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Friedel als Kamerad

Auf dem Pfad, der durch die Wiesen nach Rödershof führt, schritten zwei Herren hin. Der ältere mit dem Silberbart wurde allgemein Papa Polten genannt, der hochgewachsene, aufrechte Mann neben ihm war sein Schwiegersohn Klaus von Rödern.

Lustig fuhr ein leichter Vorfrühlingswind daher, herb und doch kräftigend; man merkte ihm an, daß er noch über manche Schneefläche dahergejagt kam. Er zauste Papa Polten am Silberbart und blies Herrn von Rödern, der den Hut abgenommen hatte, das Haar aus der Stirn.

»'s wird Frühling, Papa,« sagte der Jüngere vergnügt. »Es liegt in der Luft.«

»Wieder mal?« knurrte der Alte.

»Brummig, Papa?«

»Es paßt mir nicht, daß ich Jungchen so wenig sehe. Ist gegen den Vertrag. Basta!«

Klaus von Rödern schob seinen Arm in den des alten Herrn und blickte ihn lächelnd an.

»Wann ist Friedel zuletzt bei dir gewesen, Papa? Ich werde ihr den Standpunkt klar machen; Kontraktbruch ist strafbar.«

Der alte Herr blieb stehen und faßte seinen Schwiegersohn mit spitzen Fingern am Rockknopf.

»Laß mal nachrechnen, Klaus. Am Sonntag, da wart ihr alle zu Tisch. Montag, das war vorgestern, fuhr Friedel vor, um zu fragen, wie Tante Lenchen der Sonntag bekommen sei; übrigens albernes Frauenzimmergetue, Klaus, denn die Lene ist kerngesund! Nach meinem Rheuma hingegen kräht kein Hahn. Doch, was ich sagen wollte: das war Montag. Dienstag – na ja, da holte mich Jungchen zu einem Spaziergang ab mit Fritz und Lutz. Das sind zwei Prachtjungen! Aber Jungchen – über Jungchen geht doch nichts, was, Klaus?«

Mit leuchtenden Augen sah der alte Herr zu dem Schwiegersohn auf.

»Nichts, Papa!« stimmte der ernst zu und fuhr ebenso fort: »Also Sonntag, Montag und Dienstag war Friedel bei dir und heute –«

»Muß ich zu ihr. Paßt mir nicht und damit basta,« knurrte der Alte.

Zufällig sah er dabei dem Schwiegersohn ins Gesicht, bemerkte, wie der nur mit Mühe ein Lächeln verbeißen konnte, und platzte nun selber heraus.

»Ha, ha! Männerlogik, würde die Lene sagen. Lach mich aus, Klaus, tüchtig; aber sieh mal, ich brauch' das Kind wie die Luft zum Atmen, wie – wie –«

»Wie die geliebte Pfeife, Papa.«

»Ja, wie meine Pfeife, Klaus,« sagte der alte Herr und nickte tiefsinnig dazu, »wie das Licht und wie die Sonne!«

Klaus von Rödern hatte wieder lachen wollen; statt dessen erfaßte er jetzt die Hand des alten Herrn und zog sie durch seinen Arm.

»Da sind wir also völlig im gleichen Fall, Papa.«

Das klang ernster als Beteuerungen und Schwüre; Papa Polten preßte des Schwiegersohnes Arm.

»Hast mein Jungchen so glücklich gemacht, Klaus! Der Alte dankt es dir mit jedem Atemzug.«

Papa Polten bestand darauf, seine Tochter wie von alters her »Jungchen« zu nennen, obgleich sie nun schon seit einer stattlichen Reihe von Jahren – im nächsten Mai wurden es deren achtzehn – verheiratet und Mutter von fünf Kindern war.

Tante Lenchen hatte ihm dies, seit sie der Sorge um die Nichte enthoben war, nicht mehr gewehrt; Klaus von Rödern dachte an so etwas überhaupt nie, und Friedel selbst war es eine Wonne, daß der geliebte Vater ihr gegenüber die alte Art eigensinnig beibehielt.

So war sie eben sein »Junge« geblieben, trotz Mann und Kindern; eines tat dem anderen nicht Abbruch.

In den ersten drei Jahren des glücklichen jungen Ehebundes waren drei Töchter in Abstufungen wie die Orgelpfeifen angekommen. Der ersten gab der Eltern Glück den Namen; sie nannten sie Felicitas. Dann kamen Luise und Elisabeth, gewöhnlich Lu und Li gerufen. Nach drei Jahren folgte dann Lutz, nach zwei weiteren Fritz, das Nesthäkchen. Fritz war jetzt zehn, Lutz zwölf, die Schwestern fünfzehn, sechzehn und siebzehn Jahre alt.

Fee, die Älteste – man hatte den Namen Felicitas so abgekürzt – war bei Friedels Schwester Lisa in England erzogen und wohnte noch dort. Denn Tante Lisa hatte keine Kinder, und als deren drei so rasch nacheinander auf Rödershof Einzug hielten, nahm sie einmal bei einem Besuch die kleine Fee mit, um der jungen Mutter die Mühe zu erleichtern. Seitdem galt Fee beinahe als Tante Lisas Kind. Denn Friedel trat der Schwester neidlos ihr Töchterchen ab bis zu Fees achtzehntem Jahr; dann sollte laut der Abmachung Fee selbst entscheiden, wo sie in Zukunft bleiben wollte.

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Ein Schauer von Schneeballen flog durch die Luft.

»Hast mein Jungchen so glücklich gemacht, Klaus. Der Alte dankt es dir mit jedem Atemzug,« sagte also Papa Polten zu seinem Schwiegersohn und blinzelte ihn dazu aus feucht gewordenen Augen an. Der nickte ihm zu.

»Beruht auf Gegenseitigkeit, Papa. Friedel und ich sind treue Kameraden und –«

Doch was er noch sagen wollte, blieb ungesagt.

Sie waren eben an einem kleinen Fichten- und Birkengehölz zur Seite des Weges angelangt. Dort lagen noch Reste von Schnee, die die Sonne bisher noch nicht aufzulecken vermochte.

Ein Schauer von Schneeballen flog jetzt von dorther durch die Luft. Einer sauste so dicht an den Gesichtern der beiden Daherkommenden vorbei, daß er dem einen das Wort vom Munde abschnitt und dem anderen zunächst einen erschrockenen Ausruf entlockte. Dann aber strich Papa Polten sich den Bart, lachte laut auf und spähte ins Tannendickicht.

»Heraus die Wegelagerer!« rief Herr von Rödern, »oder ich schieße.«

Er hob den Stock und legte an, als ob er zielen wolle.

Da brach's aus dem Buschwerk. Voran zwei schlanke, kräftige Burschen in Sätzen wie junge Jagdhunde; mit Indianergeheul versandten sie die letzten Geschosse. Dann eine dritte Gestalt, eine weibliche, behend, geschmeidig, mit blitzenden Augen und blitzenden Zähnen in einem lustigen braunen Zigeunergesicht. Im Vorwärtseilen formte sie noch mit flinken Händen den letzten Ball.

Jetzt setzten die dreie über den Graben zur Seite des Weges; wer's am gelenkigsten tat, blieb zu entscheiden. Die Jungen überfielen sogleich den alten Herrn.

»Großvater, Großvater, das war doch fein, was?«

»Ich hab' fein gezielt!«

»Ich noch besser.«

»Nein, ich –«

»Nein, ich!«

Wie die Kampfhähne standen sie einander gegenüber; der größere Lutz hielt den kleineren Fritz am Kragen, der wie ein Füllen ausschlug und brüllte: »Mutter hat doch am allerbesten gezielt! Was, Muttchen?«

Die Angerufene kümmerte sich nicht um die beiden Streithähne, sie hatte ihrerseits einen Kampf auszufechten. Sie stand vor Herrn von Rödern und die Spuren des Schneeballs, den sie noch im Laufen geformt hatte, saßen ihm jetzt an der Schulter. Lachend rieb er den getroffenen Teil und sagte: »Du, Friedel, nasser Schnee ist keine Schlagsahne!«

»Soll's auch nicht sein! Nimm's dafür, daß du allein zu Papa geschlichen bist, ohne es deiner Frau zu sagen!«

Zugleich schlang sie die Arme um des Vaters Hals und rieb das braune Zigeunergesicht an seiner Schulter, bis wohin sie eben reichte.

»Jungchen,« sagte der alte Herr gerührt und zärtlich, »mein Jungchen!«

Die beiden jungen Streithähne hatten den Kampf eingestellt, schauten zu Mutter und Großvater auf und grinsten.

»Muttchen ist doch gar kein Junge, Großvater,« rief Lutz, der Ältere und Keckere.

