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Zur Tante in England

Der Frühling hatte mit Maiengrün und Vogeljauchzen, mit Sonnenschein und Blütenduft Einzug ins Land gehalten und war schon eine Weile Herrscher. Pfingsten stand vor der Tür.

Zwei Herren gingen die Straße entlang, die durch den Wiesengrund vom Städtchen an Rödershof vorbei nach Dresdorf führte, wo Papa Poltens Gut lag.

Es waren die beiden Brüder, die sich so ähnlich sahen, die »neie Assessorn«, wie die Frau Metzgermeister zu ihrem Ehegemahl sagte. Vergnügt schauten sie sich um; ihnen gefiel's offenbar am neuen Wohnort.

»Eine nette Gegend, Heinz,« sagte der eine.

»Ja, recht hast du! Besonders im Vergleich zu unserer platten Streusandbüchse. Berg und Tal muß doch eigentlich sein.«

»Ach was, daheim ist daheim. Eine weite Ebene ist auch was wert. Man ist da doch wenigstens auf alle Überraschungen vorbereitet. – Holla, was ist denn das?«

Beide wandten die Köpfe. Helles Jubilieren und Singen erklang. Eine Talbiegung verbarg die Stelle, woher die unverkennbar jungen, quellfrischen Mädchenstimmen kamen. Doch das Singen kam näher. Es war kein Lied, nur ein Jauchzen, ein Jubilieren, kraus wie Lerchengesang, aber melodisch, rein, ein Ausströmen höchster Lust.

Unwillkürlich stimmten die beiden Lauschenden ein. Aber dann hielten sie schnell den Atem wieder an. Was da wohl um die Ecke kommen mochte?

Da war's schon! Ein lichtgrüner Maienbusch, der sich wie vom Winde geweht vorwärts schob.

Als er näher kam, sah man, daß er von zwei Rädern vorwärts getragen wurde, und sah fliegende Kleider, fliegende Braunzöpfe und –

»Du, das sind ja unsere beiden von neulich, die uns so zart anrempelten. Weißt du noch, Paul?«

»Richtig, Heinz! Schau mal die lustigen Gesichter! Und wie sie jubeln! Da hängt der Himmel noch voller Baßgeigen!«

»Ein Wunder in den Jahren!«

»Mummelgreis, du!«

»Was sie da wohl zwischen sich aufgebunden haben?«

»Den halben Wald und etwas wie einen großen Pappkasten.«

»Holla, ein Stein!«

»Achtung –«

»Da haben wir die Bescherung.«

»Können wir helfen, meine Damen?«

Damit eilten die beiden Herren zu den so jäh ins Stocken und zu Fall Geratenen.

Ein wildes Chaos lag da. Zwei Räder, zwei Mädel, Laubzweige die Menge und ringsum verstreut allerhand Kleidungsstücke, offenbar Teile eines oder mehrerer Anzüge; alles im dicksten Staub.

Die Mädel standen schon auf den Füßen, als die zwei Helfer nahten. Wie die Gummibälle waren sie wieder aufgesprungen.

»Hoffentlich nicht verletzt, meine Damen,« sagte der eine, und der andere brummte etwas, was dasselbe bedeutete. Sie erhielten bloß einen kurzen Blick zur Antwort.

»Je, Lu, die guten Kleider! Was wird Muttchen sagen?«

»Alberner Kram! Weshalb man bloß durchaus neue Kleider haben muß? Das kommt nun davon! So raff doch auf, Li! Denkst etwa, die fliegen von selber in den Kasten?«

»Die Damen erlauben?«

Die beiden Helfer bückten sich und jeder nahm nun etwas auf. Es waren zierliche Jäckchen mit bauschigem Seideneinsatz; aber weh, wie sahen die aus! Über und über mit Staub bezogen, grauweiß.

Lu und Li griffen danach mit spitzen Fingern. Immer noch war kaum ein Blick für die Helfer abgefallen; die Mädchen waren mit ihrem Unfall zu sehr beschäftigt. Jede hielt nun eins der verunglückten Jäckchen. Da kicherte Li.

»Wie heißen die Dinger, du?«

Aber Lu hatte im Augenblick keinen Sinn für Scherz; sie war auch ein Jahr älter als Li, folglich um so viel gesetzter und umsichtiger.

»Geben Sie mir mal, bitte, Ihren Stock,« sagte sie zu dem ihr zunächst stehenden Herrn, sehr sachlich, ohne ihn weiter anzusehen. Er tat's.

Lu schlug auf das Jäckchen, das sie hielt. Eine Staubwolke hüllte alles ein.

»Puh!« riefen die Herren und sprangen zurück.

»Ja, das ist nun nicht anders,« erwiderte Lu; Li kicherte.

Nun reichte Lu das Jäckchen dem einen Herrn, der früher Heinz genannt worden war.

»Bitte, halten Sie! Und gehen Sie dort hinüber, bitte, damit es nicht wieder staubig wird.«

Gehorsam tat er, was sie forderte. Lu nahm nun das zweite Jäckchen aus Lis Hand; dieselbe Reinigungsprozedur wurde damit vorgenommen.

Li und der zweite Herr, der Paul vom Bruder genannt wurde, rafften nun die dazugehörigen Röcke aus dem Staub. Lu hängte das zweite gereinigte Jäckchen über den zweiten Arm dessen, der auch das erste hielt.

»Der reine Kleiderständer,« sagte der belustigt.

Lu zuckte bloß die Achseln; sie war zu sehr beschäftigt, um auf irgend etwas einzugehen. Sie faßte nun nach dem Rock, den der andere Herr hielt, und dieser machte Miene, ihn ihr zu überlassen.

»Bitte, halten Sie nur; ich kann ihn so besser reinigen.« Und sie breitete die Rockfalten aus.

»Aber –« wollte der Herr einwenden.

»Was liegt an dem bißchen Staub?« fragte Lu gleichgültig. »Man säubert sich nachher.«

Da hielt der Herr still.

»Kleiderständer Nummer zwei!« rief der, welcher die Jäckchen hielt.

Lu blieb sehr ernst und völlig bei der Sache; Li kicherte wie gewöhnlich.

Als Lu den gesäuberten Rock zu den Jäckchen trug, reichte Li flink den zweiten hin. Und der den ersten gehalten hatte, griff nach dem zweiten, ohne die Miene zu verziehen.

»Bitte,« hatte Li bloß gesagt.

Rock Nummer zwei wurde gereinigt und den anderen zugesellt. Mit weit ausgebreiteten Armen stand der, welcher die gereinigten Sachen hielt.

»So,« sagte nun Lu und atmete auf. »Jetzt in den Kasten!«

Der Herr, der beim Ausklopfen behilflich gewesen war, hielt schon den braunen Karton bereit.

»Darf ich packen? Ich bin nämlich Meister darin!«

»Bitte,« sagten Lu und Li einstimmig.

Am Rain stand der Kasten, vier sehr geschäftige Menschen herum. Das heißt, Lu und Li waren nur Zuschauer. Der eine Herr packte, der andere reichte zu. Jetzt kam das letzte Jäckchen.

»Da geht der Bolero hin, schöner wie neu,« frohlockte Li.

»Schäm dich,« verwies Lu ernst. »Muttchen wird schön schelten!«

»Wenn's die Damen nun gar nicht sagten,« schlug der vor, der Heinz hieß. »Die Bürste noch ein wenig gebraucht und man sieht nichts mehr.«

»Wir sagen Muttchen alles,« entgegnete Lu.

»Alles,« bestätigte Li eifrig.

»Aber wie kommen die Damen heim? Wo –?«

»Wir wohnen auf Rödershof,« sagte Lu. »Gar nicht mehr weit; dort sehen Sie schon die Parkmauer.«

»Ich bin Li Rödern nämlich und das ist Lu,« sagte jetzt Li, knickste dazu und zeigte all ihre Grübchen in dem Schelmengesicht.

»Assessor Paul Western.«

»Assessor Heinz Western.«

So stellten die Herren sich nun vor. Die schlugen die Hacken zusammen und neigten sich, als ob sie auf dem Parkett stünden statt im Landstraßenstaub.

Li kicherte, Lu blieb ernst. Sie hatte die Würde für Li mit zu wahren.

»Wir hatten übrigens schon einmal den Vorzug,« sagte Assessor Paul Western. »Neulich, als es die jungen Damen so eilig hatten –«

»Ja, da hatten wir das Glück, die Damen vor zu naher Bekanntschaft mit dem Straßenpflaster zu bewahren und –«

»Natürlich, Lu, das sind sie ja. Ich dachte schon immer, wo ich sie wohl gesehen hätte!« rief Li in der besten Laune der Schwester zu, um sich dann wieder zu den Herren zu wenden. »Neulich ging's nämlich so eilig und heute – na, da gab's auch allerhand zu tun. Aber es ist recht nett, daß wir Sie wiedersehen, was, Lu?«

Lu ärgerte sich über Lis Schwatzhaftigkeit.

Zwischen dem Gefühl, höflich gegen die sein zu wollen, die nun schon zum zweiten Male als Retter in der Not erschienen, und der Würde ihrer beinahe sechzehn Jahre hin und her gerissen, sagte sie schließlich etwas bittersüß: »Ich freue mich auch, die Herren wiederzusehen und danke sehr für die Hilfe. Aber Li, flink, wir müssen heim! Muttchen sorgt sich sonst. Faß an, der Kasten muß wieder zwischen den Rädern festgebunden werden.«

»Nee, du, daß es noch einmal so geht. Ich danke! Lieber nehme ich ihn auf den Kopf, so!«

Ehe jemand Einsprache tun konnte, hob Li den Kasten empor und stellte ihn sich auf den Kopf, wo sie ihn mit beiden Händen festhielt. Ihrer flachen Mütze hatte sie vorher einen ermunternden Schlag gegeben, daß sie auf dem Kopf festsaß; sie diente als Unterlage. Dann sprang sie eiligst mit ihren flinken Füßen davon, ehe die anderen wußten, wie ihnen geschah.

