sichtlich. Dem einen Auge war schon nach der ersten Woche die Sehkraft wiedergekehrt. Aber das zweite – ja, das machte Sorge.

Dafür sollte Peterchen nun in eine Klinik gebracht werden.

»Es war eine trübe Zeit für die armen Kinder, Klaus,« sagte Muttchen Friedel, als der Patient das Haus verlassen hatte, und schaute bewegt drein.

»Eine heilsame Lehre,« erwiderte Vater Klaus sehr ernst.

Das Wölkchen warf noch eine Weile seinen Schatten. Dann aber verzog es sich einstweilen. Strahlend stieg die Sonne wieder auf, denn Tante Lisa hatte geschrieben: »Wir kommen, Fee! In acht Tagen sind wir bei euch. O, wie ich mich freue!«

Papa Polten saß auf seinem Sorgensessel mit den Ohrlehnen und hatte einen Fuß dick umwickelt und hoch gelegt; er hielt einen Brief seiner Ältesten in Händen, die Pfeife dazu, und dampfte ingrimmig.

»Erbarm dich, Konrad,« sagte Tante Lenchen, die eben ins Zimmer kam und hustete. »Erbarme dich, das wird ja wohl immer toller mit dem Räuchern!«

Sie näherte sich ihm dabei allzu unvorsichtig und er blies ihr eine volle Ladung mitten ins Gesicht.

»Da!« rief er zornig und warf ihr den Brief zu.

Tante Lenchen stand starr; den Brief hatte sie aufgefangen.

»Erbarm dich! Du bist wohl un–«

»Nein,« brüllte er.

Beleidigt reckte sie sich auf und wandte sich zur Tür.

»Dableiben,« brüllte er, »lesen!«

Tante Lenchen zuckte die Achseln, aber sie blieb und las. Glückselig schaute sie dann zu ihrem Bruder hin.

»Aber erbarm dich, Konrad, was gibt's denn da zu wüten? Das Kind, die Lisa, kommt ja, Konrad!«

Er äffte ihr nach: »Das Kind, die Lisa, kommt –« Da kippte ihm die Stimme um und er schrie: »Und ich – he und ich?«

Dabei hob er ihr sein eingewickeltes Bein fast unter die Nase; das Gichtbein nahm das aber sehr übel und Papa Polten wurde mit einem Male wieder zahm.

»Tu mir die Liebe, Lenchen, und rück mir den Stuhl zurecht,« bat er. »So, au, Donner und Doria! Also, Lene, was tun wir?«

»Wieso?«

»Die Lisa und Werner sollten doch in Rödershof bei Jungchen – au – au – Schock – Schwerebrett –«

»Konrad, Konrad!«

Er keuchte.

»Ich – bin ja – still – aber die – die Lisa – muß hier – au – in Dresdorf wohnen und – den Kuckuck auch, was hätt' ich sonst von ihr! Lene!«

»Konrad?«

»Sorg du dafür, gelt. Ich – ich kann nicht mehr.«

Erschöpft lehnte er im Stuhl; es war ein schweres Ringen zwischen Papa Polten und seiner Feindin, der Gicht. Und sie blieb meistens Siegerin. Erbarmend rückte ihm Tante Lenchen den kranken Fuß zurecht.

»Danke, Lenchen,« sagte er so freundlich und gut, daß der alten Dame fast die Tränen kamen.

Frau Lisa, und Werner Horst wurden also in Dresdorf erwartet, und Tante Lenchen hatte sich Fee dazu ausgebeten. Schweren Herzens hatte Muttchen Friedel eingewilligt. So gerne hätte sie die Schwester und den Schwager im eigenen Hause behalten. Und Fee dazu fortzulassen! Wenn nun das Kind –

Der Gedanke, welche Entscheidung von Fee gefordert werden sollte, und wie diese wohl ausfallen könnte, tauchte mit einmal als drohendes Schreckgespenst, als Wolke wiederum an Muttchen Friedels Sommerhimmel auf.

