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Ein Blütentraum.

Der Weg von Mukodschima nach Tokio war sehr belebt von Fußgängern, Männern, Frauen und Kindern, bunt durcheinandergewürfelt, lachend und strahlend. Dazwischen bewegten sich die Kuruma in schlankem Trab, in ununterbrochener Folge.

Kirschblütensonntag! Wer hätte an diesem beliebten Nationalfest zu Haus bleiben können! Niemand, der nicht mußte.

In einer eben vorüberfahrenden Kuruma kicherte es besonders schelmisch und lustig. Viele wandten die Kopfe, hinzusehen, und lachten dann vergnügt mit. Das Lachen steckt an, auch in Japan. Dort erst recht! Das ganze Völkchen scheint eigentlich immer zu lachen.

Drei niedliche Jüngferchen waren in jener Kuruma verpackt, die das Interesse so erregte. In Grün, in Blau und in Rosa gekleidet, bunte Schirme über den Köpfen, hielten sie sich eng umschlungen, um Raum auf dem Sitz zu haben. Das mochte ihre Heiterkeit so erregen, wenn es überhaupt eines greifbaren Grundes bedarf, junge Menschenkinder zum Lachen zu bringen. Die mittlere der drei schrie jetzt leise auf: ihr Schirm war hinten hinausgefallen und lag im Staub der Landstraße von Tokio nach Mukodschima, der sich in nichts von anderem Landstraßenstaub unterscheidet.

Aber das Mädchen, dem er entfallen war, unterschied sich von allen ringsum. Da der Schirm fort war, konnte die Sonne ungehindert hinzutreten. Sie tat es und umgoldete den jungen Kopf mit einem Glorienschein. Lustig blitzten, nickten und wippten die Nadeln und Schmetterlinge, die das blonde Kraushaar zierten. Lustig lachten die Blauaugen; kühn hob sich die kleine Stumpfnase.

Eine blonde Japanerin mit blitzblauen Augen! Was Wunder, daß die kleinen Gelben rings schauten und staunten!

»Mein Schirm,« rief die Blonde kläglich, »mein Schirm!« Zugleich hatte sie energisch den Kurumaja am Jackenzipfel gefaßt. Der hielt an. Gewiß zwanzig Hände griffen nach dem Ausreißer von Schirm, den eben ein neckisches Lüftchen geradeswegs nach Tokio zurückblasen wollte.

»Haltet ihn! Haltet ihn!« rief die Blonde und stand in ihrer Kuruma aufrecht. Niemand verstand die Worte, aber den Sinn begriff jedermann und die Blonde gefiel allen. Eine kleine Jagd und der Schirm wurde im Triumph eingeliefert. Die Besitzerin griff danach, leuchtend und strahlend.

»Ich danke. O, ich danke so sehr!« Wieder verstanden sie nicht die Worte, nur den Sinn, aber alle waren befriedigt. Die schönen blauen Augen der Blonden redeten eine internationale Sprache.

Sie seufzte zufrieden auf, und huschelte sich wieder zwischen der Grünen und der in Rosa zurecht. »Ich hätte ihn nur ungern verloren. Er ist das erste, was ich in eurem Lande kaufte, und Frau Klara hat ihn mir außerdem geschenkt.«

Die blonde Japanerin im blauen Kimono braucht wohl nicht weiter vorgestellt zu werden. Es war Ruth Rümelin, die hier mit Kiku und Haruko zum Kirschblütenfest nach Mukodschima fuhr.

Man hatte sie eingeladen, an dem Hanami teilzunehmen, das die Yusugura wie alljährlich mit Freunden und Verwandten dort verabredet hatten.

»Was ist Hanami?« hatte Ruth gefragt.

»Das sein, wenn alle was mitnehmen und aufessen, du mich und ich dich.« Harukos Erklärung zusamt ihrem Deutsch war nicht sehr verständlich, so daß Kiku nun ihr Heil versuchte.

»Yusugura nehmen Fisch und Reis, Matsuka nehmen Kuchen und Sake, dann alle essen alles. Du verstehen, Ut?«

Ruth lachte. »Also einfach ein Picknick? Weshalb habt ihr das nicht gleich gesagt? Picknick!«

»Nein, Hanami!« riefen die beiden anderen.

»Meinethalben,« sagte Ruth.

Zur Erhöhung der Freude bat sie sich aus, daß sie als Japanerin mitkommen dürfe.

»Mein Kimono paßt wundervoll, Mutterle, siehst du! Er ist mit Kirschblüten gestickt, und Herr Nezira sagte doch damals, so trügen es die Damen, immer die der Jahreszeit entsprechenden Blüten. Ich erweise damit auch den Yusugura eine Freundlichkeit, nicht?«

»Und der Ruth Rümelin nichts Unliebsames, he? Allemal offen und ehrlich Farbe bekennen, Kind! Das ist viel netter.«

Ruth flog dem Mutterle um den Hals. »Also ich darf?« Auf weiteres ging sie nicht ein. Daß aber der Mutter Lehre gewirkt hatte, erwies sich, als der Vater heimkam.

»Ich soll mit den Yusugura zum Kirschblütenfest, Vaterle, und ich hab' mir ausgebeten, daß ich in meinem japanischen Anzug gehen darf, weil – nun ja, weil ich furchtbar gern möchte.«

»Der triftigste Grund von allen!« Der Vater lachte.

So war Ruth denn gegangen und saß als blonde Japanerin, als Dritte im Bunde, zwischen Kiku und Haruko in deren Kuruma. Immer näher kamen sie dem ersehnten Ziel.