»Li, aber Li!« rief Lu mahnend.

Li fuhr mit wippenden Röcken und fliegenden Zöpfen herum und knickste schelmisch.

»Auf Wiedersehn!« rief sie, drehte wieder um und flog dahin wie ein entwischtes Füllen.

»Solch ein Unband,« sagte Lu tadelnd und würdevoll, als ob sie ihre eigene Großmutter wäre. »Was tu' ich jetzt bloß mit den Rädern?«

»Gnädiges Fräulein gestatten?«

Assessor Heinz Western faßte das eine der Räder und Assessor Paul Western das andere. Dann schritten sie rechts und links von Lu einher, jeder ein Rad schiebend. Lu hatte noch in fliegender Eile das Grün vom Boden gerafft.

illustration

Assessor Heinz Western nahm das eine der Räder an sich und Assessor Paul Western das andere.

»Es soll doch nicht hier im Staub verkommen,« sagte sie, »all das schöne Frühlingsgrün.« Wie zärtlich ihre Stimme dabei klang! Und das Grün umrahmte ihr junges helles Gesicht, daß dieses selbst wie eine Frühlingsblüte aussah; so dachte wenigstens Herr Assessor Heinz Western.

Li war indes atemlos und heiß auf Rödershof angekommen und hatte ihren Bericht vorgesprudelt, aus dem Muttchen Friedel schwer klar wurde.

»Dort kommt nun die Lu wie 'ne Prinzeß, schau mal, Muttchen, als ob sie die Fürstin-Mutter selber wäre! Und die beiden langen Peter schieben die Räder, natürlich! Ich kann im Schweiß meines Angesichts den Lastträger machen, was liegt Lu dran?! Übrigens nett sind sie, Muttchen, sag' ich dir, und die Kleider sind schöner wie neu. Uff, da!«

Auf den Tisch plumpste der Kasten, der Deckel voraus.

»Li,« mahnte Muttchen Friedel, »Li, wirst du denn nie gesetzt werden?«

Li sank auf den nächstbesten Stuhl und streckte alle viere von sich.

»Ich sitze ja schon, Muttchen! Uff, war das eine harte Arbeit!«

Muttchen Friedel trat zu den Kleidern und betrachtete kopfschüttelnd die nur ungenügend getilgten Spuren des Abenteuers.

»Und du willst sagen, Li, daß diese neuen Kleider im Straßenstaub lagen?«

Li ließ den Kopf hängen.

»Daß man Lu und dir nicht einmal so viel zutrauen kann, daß ihr irgend einen Auftrag richtig ausführt?«

Lis Kopf sank noch tiefer und Lu kam eben recht zu einer ausgiebigen Strafpredigt.

»So,« sagte da Li und sprang vom Stuhl, auf den sie Lu mit Gewalt niederdrückte, »nun nimm du dein Teil!« Sie wollte zur Tür hinaus.

Aber da legte Muttchen Friedel los, daß Li und Lu sich scheu vor dem Ausbruch des Wetters duckten.

»Kaum daß ihr neulich den Bäckerjungenstreich geliefert habt, und nun das wieder! Was fang' ich mit euch an, Lu, Li? Ich stecke euch noch in irgend ein Institut! Ihr werdet schon sehen!« Zürnend, hochaufgerichtet stand Muttchen Friedel, Lu und Li machten flehende Augen.

Leise, ungehört in dem Sturm, hatte die Tür sich indes geöffnet. Lu und Li huschten jetzt eilig hinaus.

»Glaubst du, daß ein Institut immer unbedingt das rechte ist für Mädel wie Lu und Li, Friedel?«

Vater Klaus sagte das; er war hinter seine Frau getreten. Sie sah ihn ungewiß an, ein leises Rot im Gesicht, was wohl noch von dem eben vorübergezogenen Sturm zurückgeblieben war.

»Wir überlegen's noch, Klaus,« sagte sie.

Er nickte lächelnd. »Das wollen wir.«

Lu und Li waren für den Augenblick gerettet; sie saßen in ihrem Zimmerchen.

»Du, nett sind sie übrigens,« sagte Li und stieß die Schwester in die Rippen.

»Es geht an,« erwiderte Lu und rümpfte die Nase.

Merkwürdigerweise wußte Lu sofort, daß damit weder Muttchen noch der Vater gemeint seien.

*

Golden klarer Sonnenschein lag über dem Dresdorfer Herrenhause. Der weite Vorhof mit den stattlichen Baumgruppen war sonntäglich geharkt; Feststimmung herrschte, wohin man schaute.

Es war Pfingstsonntag. Und was für einer! Wie er im Buche steht mit Himmelblau und Sonnengold. Dazu war noch ein besonderer Festtag in Dresdorf: Papa Polten feierte seinen siebzigsten Geburtstag. Der sollte mit besonderem Glanz begangen werden, wozu Himmel und Sonne Ja und Amen sagten. Die Gratulationscour hatte schon ihren Anfang genommen. Familie Rödern war in aller Frühe eingetroffen.

Auf der Freitreppe, die den halbkreisförmig vorgelagerten, kuppelgeschmückten Treppenbau inmitten der langgestreckten Front des Hauses umzog, standen Papa Polten, Herr und Frau von Rödern. Die mächtige Hallentür war weit geöffnet; im Hintergrund sah man die breite, altertümlich gewundene Treppe.

Papa Polten wartete sichtlich mit Ungeduld.

»Wo sie bloß bleiben? Die Lene kann aber auch nie ein Ende finden. Überhaupt so albern, grade heute 'nen Schnupfen haben zu müssen. Ist nichts mit den Frauenzimmern, was, Jungchen?«

Neckend sah er die Tochter an.

»Minderwertige Ware, Vaterherz,« sagte die vergnügt. »Aber hab' du nur ein bißchen Geduld! Tante Lenchen wollte die Kinder noch sehen, ehe wir zur Kirche gingen. Lu hat doch die Ehre, am selben Tag wie der Großpapa das Licht der Welt erblickt zu haben, und Li hat ein paar Tage später die Nase hineingesteckt. Na also! Wir haben die drei Geburtstage ja stets zusammen gefeiert. Tante wird den Kindern etwas schenken wollen.«

»Albernes Frauenzimmergetue! So 'n lumpiger Schnupfen!« Papa Polten war sehr mißgestimmt. Er hatte es nicht gern, wenn etwas nicht programmgemäß verlief. Der Kirchgang war die erste vorgesehene Nummer des Festes. Die alte Tante hatte mitzugehen und damit basta!

Klaus von Rödern lachte mit einem Male hell hinaus.

»Weißt du noch, Friedel?«

Verständnislos sah ihn die an.

»Lisas Hochzeit, und auf welchem Wege du erschienst?«

»Ach, laß jetzt die alten Geschichten,« sagte sie. Aber um ihren Mund zuckte es.

Papa Polten brach in ein lautes Lachen aus.

»Ob wohl – –«

Im dröhnenden Baß klang's durchs Haus.

»Um Himmels willen,« rief Muttchen Friedel erschreckt, »sie werden doch nicht?«

»He – – Lu, Li!«

»Gleich, gleich!« antworteten zwei helle Stimmen von oben.

»Eilt euch! Flink!« mahnte Vater Klaus. »Es läutet schon.«

»So schnell ihr könnt! Es ist keine Minute zu verlieren,« feuerte Papa Polten noch an, und beide Herren schauten erwartungsvoll nach oben, ob Lu und Li als echte Töchter ihrer Mutter denselben Weg benutzten, wie diese einst bei der Schwester Hochzeit, nämlich die Fahrt auf dem Treppengeländer.

Muttchen Friedel hielt den Atem an. Ihre Miene war ängstlich, aber in den Augen lauerte deutlich der Schalk; ihre innerste Natur war wieder einmal mit der Mutterwürde im Widerstreit.

»Vorwärts! Eilt euch! Los! Ein bißchen plötzlich!« geboten die Herren.

»Laßt doch, laßt,« flehte Friedel. Angstvoll sah sie nach oben, atmete dann aber auf.

Anmutig, ernst und Hand in Hand, kamen die beiden schlanken jungen Gestalten die Treppe herunter, Stufe um Stufe. Ein heller Schein lag auf den braunen Gesichtern und in den großen grauen Augen.

»Tante war so gut und lieb!«

»Sie hat uns dies hier geschenkt. Sieh, Muttchen!«

Jede hatte ein Kreuz in lichtem Goldfiligran an ebensolcher Kette umgehangen.

»Sie hat so schön gesprochen,« sagte Lu.

»Vom Kreuz, das jeder tragen müsse im Leben. Und daß unseres so leicht sein möge wie dies hier,« fügte Li hinzu.

So ungewohnt war solcher Ernst auf diesen frischen Lippen, daß Großvater Polten die beiden von der Seite ansah und den Weißkopf schüttelte.

»Ist nichts mehr mit der Jugend heutzutage,« brummte er mißbilligend. »Philosophen in Kinderschuhen! Jungchen war anders; alles schlägt aus der Art. Basta!«

Er war sehr unzufrieden, der alte Herr. Ein Glück, daß niemand ihm die Gedanken von der Stirn ablesen konnte.

Die Glocken hatten alle eingesetzt; festlichen Klanges voll war die blaue Luft. Lu und Li eilten voran, Vater Klaus und Muttchen Friedel folgten.

Hinterher trottete Papa Polten, anfänglich mit gefurchter Stirn; aber die Falten glätteten sich allmählich beim Blick auf die vier da vor ihm.

»Klaus,« rief Papa Polten; der wandte sich und trat zu dem alten Herrn.

»Bin nicht gern das fünfte Rad am Wagen,« knurrte der brummig.