»Muttchen ist doch Muttchen, unser Muttchen,« bekräftigte der kleine Fritz.

Papa Polten hob die buschigen Brauen hoch und blickte über den braunen Kopf, der noch immer an seiner Schulter lag, die beiden Widersacher drohend an.

»Jungchen ist Jungchen und mehr wert als alle, die in Hosen 'rumlaufen, basta,« erklärte er.

Wer den alten Herrn nicht kannte, hätte sich fürchten können vor dem Feuerwerk, das aus seinen Augen sprühte. Die beiden Jungen aber kannten sich aus. Fröhlich hielt jeder einen Arm des Großvaters umklammert, der nun »Jungchen« freigeben mußte.

Friedel trat vor den Gatten und fragte: »Na, Klaus, pater peccavus

» Peccavi, Kind, peccavi! Laß es den Lutz nicht hören, der verliert sonst den Respekt.«

Sie schielte nach dem Sohn und lachte dann den Gatten an.

»Ist mir völlig schnuppe, Klaus, -vus oder -vi. Weshalb hast du uns nicht mitgenommen?«

»Ja, Kind –«

Aber sie hörte nicht mehr zu, etwas anderes hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Wie ein Stoßvogel schoß sie auf ihren Ältesten los, den sie am Schopf faßte.

»In deiner Bluse ist ja schon wieder ein Loch, du Schlingel!«

»Wo?« fragte Lutz, anscheinend unschuldig erstaunt, faßte aber zugleich nach der richtigen Gegend am linken Blusenärmel.

»Frisch und heil war die Bluse am Morgen,« jammerte nun Muttchen Friedel »Woher ich bloß das Zeug für die Bengels auftreiben soll? Wie willst du nun mit zur Stadt, Junge?«

Lutz stand stumm da. und sagte kein Wort.

»Darf ich dir vielleicht englisches Pflaster anbieten, Friedel?« fragte Herr von Rödern. »Mir ist, als sei mir das einmal vor langen Jahren als sehr geeignet angepriesen worden.«

Sie zuckte mit der Hand, als wolle sie danach greifen. Doch da konnte Papa Polten seine Heiterkeit nicht mehr zurückhalten; Friedel kam zu sich und besann sich auf ihre Mutterwürde.

»Nach Hause, Schlingel, und die Bluse gewechselt! Ich sollte dich eigentlich daheim lassen, das wäre eine gerechte Strafe!«

Lutz faltete flehend die Hände und machte dazu sein albernstes Gesicht; da fühlte Mutter Friedel ein leises Mitleid mit ihm und fuhr fort: »Na, ich will noch einmal ein Auge zudrücken, wenn du versprichst –«

Nun hing ihr Lutz am Halse und erdrückte sie beinahe; dann flog er durch die Wiesen, daß ihm die Sohlen fast an den Hinterkopf anschlugen. Papa Polten blickte ihm mit unverhohlener Freude nach. »In Anbetracht alter Zeiten, Jungchen, was?« sagte er dann zu seiner Tochter und lachte. Diese wollte eben herzhaft einstimmen, da sah sie in die Augen ihres Jüngsten und wieder kam die Mutterwürde zum Durchbruch.

»Merk dir's, Fritz, beim nächsten Loch gibt's Haue!« Fritz nickte bedächtig – er war ein kleiner Philosoph – und erkundigte sich: »Hast du nie etwas zerrissen, Muttchen?«

Es war gewiß nur Interesse an der Sache, nicht etwa Neckerei oder gar Vorwitz. Muttchen Friedel sah ihn trotzdem scharf an; die beiden Herren aber lachten laut auf und erhielten dafür einen strafenden Blick.

»Frag nicht so albern,« sagte Frau Friedel dann würdevoll zu ihrem Söhnlein. »Mütter zerreißen natürlich viel weniger als Jungen.«

Die Zeit, wo sie noch nicht Mutter war, ließ sie weislich unerörtert.

Großvater Polten erfaßte nun seinen Enkel und trabte mit ihm davon; das Ehepaar folgte. Klaus von Rödern zog Friedels Arm durch den seinen, warf einen neckenden Blick auf das Wäldchen nebenan, dann auf seine Frau und fragte: »Weißt du noch, Friedel? Dort fing's an.«

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»In deiner Bluse ist schon wieder ein Loch, du Schlingel!«

»Was fing an?« forschte sie herausfordernd.

»Mein großes Erziehungswerk, das Werk meines Lebens. Dort lagst du wie ein Häuflein Unglück im Moos und weintest der Schwester nach.«

Sie erhob drohend die freie Hand, kniff ihn in den Arm und zankte: »Scheusal, du!«

Er beugte sich vor und sah ihr in die Augen, wobei er leise sagte: »Ich wollte damit natürlich sagen, das Glück meines Lebens fing dort an, Friedel!«

Nun nickte sie ihm wieder glücklich zu, auch der Schelm saß ihr schon wieder im Nacken.

»Das Erziehungswerk fing schon früher an, Klaus,« meinte sie dann.

»Als du auf dem Treppengeländer herunterrutschtest und wie eine Bombe mitten in die Hochzeitsgesellschaft hineinfielst?« entgegnete Herr von Rödern neckend.

Sie kicherte.

»Ja, da fing's an, dein Hofmeistern nämlich, Klaus, und hat seitdem nicht aufgehört.«

»Friedel!«

Er sah sie strafend an.

»Jetzt hab' ich das Glück gemeint. Bist du schwer von Begriff. Klaus!« spottete sie, und ehe er sie haschen konnte, eilte sie vor und hängte sich Papa Polten so ungestüm an den Arm, daß der alte Herr ins Wanken kam.

»Sachte, Jungchen, sachte! Wir sind doch keine Springinsfelde mehr. Sag mal, Jungchen, wie alt bist du eigentlich?«

Sie legte den Finger an die Nase und zählte.

»Wollen mal nachrechnen, Papa. Als der Bär dort kam und mich dir fortnahm, war ich eben achtzehn. Ein Jahr lang hausten wir allein in seiner Höhle; dann kam Fee; die ist jetzt siebzehn. Achtzehn – neunzehn und siebzehn macht wieviel, Fritz?«

Der Kleine rieb an seinem Näschen, das einen Stüber abgekriegt hatte.

»Kopfrechnen schwach,« sagte Mutter Friedel, ehe er nur zu Atem kam. »Neunzehn und siebzehn macht sechsunddreißig, Papa.« Sie knickste.

»Nicht möglich, Jungchen, nicht möglich! Schon sechsunddreißig? Und siehst noch ebenso aus, als wie du mein Jungchen allein warst!«

»Und Tante Lenchens Nichte, Papa!«

Alle lachten, Fritzchen nur, weil's die anderen taten.

Papa Polten erholte sich aber trotzdem nicht von seiner Rührung, sondern wiederholte: »Sieht noch genau so aus, das Jungchen!«

»Und hat doch nun selber zwei Jungen,« rief sie voll sprühendem Übermut. »Eigentlich viere, was, Papa? Denn Lu und Li – na, ich will nichts weiter sagen. Von wem sie's haben, weiß ich nicht. Übrigens, welcher ist dir der liebste von meinen vieren, Papa?«

Seine Augen leuchteten und er strich ihr von unten hinauf über das braune Gesicht und die Stubsnase. »Der fünfte, Jungchen, der fünfte!« Sie wußte, wer damit gemeint war.

Nun wandte sich Klaus von Rödern seiner Frau zu.

»Wohin wolltest du eigentlich, Friedel, als du uns so meuchlings überfielst?« fragte er.

»Ei ja, fast hätt' ich's vergessen! Wir wollen in die Stadt, Lu und Li zu holen, die zum Kaffee geladen sind. Auch sollen wir selber zu Lilly kommen. Wo steckt nun der Lutz? Ah, da kommt er. Lebt wohl, einstweilen, ihr Herren der Schöpfung! Wir müssen eilen, wenn wir zur Zeit dort sein wollen. Das kommt von dem unnötigen Schwatzen. Lutz, Fritz, los!«

Im Dauerlauf flogen sie dahin, und Muttchen Friedel war nicht die letzte.

Die Herren blickten ihnen mit fröhlichen Blicken nach, dann bogen sie in den Pfad ein, der nach Rödershof führte.

Indessen stand Frau Lilly Echtern, geborene Metzler, am Fenster ihres hübschen, behaglichen Wohnzimmers. Zwei kleine blonde Flachsköpfe, acht und zehn Jahre alt, zierlich und rund, drückten die Nasen an den Scheiben flach.

Elfi, die Ältere, Tante Friedels Patenkind, zankte: »So lange bleiben sie! Tante Friedel ist bös!«

»Ist bös,« echote die dicke Suse. »Ich hab' Hunger.«

Sie war nicht umsonst dick, die kleine runde Suse.