»Ein Jahr ist lang,« hatte sie einst tröstend zu Fee gesagt. Nun war dies Jahr und mehr verflogen wie eine kleine Spanne Zeit. Alle die Wirren der letzten Monde hatten den Gedanken an Fees Entscheidung in den Hintergrund gedrängt. Nun kam er hervor aus dem Bannwinkel und wich nicht.

Aber einstweilen kam erst Lisa, ihre Lisa! Muttchen Friedels Augen strahlten wieder, weggescheucht war der Schatten, der auf ihnen lagerte.

Endlich kniete Frau Lisa vor des Vaters Stuhl. Die Rödershofer hatten sie und Onkel Werner im Triumph von der Bahn hierher geleitet. Papa Polten legte die Arme um seine Älteste.

»Lisa, Herzblatt! Da liegt er, der alte Gichtkrüppel. Wie gefällt dir diese neueste Fußbekleidung, he?« Er hob den Fuß, ließ ihn aber gleich wieder sinken. »Was gibt's zu grinsen, Lu, Li? Ungeziefer, macht, daß ihr wegkommt; eure vier gesunden Beine ärgern mich. Ja, ja, wo gibt's eine gerechte Verteilung auf Erden? Jungchen, mach mal nicht solch Regenwettergesicht, das steht dir nicht. Alleweil fidel sein, hörst du! Eine Weile hält's der Alte schon noch aus! Und da seid ihr also, Werner, Lisa?«

»Da sind wir, Papa!«

»Werdet euch anbrummen lassen müssen, he? Denn sanft bin ich nun mal nicht, wenn's zwickt, was, Lene?«

»Erbarm dich,« sagte Tante Lenchen bloß. Sie hatte die Arme von hinten um Frau Lisas Hals geschlungen, weil diese immer noch vor dem Vater kniete, und die Tränen kugelten ihr nur so übers Gesicht.

»Laß' mal die Wasserschleusen, Lene, und sorg lieber für den Kaffee. Albernes Getue!«

Frau Lisa streichelte seine Hand, und er knurrte befriedigt. Dann setzten sich alle sehr vergnügt um den Kaffeetisch, wo Papa Polten bald der Lauteste war.

Zum Abendessen blieben die Rödershofer ebenfalls noch, verabschiedeten sich dann aber sehr früh, weil Tante Lisa die Reisebeschwerden ausschlafen mußte.

»Daß du uns nicht vergissest, Fee,« war das letzte, was Muttchen Friedel durch die Nacht zurückrief. Es war scherzhaft gemeint, doch klang auch noch etwas anderes durch.

»Gute Nacht! Gute Nacht!« riefen Lu und Li in allen Tonarten.

Und eine gute Nacht hatten Onkel Werner und Frau Lisa unter dem Dach des lieben alten Vaterhauses. Fee, ihr »Kind«, hatte sie mit Küssen am Abend zur Ruhe gebracht; nach so langer, langer Zeit wieder durften sie sich an dem hellen jungen Gesicht satt sehen.

»Wir wollen einstweilen nur von dem reden, was der Tag mit sich bringt, Fee, und von unserer Liebe, Kind.« sagte Tante Lisa.

Fee verstand sie und schaute dankbar drein.

Der ersten guten Nacht folgten für Onkel Werner und Tante Lisa und für alle ihre Lieben noch viele gute und frohe Tage. Solch ein frohes Hin und Her gab's zwischen Dresdorf und Rödershof! Lu und Li waren fast immer unterwegs.

Eines Tages kamen sie jubelnd angeschwirrt.

»Tante Lilly Echtern hat geschrieben, ihr Bruder Max sei da, wißt ihr, der aus dem Zoologischen Garten in London! Sie will uns alle haben, alle. Morgen nachmittag sollen wir zum Kaffee kommen und zum Abendbrot bleiben. Fein, was?«

»Und ich?« brummte Papa Polten. »Ich soll allein bleiben?«

»Erbarm dich, Konrad. Ich bin doch da,« sagte Tante Lenchen gekränkt.