»Verzeih, Papa, daß ich nicht selber –«

»Schnick schnack, verlang ich ja gar nicht! Schaff mir schon mein Recht! Daß auch Lisa nicht kommen konnte mit dem Kind, der Fee! Kein Verlaß auf Frauenzimmer, hab's ja immer gesagt.«

»Lisa konnte eben Werner nicht allein lassen, er erholt sich langsam von der Krankheit. Und daß Fee allein reiste, ging nicht an!«

»Weshalb nicht? Albernes Getue! Jungchen war seinerzeit anders. Ja, Jungchen –«

Ein tiefer Seufzer vollendete den Satz und spann einen neuen Gedankengang an, der in alte Zeiten führte.

Da war man schon am Ziel. Weit offen standen die Türen des kleinen Kirchleins. – –

Langsam und unter allgemeiner Andacht ging der Gottesdienst zu Ende. Mit brausendem Akkord ertönte von der Orgel der Schlußgesang. Nun drängte alles dem Ausgang zu.

Lu und Li waren heut ausnahmsweise weich. So ein Geburtstag ist doch immerhin ein wichtiger Zeitabschnitt. Und nun gar der fünfzehnte und sechzehnte! So an der Schwelle des Erwachsenseins! Sie umschmeichelten ihre Mutter.

»Muttchen!«

»Klein-Muttchen!«

»Wollen sein wie du!«

»Immer und überall, Muttchen!«

»Lieber nicht, lieber nicht,« rief Muttchen Friedel, und doch liefen ihr die Tränen übers Gesicht.

»Soll ein Wort sein, ihr Mädel,« sagte Vater Klaus und sah neckend auf Frau Friedel.

Papa Polten aber knurrte nur »Basta!« und schnaubte dabei gewaltig.

Lutz und Fritz drängten sich jetzt herzu; sie waren auf eigene Faust zur Kirche gegangen. Wo sie erschienen, hatte eine Weihestimmung nicht lange Raum. Mit fragwürdig sauberen Händen wollten sie dem Großvater, Lu und Li ihre Festteilnahme bezeugen.

Lu und Li retteten sich und ihr fleckenloses Festgewand eilig.

»Um Himmels willen, laßt!«

Lutz und Fritz waren gekränkt.

»Alberne Dinger, wenn man doch auch mal freundlich sein will!«

Papa Polten schmunzelte.

»Kennt ihr die Geschichte vom Hündchen und vom Esel, Jungen?«

»Warum?« fragten Lutz und Fritz ziemlich argwöhnisch.

»Das Hündchen war nämlich zierlich und schmeichelte und liebloste seinen Herrn. Da kam der Esel, der gar nicht zierlich war, und wollte es dem Hündchen gleichtun, war täppisch, patschte zu, und was meint ihr wohl, wie das dem Herrn gefiel?«

»So 'n Esel!« riefen Lutz und Fritz und lachten hell auf.

»Das meine ich auch!« sagte Papa Polten trocken.

Lutz und Fritz kümmerten sich nicht weiter um die Nutzanwendung. Mit Hallo trabten sie davon, hinter ein paar Dorfjungen her.

Im Dresdorfer Herrenhaus war Nachmittags große Festfeier. Im langgestreckten, weiten Saal zu ebener Erde, in dem bis jetzt alle Familienfeste gefeiert worden waren, auch Tante Lisas und Muttchen Friedels Hochzeit, saßen die Gäste.

Es war eine fröhliche Runde. Muttchen Friedel und Vater Klaus hatten Freunde geladen; dazu kamen die des Hausherrn und seiner alten Schwester.

Viele alte Freunde waren es freilich nicht mehr. Den ersten Rang unter ihnen nahm Herr von Ellern, ein Gutsnachbar, ein, der mit seiner stattlichen Ehehälfte zusammen ein respektables Gewicht vorstellte. Er nannte sich Muttchen Friedels treuesten Verehrer und ließ es sich angelegen sein, womöglich einen Platz an ihrer Seite zu erobern. Dann waren von der alten Generation noch Regierungsdirektor Metzler und seine Frau. Der alte Herr war pensioniert und genoß die wohlverdiente Ruhe in allem Behagen, desgleichen seine Frau, ein Urbild der Gemütlichkeit. Der beiden Tochter, Frau Lilly Echtern, war Muttchen Friedels treueste Freundin. Sie war mit ihrem Mann und ihren beiden kleinen Mädchen geladen. Diese saßen mit Lutz und Fritz an einem Ende der Tafel, und dort ging's nicht still zu. Lu und Li warfen von ihrem Ehrenplatz aus sehnsüchtige Blicke dorthin. Ihnen war gar nicht wohl. Heute hatte man sie zu den Erwachsenen gezählt, und ihnen die Plätze danach zugeteilt. Aber sie saßen nebeneinander, das war zum mindesten ein Trost.

Großpapa Polten, der Hauptheld des Tages, nahm den Ehrenplatz ein. Frau Regierungsdirektor Metzler und Frau von Ellern waren seine Tischdamen. Ihnen gegenüber saß Muttchen Friedel, neben ihr Herr Regierungsrat Metzler und Herr von Ellern.

Muttchen Friedel mußte Tante Lenchen vertreten und ihr war so wenig wohl dabei wie ihren beiden Sprößlingen.

Lu und Li stippten jetzt eifrig und wortlos ihren Kuchen in den Kaffee. Was konnte man im Augenblick besseres tun?

Das sah lustig aus und behaglich, aber wenig korrekt.

Großpapa Polten schaute eine Welle schmunzelnd zu. Ja, ja, das waren doch noch nicht vollkommen junge Damen! Er schob ihnen den Kuchenkorb näher.

»Uff,« sagte Lu, »man möchte einen Vorratsmagen haben.«

»Oder ein Vogel Strauß sein,« fügte Li hinzu. »Der hätte ja wohl gleich die Tasse mit verschlungen.«

»Schling du Kuchen, Porzellan ist ungesund,« rief Großpapa Polten.

Muttchen Friedel warf einen mißtrauischen Blick herüber. Wenn Papa über die Mädel lachte, dann war irgend etwas nicht in Ordnung.

Richtig! Wie die saßen und einhieben! Und – ja wahrhaftig, sie stippten den Kuchen in die Tassen, daß der Kaffee fast überlief.

Muttchen Friedel ließ einen scheuen Blick ringsum gehend ihr war, als müsse sie irgendwo Tante Lenchens Blick begegnen.

»Lu,« sagte sie dann vorwurfsvoll, »aber Li!«

Die sahen auf, unbekümmert und erstaunt.

»Muttchen?«

»Man ißt doch nicht wie ein Scheunendrescher, wenn man zu den Erwachsenen gezählt wird.«

»Ei warum?« krähte Herr von Ellern, »nimmt das etwa den Appetit? Lassen Sie doch die Kinder essen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist! Ich hab's all mein Lebtag so gehalten.« Er liebäugelte mit seinem gewaltigen Magenvorsprung. »Hier der Beweis.« Lu und Li kicherten.

Jetzt schlug Vater Klaus ans Glas.

Aller Lärm verstummte.

»O weh,« kam da ein Stimmchen vom unteren Ende der Tafel, »jetzt kann man nicht einmal mehr essen.« Es war die dicke Suse.

»Freßsack!« sagte prompt ein zweites Stimmchen in die Pause hinein; das war Elfi.

Lutz und Fritz lachten.

»Still,« riefen Muttchen Friedel und Frau Lilly zugleich.

Nun konnte Vater Klaus seine Rede halten; sie galt Großpapa Polten und war warm, fast begeistert. Dem alten Herrn wollte die Rührung ankommen und das liebte er gar nicht.

Nur brummig ließ er danach alle die Ehrenbezeigungen, das Hallo und Anstoßen der Gäste über sich ergehen.

»Lohnt sich nicht, so'n alten Knasterbart zu feiern,« knurrte er. »Danke, danke! Drei Schritt vom Leibe! Da, wenn gefeiert werden soll, dort sitzen die Rangen, die Lu und die Li. Sie wollen ja wohl jetzt erwachsen sein?«

Lu und Li fuhren mit feuerroten Köpfen von ihren Stühlen auf, offenbar in der Absicht zu flüchten, einerlei wohin. Aber Großpapa Polten faßte mit raschem Griff zu.

»Order pariert, Mädels, und sitzen geblieben!«

Er hielt sie fest wie im Schraubstock. Ergeben blieben Lu und Li mit hängenden Köpfen und glühenden Wangen sitzen. »He, Klaus, fahr fort in der Rede!« rief Papa Polten lachend. »Will nicht allein das Festkind sein. Los, basta!«

Da konnte sich Vater Klaus nicht länger sträuben.

»Also, meine Herrschaften, auf höheren Befehl! Wir feiern bei den zwei Rangen da gewissermaßen heute so eine Art Aufnahme in den Bund der Erwachsenen. Fünfzehn und sechzehn Jahre sind ein achtunggebietendes Alter. Es war mir nur bis heute noch nicht vollständig klar. Ob es an mir oder an den beiden Rang–, ich meine, meinen beiden Töchtern lag, will ich nicht untersuchen.«

Lu und Li wußten nicht, wohin sich retten vor all den lustigen Augen und lachenden Mienen.

»Wie zeitgemäß eine solche Aufnahme in den Bund der Erwachsenen ist, haben die Herrschaften ja wohl auch schon zu bemerken Gelegenheit gehabt,« fuhr Vater Klaus mit neckendem Seitenblick auf Lu und Li fort, die wie die armen Sünder sahen.

»Klaus,« mahnte Muttchen Friedel, die Mitleid mit den beiden hatte.

»Keine Angst, Friedelchen,« sagte er lachend, »es geschieht deinen Küken nichts weiter. Ich bin am Schluß. Von Herzen danke ich den Herrschaften, dies Fest mit uns gefeiert zu haben, umsomehr, als es für lange Zeit das letzte sein wird.«

»Hört, hört! – Was meint er? – Was hat er vor?« tönte es da durcheinander.

Ruhig wartete Vater Klaus, bis der Sturm ebbte.