»Freßsack!« tadelte nun Elfi das Schwesterchen.

»Du ißt auch Kuchen gern,« verteidigte sich die Dicke und kollerte dazu wie ein kleiner Streithahn.

Frau Lilly lachte; ihrer Jüngsten gelegentliche Zornausbrüche hatten stets etwas Komisches. Dann fuhr sie ihr beschwichtigend über den Flachskopf.

»Nur Geduld, sie werden schon kommen. Tante Friedel hatte wahrscheinlich noch zu tun.«

»Erzähl' von Tante Friedel, bitte, bitte!«

Elfi schlang die Ärmchen um Mutters Hals.

»Bitte, bitte!« Die dicke Suse, das Echo, zwängte sich ebenfalls heran.

Frau Lilly Echtern legte beide Arme um ihre Mädchen und hielt rechts eines und links eines. Zwei Paar weitgeöffnete blaue Augen sahen sie an.

»Wo soll ich anfangen, bei der Näh- oder der Tanzstunde?«

»Von vorn natürlich,« sagte Elfi sehr kategorisch, und die dicke Suse nickte nachdrücklich.

»Also, da saßen wir einmal in der Nähstunde und –«

»Bei Fräulein Hummel,« schob Elfi ein. Frau Lilly nickte und fuhr fort: »Bei Fräulein Hummel. Da geht die Tür auf und ein lustiges Gesicht schaut herein –«

»Aber Tante Lenchen?« fragte Elfi vorwurfsvoll.

»Ja, Tante Lenchen hast du vergessen,« mahnte die dicke Suse.

Die Geschichte wurde offenbar nicht zum ersten Male erzählt.

Frau Lilly lachte.

»Wenn ihr's so gut wißt, weshalb soll ich's erzählen?«-

»Erzähl' von der Schneeballschlacht!«

»Nein, von Dörtes Laken!«

»Von der Schneeballschlacht!«

»Von Dörtes Laken!« Die Stimmchen schrillten und Frau Lilly hielt sich die Ohren zu.

»Wer schreit hier so? Wer gedenkt meiner Untaten? Lilly, das hätte ich nicht von dir geglaubt.«

So klang eine lustige Stimme von der Tür her und ein fröhliches Gesicht sah durch den Spalt.

»Tante Friedel!«

»Tante Friedel!«

Wie der Wind waren Elfi und Susi von Mutters Schoß: die dicke Suse überkollerte sich dabei schier in ihrer Hast. Stürmisch umfaßten sie die Tante, so hoch sie eben reichen konnten.

»Tante Friedel!«

»Tante Friedel!« jauchzten sie noch einmal.

Diese griff zu und drehte sich mit den beiden ein paarmal um die eigene Achse. Dann streifte sie die Kleinen mit einer Handbewegung so nachdrücklich von sich ab, daß die dicke Suse auf den Teppich zu sitzen kam.

»So, jetzt hat es ein Ende; Tante Friedel hat genug. Lilly, weshalb mir deine Würmer nur so anhangen? Du fütterst sie wohl mit meinen Untaten groß, he? Du, laß aber die meinen nicht zu viel davon hören; es bekäme mir schlecht. Lutz, Fritz, hierher, die Tante begrüßt! Ich will euch Mores lehren! Woher ihr nur die schlechten Manieren habt! Sind die Jungen schon beim Baukasten, statt der Tante die Hand zu geben! Fritz! Lutz!«

Diesen Ton kannten die beiden. Mit roten Gesichtern stürzten sie herzu, streckten Tante Lilly die Hände hin und sahen sie treuherzig an.

»Guten Tag, Tante L–«

Da sah Lutz, daß Elfi an dem Grundriß rührte, den er in aller Hast schon zurechtgelegt hatte – der Steinbaukasten erschien ihm als seine besondere Domäne, obgleich dieser den »dummen Mädels« gehörte. Wie ein Stoßvogel schoß er auf die Verbrecherin los, ohne Tante Lillys ausgestreckte Hand zu beachten.

»Willst du die Hände davon lassen, he?«

»'s ist mein Kasten!« Elfi ließ sich so leicht nicht verblüffen.

»Mädchen sind dumm.«

»Tante Friedel ist auch ein Mädchen.«

Die dicke Suse traf zuweilen den Nagel auf den Kopf. Lutz und Fritz lachten darüber aus vollem Halse.

»Muttchen ein Mädel, hört doch, ein Mädel!«

»Was denn sonst?«

Elfi stand mit gereckter Stubsnase neben der kleinen dicken Schwester.

»Was denn sonst, he?«

»Muttchen, ein Mädel! So wie ihr, he?«

Furchtbare Geringschätzung lag im Ton. Elfi und Suse focht's aber wenig an; trotzig standen sie für ihr Recht ein.

»Eben!« nickten sie.

»Gerade!«

Mit geballten Fäusten und hochroten Köpfen drangen jetzt Lutz und Fritz auf die Widersacherinnen ein.

»Muttchen ist kein dummes Mädel, ihr!«

»Muttchen kann reiten und fahren!«

»Muttchen kann turnen und klettern!«

»Muttchen kann alles – alles!«

Muttchen ist unser bester Kamerad!«

Wie die Sturzwellen brauste es über Elfi und Suse hin. Auch über Tante Lilly und Muttchen Friedel.

Letztere wußte offenbar nicht, sollte sie lachen oder dreinfahren; schuldbewußt und mit rotem Kopf sah sie die Freundin an. Frau Lilly Echtern aber lag auf ihrem Stuhl und lachte aus vollem Halse.

Da reckte sich Muttchen Friedel zu ihrer vollen Höhe auf und strafend sah sie zu der vergnügten Freundin nieder.

»Man könnte mir Schlimmeres nachsagen, als daß ich meiner Söhne bester Kamerad bin!«

Sprach's und sah hoheitsvoll drein wie eine gekränkte Königin.

Dann trat sie mit einem Schritt zu ihren Bengels, die sie flink an den Ohrläppchen erwischte.

»Jungen, wollt ihr wohl höflich sein gegen eure kleinen Freundinnen, he? Vorwärts, gespielt und nicht gestritten, habt ihr verstanden? Oder es gibt was, merkt's euch, wenn ihr nicht folgt!«

Lutz und Fritz blickten ihrer Mutter vergnügt, fast zärtlich ins Gesicht; aber sie kannten den Ton und wußten, dann war mit Muttchen nicht zu spaßen. Eine Minute später saßen alle vier Kinder in friedlichem Spiel bei dem Steinbaukasten.

Dann ging's zum Kaffee, wo sich alle anstrengten, es der dicken Suse gleichzutun. Nachher sprangen die viere, die im Grund die besten Freunde waren, in den Garten. Man hörte ihr Lärmen und Lachen bis ins Zimmer, wo Frau Lilly und Muttchen Friedel gemütlich beisammen saßen.

Sie sprachen von alten Zeiten, die gar weit dahinten lagen, wie sie sagten. Man hätte es aber kaum geglaubt, wenn man in die noch jugendlich frischen, frohen Gesichter sah. Um Frau Lillys Augen lag wohl zuweilen etwas, das davon erzählte, daß sie auch schon des Lebens Leid gefühlt hatte. Sie hatte ihr ältestes Kind, ihren einzigen Jungen, vor vier Jahren begraben. Aber in Muttchen Friedels braunes Gesicht hatte das Schicksal mit weichem Finger nur Gutes und Frohes und Schönes gezeichnet. Was Wunder, daß die Augen glänzten wie einst und der Ausdruck des Frohsinns daraus nicht gewichen war?

»Weißt du noch, Friedel? Friedel, weißt du noch?« Damit begann und endete fast alles, was Frau Lilly sagte.

Und meist wußte es Muttchen Friedel und ergänzte Frau Lillys Erinnerungen.

»Wer hätte damals gedacht, als ich in der Nähstunde zuerst neben dir saß, daß wir so treue Freundinnen werden würden! Weißt du noch, Friedel?«

»Ich konnte das Nadelöhr nicht finden und du zeigtest mir's, was? O, war ich ein tolles Gewächs! Und so was nennt sich jetzt Mutter von vier Rangen.«

»Von fünfen, Friedel, von fünfen!«

»Du zählst auch Fee mit? Die ist von Lisa erzogen und sicher keine Range. Mir ist fast bange vor meiner erwachsenen Tochter.«

»Friedel!« Frau Lilly sah die Freundin strafend an.

Die ließ den Kopf hängen und sah so hilflos aus, daß Frau Lilly lächeln mußte.