Plötzlich sprang Ruth in die Höhe. »Ich sehe eine rosa Wolke, aber nicht am Himmel! Seht doch, seht! Nur wenig über der Erde und so wundervoll rosenrot, wie ich noch keine gesehen habe! Was kann das sein? Kiku, Haruko?«

Ruth war ganz aufgeregt über diese Naturerscheinung.

»Sein ja Kirschblüten,« riefen, nein, jauchzten Kiku und Haruko. »Sein nichts als wunder-, wundervolle Kirschblüte!«

»Na, hört mal, meines Vaters Tochter ist doch nicht so albern! Bei uns zu Haus blühen die Kirschbäume auch. Wie das aussieht, weiß ich. Ihr müßt anders kommen, wenn ich auf den Leim gehen soll.«

»Du ja sollen Mukodschima gehen, nix Leim,« erwiderte Haruko treuherzig. »Du schon sehen!« Kiku legte den Arm um Ruth, sagte aber nichts.

Und Ruth sah! Sah mit staunenden, ungläubigen Augen, mit Schauern der Andacht im Herzen dies rosige Frühlingswunder, wie es wohl kein anderes Land aufzuweisen hat, als das Wunder- und Blumenland Japan. Ruth sah, daß das, was sie für eine sich zur Erde senkende rosige Wolke gehalten hatte, wirklich Blüten waren, Blüten, nur Blüten. So weit das Auge reichte, Baum an Baum, Riesige alte Stämme, hochgewachsen wie Eichen, das ganze Geäst bedeckt mit Blüten, dicht gedrängt, so daß das Holz darunter kaum sichtbar wurde. Blüten, groß wie Rosen, gefüllt wie sie und von derselben Farbe. Ist es ein Wunder, daß der Japaner, der die Blumen so liebt, diese Bäume lediglich der Blüte wegen großzieht? Die Frucht des blühenden Wunderbaumes ist nämlich ungenießbar.

Als die ersten rosigen Bäume in Sicht kamen, hatte Ruth mit einem Wonnelaut wiederum ihren Kurumaja am Zipfel gepackt. Grinsend war der Mann stehen geblieben. Ruth geriet in Verzückung.

»Nein, so was! Rein unerhört! Wer's nicht gesehen hat, kann es sich nicht vorstellen. Das ist ja wie ein Traum, wie ein Märchen! Wenn ich der Leni sage, sie soll sich einen hohen Eichbaum denken und mit Rosen bedeckt, von unten bis oben, so weit die Äste reichen, dann lacht sie mich einfach aus. Aber so ist es doch und kein Menschenwort reicht aus, dies Gotteswunder zu beschreiben. Solch ein Land! Nein, solch ein gesegnetes Blumenland!«

Kiku und Haruko hörten zu, siegesgewiß und sehr befriedigt die letztere, als habe sie teil an dem dargebrachten Tribut, als komme ihr rechtmäßig ein Tüttelchen davon neben dem Schöpfer des Wunders zu. Kiku lauschte ergriffen. »Ja, sein schöne Land, meine Japanland! Ich es lieben mit ganze Herz. Ich nicht wissen, wie können in andere Land wohnen.«

Das weckte Ruth ein bißchen. »Na, laß gut sein! Mein deutsches Land ist auch nicht zu verachten, sag' ich dir. Das da freilich, das da –« Ruth war wieder mitten im Bestaunen des rosigen Blütenwunders drin.

Jetzt lenkten sie in den Hain, in eine Allee alter Bäume ein. Weit ineinander griffen die Äste und Zweige. Wie ein rosiger Dom wölbte es sich über ihnen. Dazwischen leuchtete die goldene japanische Sonne, die nirgends so zu strahlen scheint, wie in dem Sonnenlande Japan. Eine unglaubliche Wunderpracht!

Ruth jubelte denn auch aufs neue. Sie war nicht die einzige, die sich begeisterte und entzückte. Alle rings taten so. Jedes Jahr bestaunt der Japaner dasselbe Wunder, mit der gleichen kindlichen Wonne. Die Zeit der Kirschblüte ist ihm die liebste, fast eine geheiligte Zeit. Ihr gelten begeisterte Sänge der Dichter, sie verherrlicht der Pinsel der Maler mit Vorliebe. Kein Japaner könnte sich diese Zeit denken, ohne dahin gewallfahrtet zu sein, wo er die Kirschblüte sehen und bewundern kann. Tagelang vorher melden die Zeitungen aus allen Teilen des Landes über den Fortschritt der Blüte, und wenn sie in voller Pracht steht, dann ist das ganze Volk auf den Beinen. Nicht der Säugling wird daheim gelassen, nicht der Greis. Wer aus eigener Kraft nicht hin kann, dem tun die Angehörigen den Liebesdienst. Wenn die Kirschen blühen, muß der Japaner, der sein Land liebt und auf die Überlieferung etwas gibt, kommen, sehen und staunen. Aber das Frühlingswunder ist es wert.

Ruth sah mit glänzenden Augen in das Gedränge rings und in die rosige Pracht zu Häupten. »Kinder, es ist wie ein Traum,« jubelte sie immer wieder. Kiku und Haruko nickten befriedigt. Sie konnten mit dem Eindruck zufrieden sein, den ihr geliebtes Land auf die Freundin machte.

Herr und Frau Yusugura fuhren in ihren Kuruma voran. Auch die alte Großmutter war mitgekommen. Jetzt winkte Herr Yusugura, und die vier Kuruma lenkten in einen stilleren Seitenweg.