»Ich habe nämlich vor, mich von meiner Frau und meinen Töchtern zu trennen. Ich –«

»Klaus!« Muttchen Friedel sprang erregt auf. Sie hatte mit einem Blütensträußchen gespielt, das ihr Gedeck zierte; die Blumen flogen dem Gatten an die Schulter.

»Hurra!« jubelten Lutz und Fritz. »Drauf, Muttchen!« Kampfbereit drängten sie sich dicht heran.

Muttchen Friedel schob ihre Söhne beiseite. »Was hast du vor, Klaus?« fragte sie. »Was soll der Unsinn?«

»Blutiger Ernste Friedet, blutiger Ernst. Ich denke nämlich so: wenn Tante Lisa und Fee nicht hierherkommen konnten, so sollen Muttchen Friedel und ihre Rangen zu ihnen fahren. Was, Friedelchen?«

Muttchen Friedel stockte der Atem, aber ihre Augen leuchteten.

»Was wolltest du, Klaus? Ich soll mit Lu und Li die Lisa und das Kind besuchen? Ja, Klaus?«

»Und sollst Fee mitbringen.«

»Klaus!«

Der Tisch erhielt einen gewaltigen Stoß, ein Stuhl kippte krachend um. Die Muttchen Friedel von früher kannten, erwarteten, sie mindestens über den Tisch setzen zu sehen.

Aber sie flog drum herum und hängte sich Vater Klaus an den Hals.

»Klaus, Klaus! O, das ist ja schon ewig mein Wunsch gewesen!«

»Wirklich, Friedel? Und ich?«

»Ach was, du hast die Jungen und den Papa und die Tante! Die Zeit fliegt und –«

»Könnten wir nicht lieber daheim bleiben?« sagte da Lu völlig unerwartet.

»Ich halte gern Haus!« setzte Li hinzu.

»Sollte mir fehlen,« versetzte Vater Klaus.

Muttchen Friedel faßte die beiden an den Schultern.

»Wo fehlt's, Kinder? Freut ihr euch nicht?«

Lu und Li senkten den Kopf.

»Muß man –«

»Muß man da –«

»Immer –«

»Immer gesetzt und erwachsen sein, ja?«

»Immer die junge Dame spielen?«

»Immer auf alles mögliche aufpassen?«

»Darf nie einen Unsinn machen?«

»Nie reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist?«

»Ich denke mir England sehr langweilig!«

»Ich auch, Li.«

Das kam wie Sturzwellen, Muttchen Friedel konnte nicht Einhalt gebieten.

»Aber Lu! – Aber Li!« Mehr konnte sie nicht vorbringen.

Papa Polten lachte dröhnend, Herr von Ellern meckerte.

»Die Mutter! Leibhaftig die Mutter!«

Lu und Li blickten herausfordernd umher.

»Was wahr ist, ist wahr.«

»Sollen wir so tun, als ob wir uns freuten, Muttchen?«

Muttchen Friedel sah ganz hilflos nach Vater Klaus. Der faßte Lu und Li und hielt sie rechts und links an den Armen.

»Hört mal, Mädels! Abgesehen davon, daß euer Vater hoffte, euch eine Freude zu machen, hält er es für gut, daß ihr einmal seht, wie's anderswo zugeht, und daß die Menschen, die sich nett und gesittet benehmen, überall mehr gelten als die ungehobelten. Er bringt dafür ein Opfer an Geld und ein Opfer mit dem Herzen. Glaubt ihr, daß er die Mutter und euch gern so lange hergibt?«

Da wurden sie weich.

»Väterchen, uns –«

»Uns vermissest du auch?«

»Na, natürlich,« rief Papa Polten.

Lu und Li hatten so viel mit Väterchen und Muttchen zu tun, daß sie Papa Polten völlig überhörten.

»Ja, Väterchen, wenn dir dann nur nicht drei so furchtbar wohlerzogene Töchter zu viel sind?« meinte Li.

»Wenn ich nur nicht zum Schwan werde, hat die Gans gesagt, als sie auf dem Schwanenteich schwamm,« erwiderte Papa Polten an Stelle des Gefragten.

Da fielen Lu und Li über ihn her. Der Vergleich war denn doch zu derb. Sie zausten ihm gewaltig den Silberbart.

»Jungchen,« rief er, »zu Hilfe, Jungchen!«

Muttchen Friedel befreite ihn, und unter dem Lachen der ganzen Gesellschaft liefen Lu und Li aus dem Zimmer.

»Dein Fleisch und Blut, Friedelchen,« rief Frau Lilly Echtern.

»Das weiß der Himmel!« seufzte Muttchen Friedel.

Von draußen erklang lautes Wiehern und Hufegeklapper. Alle eilten ans Fenster.

Zum offenen Hoftor hinaus trabten Großpapa Pollens Braune, ungesattelt, ungezäumt. Auf ihren Rücken saßen Lu und Li, so wie sie eben von der Festtafel fortgeeilt waren.

»Da haben wir's!« seufzte Muttchen Friedel noch einmal, »und in den guten Kleidern noch dazu.«

»Ich weiß jemand, der im Hochzeitsstaat auf der Schaukel saß und sich den Rock dann amputieren mußte,« sagte da Vater Klaus.

»Wirklich?« fragte Muttchen Friedel so obenhin.

»Keine Gefahr, daß das da allzu wohlerzogen wird,« rief Papa Polten und lachte dröhnend.

»Konrad!« mahnte Herr von Ellern im Fistelton und hob drohend den Finger.

Papa Polten sah sich um. Ihm war im Augenblick, als habe er die Schwester gehört.

Herr von Ellern wollte sich ausschütten vor Lachen.

Dann nahmen die Gäste Abschied. Auch die Familie Rödern ging.

»Gute Nacht, Papa! Dank für alles! Schick Lu und Li, wenn sie kommen. Und – Papa – sag Tante Lenchen nichts. Bitte, sie – sie ist angegriffen und – und es könnte ihr schaden, ich zause mir die Dinger schon noch zurecht!« bat noch Muttchen Friedel im Hinblick auf Lu und Li.

»Schon recht, Jungchen, gute Nacht. Und, Jungchen, mach's nicht zu schlimm. Es wäre jammerschade, wenn –«

Muttchen Friedel drohte ihm vergnügt mit dem Finger und eilte hinter Vater Klaus mit seinen beiden Jungen her.

So war also die Reise nach England zu Tante Lisa beschlossene Sache. Muttchen Friedel strahlte, Lu und Li verhielten sich zuwartend. Die Reisevorbereitungen wurden vollendet, Frau Lilly Echtern half der Freundin treulich. In Kleiderfragen war Muttchen Friedel noch immer wie ein Kind, Lu und Li noch weit schlimmer. Aber endlich standen die Koffer fertig gepackt; der Reisetag war da.

Lu und Li hatten sich mittlerweile mit dem Gedanken der Reise befreundet. Es lockte sie in die Welt hinaus, mochte das Reiseziel nun England oder sonst was sein.

»Du, Li, wir lassen uns einfach nicht auf die junge Dame zustutzen, was?«

»Fällt uns gar nicht ein. Muttchen war auch Großpapas Junge! Vater hat sie dennoch geheiratet.«

»Aber wir wollen ja gar nicht heiraten, Li! Du weißt doch, daß wir ein Hunde- und Katzenspital gründen wollen.«

»Du, aber –«

»Willst du wortbrüchig werden, Li?«

»Auf Ehre nicht, bloß –«

»Hand drauf, Li.«

»Hand drauf, Lu!.«

»Eine wohlerzogene englische Miß werden wir nie!«

»Werden wir nie, Lu!«

Das war ein Schwur, so feierlich wie auf dem Rütli.

So waren sie innerlich gewappnet und sahen dem Kommenden mit Ruhe entgegen.

»Mach kein solch vergnügtes Gesicht, Friedel,« sagte indessen Vater Klaus zu seiner Frau, als die sich vor der Fahrt zum Bahnhof ihr Hütchen feststeckte, »als ob du nicht erwarten könntest, von mir fortzukommen! Bedenke, die erste Trennung!«

Muttchen Friedel sah ihn zunächst verdutzt an, dann lachte sie hell heraus.

»Unsinn, Klaus, das ist ja doch bloß äußerlich. Und ich freu' mich so auf Lisa und Fee! Soll ich mich verstellen, Klaus? Das hab' ich nie fertig gebracht. Geradeso werd' ich mich dann aufs Heimkommen freuen.«

»Das soll ein Wort sein, Friedelchen!«

»Dummer Klaus,« sagte sie und gab ihm einen kleinen Schubs. »Flink, es ist die allerhöchste Zeit!«

»Noch zwanzig Minuten, Kind!«

»Wo nur Papa bleibt? Er und Tante wollten doch mit zur Bahn fahren.«

»O, du Ungeduld von siebzehn Jahren.«

Sie sah ihn an und lachte.

»Eine schöne Zeit war's doch, Klaus. Wenn's dir auch sauer wurde, den Unband zu zähmen.«

»Ist er denn wirklich gezähmt?«

Sie seufzte tief. »Natürlich und wie! In Ketten gelegt.« Sie wurde ungeduldig. »Klaus, länger können wir nicht warten. Papa und Tante müssen nachkommen.«

Sie flog an ihm vorbei, die Treppe hinunter.

»Lu! Li! Flink! Trödelt doch nicht so!«

»Aber da sind wir ja, Muttchen. Und eben kommen Großpapa und Tante.«

»Endlich!« seufzte Muttchen Friedel auf. »Ich hätt's auch nicht länger ausgehalten.«

Vater Klaus kniff sie ins Ohrläppchen und raunte: »Wie gezähmt der Unband ist! Zum Erstaunen!«

Dafür bekam er einen kleinen Nasenstüber.

Der Zug stand zum Abfahren bereit. In einem Fenster drängten sich hinter-, neben- und übereinander drei riesig fidele Gesichter, sechs Hände winkten und drei Paar Augen lachten und leuchteten, drei Tüchlein wehten.