»Na ja, du hast gut lachen, du,« verteidigte sich Friedel. »Denk dir so eine wohlerzogene englische Miß, oder besser, denk dir Lisas Kind, denn das ist Fee, und dann mich und meine Rangen dazu! Uff, mir wird heiß, wenn ich nur dran denke.«

»Friedel!«

»Na ja, aber –«

»Du, deines Mannes und Vaters, deiner Kinder Glück und Stolz!«

Da wurde Muttchen Friedel rot wie ein junges Mädchen, legte die Hände vor die Ohren und stampfte mit dem Fuß.

»Willst du mich eitel machen, Lilly? Kein Wunder; die verbrauchen mich eben, wie ich bin. Was bleibt ihnen anders übrig? Na, ich will mich schon ein wenig umkrempeln für das Kind; Fee soll sich ihrer Mutter nicht schämen müssen. Sag mal, Lilly, hast du von Max gehört?«

»Er ist wohlbestallter Regierungsbaumeister und glückselig mit seiner jungen Frau. Das Kindchen ist nun dreiviertel Jahr alt; ein Wunderkind, wie er's beschreibt. Er hat übrigens lange gebraucht, bis er dich vergessen hat.«

»Papperlapapp, Lilly! Du weißt, ich kann so 'n Unsinn nicht leiden. Fidele Kameraden waren wir und nichts weiter! Ach, war das eine tolle Zeit! Wenn meine Rangen –«

»Du, Lu und Li sind ihrer Mutter richtige Töchter!«

»Das sind sie, leider; das ist ja mein Jammer. Und gleich zwei solche Unbände! Mein Mann hat nicht gewußt, was er sich einbrockte; er hätte sonst die Hand von Friedel Polten gelassen. Armer Klaus!«

»Na, so bemitleidenswert sieht er gar nicht aus,« wehrte Frau Lilly, »immer strahlen seine Augen. Sieh dir dagegen meinen Mann mit der Sorgenmiene an!«

»Und hat solch tadelloses Exemplar von Frau!«

»Hat er auch!« Frau Lilly warf sich in die Brust, »übrigens, ich bekam Briefe von Elsbeth und Mariechen Wendel. Beide sind glücklich und vergnügt mit Mann und Kindern. Auch Gerta Hellen und Helene Martens. Es scheint ein Segen über unserer Tanzstunde von damals zu ruhen.«

»Bloß die arme Inge!«

»Ja, Inge, die ist in der Fremde an Heimweh zu Grunde gegangen!«

»Arme Inge! Und sie war doch die Schönste, Talentvollste von uns allen. Wie haben wir die Sonne verdient, wo sie nur Schatten fand?« Sinnend, tiefen Ernst in den grauen Augen sah Frau Friedel vor sich hin. Auch Frau Lilly senkte ein Weilchen den Kopf. Dann lachte sie plötzlich laut auf, daß Friedel sie vorwurfsvoll ansah.

»Du, Lu und Li sind zu köstlich; völlig ihrer Mutter Töchter!«

»Leider!« Muttchen Friedel blickte mit leichtem Schrecken die Freundin an. »Was ist denn nun wieder los?«

»Und so gutherzig! Ja, weißt du denn wirklich nichts davon?«

»Nee, keine blasse Ahnung! Schieß los, Lilly!«

»Aber du läßt sie gewähren, Friedel, versprich mir's!«

»Erst hören, dann wollen wir weiter reden.«

»Na also. Da kamen sie neulich dazu, wie ein Bäckerjunge fiel und sich den Fuß verrenkte; er schrie wie toll. Sie lasen ihm die Wecken wieder in seinen Korb, ein Wort gab das andere, und da kam heraus, daß der Junge fürchtete, fortgeschickt zu werden, wenn er die Wecken nicht mehr herumtragen könne. Er hat eine blinde Mutter, die auf das, was er verdient, angewiesen ist. Lu und Li brachten ihn heim und gingen dann zu seinem Meister. Der Himmel weiß, wie sie's fertig brachten, aber seit vierzehn Tagen sausen sie vor Schulbeginn auf ihren Rädern durch die Straßen und liefern in den betreffenden Häusern die Wecken ab, zum Gaudium der gesamten Bevölkerung. Zu uns kommt Lu und hat immer ein lustiges Wort. Unsere Kathrine lauert ihr an der Haustür auf, daß sie nicht die Treppe herauf muß; sie fließt über vor Bewunderung für das Kind. ›Wo sie doch so gut sind, die Fräuleinchen, gegen den Anton, da muß man doch auch das Seinige tun,‹ sagt sie. Lu und Li sind im Handumdrehen die populärsten Leute der Stadt geworden. He, Friedelchen, was meinst du jetzt?«

Frau Friedel war rot und heiß im Gesicht, ein bißchen abweisend, ein bißchen ungewiß; aber etwas wie Stolz blitzte zugleich in den grauen Augen auf.

»Ja ja, die Mädel! Die haben ein schlimmes Erbteil abgekriegt von der Mutter. Mein Fleisch und Blut, Lilly! Die armen Mädel!«

»Prachtmädel sind es!«

»Und Tante Lenchen, wie die mich dauert! In ihrem Alter so was in vermehrter und verbesserter Auflage zu sehen! Jetzt weiß ich übrigens, weshalb die beiden in der letzten Zeit nicht früh genug zur Schule kommen konnten; das war ein Drängen, nicht zum Aushalten. Ich fragte nicht weiter, dachte, es handle sich um einen Scherz mit den Freundinnen, erinnerte mich an unsere Schlittenfahrten von einstmals und schwieg! Arme Dinger. Erbliche Belastung also!«

Muttchen Friedel schien verzweifelt. Frau Lilly aber lachte aus vollem Herzen. Es war urkomisch für sie, Friedel in solcher Bedrängnis zwischen eigenem Empfinden und ihrer Mutterpflicht zu sehen.

»Ich werde den beiden übrigens das Handwerk legen.« Damit kam die Mutterpflicht zum Durchbruch.

»Das wirst du nicht tun, Friedel. Bedenke, was ist schlimmes dran? Acht Tage vielleicht noch und der Junge ist gesund. Die beiden haben ein gutes Werk getan.«

»Was wird Klaus aber sagen?«

»Dein Mann? Ja, der hat doch einstmals Friedel Polten geheiratet. Ha, ha, ha!«

Friedel stimmte ein, dann besann sie sich.

»Ja, Lilly, 's wird Zeit. Ich muß die Mädel vom Kaffee bei Tinchen Müller abholen. Wer weiß, was sie mir sonst noch anstellen. Wir müssen zur Schneiderin. Grüß mir deinen Herrn und Gebieter! Vielen Dank für Speis und Trank.«

Sie war die Treppe drunten, ehe Frau Lilly wußte wie. Das Gesicht, womit diese der Freundin nachsah, war wirklich nicht geistreich.

Muttchen Friedel las unten ihre Jungen schnell auf und gleich darauf waren schon alle weit drunten in der Straße.

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Eine schöne große Pfütze kam ihnen gerade recht.

Dort stand das stattliche Haus des Großkaufmanns Heinrich Müller. Ein leuchtendes Firmenschild verkündete es.

Muttchen Friedel sah darauf hin und ein Bild aus alten Tagen stieg vor ihr auf. Der »sanfte Heinrich« aus der Tanzstundenzeit mit dem Mädchengesicht und dem glatt gescheitelten weißblonden Haar, mit dem sie beim Tanz die Rollen als Herr und Dame getauscht hatte. Er hatte eine verwitwete Cousine geheiratet und deren Geschäft weitergeführt. Bei Tinchen, dem einzigen Kind seiner Frau aus erster Ehe, waren Lu und Li zum Kaffee gebeten. Als der »sanfte Heinrich« aus der Tanzstunde vor ihres Geistes Auge auftauchte, huschte ein lustiges Lächeln über Muttchen Friedels braunes Gesicht. Mit Achtung aber sah sie zugleich an dem stattlichen Haus empor; in dem »Sanften« steckte doch ein ganzer Mann!

Sie ging mit ihren beiden Sprößlingen vor dem Hause auf und ab, sie selbst in Gedanken, Lutz und Fritz widerwillig und auf allerhand Unfug bedacht.

Eine schöne große Pfütze bot willkommenen Anlaß. So oft sie dran vorüberkamen, patschten sie kräftig hinein; die saubere Hausmauer zeigte bereits eine reizvolle »Spritzmalerei«.

»Wollt ihr wohl, ihr Racker,« klang, da eine kräftige Stimme über die Straße, herüber, »mer wird eich des Handwerk lege, paßt emal obacht.«

Muttchen Friedel war plötzlich wach und mitten in der Gegenwart. Mit kundigem Blick übersah sie die Sachlage, faßte einen ihrer Jungen rechts, den anderen links am Ohrläppchen, zog nicht eben sanft und bekräftigte die Mahnung mit einem nachdrücklichen Klapps.