»Du bist natürlich auch eingeladen, Tantchen,« wandte Lu ein.

»Ich bleibe bei Großpapa,« sagte da Fee leise.

»Fee, nein!«

»Du nicht, Fee!« Lu und Li waren tief erschrocken. »Sie wollen doch vor allen dich haben. Tante Lilly hält solche Stücke von dir.« Li spannte die Arme aus, als ob sie die Größe der »Stücke« andeuten wolle.

Tante Lisa strich Fee über den Blondkopf. »Wenn ich bliebe?«

Allgemeine Einsprache und ebenso allgemeiner edler Wettstreit folgte auf dieses Angebot. Tante Lenchen, Lu und Li traten ebenfalls in die Schranken.

Papa Polten lachte und rief: »Fünf Frauenzimmer, die sich um mich reißen, alle Wetter!«

»Mit Madame Gicht sechs, Großpapa,« neckte ihn Li.

»Ungeziefer! Macht, daß ihr abschwirrt, ihr zwei! Sollte mir fehlen, mir so was in den Pelz zu setzen! Werner, Lisa und Tante Lenchen marschieren ebenfalls. Fee bleibt bei dem Alten – wenn sie will.«

»Ob sie will, Großpapa!« Fee schmiegte ihr weiches Gesicht an seinen Stachelbart. »Und wie gern!«

Lu und Li nahmen Fee in die Mitte.

»Kommst noch ein wenig mit?«

Fee begleitete die Schwestern.

»Wie konntest du dich zum Bleiben anbieten!« sagten beide vorwurfsvoll wie aus einem Mund. »Es ist immer so nett bei Tante Lilly.«

»Jemand eine Freude machen ist auch nett,« erwiderte Fee sanft.

»Wohl – natürlich – aber – aber –« Lu und Li waren gar nicht einverstanden. Aber es blieb dabei.

Am anderen Nachmittag fuhr der Dresdorfer Gesellschaftswagen in Rödershof vor. Tante Lenchen, Frau Lisa und Onkel Werner saßen darin. Fee ließ vielmals grüßen; sie sollten alle recht vergnügt sein.

»Ihr hättet sie sehen sollen, wie sie neben Konrads Stuhl stand, als wir gingen. Wie ein Engel des Erbarmens!« sagte Tante Lenchen etwas überschwenglich.

»Die Wolken fehlten auch nicht,« versetzte Tante Lisa lachend. »Dafür sorgten Papa und seine Pfeife.«

»Das einzige Frauenzimmer, um das er sich reißt,« rief Li.

»Du vergißt Jungchen,« kicherte Lu.

Da drohte Muttchen Friedel: »Nicht naseweis sein, bitte!« Als der Wagen in Loberg einfuhr, grüßten zwei Herren. Lu und Li dankten sehr eifrig.

»Wer ist das?« fragte Tante Lisa erstaunt. »Solche Ähnlichkeit ist ja geradezu überraschend.«

»Unsere Freunde,« sagten Lu und Li zugleich.

»Zwei Brüder Western, Assessoren,« berichtete Vater Klaus.

Aber Muttchen Friedel tadelte: »Gar so vertraut braucht ihr nicht zu tun, Lu, Li. Ihr habt die Herren ja wohl zwei- oder dreimal gesehen. Junge Damen sind zurückhaltender.«

»Junge Damen, Klein-Muttchen?« Lu und Li wollten sich ausschütten vor Lachen.

»Und außerdem haben sie uns zweimal aus der Patsche geholfen, Muttchen,« sagte Lu zur Verteidigung.

»Das nennt man doch Freunde,« fügte Li hinzu.

Doch da kam der Wagen an seinem Ziele an und die Frage, ob »Freunde oder nicht«, blieb unerörtert.

Elfi und die dicke Suse rannten die Freitreppe herunter.