Als der Zug schon fast außer Sicht war, sahen die, die vom Bahnsteig aus ihm nachschauten, plötzlich, wie vom selben Fenster her drei kleine graue Filzhütchen geschwenkt wurden, und hörten im Rädergeklapper ein helles Hurra verhallen. Fritz und Lutz setzten hinterher und brüllten aus voller Kehle.

»Erbarm dich,« sagte Tante Lenchen und wischte sich die Augen, »da fahren nun die drei Kinder so ohne Schutz in die Welt hinein!«

»Und Jungchen, Lene?« fragte Papa Polten kampfbereit.

»Jungchen, Konrad,« – dies »Jungchen« stach förmlich – »Jungchen ist der größte Kindskopf von den dreien, dünkt mich. Wie das Kind aussah! Alles Quecksilber und Fieber. Lu und Li waren gesetzt dagegen. Mir ist sehr bange, Herr Neffe. Wer weiß, wo die drei hingeraten?«

»O, du Angsthase!« brummte Papa Polten unhöflich.

»Ich habe Friedel alles genau aufgeschrieben, Tantchen. Ängstigen Sie sich nur nicht. Ich denke, es soll alles gut gehen.«

»Der Himmel gebe es,« seufzte Tante Lenchen und trocknete wieder die Augen, »Frida –«

»Jungchen ist nie unbesonnen gewesen und wird es auch niemals sein, Lene.«

Papa Polten war schwer gereizt. Die Reise mitsamt der Trennung war nicht nach seinem Geschmack. Ein Glück, daß Lutz und Fritz eben angetrabt kamen. Das lenkte ihn ab.

Gleich danach saßen sie wieder im Wagen und fuhren ziemlich trübselig der Heimat zu.

Der Zug aber, der die Reisenden fortführte, rasselte und leuchte mittlerweile unaufhaltsam vorwärts.

Da tauchte schon das goldene Mainz auf, der breite Rheinstrom, der den Gefährten Main aufnimmt.

Lu und Li jubelten: »Der Rhein! Der Rhein!« und waren wie aus Rand und Band.

Am liebsten hätte Muttchen Friedel mitgejubelt. Aber ein Herr, der auch im Korridor des Durchgangswagens stand und sich sichtlich über Lus und Lis Begeisterung sehr vergnügte, bedrückte sie. Einer mußte doch die Würde wahren; so tat sie es.

»Darf ich den Damen mein Glas anbieten?« fragte der Herr und nestelte an dem umgehängten Futteral. »Vielleicht nehmen gnädiges Fräulein es zuerst?«

Er bot Muttchen Friedel das Glas. Die errötete, denn sie ahnte, was folgen würde.

Lu und Li kicherten denn auch sofort.

»Darf ich das Glas nehmen, Muttchen?« riefen beide zugleich und warfen spöttische Blicke auf den Herrn.

Der sah überrascht auf.

»Verzeihung, gnädige Frau, ich ahnte nicht – niemand würde es glauben. Solche Ähnlichkeit! Ich dachte, drei Schwestern –«

Muttchen Friedel lächelte vergnügt.

»Sie sind nicht der erste, der das sagt, was, Mädels? übrigens besten Dank für das Glas, es ist sehr gut.«

Als man über die Brücke hinüber war, versenkte der Herr sein Glas wieder ins Futteral, verbeugte sich und ging an seinen Platz.

»Klein-Muttchen, du hast ihm am besten gefallen,« sagte Lu.

»Ein Wunder,« lachte Li, und beide streichelten an Klein-Muttchen herum.

»Unsinn verbitt' ich mir,« sagte aber Muttchen Friedel streng, was die Töchter erst recht ins Lachen brachte.

Mainz zog vorüber, der sonnige Rheingau drüben, dann Bingen und ihm gegenüber das Nationaldenkmal.

Lu und Li hatten alles schon mehrfach gesehen, aber sie jubelten trotzdem wie die Kinder, besonders über den Rhein mit seinen Windungen, seinen Bergen und Burgen. Welchem Deutschen ginge auch das Herz nicht auf bei seinem Anblick?

»Am Rhein scheint immer Sonntag zu sein, Muttchen,« sagte Lu.

»Man lacht hier wohl nur?« fragte Li. »Ich hab' noch kein trauriges Gesicht gesehen.«

Sie standen wieder im Korridor des Wagens an einem der großen Aussichtsfenster rechts und links von Muttchen und lehnten den Kopf an deren Schulter.

»Und auch hier geht das Leben seinen Gang mit Geborenwerden und Sterben, mein Fräulein,« sagte da eine Stimme. Es war der Herr von vorher, der das Glas angeboten hatte. »Was glauben Sie wohl, wovon diese gestürzten Mauern erzählen? Diese Ruinen alle? Von Menschenstreit und Not. Geht das wohl ohne Klagen und Tränen ab?«

»Also bringt der Mensch das Elend in die Welt?« fragte Lu.

»Aber ohne den Menschen war's eine elende Welt,« trumpfte Li auf und lachte. »Hurra, Rolandseck, Nonnenwerth, der Drachenfels! Muttchen, schau, Muttchen!«

Lächelnd sah der Herr zu, und verneigte sich schließlich gegen Muttchen Friedel.

»Nun weiß ich, weshalb gnädige Frau aussehen wie die Schwester ihrer Töchter. Wer immer aus solchem Jungbrunnen schöpft –«

Muttchen Friedel lächelte. »Ein wenig muß der Mensch auch in sich tragen. Es gibt Leute, die haben immer weiße Haare, kommen damit auf die Welt.«

»Gnädige Frau haben leider sehr recht.«

»Bonn!« riefen die Schaffner.

Der Herr stieg hier aus; noch einmal grüßte er stumm.

Endlich lief der Zug in Köln ein.

Von Bonn an war's eine unbekannte Welt für Lu und Li gewesen. Muttchen Friedel war zwar einmal früher mit Papa und Lisa hier durchgekommen. Aber damals waren ihre Augen noch nicht offen, wie sie eingestand.

»Wie bei den jungen Katzen,« sagte Li.

»Genau so,« antwortete Muttchen Friedel.

»Wir haben sie offen, was, Lu?«

»Immer gehabt, Li.«

»Na, na,« sagte Muttchen Friedel.

Sie ließen ihr Gepäck auf dem Bahnhof und steuerten dann zum Dom. Dabei hielten sie sich untergefaßt wie Backfische, Muttchen in der Mitte.

Li stellte im Übereifer einen Dienstmann.

»Wo geht's zum Dom, bitte?«

Der Mann lachte ihr ins Gesicht.

»Immer der Nese nach und hibsch die Oogen uff, so kommt ener am besten durch die Welt, Freileinchen.« Und einem Kameraden rief er zu: »Det sieht de Dom nich! Hett de Oogen zu, als wie die junge Katzen!« Die Männer lachten.

Muttchen Friedel und Lu stimmten ein; Li wurde feuerrot.

Der Dienstmann hatte guten Grund, sich über Li lustig zu machen. Denn da lag der Dom in seiner vollen, hehren, überwältigenden Majestät vor ihnen. Wie gewaltige Arme reckte er seine beiden Türme gen Himmel, als wollte er sagen: Dorthinauf, Menschenkinder, dorthin schaut, dorthin strebt. Den Unerfahrensten muß er in seiner Pracht und Größe überwältigen, ihm Staunen und Andacht entlocken; denn kein Gebilde scheint's von Menschenhand. Man wähnt es in stummem Staunen unmittelbar aus der Hand des gewaltigen Schöpfers aller Dinge hervorgegangen, zu groß und erhaben für Menschenwerk.

Muttchen Friedel, Lu und Li standen denn auch stumm und staunend da und sahen an der stolzragenden Steinmasse hinan, die sich trotz der türmenden Wucht wie feines, zartes Spitzenwerk vom Himmel abhebt.

»So was!« sagte Lu leise.

Li sagte diesmal nichts, sie hielt nur den Mund offen.

In Muttchen Friedel wurde der Pädagog wach.

»Wer hat ihn erbaut, Lu? Wann, Li?«

Sie sahen Klein-Muttchen an, wie aus einem Traum erwachend.

»Ja, Muttchen, so was!«

»Wer soll das wissen?«

»Schämt euch,« sagte Klein-Muttchen. »All das viele Schulgeld umsonst ausgegeben!«

Sie senkten den Kopf.

»Wer war's, Muttchen?« schmeichelte Lu.

»Wann?« bat Li.

Da saß Klein-Muttchen in der Tinte; solch ein Umkehren des Spießes hatte sie nicht erwartet. Sie wurde ein klein wenig rot, war aber schnell gefaßt.

»Erwin von Steinbach,« sagte sie rasch, »und im fünfzehnten Jahrhundert oder so wo herum.«

Lu und Li kicherten, ließen aber einstweilen Klein-Muttchens Orakel gelten. Sie wußten's nicht besser.

Dann traten sie in die himmelanstrebenden Hallen. Gewaltige Pfeiler wachsen zum Gewölbe empor, das wie »ein zweiter Himmel in den Himmel« ragt. Durch wunderbar gemalte Scheiben fällt geheimnisvoll das Tageslicht herein. Heilige Andacht füllt den Raum und das Herz.

Eng aneinander drängten sich Muttchen Friedel und ihre beiden Rangen und ließen die Gewalt des Ortes auf sich einwirken. Dann setzten sie sich in einen der hohen geschnitzten Stühle und regten sich nicht; die Zeit ging hin. Wer hat angesichts solcher Umgebung wohl das Herz, an das zu denken, was jenseits der Mauern liegt? An die Stunde, gar an die Bahnstunde? Entweihung scheint's. Muttchen Friedel, Lu und Li genossen den Augenblick.

Da kam mit hallenden Schritten ein Mann.

»Pscht,« sagten Lu und Li unwillkürlich.

Er dämpfte aber nicht die Stimme, sondern fragte laut:

illustration

»Wollen die Herrschaften den Dom sehen?«

»Wollen die Herrschaften den Dom sehen?«

»Bitte,« erwiderte Muttchen Friedel.