»Bravo!« klang es wieder von drüben. »Des heiß ich glatt Arweit. Nix vor ungut, gnädig Frau, awer 's wär schad um jeden Schlag dernewe. So Birschcher brauche des wie's täglich Brot. Willste was, Settche?«

Das galt der Frau, die hinter dem dicken Metzgermeister und Eheherrn stand und ihn mahnend zupfte.

»Du meinst, sie kennt mer's iwel nemme? Buwe sin Buwe. Un sie war selwer e halwer, wo se noch jung war.«

Dröhnend lachte der dicke Metzgermeister, etwas zurückhaltender stimmte seine Frau ein.

Drüben hatte sich die Szene geändert. Muttchen Friedel hielt ihre beiden Sprößlinge nun fest an der Hand; gesittet mußten sie neben der Mutter hergehen. Durch gelegentliches Ausschlagen mit den Beinen gegen ein Hindernis, wie Ecksteine und dergleichen, suchten sie sich zwar für den Zwang zu entschädigen; das hatte aber jedesmal ein derbes Schütteln von Mutters Hand zur Folge.

Eben war Muttchen Friedel mit ihren beiden Söhnen wieder am Ende der Hausfront angelangt und sie wandten sich; erstere ließ einen ungeduldigen Blick an dem Hause emporgehen. Dicht hinter ihnen schritten zwei Herren in eifrigem Gespräch. Sie erregten die Aufmerksamkeit von Lutz und Fritz dadurch, daß sie einander so ähnlich sahen: beide hoch gewachsen, schlank, blond, breitschultrig, mit blitzenden Blauaugen und dichtem Schnurrbart; offenbar Brüder, vielleicht gar Zwillingsbrüder.

Lutz stieß die Mutter an.

»Muttchen, dahinten kommen zwei und sehen aus wie einer!«

Er grinste, Fritzchen nicht minder; beide hielten die Köpfe nach rückwärts gewendet; Muttchen Friedel hatte ihre Last, sie vorwärts zu ziehen. Auf Lutz' Bemerkung aber achtete sie weiter nicht.

Na rissen sich die beiden plötzlich mit Indianergeheul los und stürzten nach hinten. Muttchen Friedel wandte sich und stand starr.

Die beiden blonden Herren waren in eifrigem Gespräch, auf nichts sonst achtend, eben an der Tür des Hauses angelangt, an dem sie gerade vorübergingen, als die aufgestoßen wurde. Zwei Gestalten setzten in hastigen Sprüngen über die Freistufen, stolperten, gerieten ins Wanken und klammerten sich nicht eben sanft an die beiden Herren an.

Unwillkürlich griffen die zu und hielten nun zwei Backfische mit braunen Hängezöpfen und lustigen Schelmenaugen in den Armen.

Wie auf Kommando aber befreiten sich die beiden von den helfenden Armen. Zwei leuchtende Schelmengesichter blickten auf, und dann knickste die eine.

»Verzeihung, wir – wir danken,« sagte sie feierlich. Und die andere fügte hinzu: »Pardon!«

Dies war Li, die noch ein größerer Kindskopf war als Lu.

Ehe die Herren recht zu sich kamen und beschauen konnten, was sie da vor dem Sturz gerettet hatten, waren die Geretteten schon auf der Flucht. Zwei kleine Burschen kamen ihnen mit Jubelgeheul entgegen geflogen.

»Lu! Li! Lu! Li!«

Die Herren spitzten die Ohren und schmunzelten.

»Klingt japanisch, was?« fragte der eine lachend, der andere nickte und lachte mit.

»Der Anprall hatte übrigens was von urgermanischer Kraft,« sagte er.

Die als Lu und Li Angerufenen hatten inzwischen je einen der Knirpse mit einem Nasenstüber bedacht und flogen weiter. Dann hängten sie sich rechts und links in den Arm einer Dame, die sie um ein kleines überragten, die sonst aber eine unverkennbare Ähnlichkeit mit ihnen zeigte.

»Ist das eine ältere Schwester?« sagte der eine Herr.

»Eher die Mutter,« berichtigte der andere in entschiedenem Tone.

»Dann ist sie noch blutjung,« meinte der erste. Der andere nickte bloß; seine Aufmerksamkeit war zu sehr in Anspruch genommen.

Die beiden Springinsfelde dort bedrängten die Dame in ihrer Mitte gewaltig. Erst machten sie Miene, sie auf offener Straße zu umarmen; als sie entschieden abgewiesen wurden, falteten sie neckisch flehend die Hände. Es war urkomisch zuzusehen.

Die Dame hatte eine sehr würdevolle Miene aufgesetzt und sprach ernst auf die beiden ein. Solch zerknirschte Gesichter! Jetzt warf die Dame einen halben Blick nach den Herren, die unwillkürlich stehen geblieben waren, und grüßte ernst und gemessen; man sah, sie dankte für die erwiesene Hilfe. Dann wandte sie sich; mit hängenden Köpfen schritten die beiden Gemaßregelten hinterher. Aber ein Blick, in dem viel Neckerei und wenig Zerknirschung lag, streifte zuvor noch die Helfer in der Not.

Die beiden kleinen Jungen trabten hinter den Schwestern her, Schadenfreude in jedem Zug des Gesichts. So verschwanden die fünf um die Hausecke.

Auch die beiden blonden Herren setzten nun vergnügt ihren Weg fort.

»Wer sin dann die, Settche?« fragte jetzt der Metzgermeister seine Frau.

»Des sin die zwei neie Assessorn, Peter. Brider sin's un sin bis jetz immer beisamme gewese. Sie wohne bei der Millern, un die sacht, mer kennt nix Schenneres sehe, als die zwei zusamme.«

»Muttchen,« sagte Lu indessen und tat ziemlich zerknirscht, »wir sind wahrhaftig unschuldig.«

»Wirklich, Muttchen,« bekräftigte auch Li.

»Wir stürzten eben zur Haustür heraus –«

»Hatten euch von oben vorübergehen sehen –«

»Wollten nicht warten lassen –«

»Eilten uns und da –«

»Da waren die dummen Peter im Wege –«

»Wie sie fest zugriffen, Li!«

»Ich muß blaue Flecke haben, Lu!«

Muttchen Friedel, die noch immer stumm voranschritt, bewahrte nur mit Mühe ihren Ernst; dann fing sie an: »Lu, Li, hier kommt mal her! Könnt ihr denn nicht einsehen, daß ihr euch wie die Straßenjungen benommen habt? Was soll das mit euch werden?«

Die Mädchen schritten nun Seite an Seite mit der Mutter.

»Laß sein, Klein-Muttchen, quäl' dich doch nicht um uns, bitte.« Seit Lu und Li Muttchen Friedel über den Kopf gewachsen waren, erlaubten sie sich zuweilen diese gönnerhafte Bezeichnung. »Wir werden schon gedeihen; sind ja deine Kinder!«

Lu war's, die das sagte und Li nickte bestätigend wie ein Pagode.

Muttchen Friedel sah etwas mißtrauisch und ungewiß ihren beiden Ebenbildern ins Gesicht; aber die sahen sie treuherzig an, keine Spur von Hintergedanken in den Koboldsaugen.

Ja, das war Friedel Polten von dermaleinst in verdoppelter Auflage von innen und von außen! Die gleichen nichtsnutzigen braunen Gesichter mit der Schelmenmiene, die gleichen grauen großen Augen, die so herzenswarm und so voll Neckerei aufleuchten konnten.

»Genau wie ich im Schlimmen und auch im – Guten,« sagte sich Muttchen Friedel und atmete auf.

Mit einem Male sah sie ihres Mannes gutes und frohes Gesicht, vor ihren Geistesaugen; den hatte sie nicht enttäuscht und unglücklich gemacht, wenigstens behauptete er stets mit Nachdruck das Gegenteil. Lu und Li konnten also auch noch brauchbare Menschen werden.

Muttchen Friedel reckte sich auf; ja, sie lächelte plötzlich vor sich hin. Lu und Li merkten es und faßten sie unter von beiden Seiten; nun war das Spiel gewonnen.

»Solch ein Muttchen!«

»Muttchen, bist süß!«

»Verbitt' ich mir,« sagte da Muttchen Friedel, »Zuckerwasser war mir immer ein Greuel.«

Indessen hatte man schon eine Weile von Lutz und Fritz nichts mehr gehört. Mit einem Male erhob sich Hundegekläff und Zetergeheul aus der Ferne.

»Lutz, Fritz,« rief Muttchen Friedel ahnungsvoll und wandte sich; Lu und Li waren schon eine Strecke voraus.

»Wir helfen, Muttchen, wir bringen sie,« riefen sie gönnerhaft.