»Guten Tag! Guten Tag! Wie langweilig, daß Lutz und Fritz nicht da sind, ach, so dumm!«

Muttchen Friedel nahm sie dafür in die Arme; da waren doch zwei, die ihren Jungen nachtrauerten.

Dann wurde sie von allen Seiten in Anspruch genommen, zuerst von dem Jugendfreund und Regierungsbaumeister Max Mehler; er faßte sie an beiden Händen.

»Jetzt kann ich Ihnen auch meine Frau zeigen, Friedel,« sagte er glücklich. »Dies ist Hilde! Hilde, hier, meine Jugendfreundin.«

»Und das Wunderkind, Max?« fragte neckend Muttchen Friedel.

Man war während all den Begrüßungen durchs Haus in den dahinterliegenden Garten gegangen. Mit großen Schritten eilte der Regierungsbaumeister davon und brachte gleich danach ein weißes, blaubebändertes, sich sträubendes, quiekendes, strampelndes Bündel daher.

»Da,« sagte er vergnügt, »zum mindesten ist es wunderbar ungebärdig.«

»Komm zu Mammi, Mäxchen,« sagte Frau Hilde sanft und hielt die Arme auf. Da saß der kleine Mann in Vaters Armen still und krähte; mit beiden Ärmchen langte er nach der Mutter. Die nahm ihn, und aus großen, lustigen Augen, das Fingerchen im Mund, sah er nun in all die fremden Gesichter.

Lus und Lis braune Gesichter schienen ihm besonderen Eindruck zu machen. Er krähte auf, als sie ihm nah kamen, und barg das Gesicht an Mutters Hals. Dann bog er sich vor und tippte mit dem Fingerchen nach Lu und Li.

»Na, Frau Friedel, was sagen Sie nun? Ist das nicht ein Wunderkind?« fragte Regierungsbaumeister Metzler. »Es hat des Vaters Geschmack!«

»Solch ein Wunderkind!« neckte Frau Friedel, um sich gleich darauf an ihre Töchter zu wenden: »Lu, Li, was tut ihr? Packt doch an!«

Die hatten mit dem kleinen Regierungsbaumeister, Max Metzler II, geschäkert. Jetzt flogen sie heran, drehten sich flink, und bald standen Kuchenkörbe und alles andere am rechten Platz.

Der Tisch war unter den großen Kastanien gedeckt. Lu schleppte in aller Eile noch einen Korb voll Blumen herzu.

»Du erlaubst, Tante Lilly?«

»Ach ja, die Blumen, die hatte ich völlig vergessen,« sagte die.

»Daran hat das Jungzeug zu denken,« sagte Muttchen Friedel.

»Natürlich, Blumen und junge Mädchen sind ja sozusagen Geschwister.« Frau Lilly schwang sich zuweilen zu einem kleinen poetischen Fluge auf.

Lu und Li hatten in aller Eile den Tisch wirklich sehr hübsch geschmückt; überall Blumen, wohin man schaute.

»Sieh, das lob' ich mir,« sagte Großmutter Metzler. »Woher sie's bloß haben?«

»Ja, das möcht' ich auch wissen,« rief Muttchen Friedel belustigt. »Ich bin unschuldig daran – leider!«

Unter allgemeiner Heiterkeit setzte man sich. Lu und Li saßen bei Elfi und der dicken Suse.

»Wer wohl am meisten Kuchen essen kann, Suse?« fragte Li und zog den Teller näher.

»Du, allen kriegst du nicht,« sagte die mißtrauisch, beinahe erbost.

»Li ist unser Gast, Suse,« mahnte Elfi; sie betonte gern die weisere ältere Schwester.

Die dicke Suse sah sie zornrot an. »Wenn Gäste alles allein essen wollen, dann mag ich keine!« Dann nahm sie sich zwei Stücke Kuchen zumal.

»Pfui!« sagte Elfi und rümpfte das Näschen.

Lu und Li lachten. Sie hatten rasch gearbeitet und sich satt gegessen. Es war genug für alle, trotz der dicken Suse Sorgenmiene. Jetzt beobachteten Lu und Li die Erwachsenen.