Zum Zeichen seiner Würde rasselte der Mann mit seinem Schlüsselbund; Lu und Li empfanden das wieder peinlich. Alles in diesem heiligen Raum sollte gedämpft sein wie das Tageslicht, der Tageslärm von draußen. Und dann legte der Mann los wie ein Papagei: »Der Kölner Dom ist das vorzüglichste Werk gotischer Baukunst. Er wurde 1248 unter dem Erzbischof Konrad von Hochstaden, der den Grundstein legte, begonnen, blieb in vielen Teilen unvollendet, wurde seit 1814 repariert, seit 1842 durch die Bemühungen des Zentraldombauvereins mit den namentlich durch die Dombaulotterien beschafften Mitteln ausgebaut. Am 18. Oktober 1880 wurde er in seiner jetzigen Vollendung eingeweiht.«

»Und Erwin von Steinbach?« fragte Lu.

Muttchen Friedel gab ihr einen leichten Puff und raunte: »Stör' doch den Herrn nicht, Lu.«

Der Mann schaute Lu mit ausdruckslosen runden Augen an. Er wollte eben noch einmal sein Papageiensprüchlein beginnen, da er annahm, Lu habe nicht begriffen.

»Der Kölner Dom ist das vorzüglichste Werk gotischer –«

»Weiß ich,« sagte Lu, »aber Erwin von Steinbach?«

»Ein Mann dieses Namens ist mir nicht bekannt,« erwiderte der Führer.

»Du sagtest doch, Muttchen –«

Muttchen Friedel fuhr sich über die Stirn; es war ihr mit einem Male merkwürdig schwül.

»Erwin von Steinbach ist der Erbauer des Straßburger Münsters, mein Fräulein,« fiel da ein Herr ein, der sich zu der Gruppe gefunden hatte und den Erklärungen lauschen wollte.

»Aber, Muttchen –«

»Muttchen sagte doch –«

Beide verstummten rasch, sahen Klein-Muttchen an und kicherten. Muttchen Friedel reckte sich zu ihrer vollen Höhe.

»Seid nicht albern, bitte! Dom ist Dom. Hat er's in Straßburg gekonnt, hatte er's hier ebensogut tun können.«

Dem war nichts entgegenzuhalten. Der Herr war indes mit dem Erklärer weitergegangen; die Damen beeilten sich, hinterher zu kommen.

Der Mann machte auf alles aufmerksam, auf Krypten, Gemälde und Glasmalereien, er zeigte den Kirchenschatz und die kostbaren Kirchengewänder. Lu und Li staunten.

Und dann ging man aufs Dach.

Alle diese Schwibbogen und Strebepfeiler! Dies wunderbar klare, steinerne Spitzenwerk! Jeder Bogen, jeder Pfeiler in einem anderen Motiv behauen, Blätter, Blumen, Ornamente aller Art. Eine Unsumme von mühsam geduldiger Menschenarbeit, ein kleines Teilchen vom einzelnen geliefert und überwältigend dennoch in seiner Gesamtheit! Ameisenwerk, beseelt von dem Schöpfergedanken des Genies!

Muttchen Friedel, Lu und Li konnten, sich nicht satt sehen. Auch über den herrlichen deutschen Strom ließen sie die Blicke wandern. Breit und gewaltig rollte er die Wogen, stolz trug er die Schiffe auf seinem Rücken. Und wie eng sich die Häuser unten aneinanderdrängten im Schutz des gewaltigen Nachbarn. Wie Ameisen krabbelten die Menschenwesen in den Straßen und Gäßchen. Was es da alles zu sehen gab!

»Es ist sechs Uhr, meine Herrschaften. Um sechs Uhr ist mein Dienst zu Ende und um diese Zeit wird der Aufgang zum Dach geschlossen,« sagte schließlich der Mann.

Schreckensbleich starrte ihn Muttchen Friedet an.

»Aber um sechs Uhr soll ja unser Zug gehen!«

»Der Zug Aachen–Brüssel? Dort fährt er eben hin, Fräulein.«

Muttchen Friedel überhörte die Anrede in ihrem Schreck, starr standen auch Lu und Li.

»Mißgeschick Nummer eins,« sagte Muttchen Friedel geknickt. »Kinder, wie wir wohl nach London kommen?«

In ihrer Bestürzung wußten Lu und Li kein Trostwort. Der Mann hätte fast kein Trinkgeld bekommen; er wußte sich aber bemerklich zu machen, und in ihrer Verblüffung gab ihm Muttchen Friedel nun einen blanken Taler. Ob er zufrieden war?

Wie gejagt stürzten dann die drei davon, kamen atemlos am Bahnhof an und klagten dem Portier ihre Not.

»Ja, det helpt denn nich,« sagte der achselzuckend, »da müssen denn die Herrschaften in 'n Hotel übernachten. Morgen früh um acht Uhr können Sie weiter.«

»Hurra!« riefen Lu und Li. Ihnen war die Nacht im Hotel ein wundervolles Abenteuer. Muttchen Friedel aber sah sehr bedrückt aus.

»Was wird Tante Lenchen sagen?« war alles, was sie herausbrachte.

Lu und Li faßten Muttchen tröstend von rechts und links unter. So zogen sie hinter dem Mann mit dem Handgepäck her. Ihre Koffer waren einstweilen allein vorangereist.

»Ob wir sie wiedersehen, Muttchen?« fragte Lu.

Aber Li behauptete: »Ach was, mir ist's schnuppe! Das Kleid hier ist mir gerade recht. So nett einerlei mausgrau sind wir, Muttchen.«

Muttchen hatte einstweilen nicht Sinn für derlei. Ins erstbeste Hotel hatte sie der Mann gebracht. Den dreien war es dabei nicht eingefallen, sich zu vergewissern, wie es hieß.

Dann ging ein Telegramm nach Hause ab:

»In Köln liegen geblieben, Zug versäumt. Fahren erst morgen weiter. Tief beschämt

Muttchen, Lu, Li.«

Auch ein Telegramm an Tante Lisa meldete das Mißgeschick.

Kurz darauf saßen die drei um einen kleinen Tisch im Restaurant des Hotels und ließen sich's köstlich schmecken. Den Appetit hatte das Mißgeschick weder bei Muttchen noch bei Lu und Li beeinträchtigt.

»Erbarm dich,« seufzte Lu; sie liebte Tante Lenchens Ausruf und hatte ihn angenommen.

»Was fangen wir nun an?« fragte Li. »Theater, Muttchen?«

Lu hielt den Atem an. Was sich Li auch dachte!

Aber Muttchen nickte. »Meinethalben!« Sie war in Gedanken bei Tante Lenchen, die wohl die Unglücksbotschaft jetzt erhielt.

Li winkte dem Kellner und fragte: »Was wird im Theater gegeben?«

»Hänsel und Gretel, gnädiges Fräulein.«

Da fühlte Li den Mut wachsen.

»Nun, Muttchen?«

Muttchen Friedel fuhr aus ihren Gedanken auf und sah jetzt erst, wozu sie ihre Zustimmung gegeben hatte.

»Ja, Kinder, aber –«

»Du hast's gesagt, Muttchen!«

»Ein Mann, ein Wort, Muttchen!«

Was konnte sie tun?

Bald nachher saßen sie also im Theater, der Vorhang ging auf und das lebendig gewordene Märchen spielte sich vor ihren Augen ab.

Mit großen Augen lauschten die drei den süßen Weisen, Muttchen Friedel mit derselben Kinderlust wie Lu und Li. Sie zitterten und jauchzten mit Hansel und Gretel und hätten am liebsten mit ihnen am Pfefferkuchenzaun geknabbert.

Und als Gretel sang:

»Im Walde steht ein Männlein
Auf einem Bein« etc.

da summten Lu und Li und – ja, es muß gesagt sein – auch Muttchen Friedel so laut mit, daß die Nächstsitzenden sich empört umwandten. Aber die Empörung legte sich beim Blick in die drei strahlenden Gesichter, und ein Lächeln löste sie ab. Nein, solche reine Kinderfreude! So was sieht man nicht alle Tage. Ein Frevel wär's gewesen, das zu stören!

Als der Vorhang fiel, klatschten Muttchen Friedel, Lu und Li noch, als alle anderen schon aufgehört hatten. Manch lächelnder Blick streifte sie; sie kümmerte es wenig.

Ganz selig traten sie wieder auf die Straße und ließen sich vom Gewühl treiben.

Das verlief sich schnell. Die drei aber schwatzten und schwatzten und jede wußte von dem eben Gehörten was anderes zu rühmen und hervorzuheben.

»Kinder, wohin gehen wir?« fragte Muttchen Friedel mit einem Male.

»Ins Bett, Muttchen,« erwiderte Li.

»Oder hast du noch sonst was vor?« erkundigte sich Lu neckend.

»Seid mal nicht albern, ihr! Wo steht unser Bett?«

Sie sahen Muttchen an, und es lief ihnen kalt über den Rücken.

»Doch im Hotel, Muttchen,« sagten sie zaghaft.

»Und das Hotel, he?«

Ja, das Hotel! Keine hatte sich den Namen oder nur die Straße gemerkt! Sie waren eben einfach hinter dem Dienstmann hergetrabt. In der Nähe des Bahnhofs, das war ungefähr alles, was sie wußten.

Bis zum Bahnhof fragten sie sich noch durch, und freundlich gab man ihnen Bescheid.

Aber vom Bahnhof an!

»Nun rechts,« sagte Li.

»Nein, links,« behauptete Lu.

»Geradeaus,« meinte Muttchen.

So standen sie, sahen sich ungewiß um und wußten nicht, wo aus noch ein. Das Straßenbild war bei Abend im Schein der elektrischen Flammen völlig anders.

Dort blinkte ein Helm.

»Ein Schutzmann!« rief Li, eilte auf den Mann zu und redete ihn an.