Am liebsten wäre Muttchen Friedel hinterher geflogen. Sie besann sich aber, blieb und trippelte wie eine Glucke, der die ausgebrüteten Entlein ins Wasser gehen. Da kamen Lu und Li zurück, jede einen der Missetäter hinter sich herzerrend. Die hatten die Fingerknöchel in den Augen und brüllten dazu.

»Da!« sagten Lu und Li und apportierten ihren Fang wie junge Jagdhunde. »Der Hund hatte Lutz an den Hosen und Fritz den Hund am Schwanz.«

»Ich hätt' ihn totgeschlagen,« bramarbasierte der, »wenn die Mädel nicht gekommen wären!«

»Oder er hätte dich gebissen,« sagte Muttchen trocken. »Was ist's mit den Hosen, Lutz?«

»Zer–zerr–rissen,« heulte der.

Schweigend besah Muttchen Friedel sich die Kehrseite ihres Söhnleins, dann ein rascher Blick in die Runde; leer war die Straße, leer die Fenster. Und nun folgte blitzschnell die nötige Strafe, die Lutz in der Überraschung stumm wie ein Steinbild entgegennahm.

»So,« sagte Muttchen dann befriedigt und richtete sich auf. »Ein anderes Mal läßt du mir die Hunde in Ruhe!«

»Er hat ihn doch bloß 'n bissel gekitzelt,« verteidigte Fritz den Bruder; er trat stets für den Bruder ein. »Wir wollten doch bloß 'n bissel Spaß machen.«

»Es versteht eben nicht jeder Spaß,« erwiderte Muttchen Friedel. »Merkt euch das, Jungen!«

»Selbst Muttchen nicht immer,« sagte Lu ernsthaft, mit einem Blick voll Schelmerei nach Muttchen. Die zuckte bloß die Achseln.

»Hier wohnt Fräulein Bär und nun rasch hinein!«

Ein brunnentiefer Seufzer ertönte aus Lus und Lis Munde.

»Müssen wir, Muttchen?«

»Muß es sein?«

»Lieber zum Zahnarzt.«

»Lieber zum Photographen.«

»Seid nicht so albern, vorwärts!« Damit schnitt Muttchen Friedel alles weitere ab. Aber sie schmunzelte dazu, was man im dunkeln Treppenhaus glücklicherweise nicht sah.

Ob die Schneiderin über den fünfköpfigen Besuch erfreut war? Nun, jedenfalls ließ sie sich nichts davon merken, sondern sagte zuvorkommend: »Ich möchte den jungen Damen Bretellen vorschlagen oder ziehen sie Boleros vor?«

Lu und Li schauten einander an und lachten verlegen; auch Muttchen Friedel sah ungewiß drein, besonders als die Schneiderin sich jetzt an sie wandte.

»Wofür entscheiden sich gnädige Frau?«

»Ich?« Muttchen Friedel dehnte dies »ich« in die Unendlichkeit, um Zeit zu gewinnen. »Ich? Für – für Boleros oder wie Sie sagten. Wie sehen die aus, bitte?«

Nun waren Lu und Li nicht zu halten.

»Du bist köstlich, Muttchen!«

»Muttchen, bist köstlich!«

Frau Friedel nahm es weiter nicht übel.

»Woher soll ich das Zeug kennen?« fragte sie. »Machen Sie den beiden eben Kleider und damit basta.«

»Matrosenblusen,« schlug nun Lu kecklich vor.

»Für Sonntagskleider?« sagte die kleine Schneiderin bedenklich.

»Paßt das nicht? Na, dann nicht,« entschied Muttchen. »Irgendwas.«

»Irgendwas,« bestätigten auch Lu und Li.

»Hier kneift's,« sagte Lu, die eben ein Leibchen probierte, und hob die Achsel. Die Naht platzte, geduldig steckte die Schneiderin sie wieder fest.

»Und da kneift's auch,« sagte Lu wieder; dasselbe Krachen auf der anderen Seite.

Der kleinen Schneiderin zitterten die Finger. Da streifte zufällig Lus Blick ihr schmales, blasses Gesicht; nun stand sie kerzengerade und muckstill. Denn ein gutes Herz hatte Lu.

Li übrigens auch, denn bei ihr ging die Anprobe glatt. Erleichtert atmeten schließlich alle auf, Mutter wie Töchter.

Da stieß die Schneiderin mit einem Male einen lauten Schrei aus.

Durch die Tür, die vom Nebenzimmer hereinführte, kamen zwei sehr elegante Damen, weiß die eine, himmelblau die andere; sonderbarerweise hatten sie aber keine Köpfe und die Ärmel schlotterten leer.

»Meine To–iletten! Meine To–iletten,« jammerte die Schneiderin und stürzte auf die beiden ruckweise vorwärts Wandelnden zu.

Da geriet die eine ins Wanken und fiel; zwei Knabenbeine kamen unter den Falbeln und Garnierungen zum Vorschein.

»Lutz!« rief Muttchen Friedel schreckensbleich, holte sich den Bengel aus dem Faltengewoge und stellte ihn unsanft auf die Beine.

»Meine To–iletten! Meine To–iletten!« jammerte indes die Schneiderin weiter. »Was fang' ich an, wenn sie verdorben sind? Das Unglück, nein, das Unglück!«

Sie richtete das Gestell mit der weißen Dame wieder auf und zupfte mit zitternden Fingern an den zerdrückten Falbeln herum. Lu und Li hatten sich unterdes der himmelblauen Dame bemächtigt und hoben sie empor; natürlich kam Fritz drunter zum Vorschein. Er schmunzelte und fragte treuherzig: »Fein war's, was?«

Als er aber Muttchens bedrohliche Haltung sah, zog er den Kopf zwischen die Schultern; diese schalt: »Jungen, müßt ihr denn immer Streiche aushecken?«

Sie schüttelte Lutz dazu herzhaft; Lu und Li besorgten dasselbe bei Fritz. Der brüllte: »Ich hab's dem Lutz ja gesagt, wir sollten auf die Straße gehen; dann hättet ihr uns nicht gekriegt!«

Schreckensbleich stand die kleine Schneiderin; vor dem, was hätte sein können, schwand das, was war, zu einem Nichts zusammen.

Muttchen Friedel setzte indessen ihre beiden Söhne mit Nachdruck auf einen Stuhl.

»Da bleibt ihr und rührt euch nicht, oder ich zieh' euch die Ohren, daß ihr zeitlebens dran denkt!«

Dann wandte sie sich zur Schneiderin: »Glauben Sie, daß das Kleid Schaden genommen hat? Ich wäre natürlich erbötig, Ersatz zu leisten für das, was meine Rangen –«

Ein furchtbar strenger Blick sollte Lutz und Fritz streifen. Die lagen indes in innigem Kampfe umschlungen am Boden und der Blick traf daneben.

»Bengels!« Muttchen Friedel raffte ihre beiden Söhnlein energisch empor, setzte ihnen nicht eben sanft die Mützen auf und befahl, »Lu und Li, nehmt sie fort!«

Die vier verschwanden und die Schneiderin atmete sichtlich erleichtert auf, als die Luft rein war. Sie versicherte, mit Hilfe des Bügeleisens alles wieder gut machen zu können, aber ihr Lächeln erschien recht sauersüß.

Da verabschiedete sich Muttchen Friedel rasch und folgte ihren Sprößlingen.

Daheim auf Rödershof saßen indes Papa Polten und sein Schwiegersohn und dampften wie die Schlote. Das Zimmer war mit graublauem Dunst erfüllt, was zu dem graublauen Ton von Tapete und Möbeln trefflich stimmte.

»Erbarm dich!« sagte da eine Stimme von der Tür her. »Hier weiß man wieder einmal nicht, ob man in eine Räucherkammer gerät oder sonst wohin. Ist wer hier?«

»Die Lene!« rief Papa Polten erstaunt und dampfte erst noch ein paarmal gewaltig, ehe er die Pfeife aus dem Munde nahm. »Was will denn die hier?«

»Die Lene, Konrad, jawohl! Und will vermutlich dasselbe wie der Herr Bruder. Wo ist Frida? Ist sie nicht zu Hause?«

»Jungchen ist in der Stadt.«

Tante Lenchen – denn sie war's, nur um ein Teilchen älter und dünner und wackeliger geworden – warf dem Bruder einen strafenden Blick zu.

»Manche Menschen sind halsstarrig geboren und lernen nichts dazu,« sagte sie orakelhaft und sehr von oben herab. »Erbarm dich, Konrad, wie kann man nur so rauchen!«

Klaus von Rödern hatte während des kleinen Scharmützels der Geschwister rasch ein Fenster aufgerissen; jetzt schob er der Tante den bequemsten Sessel hin.