»Sein schade,« rief Haruko, »mich sehen gern frohe Menschen!«

»Mich sehen Blüten lieber ohne Menschen,« erwiderte Kiku.

Ruth wußte nicht recht, wem sie beistimmen sollte. Sie schwieg darum und staunte nur weiter mit glänzenden Augen.

»Was ist das?« fragte sie und wies auf ein Viereck zur Seite des Weges; es war mit Bambusstäben abgesteckt, um die sich bunte Bänder schlangen. Immer häufiger kamen solche Vierecke, zuletzt reihten sie sich dicht aneinander.

»Sein Platz für Hanami. Hat jeder seine eigene, kennt ihn an Band. Dort grüne und rosa sein unsere.«

»Wie lustig!« jubelte Ruth, und da hielten auch schon die Kuruma. Ruth stand vor Herrn und Frau Yusugura. »Wie ist dies herrlich! So was von Wunderpracht kann sich die kühnste Phantasie nicht ausdenken. Wie danke ich Ihnen, daß Sie mich mitgenommen haben! Ich bin einfach glücklich!«

»Sein wir glücklich, daß Fräulein Ut wollen kommen,« sagte der höfliche Herr Yusugura, und Ruth wurde es ganz heiß, da sie nicht recht wußte, was darauf zu erwidern.

»O bitte!« stammelte sie bloß und kühlte sich das Gesicht.

Kiku hatte mittlerweile der Mutter und Großmutter Ruths Entzückensausbruch übersetzt. Sie lächelten und waren sehr befriedigt. Es ging ihnen wie Haruko; es war ihnen, als hätten sie ein Verdienst an all der rosigen Pracht. Die Großmutter murmelte etwas. Kiku übersetzte lachend: »Sie sagt, du wert, Japanmädchen zu sein.« Ruth lachte vergnügt mit.

Da kamen einige Kuruma von der anderen Seite. »Sein Matsuka,« jubelte Haruko, war schnell zur Stelle und half einer Dame in grauem Kimono heraus. Diese strich ihr lachend mit dem Fächer über das heiße Gesicht.

In der zweiten Kuruma saß Herr Oto Matsuka, den Ruth schon kannte. Er tat, als könne er nicht aussteigen, und winkte dabei seiner Base Haruko, sie solle ihm helfen, was sie lachend verneinte. Dafür holte sie sich aus dem dritten Wägelchen ein kleines Mädchen, das sie vor Ruth auf die Füße stellte.

»Sein kleine Sakura. Sein liebe, kleine Mädel.«

»Sein kleine Sakura da. Sein liebe kleine Mädel.«

Ein putziges Geschöpf stand vor Ruth. Ganz wie die Großen angetan, die Haare straff aus dem Gesicht gedreht und in einer kleinen Zwiebel am Hinterkopf aufgesteckt. Der Fächer fehlte nicht in der kleinen Hand. Aus ihren Schlitzäuglein blinzelte die Kleine zu Ruth auf, plapperte etwas und sah Haruko an. Diese übersetzte: »Kleine Sakura sagen, warum du Sonne auf Kopf haben und Himmel in Augen?«

Ruths Blondhaar und Blauaugen hatten der Kleinen den Vergleich eingegeben. Ruth fand es so niedlich, daß sie sich die kleine Dame haschte und fest an sich zog. Sakura ließ es sich gern gefallen.

Nun lagerte man sich im schwellenden Moos unter den rosigen Blüten. Lustig flatterten die kleinen rosa und grünen Wimpel, die den Platz der Yusugura begrenzten. Die kleine Sakura nestelte an ihrem Anzug, und zog irgendwo ein blaues Band vor, das sie Ruth zu Häupten an den Bambusstab befestigte.

»Sie sagen, du müssen auch deine Farbe haben an Platz,« erklärte Haruko. »Du wohnen in ihre kleine Herz.«

Ruth herzte die Kleine, deren Schlitzäuglein schelmisch blitzten. »Sag ihr, Haruko, daß sie auch in meinem Herzen wohnt, und daß ich es ihr gern selbst sagte, wenn ich nur könnte.«

»Du müssen es lernen, Sakura sagen. Kiku und ich und ihre Bruder können auch deine Sprache, sie sagen. Du sollen auch Japansprache lernen.«

Als alle lachend auf Ruth sahen, hing sie ganz beschämt den Kopf, beeilte sich zu versichern, daß sie ganz gewiß ihr möglichstes tun wollte, daß aber Japanisch recht schwer sei, und daß ihr Lehrer vom Winter vielleicht kein guter Lehrer sei.

Herr Yusugura lächelte fein. »Wir haben Spruchwort, wenn Kind nicht lernen, sein Lehrer schuld.«

Ruth wurde es noch heißer. Kiku legte den Arm um sie. »Wir wollen dir Stunden geben. Haben jetzt Zeit, da aus Schule sein.«

»Du wolltest, Kiku? Dann lerne ich sicherlich! Nur um deinem Vater zu beweisen, wie richtig sein ›Spruchwort‹ ist.« Schelmisch nickte sie Herrn Yusugura zu.

Er hob nach europäischer Art sein Sakeglas ihr entgegen, denn man schmauste mittlerweile schon lustig. Die Damen hatten die mitgebrachten Schätze ausgekramt und lecker geordnet. Was aufgetischt wurde, kannte Ruth nun schon und wählte das, was ihr behagte.

Herr Oto Matsuka war am schnellsten fertig. Nun zog er Papier und Bleistift heraus und schrieb eifrig, wobei er zuweilen sinnend in die rosigen Wipfel schaute.