»Wo ist unser Hotel, bitte?«

Der Mann musterte sie schmunzelnd.

»Wie soll ich das wissen, Fräulein?«'

»Aber wir finden's doch nicht,« sagte Li weinerlich, »und übrigens muß die Polizei alles wissen,« trumpfte sie dann auf.

Muttchen und Lu kamen indessen heran und Lu zupfte Muttchen.

»'s ist ja ein Offizier!« raunte sie.

Muttchen Friedel reckte sich.

»Verzeihung, mein Herr! Es liegt ein Irrtum vor.«

Der Offizier sah sich die drei näher an und verbiß sichtlich ein Lachen. Aber in seiner Haltung lag plötzlich sehr viel Achtung.

»Kann ich den Damen behilflich sein?« fragte er zuvorkommend.

»Wir haben unser Hotel verloren,« gestand Muttchen Friedel kleinlaut.

»Verloren? Darf ich um den Namen bitten?«

Muttchen Friedel mißverstand ihn.

»Frau von Rödern,« sagte sie. »Meine beiden Töchter.«

Jetzt konnte er nur mit größter Mühe noch seinen Ernst bewahren; aber er klappte die Hacken zusammen und erwiderte: »Leutnant Friesen. Und der Name des Hotels?«

»Den – ja den wissen wir eben nicht!« riefen Lu und Li lachend, ehe Muttchen Friedel was sagen konnte.

Da lachte auch er laut hinaus, und Muttchen desgleichen, ob sie wollte oder nicht.

»Ja, das ist freilich ein kleines Hindernis,« fuhr Leutnant Friesen fort.

Muttchen Friedel erklärte nun die Sache.

»Am besten, ich führe die Damen zu den nächstgelegenen Hotels. Vielleicht, daß Sie dann das rechte herausfinden.«

Er trat neben Muttchen Friedel und wies den Weg, Lu und Li folgten.

An zwei, drei Hotels führte er sie vorüber; keines war das gesuchte. Muttchen Friedel, Lu und Li wurden immer bedenklicher.

»Bei Nacht sieht alles so anders aus,« sagte Muttchen Friedel.

Leutnant Friesen verneigte sich zustimmend. »Nur Mut, gnädige Frau!«

»Der Portier war rot,« sagte Lu.

»Nein schwarz,« behauptete Li.

»Merkwürdige Übereinstimmung,« meinte Leutnant Friesen.

Aber Lu und Li vergaßen zu kichern, die Sache wurde ihnen allmählich sehr unbehaglich.

Da kamen sie wieder an einem Hoteleingang vorüber. Ein Mann, der da stand und Ausschau hielt, trat ein paar Schritte vor.

»Da sind ja die Damen,« sagte er sichtlich erfreut. »Ich dachte schon, weil Sie fremd sind –«

Lu und Li wären ihm vor Freude fast um den Hals gefallen. »Dem Himmel sei Dank!« rief Lu inbrünstig.

»Aber schwarz ist er doch, du,« warf Li ein, die gern recht behielt.

»Meinethalben,« erwiderte Lu von oben herab.

Nun verabschiedete sich Muttchen Friedel mit viel Dankesworten von Leutnant Friesen. Der klappte die Hacken zusammen.

»Ist mir eine Ehre gewesen, meine Damen.«

Lu und Li knicksten wie die Schulmädchen und ärgerten sich dann riesig. Diesen Abend schien wirklich alles verdreht zu sein!

Sie liefen hinter Muttchen her. Ein Kellner wies sie in ihr Zimmer. Aufatmend saßen sie endlich auf ihren Stühlen und – lachten.

Aber dann fielen sie ins Bett, müd und matt und bald danach klang's fast wie leises Schnarchen durchs Zimmer, so tief und fest atmeten die drei.

Kaum daß die Sonne am anderen Morgen hochkam, sah sie auch schon in drei Paar sehr helle, offene Augen. Verschlafen wollten sie nicht, Muttchen Friedel, Lu und Li.

Um halb sieben schon kamen sie zum Frühstück herunter und machten die Kellner unwirsch, die sich die verschlafenen Augen rieben.

»Die Herrschaften haben noch über zwei Stunden Zeit,« sagte einer halb höflich, halb ärgerlich.

»Einerlei,« entgegnete Muttchen Friedel vergnügt. »Besser zwei Stunden zu früh, als eine Minute zu spät.«

Der Kellner zuckte bloß die, Achseln, aber bald stand das Frühstück da. Sie ließen es sich herrlich schmecken.

Dann saßen sie schon eine volle Stunde vor Abgang des Zuges im Wartesaal. Selbst dies tödlich ermüdende Warten konnte Muttchen Friedels, Lus und Lis Lebensgeister nicht dämpfen. Sie lachten und kicherten. Manch einer blickte neidisch oder auch grämlich nach der lustigen Ecke.

»Sieh mal bloß die drei Mausgrauen dort, Ernst; man möchte mitlachen,« flüsterte eine kleine rundliche, fröhliche Dame und blickte zu ihrem Eheherrn auf.

Er war lang und dürr, säuerlich-grämlich.

»Albernes Getue,« sagte er, »Gänse, einfach!«

Wenn Muttchen Friedel, Lu und Li das gehört hätten!

Dann raste der Zug durchs sonnenbeglänzte Land. Aachen, die alte Kaiserstadt, die Residenz Karls des Großen, wo er gekrönt wurde und auch beerdigt liegt, kam. Darüber wölbte sich im Sonnenschein die Kuppel des Münsters, dessen Bau unter Karl dem Großen begonnen wurde.

Lu und Li wußten diesmal so ziemlich Bescheid; Muttchen Friedel war sehr stolz darüber.

»Eine römische Niederlassung war's ursprünglich, Muttchen, Civitas Aqua – Aqua irgend was,« kramte Li ihre Weisheit aus.

»Aquis granum oder Civitas Aquensis«, berichtigte Lu. » Aqua ist Wasser, Li.«

»Meinethalben,« sagte die verächtlich.

Weiter flog der Zug über die deutsche Grenze. Lu und Li wollte es mit einem Male wie Heimweh überkommen.

»Unser liebes deutsches Land, Muttchen,« sagte Lu elegisch.

»Je, ja, aber wir bleiben ihm treu in der Fremde, was, Muttchen?« rief Li schon wieder froh.

»Bis in den Tod,« schloß Muttchen pathetisch.

Durch Belgien raste der Zug. Brüssel! Von der belgischen Hauptstadt sahen sie nur, was man bei allen anderen Städten sieht, bei denen man nur zum Bahnhof hinein- und wieder hinausfährt: weite, halb angebaute Flächen, Gartenland, Schienengeleise, Schuppen, Kohlenspeicher, Bahnmaterial, von fern ragende Kirchen, Häuserzeilen. Einen wirklichen Begriff vom eleganten Brüssel bekamen Muttchen Friedel, Lu und Li nicht.

»Das könnte nun ebensogut irgend eine andere Stadt sein,« sagte Lu enttäuscht, und Li nickte.

» Bruxelles haben sie doch ausgerufen, Kinder,« warf Muttchen Friedel ein, »und hört nur: alles spricht französisch. Da merkt man doch: daß man in der Welt draußen ist.«

»Ici, monsieur!« rief Li einem Mann zu, der Früchte feilbot. Muttchen Friedel und Lu hielten den Atem an.

» Aves-vous des-des – was heißt Kirschen, Lu?« wandte sie sich dann fragend der Schwester zu.

»Cerises«, half diese aus. Aber Li hatte bereits den Kopf verloren; der Mann stand und wartete.

»Donnez-nous des cerises«, sagte nun Muttchen Friedel und spitzte den Mund möglichst zierlich.

»Mais oui, madame, voilà!« Zugleich hielt er ein Körbchen hin, voll der leckersten roten Kirschen. Lu und Li nahmen es eiligst an sich und begannen zu schmausen.

»Laßt mir auch was, Kinder!« rief Muttchen Friedel und sicherte sich ihr Teil, was nicht ganz glatt abging.

Der Mann stand, grinste und wartete. Die Türen wurden hier und da schon geschlossen.

»Eh bien, mesdames?« sagte er endlich und hielt die Hand hin. Lu und Li reichten ihm das leere Körbchen wieder, nichts weiter. Allerhand Signale wurden gegeben.

»Il faudra payer«, mahnte der Mann von neuem. »Was will er, Muttchen?« Lu und Li standen ratlos; ihr Französisch war zu Ende.

»Mon argent!« schrie nun der Mann, dem die Geduld riß. Muttchen Friedel zuckte die Achseln.

» Argent? argent? Das heißt doch Silber, Kinder. Es war doch nicht etwa ein silberner Löffel bei den Erdbeeren, die er dort hat. Ob er meint, wir hätten den genommen?«

Sie starrten alle drei den Mann an. Der setzte nun sein Brett zu Boden, zog seinen Geldbeutel vor, schüttelte den und hielt zugleich die Hand hin. Jetzt ging den dreien ein Licht auf.

»Geld will er! Ja, hast du denn nicht gezahlt, Muttchen?«

»Ja, habt ihr denn nicht gezahlt, Kinder?«

Da schmetterte die Tür zu, die Lokomotive zog an. Der Mann lief nebenher und zeterte. Sein Wortvorrat war erstaunlich; ein Glück, daß die, denen er galt, so wenig davon verstanden.

Drei Silberstücke flogen zugleich durchs Fenster in des Mannes Mütze. Im Übereifer zahlten alle. Der Mann grinste und dienerte; die Bezahlung mußte gut gewesen sein.

»Teure Kirschen! Ich habe einen Franken gegeben,« rief Muttchen Friedel lachend.

»Ich auch!«

»Ich auch!«

»Dafür haben wir gelernt, was argent heißt!« sagte Li und warf den Kopf zurück.

Weiter raste der Zug, immer durchs belgische Land. Weit dehnten sich die Wiesenflächen, saftgrün und frisch. Ein Flußlauf blitzte auf.