»Setzen Sie sich, Tante; Friedel muß gleich da sein. Schön, daß Sie kommen.«

»Hab' ja das Kind heute noch nicht gesehen, Klaus!«

Papa Polten tätschelte der Schwester Hand. »Sind doch vom selben Schlag, Lene,« sagte er. »Bloß daß ich Jungchen sage und du Frida. Kommt aber alles aufs gleiche raus.«

Sie lachten, auch Tante Lenchen. Aber diese warf dabei einen etwas unsicheren Blick auf Klaus von Rödern.

»Sagen Sie mal. Herr Neffe, aber Lu und Li –«

Papa Polten ahnte einen Angriff auf seine Lieblinge und erklärte: »Was als Unke geboren ist, wird im Leben keine Lerche. Wo fehlt's da wieder, Lene?«

Die alte Dame warf beleidigt den Kopf zurück.

»Ich halte es für meine Pflicht, zu warnen, wo ich's für nötig halte, bei denen, die ich lieb habe. Lu und Li sind auf dem besten Wege, dieselben Unbände zu werden wie –«

»Jungchen ist ein Prachtmädel, Lene!« rief der alte Herr fast drohend.

»Erbarm dich, Konrad, wer sagt was gegen das Kind? Ich zuletzt! Aber ich weiß, welche Mühe und Not ich mit der Erziehung –«

illustration

»Erbarm dich!« sagte eine Stimme von bei Türe her.

»Als ob ich nicht Jungchen ganz allein erzogen hätte!« entgegnete Papa Polten sehr erregt. »Hier verstehe ich keinen Spaß, Lene! Jungchen ist mein Werk!«

Tante Lenchen zuckte die Schultern, bewegte sich in ihrem Sessel hin und her und warf bedeutungsvolle Blicke nach Klaus von Rödern. Dann ging ein milder Schein über ihr gealtertes Gesicht, sie streckte Klaus von Rödern die Hand hin und nickte dem Bruder zu.

»Erbarm dich, Konrad, was streiten wir uns und haben doch alle das Kind so lieb. Und der's zu dem gemacht hat, was es ist, das warst nicht du und nicht ich und nicht der da. Das ist unser Herrgott gewesen, der ihr die Liebe zu den Ihren ins Herz gegeben hat und das Gefühl für das, was denen not tut. Und er wird ihr auch weiter den rechten Weg weisen, auch mit Lu und Li. Bloß, daß die alte Tante meint, ein bißchen am Karren schieben helfen zu müssen, daß er nicht schief geht. Sie hat das noch so in der Gewohnheit. Aber sie will sich bessern, wenn sie kann.«

»Alte gute Lene,« sagte da der Bruder und strich der Schwester so kräftig über den Kopf, daß sie die Haube retten mußte.

»Erbarm dich, Konrad!«

Da brach's mit Hallo ins Zimmer und zwar von zwei Seiten zugleich.

Zur Tür herein stürmte Muttchen Friedel vor ihren zwei Jungen her. Sie war rot und heiß und der Hut saß ihr nicht über jeden Tadel erhaben.

»Tante Lenchen, wie nett von dir! Und nun bleibt ihr alle zum Abendbrot; es wird gemütlich sein, was, Tantchen?«

Lutz und Fritz hatten sich je einer Hand der Tante bemächtigt und streichelten dran herum, als ob sie sie auf dem Fleck blank polieren müßten; Tante Lenchen versetzte es fast den Atem.

Da befreite Muttchen Friedel die Tante.

»Und ich, Jungchen?« sagte Papa Polten dazwischen vorwurfsvoll und eifersüchtig, daß er zu keiner Begrüßung kam. Da erhielt er auch sein Teil: von rechts und links hing es an ihm.

»Großvater! Großväterchen!« jubelte es.

Lu und Li waren zum offenen Fenster hereingeklettert. Das Zimmer zitterte noch unter dem Satz vom Sims herunter an Großvaters Hals; Sylphiden waren Lu und Li nicht.

»Kinder, aber Kinder,« mahnte Muttchen Friedel und warf einen erschreckten Blick nach Tante Lenchen. »Werdet ihr denn nie lernen, euch zu benehmen wie junge Damen? Tante Lenchen, verzeih, ich – Lu – Li –«

Rettungslos saß Muttchen Friedel fest.

Aber Tante Lenchen war heute wunderbar milde gestimmt. Harmlos sah sie der Nichte ins Gesicht, ja sie fuhr ihr mit der Hand über die heißen Wangen.

»Laß gut sein, Friedelchen! Keine Suppe ißt sich so heiß, wie sie gekocht wird.«

Sogar als jetzt Lu und Li zur Begrüßung heranstürmten, Lu der Tante auf den Fuß trat und Li ihr an die Haube stieß, daß sie rutschte, da zuckte Tante Lenchen nicht.

»Da seid ihr ja, Kinder,« sagte sie warm. »Ich freue mich, euch zu sehen, freue mich immer über eure hellen Gesichter. Der Himmel erhalte euch den Frohsinn.«

»Tantchen;« sagte Li, »wenn wir gewußt hätten, daß du da bist, wären wir nicht so hereingepoltert.«

Und Lu setzte hinzu: »Ich steig überhaupt nicht mehr durchs Fenster, Tantchen, ich versprech dir's. Muttchen hat recht, wir sind doch nachgerade zu groß.«

Ihr Vater sah vergnügt in die lustigen Gesichter. Dann nickte er Papa Polten zu. »Ähnlich, was? Aber netter war sie doch noch.«

»Jungchen? Zehntausendmal!« ertönte die Antwort im Brustton der Überzeugung.

Lu und Li sahen vom einen zum anderen, waren aber kein bißchen gekränkt. Sie wußten, von wem die Rede war, mußten sie doch fast jeden Tag dergleichen hören.

»Mir scheint, wir kommen niemals auf unsere Kosten, Li,« sagte Lu.

»Und tun doch so redlich das unsere, in Klein-Muttchens Fußstapfen zu treten,« antwortete Li.

Da sagte eine Stimme, nämlich die Tante Lenchens, sehr ernst: »Tut das, Kinder, folgt dem Beispiel eurer Mutter! Ein besseres könnt ihr nicht finden; nur fangt mit dem Herzen an, da geht ihr nun und nimmer fehl. Was so kleine Seitensprünge und Kapriolen sind, die könnt ihr ja getrost weglassen, das Herz ist allemal die Hauptsache. Und das eures Muttchens ist von Gold.«

Sie waren alle still und Muttchen Friedel sah scheu und rot aus wie ein belobtes Schulmädel.

Dann befahl sie: »Lu, Li, seht nach dem Eßtisch. Lutz, Fritz, die Hände gezeigt. Schwarz? Marsch, gewaschen! Papa, da ist die Pfeife. Und du könntest auch danach sehen, daß eine gute Flasche Wein auf den Tisch kommt, statt so herumzustehen, Klaus. Uff, hat man seine Not mit den Menschen!«

Dabei legte sie die Arme um Tante Lenchens Hals und rieb ihr braunes Gesicht an deren Schultern. Tante Lenchen sagte nichts, zog aber die Nichte fest an sich.

»Zu Tisch! Zu Tisch!« posaunten jetzt Lu und Li. Tante Lenchen fuhr sich nach beiden Ohren.

»Kinder, taub bin ich nicht, könnte es aber werden,« klagte sie. »Erbarm dich, Konrad, die beiden sind ihr noch über. Wie soll das Kind die meistern?«

»Jungchen kann alles,« sagte Papa Polten im Ton der Überzeugung.

Aber Tante Lenchens Kopfschütteln dauerte an.

»Ich hoffe auf das Kind, die Fee, Konrad. Die kann der Mutter helfen.«

»Jungchen braucht keine Hilfe,« erklärte Papa Polten beharrlich.

Na traten sie ins Eßzimmer. Als solches diente der Gartensaal im Erdgeschoß, ein lichter, froher Raum. Breite Flügeltüren führten nach dem Garten, aus dem die herbe Vorfrühlingsluft fühlbar hereindrang.

»Mein Zipperlein,« sagte Papa Polten und fuhr sich an die Beine, »huh, wie luftig!«

Knallend flogen die Türen zu. Lu und Li waren sehr im Eifer.

»Sachte, Jungchen, sachte,« mahnte Papa Polten wie in alter Gewohnheit. Lu und Li lachten wie die Kobolde.

Dann setzten sich alle rings um den großen Mitteltisch.

Muttchen hatte ihre beiden Söhne rechts und links, denn sie hielt streng auf Ordnung bei Tisch. Lutz und Fritz benahmen sich demzufolge sehr gesittet; Tante Lenchen stellte dies mit innerlichem Kopfnicken befriedigend fest.