»Will er eine Rede halten?« fragte Ruth neugierig. Sie hatte es Kiku in die Ohren getuschelt, aber Haruko hatte es gehört und sagte fast verweisend: »Machen eine Gedicht, Vetter Oto, zum Preisen der Blüten.« Ganz feierlich sah die niedliche Haruko aus. Ebenso harrten die anderen.

Ruth hätte gern gelacht, es kam ihr ziemlich komisch vor. Da fiel ihr des Vaters Mahnung ein, daß anderer Bräuche uns heilig sein sollen. So zwang sie sich, ernst zu bleiben, und wartete, was kommen werde.

Herr Oto Matsuka erhob sich. Mit Pathos trug er vor, was er zu Papier gebracht hatte. Andächtig lauschten alle. Als er geendet hatte, setzte er sich unter feierlichem Schweigen. Haruko nahm ihm seinen Zettel aus der Hand und heftete ihn mit einer Nadel an den Stamm des Baumes, unter dem sie lagerten. Ruth sah dann später, daß solche Zettel an vielen Bäumen befestigt waren. Das rosige Frühlingswunder macht viele Gelegenheitsdichter. Ihre Werke werden als Opfer gleichsam an Ort und Stelle gebracht. Dort verwehen sie mit der fallenden Blüte.

Haruko ging dann zur Kuruma und kam mit einer Art Mandoline zurück, einem Samisen, dem Lieblingsinstrument der Japaner, besonders der japanischen Frau. Es gibt wohl kaum eine Frau oder ein Mädchen in Japan, die ihn nicht zu spielen versteht. Er ist genau so aufdringlich verbreitet wie bei uns das Klavier.

Ruth hatte das Instrument wohl schon gehört und sich immer über den dünnen Winsellaut belustigt. Sie hatte es für eine Art Scherz gehalten, den sich die Betreffenden erlaubten. Heute nun sollte ihre Fassung und ihre gute Erziehung sehr auf die Probe gestellt werden.

Haruko hatte sich feierlich zurechtgesetzt und mit ernster Miene dem Instrument allerlei klägliche Laute entlockt. Plötzlich begann sie mit einer Fistelstimme, fast quietschend schrill, eine Art Gesang, wenn man es überhaupt so nennen wollte.

Ruth horchte erstaunt auf, und sah ungewiß nach den anderen. Alle hörten sichtlich erfreut und gehoben zu. Ruth war schon zu einem Heiterkeitsausbruch bereit gewesen. Es war auch zu komisch, was Haruko da zum besten gab. Wen sie wohl nachahmen mochte? Denn das tat sie doch ersichtlich, daran war gar kein Zweifel. Ruth unterdrückte ihr Lachen mit aller Macht. Ihr war nicht ganz wohl bei der Sache. Aber sie war ganz rot im Gesicht, holte ihr Taschentuch hervor, und trocknete sich eifrig die Stirn. Sie wollte Zeit gewinnen und erst lachen, wenn die anderen das Zeichen gaben.

Ein Glück, daß sie sich bezähmte!

Haruko war fertig. Niemand lachte, alle gaben vielmehr ihr höchstes Gefallen kund.

»Singen wundervoll, kleine Base,« wandte sich Herr Oto Matsuka an Ruth.

Diese sah ihn unsicher an. Meinte er es ernst? Aber daran war kein Zweifel. Also schwieg Ruth, das einzige, was sie tun konnte, und dankte zugleich ihrem Schöpfer innerlich, daß sie sich bezwungen hatte. Das nannte man Singen in Japan? Einfach unverständlich.

Inzwischen sang Haruko mit strahlender Miene weiter, und die anderen begeisterten sich immer mehr im Zuhören, namentlich Herr Oto Matsuka.

Herr Yusugura sagte endlich etwas und Haruko verstummte schmollend, einen Schatten im rosigen Gesicht. Dafür holte nun Kiku ein Instrument vor.

»Mich Koto spielen,« sagte sie zu Ruth.

So hieß das Instrument, das ungefähr wie eine Harfe aussieht, aber flach auf den Boden gestellt wird. Wer es spielt, muß davor niederknieen.

»Äußerst bequem!« Ruth lachte, hätte sich aber gern die Zunge abgebissen, als sie die erstaunten Mienen sah. Wo blieb diesmal ihre Erziehung?

Kiku spielte, und viel anders als der Samisen klang der Koto nicht. Der Ton war wohl etwas stärker, aber genau so winselnd und kläglich.

Ruth war nun schon daran gewöhnt und wahrte ihre Würde. »Du mein Himmel, und das nennen die Leute Musik,« seufzte sie innerlich.

Die kleine Sakura hatte sich an sie herangenestelt. Sie plapperte dabei und sah Ruth auffordernd an. Diese hatte sie auf den Schoß genommen und mühte sich umsonst, zu verstehen, was sie von ihr wollte.

Als Kiku mit ihrem Vortrag fertig war, kam sie zu Hilfe. »Sakura sagen, was du für uns tun? Ob du nicht auch singen?« Die Kleine nickte eifrig und nun baten alle darum.

Scheu war Ruth kein bißchen. Sie hatte sich nie bitten lassen. Ihre Stimme war voll, hell und frisch. Daheim hatte man sie gern gehört. Und hier – – Ruth stach plötzlich der Fürwitz. Sie wollte den guten Leuten einmal zeigen, was Musik sei. So sang sie ohne weitere Vorbereitungen: »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, daß ich so traurig bin,« wie es der Deutsche meist tut, wenn er am frohesten ist.