»Unser Muttchen ist die Netteste, du,« sagte Li.

»Hm, Tante Lisa –«

»Sag gar nichts, Lu!« rief Li voll Eifer. »Weitaus die Netteste!«

»Du, aber die Frau des Regierungsbaumeisters ist viel jünger als Muttchen.«

»Da geb' ich die Bohne drum! Wenn man verheiratet ist, kommt's gar nicht mehr aufs Alter an,« behauptete Li weise. »Ob ich da sechzig bin oder sechzehn.«

Lu sah Li zweifelnd an.

»Du, aber sechzehn wär' ein bißchen jung. Du bist doch sechzehn, Li! Denk mal, du solltest –«

Li warf den Kopf zurück. Sie sah ihre Fähigkeiten nicht gern irgendwie angezweifelt.

»Glaubst du, ich kriegte sie nicht unter, Lu? Den Mann und die Dienstboten und die Kinder?«

Lu sah sinnend vor sich nieder.

»Ja, weißt du, Li, unterkriegen ist wohl nicht das Rechte. Muttchen hat uns nie untergekriegt.«

Nun blickte Li ebenfalls nachdenklich drein.

»Du hast recht, Lu; unser Muttchen hat uns eben lieb, was, Lu?«

Die nickte eifrig.

»Das ist's, Li, das ist's! Liebhaben ist die Hauptsache.«

»Liebhaben ist die Hauptsache,« bestätigte Li.

Sie sahen sehr ernst und versunken aus. Onkel Werner hatte sie schon eine Weile beobachtet. Und noch einer oder vielmehr eine hatte das Hälschen gereckt und sie belauscht, ohne daß sie's merkten: Elfi. Als Onkel Werner jetzt über den Tisch herüber sich erkundigte: »Wovon redet ihr denn so eifrig, Lu, Li?« da krähte Klein-Elfi: »Vom Liebhaben sprechen sie.«

Lu und Li begriffen nicht, weshalb eine allgemeine Lachsalve folgte. Erstaunt sahen sie sich um, und Lu sagte: »Wir haben von unserem Muttchen gesprochen, daß sie uns immer lieb gehabt hat.«

»Ja, und daß sie uns nicht bloß hat unterkriegen wollen. Daß überhaupt das Liebhaben die Hauptsache ist,« sagte Li.

Da lachte niemand mehr. Max Metzler hielt Muttchen Friedel die Hand hin.

»Bravo, Frau Friedel, das nenne ich ein ehrendes Zeugnis. Möchte unser Junge mal so von uns reden, was, Hilde?«

Die nickte. Muttchen Friedel aber blickte mit leuchtenden Augen erst nach ihren Mädchen und dann nach Vater Klaus. Aber dann kam sie zu sich und zankte: »So 'n albernes Gerede, Lu, Li! Seid ihr denn unklug geworden? He? Ich verbitte mir jede Kritik, daß ihr's nur wißt. Sollte mir fehlen, ihr Naseweise!«

Der Mund tadelte, aber die Augen leuchteten; Lu und Li kannten sich aus.

»Wollen wir meines Mannes Dahlien besehen?« schlug Frau Lilly vor. »Es sind seine Schoß- und Sorgenkinder.«

Den Flor zu sehen, war wirklich ein Genuß. In allen Farben prangten die Blumen, einfache Sterne, vollgefüllte, fieberige Ballen, nur leise angehaucht in zarten Farbentönen, oder leuchtend und vollsaftig. Herr Echtern kannte jede beim Namen, er war eigentlich der geborene Gärtner.

»Er hat eben seinen Beruf verfehlt,« sagte Frau Lilly.

»Eine übel angebrachte Redensart, Schatz,« tadelte ihr Bruder Max, »wo er doch auch sonst nicht gerade daneben gegriffen hat. Wenn man so Haus und Garten ansieht – wie das Eigentum eines Mannes, der seinen Beruf verfehlt hat, kommt es einem durchaus nicht vor.«

Herr Echtern hob die Hand.