Lu und Li saßen ihr zur Seite und ließen es sich angelegen sein, Tantchen zu versorgen; die mußte sich des öfteren sogar gegen ihre Aufmerksamkeiten wehren.

»Nächsten Winter lernen wir kochen, Tantchen,« sagte Lu, »dann soll dir's aber bei uns schmecken!«

»Erbarm dich,« rief Tante Lenchen erschreckt und allerhand Erinnerungen tauchten in ihr auf.

»Mädel,« rief Papa Polten vergnügt, »eure Mutter hat auch mal kochen gelernt. Erinnerst du dich noch, Lene?«

Die nickte, sah aber dabei etwas abweisend aus.

»Muttchen hat fein gekocht, was?« fragte Li neugierig.

Tante Lenchen gab einen Laut von sich, der nicht ja und nicht nein war. Papa Polten grunzte in sich hinein vor Vergnügen.

»Sandtorte! Was? Kannst dich ihrer noch erinnern, Lene?«

»Konrad!« Eisig blickte Tantchen drein.

Muttchen Friedel erbarmte sich der Tante.

»Laßt gut sein, Kinder, Plagt Tantchen nicht! Sie hat ihre Last mit eurer Mutter in jeder Hinsicht gehabt, auch am Kochherd. Ihr macht's hoffentlich anders.«

»Wir sind ja deine Töchter,« rief Li, der Vorwitz.

Aber Lu sagte ernsthaft: »Muttchen hat neulich eine wundervolle Pastete gemacht, als Kathrine krank war.«

»Muttchen kocht fein,« bekräftigten lebhaft die beiden Jungen Lutz und Fritz.

Vater Klaus schaute schmunzelnd vor sich hin; er war's, der seinerzeit das Lehrgeld gezahlt hatte, als auf Rödershof die junge Herrin einzog.

Muttchen Friedel sah ihn an, einen Schelmenblick im Auge. Er legte den Finger an den Mund zum Zeichen, daß er schweigen wolle, und Muttchen Friedel dankte ihm mit einem Kopfnicken.

»Autorität muß sein, Klaus,« sagte sie dabei wie aus einem Gedankengang heraus.

»Allemal,« erwiderte er, »so oder so!«

Das Mahl war eingenommen. Lutz und Fritz verabschiedeten sich für die Nacht, nicht freiwillig, sondern der Not gehorchend; Muttchen Friedel hatte ein Machtwort gesprochen.

Sie saßen nun alle wieder in des Hausherrn Zimmer, dem mit den graublauen Wänden und Möbeln, das so schön zum Tabaksdampf stimmte.

Die beiden Herren qualmten schon wieder tüchtig. Sie saßen in tiefen, bequemen Sesseln und Lu und Li hatten sich auf den weichen Teppich ihnen zu Füßen gelagert. Lu hielt die Hände unterm Kopf und blinzelte schläfrig ins Licht. Li hatte ein kleines Scherchen und schwarzes Papier und hantierte eifrig damit. Eine Kette niedlicher tanzender Figürchen entstand, die sie dem Großvater aufs Knie legte. Der schaute danach und schüttelte den Kopf.

»Jungchen hat das viel besser gemacht, was, Klaus?« Der nickte und Li wandte sich mit einem anscheinend trostlosen Seufzer zu Lu.

»Keine Hoffnung für uns, du!«

Aber Lu nickte vergnügt.

»Muttchen kann eben alles am besten!«

Da zog ein weicher süßer Laut durchs Zimmer. Alle horchten auf. Tante Lenchen ließ den Strickstrumpf sinken, Hu und Li kauerten sich eng aneinander.

»Muttchen geigt!«

Ja, Muttchen geigte. Und wie geigte sie!

Was einst in Wilderswyl auf der Holzgalerie des Schweizerhauses angesichts der hehren, gewaltigen, von nächtlichem Schweigen umhüllten Jungfrau erklang, war im Werden gewesen. Was heute hier den friedlichen stillen lieben Raum durchzog, war vollendet. Eine gereifte Hand führte den Bogen, ein gereiftes Herz sprach aus den Tönen. Und Frau von Rödern hatte gehalten, was Friedel Polten im Sturm und Drange einst versprach. Goldklar perlten die Töne, wunderbare Tiefe beseelte sie.

Ein Andante von Beethoven, das Lieblingsstück von Vater Klaus, spielte sie; atemlos lauschten alle. Längst hatten die Herren die Pfeifen aus dem Munde genommen, Lu und Li hielten sich eng umschlungen, Tante Lenchen hatte sich in ihren Sessel zurückgelehnt und merkte nicht, daß ihr Träne um Träne über das alte Gesicht lief. So viel weckten die Töne.

Muttchen Friedels Blick ruhte auf den Sternen, die hell durch die vorhanglosen Scheiben blitzten. Eine Erinnerung mochte ihr kommen. Einmal, als sie von einer Melodie zur anderen überging, war's, als ob die neckischen Klänge irgend eines Schelmenliedchens auftauchen wollten.

Ihr Auge streifte herausfordernd die ihren. Aber wie sie die Versunkenheit auf den lieben Gesichtern sah, Tante Lenchens Tränen, die ernsten, andachtsvollen jungen Augen ihrer Kinder, da besann sie sich eines besseren. Das Schelmenliedchen, das hatte kommen wollen, erstickte im Keim. Groß und voll erklang das Beethovensche: »Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre.« Und es schloß mit tiefem, vollem, leise verhallendem Akkord.

Wie ein Bann lag's über allen.

»Macht's nach,« brummte Papa Polten. »Jungchen kann alles!«

Und er dampfte so furchtbar, als ob er das Versäumte in der halben Zeit nachholen müßte und dafür bezahlt würde.

Tante Lenchen trocknete verstohlen ihr Gesicht und sah sich um, ob's auch niemand merke. Lu und Li waren aufgesprungen und wollten eben Klein-Muttchen umfassen, da wurde die Geige noch einmal geschultert.

Muttchen Friedel hielt den Blick unverwandt auf Vater Klaus geheftet und sah ihn mit hellen Augen an. Frisch klangen jetzt die Töne der einfach schlichten Melodie: »Ich hatt' einen Kameraden, einen bessern findst du nit!«

Klaus von Rödern hob den Kopf lauschend, seine Augen leuchteten; dann trat er rasch neben seine Frau und legte den Arm um sie.

Die Töne verklangen, noch ein kleines, neckisches Nachspiel.

»Mein treuster Kamerad,« sagte Klaus von Rödern leise und sah Frau Friedel warm in die Augen. »Mein treuster Kamerad, du!«

»Hurra! Hurra!« jubelten Lu und Li, hielten sich umfaßt und marschierten im Takt der Melodie durchs Zimmer. Dröhnend sangen sie dazu das Lied, das Muttchen eben gespielt hatte, Muttchens Lied, wie sie's nannten.

»Achtung, Jungchen, angetreten!« kommandierte nun Papa Polten. Er vertrug es nie lange, wenn Friedel sich nicht ihm zuwandte. »Der Alte will heim und die Alte ditto. Ich verlange Aufmerksamkeit, basta!«

Lachend eilte Friedel zu ihm, zauste ihm den Silberbart und bot ihm die Lippen. Seine Blauaugen strahlten sie an.

»Mein Jungchen, gute Nacht! Dank für alles!«

Lu und Li umklammerten ihn. Er gab beiden einen Nasenstüber.

»Fort, Rackerzeug! Werdet mir wie das Jungchen, wenn ihr könnt, basta!«

Wortreich und umständlich verabschiedete sich Tante Lenchen. Sie hatte zu danken, zu mahnen und wieder zu danken.

»Vorwärts marsch, Lene, basta!« rief Papa Polten von der Tür her.

»Erbarm dich, Konrad, da bin ich ja schon.«

Die beiden Alten traten zusammen in die Nacht hinaus, denn Papa Polten hatte den angebotenen Wagen abgelehnt. Ihnen nach klangen noch einmal die Töne des »guten Kameraden«. Muttchen Friedel hatte wohl auf Verlangen das Lied wiederholt.

»Der Himmel erhalte den Kindern das Glück,« sagte Tante Lenchen und ihre Stimme zitterte ein bißchen.

Da stellte sich ihr der Bruder breitspurig in den Weg.

»Na, hat der Alte recht gehabt oder nicht, he? Ist Jungchen geworden oder nicht geworden, he, Lene? Farbe bekannt!«

Sie nickte still vor sich hin.

»Weil sie eben ein Herz hat von Gold, Konrad – trotz allem!«

»Wegen allem, Lene, wegen allem! Basta!«

So trumpfte er auf; sie sagte nichts weiter. Den Streit würden sie, die beiden Alten, wohl mit ins Grab nehmen, dachte Tante Lenchen still für sich. Ein Höherer mochte dann Recht sprechen.


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