Sie sang gut, sah dazu in die rosigen Wipfel, fand, daß sie sich hören lassen konnte, und war sehr zufrieden mit sich.

Wie von ungefähr traf ihr Blick Haruko. Sie stutzte. Was war das? Harukos Gesicht war rot von unterdrücktem Lachen – Ruth kannte sich darin aus – und die Mienen der anderen zeigten nur mühsam erhaltene Beherrschung. Ruth sah es deutlich, und wenn ihr ein Zweifel geblieben wäre, jetzt kicherte die kleine Sakura; ihre Mutter brachte sie schnell beiseite.

Zum Glück war Ruth bereits da angelangt, wo die Wellen Schiffer und Kahn verschlingen. Mit leidlichem Anstand brachte sie ihr Lied zu Ende.

Es entstand eine verlegene Pause, die Kiku dann brach. »Du sehen, sein so verschieden, was Musik bei uns sein und bei euch. Ich denke, wir nicht verstehen euch, ihr nicht uns.«

Ruth war nicht gekränkt, nur verwundert. Sie hatte eine Lehre erhalten, Also, was sie schön fand, galt nicht unbedingt und überall als schön? Der persönliche oder anerzogene Geschmack sprach mit? Dem Indianer war sein Fetisch, was dem Griechen ein Götterbild aus Marmor war? Der Japaner stellte seinen Koto über eine Stradivari und wenn ein Paganini sie gespielt hätte? Aber hatte nicht alles seine Berechtigung? Ruth fühlte sich zum ersten Male vom Fittich jener göttlichen Duldsamkeit gestreift, die den Himmel auf Erden zaubern könnte, würde sie von jedem erkannt und – geübt!

»Wir Laternen für Abend kaufen,« sagte Herr Oto Matsuka, der ablenken wollte. Die kleine Sakura hielt sich scheu beiseite; sie hatte ersichtlich ihre Schelte bekommen. Ruth winkte ihr und jubelnd hing sich die Kleine an sie.

Die drei Freundinnen gingen nun mit Herrn Matsuka und seiner kleinen Schwester nach dem Hauptgang, wo die Buden waren. Sakura kam wieder nicht aus dem Kichern, als sie sah, wie schwer es Ruth siel, auf den Geta vorwärts zu kommen, und wie sie mit dem Raffen des enganliegenden Gewandes und mit der Handbewegung des Fächers dabei zu tun hatte. Ruth griff nach der stramm gedrehten Haarzwiebel der Kleinen. »Wenn du mich auslachst, Grasaff, dann gibt's was, merk dir's!«

»Was Grasaff sein?« fragte Kiku. »Mich nicht kennen Wort.«

Ruth zog vor, nicht zu antworten, und jagte sich mit Sakura, uneingedenk der ungewohnten Fußbekleidung. Heidi! Beinahe lag sie am Boden, wenn nicht Herr Oto fest zugegriffen hätte.

»Sie haben sich nun schon zum zweiten Male die Rettungsmedaille um mich verdient,« rief Ruth. »Ich danke sehr.«

Dann waren sie bei den Buden. Diese Massen von bunten Lampionen! Alle Farben, alle Formen, Blüten zumeist, wunderbar zart gefärbt und naturgetreu. Japan ist das Land der bunten Papierlaternen. Reihenweise hängen sie vor den Häusern, erleuchten die Straßen allabendlich und geben ihnen ein immer festlich-fröhliches Gepräge. Man findet sie von den kunstvollsten bis zu den einfachsten und sie gehören zu dem täglichen häuslichen Bedarf wie bei uns etwa das Brot. Vor einer großen Bude, worin besonders schöne Laternen feilgeboten wurden, blieben sie stehen.

»Du wählen,« sagte Kiku.

»Leicht gesagt und schwer getan,« erwiderte Ruth sinnend. »Eine solche Auswahl ist mir noch nicht vorgekommen. Sieh doch die Lotosblüte hier! Schöneres gibt es ganz sicher nicht.«

»Du also Lotosblüte nehmen? Hier, bitte!« Kiku hielt sie Ruth hin.

Es war wirklich ein kleines Kunstwerk. Von einem schlanken vergoldeten Stab hing ein goldener Ring nieder, in dem der schneeweiße Blütenkelch sich wiegte. Blätter umgaben ihn. In zartes Rosa vertiefte er sich nach dem Innern zu. Der Verkäufer entzündete die kleine Kerze, die da befestigt war, und nun erstrahlte die Wunderblume in sanftem Feuer. Ruths Entzücken war gerechtfertigt. Die kleine Sakura wollte durchaus das gleiche haben, war aber dann mit einer Mohnblüte zufrieden. Kiku und Haruko wählten grüne und rosa Sterne, ihrem Anzug entsprechend. Herr Matsuka raffte noch eine Anzahl zusammen; der ganze Lagerplatz sollte damit erleuchtet werden.

War es vorher schön wie ein Traum gewesen, so wurde es jetzt zum Feenmärchen. Unter dem rosigen Blütendach erstrahlten die bunten Lichter; der Wechsel von Licht und Schatten brachte zauberische Wirkungen hervor.

Ruth konnte sich nicht satt sehen. Dicht an Kiku geschmiegt saß sie da. Die beiden verstanden sich auch ohne Worte.

Haruko neckte sich mit dem Vetter. »Mich staunen, daß du noch arme kleine Japanland mögen,« rief sie und zeigte alle Grübchen. »Mich denken, du haben alles vergessen, wissen gar nichts mehr.«

»Wissen, daß Haruko gerne necken. Haben das nicht vergessen. Aber Haruko nicht wissen, was deutsche Mann sagt.«

»Mich nicht wollen wissen. Sein Japanmädchen.«

»Deutsche Mann sagen, was sich lieben, das sich necken.« Listig blinzelte Herr Oto die Base von der Seite an.