»Der Schein täuscht, Max. Das Leben ist Kampf.«

»Ja und man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, so heißt ja wohl der dritte Weisheitsspruch. Franz, Franz, so genieße doch die Stunde!« Frau Lilly hing sich an seinen Arm, und er nickte ihr zu.

Tante Lisa mußte dann von ihrem Leben in England erzählen. Onkel Werner ging mit der jungen Frau auf und ab. Regierungsbaumeister Max und Frau Friedel hatten sich zusammengefunden und frischten Jugendbilder auf. Lu und Li tollten eine Weile mit Elfi und Suse; das war aber bald zu Ende, und nun saßen sie ein bißchen trübselig herum.

Max Metzler und Muttchen Friedel kamen eben an ihnen vorüber.

»Wo fehlt's?« fragte Max Metzler.

»Je –« sagte Lu.

»Ja –« sagte Li.

Muttchen Friedel lachte. »Stillsitzen können sie nicht gut vertragen, was?«

»Sonderbar!« Max Metzler blickte Muttchen Friedel neckend an. »Das muß doch irgendwie in der Familie liegen!«

Sie zuckte bloß die Schultern.

»Lu! Li! Macht euch doch liebenswürdig. Man lädt euch ein, damit ihr vergnügt seid. Langweilig sein, das soll und darf man nicht. Langeweile haben ist ein Armutszeugnis. Schämt euch!«

Und mit hocherhobenem Kopf ging Muttchen Friedel weiter, Max Metzler ihr zur Seite.

»Ich hätte gar nicht gedacht, daß Sie eine so strenge Mutter sein könnten, Frau Friedel.«

»Es wächst der Mensch mit seinen höheren Zwecken,« zitierte Muttchen Friedel pathetisch.

So kamen sie wieder unter die großen Kastanien, wo die übrige Gesellschaft saß.

Herr Echtern braute eben eine Bowle. Herr Regierungsbaumeister Metzler, Herr von Ellern und Onkel Werner standen begutachtend daneben. Herr von Ellern bildete sich auf seine Kennerschaft viel ein.

»Ehrlich erworben, lieber Freund,« sagte er zu Onkel Werner und wies auf seine kleine Stumpfnase, die in rötlichem Glanze glühte. »Ehrlich und sauer erworben!«

Onkel Werner lachte. »Ich habe weniger Gelegenheit gehabt, leider. In England trinkt man keine Bowlen.«

»Keine Bowlen?« Herr von Ellern war ehrlich entsetzt. »Ein sonderbares Land das! Der Himmel soll mich bewahren.«

Die Bowle war sehr nach Geschmack ausgefallen. Plaudernd und fröhlich, die Herren rauchend, saß die Gesellschaft wieder um den Tisch.

Da gab's ein Hallo im Hause. Man hörte die Mädchen lachen und quieken. Frau Lilly wandte mißbilligend den Kopf und fuhr dann auf.

»Franz,« rief sie, »sieh doch, das Gesindel! Wie sie das durchlassen konnten!«

Zwei Zigeunerweiber kamen vom Haus her, zwei Kinder folgten.

Herr Echtern ging mit verweisend ausgestrecktem Finger drohend auf sie zu. »Wollt ihr euch fortmachen! Wer –«

Da sah man ihn wie zu Stein erstarrt stillstehen, und dann wirklich lachen. Etwas, das bei ihm so selten vorkam! Frau Lilly stand dann auch alsbald an seiner Seite; auch sie lachte hellauf.

Die Zigeunerweiber knicksten, bettelten anscheinend und haschten nach ihrer Hand, die sie ihnen ließ.

»So 'n Unfug,« zankte Vater Metzler, in dem der Beamte aufwachte. »Ich will doch mal –« Er erhob sich halb.

Da wendete sich Echtern zur Gesellschaft zurück, und die Zigeunerweiber, statt fortzugehen, kamen mit, die Kinder hinterher. Es waren Elfi und Suse, man sah es jetzt ganz deutlich, nur mit allerhand Fetzen behängt.