»Was für ein Fluß ist das, Kinder?« fragte Muttchen Friedel. Und diesmal redete nicht der Pädagog, sondern die Wißbegierde.

»Gand!« riefen die Schaffner.

»Das ist Gent,« erklärte Lu wichtig. »Und Gent liegt an der Schelde.«

»Hast wohl irgendwo ein Reisehandbuch, was, Lu?« fragte Li mißtrauisch.

Lu zuckte bloß großartig die Achseln; weiter fuhr der Zug.

»Bruges!«

»Brügge natürlich,« sagte jetzt Li. »Brauchst dir gar keine Mühe zu geben, Lu. Ein bissel was weiß ich auch noch. War mal eine berühmte alte Handelsstadt. Die Herzöge von Burgund haben hier residiert. Jetzt scheint nicht mehr viel los zu sein.«

Li rümpfte das Näschen, Lu begeisterte sich dagegen.

»Das reine Mittelalter! Sieh doch die spitzgiebligen Häuser, Muttchen! Und die engen Gassen!«

»Mach' ich mir die Bohne draus,« sagte Li.

Flacher und sandiger wurde streckenweise dann das Land. Ein eigentümlicher Salzgeruch machte sich bemerkbar. Lu und Li schnüffelten in der Luft.

»Was riecht so, Muttchen?«

»Weiß ich's?« sagte Frau Friedel.

Da jubelte Lu: »Das ist ja die See!«

»Die See!« jubelte auch Li.

»Hurra, die See!« jauchzte Muttchen Friedel am lautesten von allen.

Ein paar Köpfe drehten sich nach ihnen. Was den dreien dran lag!

Ja, das war die See. Weit, unübersehbar, grünlich-bläulich schillernd. Kleine Wellchen hoben sich, sanken und rollten in gleichmäßigen Abständen daher. Die kleinen Wellen hatten kleine weiße Schaumkrönchen, und die Abstände, in denen sie sich hoben und senkten, wurden kürzer und kürzer.

»Holla!« sagte ein Herr. »Ungerupft kommen wir nicht durch.«

»Dreadful«, seufzte eine lange, dürre Dame mit großen weißen Zähnen.

Muttchen Friedel, Lu und Li blieben harmlos, jubelten der weiten Wasserfläche zu und gingen freudig ihrem Schicksal entgegen.

Am Kai lag die »Princesse Clémentine«, ein stattlicher, mittelgroßer Raddampfer. Die Passagiere drängten an Bord, ein reges Treiben herrschte.

Vom hübschen geräumigen Promenadedeck aus sahen Muttchen Friedel, Lu und Li zu.

Eine freundliche Stewardeß – so nennt man die Wärterinnen an Bord – hatte die drei in sehr bequeme Sessel verstaut.

» Venez ici, mesdames! Wollen die Errschaften kommen! Sit down, please!« So lud sie die Fahrgäste in drei Sprachen ein. Sie war eine Flamländerin und sah in ihrer weißen Schürze und weißen Haube sehr sauber aus.

Mit großen neugierigen Augen sahen Muttchen Friedel, Lu und Li um sich.

Die »Princesse Clémentine« hatte sich mittlerweile in Bewegung gesetzt. Sie wiegte sich zierlich auf den Wellen, bald nach rechts, bald nach links.

»Schaukeln habe ich immer so gerne gemocht,« sagte Li.

Aber sonderbar! Sie verzog das Gesicht so eigen, ihr Stubsnäschen war nach und nach recht spitz und weiß geworden.

»Ich auch,« sagte Lu und schluckte ein paarmal.

»Und ich erst recht,« bestätigte Muttchen Friedel wie im Traum, neigte sich zur Seite und – war der Seekrankheit verfallen.

Lu und Li sahen nichts weiter. Sie waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt. O, dies Elend! Die freundliche Stewardeß stand wieder bei den dreien.

» Venez ici, mesdames! Wollen die Errschaften kommen! Come down, please!«

Energisch faßte sie bei Muttchen Friedel zu.

»Ich kann nicht, lassen Sie mich. Ich sterbe,« hauchte Muttchen Friedel.

Lu und Li wären gern beigesprungen, hätten gern geholfen, aber sie hatten viel zu viel mit dem eigenen Elend zu tun. Indessen brachte die Frau ihr Muttchen fort. Wohin wohl? Einerlei. Lu und Li waren selber zum Sterben bereit. Nun kehrte die Frau wieder.

» Venez demoiselles! Sein Frau Mutter sehr bange. Wants you.«

»Laissez-moi tranquille,« sagte Lu.

»Hands off,« wimmerte Li.

Aber bald danach waren sie doch unten bei Muttchen.

Die lag im Damensalon auf einem der Sofas, die rundum an den Wänden angebracht sind.

»Muttchen,« jammerten die beiden, »Muttchen, stirb uns bloß nicht!«

Klein-Muttchen machte die Augen gar nicht auf.

»Grüßt Tante Lisa und Fee. Und den Vater und Pap–« Weiter kam Muttchen Friedel nicht.

Lu und Li hörten auch nicht weiter. Auch sie lagen auf einem Sofa und auch ihnen mußte die Stewardeß zu Hilfe kommen.

Die Bewegungen der »Princesse Clémentine« wurden inzwischen immer lebhafter. Hatte sie sich vorher von einer Seite zur anderen gewiegt, so hob und neigte sie sich jetzt anmutig auf und ab. Bald tauchte das schlanke Vorderteil hoch aus den Wellen, bald das Achterdeck.

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Der Seekrankheit verfallen.

»Sie stampft,« sagte eine tiefe Stimme im Raum, wo Wimmern und Stöhnen herrschte.

Krachend schlug eine Tür gegen die Wand. Sie hatte nach dem unteren Deck zu aufgestanden. Eine Welle war über Bord gekommen und hatte sie aufgerissen. Gierig leckte das Wasser am Boden.

» Venez en bas! Nach unten! Come down!« schrieen nun ein paar Stewardessen durcheinander.

Ob sie wollten oder nicht, die Wimmernden und Stöhnenden wurden noch eine Treppe tiefer geschafft und dort ebenfalls auf Sofas gelegt.

Sie waren nun in dem Zustand, der alles über sich ergehen läßt, Leben und Sterben. Niemand fragte nach dem anderen. Alle Blutsbande lockerten sich. Heulen und Zähneklappern herrschte.

Muttchen Friedel, Lu und Li lagen an entgegengesetzten Enden. Man hätte sie, einzeln oder alle zusammen, ins Wasser werfen können, sie hätten nicht bäh gesagt.

Und draußen tobte, heulte, toste, donnerte, raste die See. Wild klatschten die Wellen gegen die Schiffswand. Der Wind fauchte, pfiff, gellte, stöhnte.

Lu hatte sich einen dicken Schal um den Kopf gebunden, Li je ein Taschentuch in beide Ohren gesteckt, nur um das entsetzliche Konzert nicht hören zu müssen.

So lagen sie und warteten auf ihr Ende, bejammerten ihr junges Leben kein bißchen.

Nach einer endlosen Zeit – waren es Stunden, Tage, Wochen? – da schien es mit einmal ruhiger zu werden, und schließlich rasselte etwas mit gellem Dröhnen. Die »Princesse Clémentine« bäumte sich, schwankte, zitterte, stöhnte, krachte.

»Sie geht unter,« kreischte eine helle Stimme. Li war's, aber sie gab es Zeit ihres Lebens nicht zu.

Die »Princesse Clémentine« bäumte sich noch einmal, schüttelte sich wie im Zorn und – stand.

» Dover, mesdames! Die Errschaften sind in Dover! It's Dover, please!« So die Stewardessen.

Die stöhnende Gesellschaft richtete sich auf und rappelte sich zusammen. Wahrhaftig, alle Knochen waren noch heil und vorhanden, auch das Gepäck. Mehr tot als lebendig fanden sie sich am Land, beim Zollhaus.

»Open, please!«

Muttchen Friedel, Lu und Li, die sich instinktiv zusammengefunden hatten, rissen die Augen auf. Was wollte der Mann?

»Open, please!«

Ringsum wurde alles Handgepäck geöffnet. Aha, das war's!

Muttchen Friedel suchte nach den Schlüsseln zu den Handkoffern, Lu und Li halfen. Endlich fanden sich die Schlüssel in Muttchen Friedels einem Blusenärmel. Wie sie dahin gekommen waren?

Muttchen Friedel hatte in ihrem grenzenlosen Elend ihre Börse in Sicherheit bringen wollen und so die Schlüssel gerettet. Die Börse lag irgendwo im Schiffsraum. Glücklicherweise war in ihr nur Kleingeld. Die Hauptbarschaft trug Muttchen Friedel in einem Ledertäschchen auf der Brust.

Das Gepäck wurde durchgesehen. Die Reisenden setzten sich wieder in den Zug.

Es war sehr dämmerig geworden, so daß man wenig mehr von der Landschaft erkennen konnte. Muttchen Friedel, Lu und Li hatten auch dafür nicht Augen. Ihr Kopf war wirr, ihr Sinn benommen. Ob sie in den Mond fuhren oder nach London, war ihnen völlig einerlei. Ob Onkel Werner, der sie in Victoria-Station abholen wollte, dort auf sie wartete oder der Kaiser von China, machte ihnen ebenfalls keinen Unterschied. Ebensowenig, daß sie innerhalb der nächsten zwei Stunden Tante Lisa und Fee sehen sollten. Und Fee, die Langentbehrte!

Wie sie wohl mittlerweile geworden war? Lu und Li wollten sich ein Bild von ihr machen. Sie konnten es aber nicht. Der Zug rüttelte gar so arg und ihr Kopf war zu wirr. So schliefen sie lieber. Muttchen Friedel aber wachte, trotz Elend und Müdigkeit; die Erwartung ließ sie nicht schlafen. Und der Zug rasselte und keuchte immer weiter, immer weiter, London zu.


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