Über Harukos Gesicht lief eine helle Röte. »Dann deutsche Mann lügen.« Sehr trotzig war's gesagt.

Kiku und Ruth hatten zugehört. Letztere wollte lachen, da fühlte sie, daß Kikus Arm zuckte, der um sie lag. Sie sah auf; Kiku war sehr blaß. Oder irrte sich Ruth? Denn jetzt rief sie plötzlich lauter, als sie es sonst wohl tat: »Wir wollen Ut japanischen Namen geben. Wie sollen sie heißen, Sakura?«

Als die Kleine wußte, worum es sich handelte, legte sie den Finger an die Nase und sann. »Botan,« sagte sie dann schelmisch.

Ruth mußte hell auflachen. Sie dachte an Schneeglöckchen, das ihr gleich am ersten Tag im fremden Land den Namen beigelegt hatte.

»Gut für meine Eitelkeit!« rief Ruth vergnügt. »Wenn mir jemand daheim sagen wollte, du siehst aus wie eine Pfingstrose, würde ich mich schön bedanken. Der Name scheint mir aber vom Schicksal bestimmt, so sträube ich mich nicht länger. Mich, Botan!« Sie wies auf sich und kniff die kleine Sakura, die in heller Lust aufschrie.

»Sein schöne Blume,« sagte Kiku leise, wie tröstend. Ruth lachte bloß. Sie dachte eben nach, weshalb wohl Haruko und Herr Oto eben Deutsch gesprochen hatten. Geschah es der Mütter wegen, die sie nicht verstehen sollten? Aber ehe sie zu einem Endergebnis gelangte, kam etwas, das sie störte.

Ein Windstoß fuhr durch die Baumkronen und wirbelte die Blütenblätter in Massen nieder. Wie ein rosiger Regen fuhr es durch die Luft, senkte sich zu Boden und bedeckte alle, die sich da vergnügten. Es verdoppelte die Lust. Solches Lachen und Jubeln hatte Ruth noch nicht in dem sonst sehr zurückhaltenden Japan gehört. Alle schienen aus Rand und Band; es war ein helles Freuen und Jauchzen. Sakura raffte die Blütenblätter auf, so viel die kleinen Hände fassen konnten, und ließ einen zweiten Regen über die Ihren hingehen. Ruth bekam zumeist davon ab; sie konnte sich ihrer und der rosigen Wurfgeschosse kaum erwehren. Redlich gab sie zurück, was ihr zuteil wurde.

Haruko hatte es auf den Vetter abgesehen; dieser vergalt Gleiches mit Gleichem. Selbst Kiku raffte die rosige, duftende Pracht, aber sie barg das eigene Gesicht darein. Dann brach sie einen Zweig und legte ihn der alten Großmutter in den Schoß. Die hob ihn empor und ihr welkes Gesicht zeigte einen still träumenden Ausdruck. Es gab eine Zeit, da auch Großmutter jung war, zum Fest der rosigen Kirschblüte wallfahrtete, Blüten brach und dazu träumte. Wo war die geblieben?

Wie Großmutters Jugendzeit vorübergegangen war, so lief auch dieser Tag zu Ende. Es wurde merklich stiller unter den rosigen Wunderbäumen. Auch die Menge drüben im Hauptgang lichtete sich; sie steuerte allmählich wieder der Stadt zu.

»Sein Zeit zu gehen. Wollen Kuruma kommen lassen. Was denken Fräulein Ut?« Höflich wandte sich Herr Yusugura an seinen Gast.

Ruth hätte gern noch um mehr gebeten; es schien ihr fast Sünde, sich von diesem Blütentraum zu trennen. Aber sie sagte nur: »Ich bin bereit.«

So brach man auf. Ruth bat, von den rosigen Zweigen mitnehmen zu dürfen, und Herr Oto beeilte sich, ihr davon zu pflücken, was sie fassen konnte.

»Und nun seid ganz still, so lang wir unter den Blüten hinfahren. Ich muß alles mit Verstand noch einmal in mich aufnehmen.« So sagte Ruth zu den Gefährtinnen. »Wer weiß, wann ich das wiedersehe.«

»Nächste Jahr,« jubelte Haruko, »und sein dann noch viel schöner!«

»Woher willst du das wissen, Haruko?«

»Mich wissen, mich das fühlen!« Harukos Gesicht leuchtete.

Ruth sah sie verwundert an. Kiku war sehr still, und sah in die Baumkronen.

Dann fuhr man über die Landstraße Tokio zu. Ruth stellte sich noch einmal in ihrer Kuruma hoch. Es war keine rosige Wolke mehr über Mukodschima zu sehen. Das Abenddämmern hatte alles in dieselbe graue Farbe gehüllt.

Ruth stürmte daheim die Treppe hinauf, so schnell es ihre Geta erlauben wollten. Sighe hatte an der Tür sichtlich etwas sagen wollen, aber Ruth achtete in ihrer Ungeduld nicht darauf.