»Lu! Li!« rief da Muttchen Friedel. »Ob ich's nicht ahnte!«

»Lu! Li!« riefen alle.

Nur eine entrüstete Stimme klang durch, und das war die von Tante Lenchen.

Ja, Lu und Li waren die Weiber. Sie hatten sich äußerst natürlich zurechtgemacht. Köchin und Hausmädchen hatten mit alten Arbeitskleidern aushelfen müssen. Die Gesichter hatten sie sich geschwärzt, die Haare hingen ihnen wirr um den Kopf. Aber die Augen waren die alten – und daran erkannte man sie! Lu hatte ein grellbuntes Tuch um den Hals, Li ein knallrotes übers Haar. Eine Lachsalve empfing sie. Sie knicksten.

»Nix stehlen, nix betteln, nur wahrsagen. Ihre Hand, schönstes Madamchen,« sagte Lu, indem sie vor Tante Lenchen trat.

Die machte ein eisiges Gesicht, sehr abweisend. Aber Lu faßte nach ihrer Hand, sah lange hinein, tat sehr unbekümmert, hob dann das Schelmengesicht und sagte: »Viel Freud' steht drin, viel Freud' an allen Nichten und Neffen. Besonders an den jüngsten Nichten, schönstes Madamchen. Viel Freud', viel Freud'!«

Tante Lenchen schmunzelte nun doch ein bißchen. »Hat allen Anschein,« sagte sie sauersüß. »Eulenspiegel!«

Alle drängten um Lu und Li; alle wollten gewahrsagt haben.

Mit mehr oder minder Witz und Geschick führten Lu und Li ihre Rollen durch.

Jeder Teilnehmer bekam sein Teil an Glück und Seligkeit zugesagt, aber auch eine kleine Neckerei noch obendrein. Es gab überall viel Lachen.

Jetzt hatten Lu und Li Vaters und Klein-Muttchens Hände gefaßt. Lange betrachteten sie die Linien. Alle drängten neugierig herzu. Li hielt Klein-Muttchens Hand, kniff die Augen pfiffig ein und sah Klein-Muttchen neckend an.

»Klein aber resolut,
Kann streicheln und trifft gut!«

Ein Bravo lohnte die Leistung.

Zum Vater sagte jetzt Lu pathetisch:

»Ihr seid ein mächt'ger Herr, bekannt
Durch ritterlich Wesen im ganzen Land;
Euch blühen drei liebliche Töchter.
So mögen sie, ruf' ich begeistert aus,
Drei Kronen euch bringen in euer Haus
Und – –«

Bum! Bum! Bum! kam's vom nahen Kirchturm in seltsam dumpfem, abgehacktem Klang. Alle horchten auf.

»Die Sturmglocke!« sagte Herr Echtern. »Wo mag's brennen?«

Da entstand Unruhe im Haus. Ein Mann eilte über den Kiesweg und winkte schon von fern. Es war der Kutscher, der die Dresdorfer und Rödershofer gebracht hatte.

Muttchen Friedel eilte auf ihn zu. »Was gibt's, Christian?«

»Ei, in Dresdorf soll's brenne, uff em Hof, sage se. Ich hab' de Wage drauße. Alleweil rasselt die Feierwehr schun enaus. Mer misse fortmache, sunscht –«

Damit eilte er wieder davon.

Wie alle Abschied nahmen, in den Wagen kamen, wußte hinterher niemand zu sagen.

Gleich darauf fuhr der Wagen davon mit allen Insassen, die er gebracht hatte.

Nach den ersten Entsetzensrufen waren alle stumm. Da – ein Schreckensschrei Lus und Lis. Dort in der Richtung von Dresdorf stieg eine Rauchsäule auf und jetzt lohten die Flammen. Der Kutscher trieb die Pferde an.

Da abseits lag Rödershof, still und friedlich.

Was aber würde man in Dresdorf finden?


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