Sie riß die Eßzimmertür auf: »Es war einfach göttlich, ihr – –« Da blieb ihr das Wort in der Kehle stecken und weit öffnete sie dafür die Blauaugen. »Das – das ist zu viel für einen Tag!« stotterte sie und wurde blaß. Dann lief ihr eine Blutwelle übers Gesicht und sie jauchzte: »Hab' ich's nicht am Morgen schon gesagt, es müsse heute etwas Besonderes geschehen? Aber das hätte ich mir nicht träumen lassen. Grüß Gott, Kamerad! So was, nein, so was! Wo kommen Sie her? Wo gehen Sie hin? Ich meine, wie lang bleiben Sie? Ich – ich – nein, ich bin wirklich ganz verdreht vor Freude. Einen so zu überraschen!«

Beide Hände hatte sie dem Herrn hingereicht, den sie so begrüßte, dem guten Kameraden vom Schiff, Herrn Herbert Norten aus den deutschen Rheinlanden. Er hielt ihre beiden Hände und schüttelte sie, als wolle er sie nicht wieder loslassen, bis Ruth lachte.

»Au, mein Herr Kamerad, die Finger sind nämlich nicht von Eisen.«

»Verzeihen Sie, ich – ich –« Er war sehr erschrocken, hatte es aber gleich vergessen und schüttelte wiederum lustig darauf los. »Ich freue mich ganz unmenschlich, Sie wiederzusehen und darüber, daß auch Sie sich freuen, Kamerad. Aber wie kommen Sie in diese Maskerade?«

»Maskerade?« Jetzt schmollte Ruth, der Vater aber prustete los: »Na, hab' ich's nicht auch gesagt? Geh, tu die bunten Lappen weg, daß wir uns auf gut Deutsch des Landsmanns freuen können.«

»Muß ich?« fragte Ruth. »Ich verliere nämlich ungern auch nur einen Augenblick.«

»Er bleibt acht Tage, und nun holla! Vorwärts marsch!«

»Er darf aber noch gar nichts erzählen. Ich will alles genau wissen wie die anderen. Hören Sie, Herr Kamerad!«

»Ruth!« mahnte die Mutter sanft. »Du bist doch ein erwachsener Mensch.«

Ruth antwortete nicht und enteilte.

Sehr bald war sie wieder da, in Bluse und Rock.

»Das laß ich mir eher gefallen,« schmunzelte der Vater.

»Nicht halb so großartig,« schmollte Ruth. »Und ich hätte dem Herrn Kameraden so gern imponiert!« Neckend sah sie ihn an.

»Das tun Sie auch so gewaltig,« antwortete er. »Mehr wäre ungemütlich!«

»Und nun erzählen! Also darum erhielten wir keine Briefe mehr? Ich dachte schon, der Herr Kamerad habe uns vergessen.«

»Das dachten Sie nicht, denn das wußten Sie besser.« Er blieb sehr ruhig. »Zu erzählen habe ich auch nicht viel. In Singapore war ich jetzt doch fast ein Jahr. Es gab für mich dort nichts mehr von Interesse. Was sich von Verbindungen anknüpfen ließ, habe ich getan. Der Freund meines Vaters riet mir selbst, weiter zu ziehen. Japan hatte mich schon immer gelockt und –«

»Jetzt natürlich noch mehr, weil wir hier sind,« warf Ruth ein, als sei es selbstverständlich.

Er stutzte einen Augenblick und sah sie ungewiß an. Sie aber schaute ihm treuherzig in die Augen. Da sprach er weiter.

»Gewiß, auch das sprach mit, mein Kamerad, und zwar bedeutend. So möchte ich also noch für ein Jahr nach Osaka, dem Haupthandels- und Industrieort Japans. Dann reise ich über San Franzisko heim.«

»Verabschieden sich aber zuvor von Ihren Freunden, ja?« Ruth lachte.

»So weit sind wir noch lange nicht. Und jetzt erzählen Sie.«

»Wird gleich besorgt sein! Mit geht's prächtig. Ich finde Japan wunderbar und habe auch zwei liebe Freundinnen gefunden. Mir tut es nur leid, daß schon fast ein Jahr herum ist, und ich fürchte, die zwei nächsten fliegen nur so dahin.«

»Ob sie meinen Buben und der Leni auch so verfliegen?« Die Mutter sagte es ein bißchen vorwurfsvoll. Aber Ruth hörte kaum darauf hin.

»Und was fangen wir in den acht Tagen an? Was zeigen wir dem guten Kameraden zuerst? Wir müssen sofort einen Schlachtplan machen.« Ruth war Feuer und Flamme. »Morgen schlage ich den Uyenopark vor und die Kirschblüte. Von so was macht man sich einfach keinen Begriff. Dann das Theater! Danjuro soll spielen, sagte mir Kiku und war begeistert. Dann – –«

»Wer ist Kiku, wenn ich fragen darf?« Herbert Norten benutzte die Pause, die Ruth zum Atemholen brauchte.

»Doch natürlich meine Freundin! Kiku heißt Chrysanthemum. Komisch, was? Fast alle Frauen haben hier Blumennamen. Mich haben sie heute Pfingstrose getauft.«

Erwartungsvoll sah sie den guten Kameraden an. Er sagte nur: »Ich kenne fast keine liebere Blume als die Päonie. Ich schwärme überhaupt nur für große Blumen, und das hat seinen guten Grund. Meine Mutter war leidend; sie liebte die Blumen sehr und wir Kinder wetteiferten, ihr Sträuße zu bringen. Meine angeborene Faulheit ließ mich dabei stets solche Blumen wählen, die etwas ausgaben. Ein Strauß Päonien ist rascher gepflückt als ein Strauß Vergißmeinnicht. Sie verstehen.«

»Wie praktisch!« jubelte Ruth. »Das will ich mir merken! Ich soll nämlich bei Haruko Unterricht im Blumenbinden erhalten. Sie ist Meisterin darin, sagt Kiku.«

»Haruko ist wohl die zweite Freundin?«

»Geraten! Frühling heißt sie zu Deutsch. Sie ist viel jünger als ich, mehr als ein Jahr, sehen Sie. Aber das tut gar nichts. Wir verstehen uns herrlich.«

»Tatsächlich? Haben Sie schon so tüchtig Japanisch gelernt? Alle Achtung!«

»Nee, aber sie reden Deutsch.« Ruth hing den Kopf. »Mein Japanisch liegt noch im argen. Und Ihr Chinesisch?«

»Liegt bei des Kameraden Japanisch, fürchte ich.«

»Bravo, das gefällt mir. Ich habe schon in der Schule die Streber nicht leiden mögen. ›Die gar so brav sind, mag i net,‹ sagte Mariele Motz, und das ist auch meine Meinung.«

»Wer ist diese neue Größe?«

»Das Mariele? Ei, auch eine Freundin.«

»Die scheinen billig wie die Brombeeren.« Er lachte in sich hinein.

Ruth erboste sich. »Das verbitte ich mir! Meine Freundinnen? Wenn Sie's noch von meinen Freunden sagten!« Sie blitzte ihn mit Schelmenaugen an.

»Ruth!« mahnte die Mutter erschrocken.

»Man muß sich wehren im Leben, Mutterherz,« seufzte der Schelm.

Da rief Sighe zum Abendbrot. Es war eine Ablenkung, dachte die Mutter, und war froh. Sie kannte Ruths Übermut.

Sehr vergnügt saßen sie um den Tisch. Es wurde spät, ehe man sich trennte, für Ruth aber noch zu früh; sie behauptete, man müsse die Zeit ausnützen.

Es folgten frohe Tage. Ruth hatte tausenderlei Vorschläge und der gute Kamerad folgte willig ihrer Leitung. Die Eltern waren anderen Tags mit in den Uyenopark gekommen, die Kirschblüte zu sehen, und waren begeistert wie Ruth. Der Vater hatte Herrn Norten mit in die kaiserlichen Parkanlagen genommen und ihm auch Einlaß in den Palast verschafft. Das war Ruth wie ein Eingriff in ihre Rechte erschienen; sie hatte aber nichts gesagt und sich nur dadurch entschädigt, daß der Kamerad versprechen mußte, mit zu den Yusugura zu gehen.

»Sehen Sie, das ist nämlich riesig interessant, so ein japanisches Haus zu sehen. Und es sind sehr nette Menschen.«

»Ich schwärme im allgemeinen nicht für Japaner, muß ich sagen. Aber auf Ihre Empfehlung hin, Kamerad ...«

Sie gingen auch. Kiku und Haruko standen auf dem hohen Bogen der kleinen Brücke, die sich über dem Teich vor dem Hause wölbte. Die lila Blütentrauben der Glycinen hingen in Massen um sie her. Deren Ranken spannten sich von Baum zu Baum und waren bedeckt von Blumen, die teilweise einen halben Meter und länger niederhingen, Dolde an Dolde eng ineinander gewirrt. Eine beispiellose Pracht und Üppigkeit.

Ruth, die das noch nicht gesehen hatte, seit die Glycinen in Blüte waren, jubelte denn auch in Wonne. »Hab' ich zuviel gesagt? War es nicht gut, daß Sie mitkamen? So etwas sieht man nicht alle Tage.«

Kiku und Haruko eilten herzu. Freundlich begrüßten sie den Gast, den Ruth vorstellte. Es waren die ersten gebildeten Japanerinnen, die Herbert Norten sah, und er war ganz überrascht. Ruth sah es und war stolz darauf.

Kiku ging mit dem Gaste voran, Haruko aber schlängelte sich zu Ruth heran und zog sie abseits.

»Sein nette Mann,« tuschelte sie ihr ins Ohr. »Fast so nett wie Japanmann,« und nach einer kleinen Pause: »Haben deutsche Mädchen auch Brautfrisur?«

Ruth begriff den Zusammenhang zwischen dem ersten und zweiten Satz nicht, aber sie antwortete geduldig und sachgemäß: »Behüte! Bei uns macht's jede, wie sie will.«

»War es nicht gut, daß Sie mitkamen? So etwas sieht man nicht alle Tage.«

»Ut auch?« fragte Haruko und ihre Äuglein funkelten.

»Ich auch,« nickte Ruth zerstreut; sie war durchaus nicht bei der Sache.

Da kicherte die lustige Haruko und wollte nicht wieder aufhören. Weder Frau noch Herr Yusugura waren daheim, und die alte Großmutter kam nicht zum Vorschein, was Ruth am meisten bedauerte, denn die war gerade am »japanischsten« wie sie sagte.

»Und was denken Sie davon, Herr Kamerad? Die alte Frau, ebenso wie die Mutter von Kiku und Haruko haben beide die Augenbrauen wegrasiert und ihre Zähne kohlschwarz gefärbt, weil – ja, das raten Sie nicht – weil sie keinem anderen Mann mehr gefallen wollen als dem eigenen.«

»Sehr lobenswert,« sagte der Angeredete ernst.

»Ich heirate keinen Japaner,« versicherte Ruth gewichtig. »Sollte mir gerade fehlen!«

»Das wollte ich mir auch ausgebeten haben! Hm – ich meine – es wäre schade um die schönen weißen Zähne.«

»Ebendrum!« Ruth lachte und wies sie alle.

Kiku und Haruko führten die Gäste überall herum. Ruth gebärdete sich, als ob dies eine Art Schaustellung sei, wobei sie das Haupterklärer- und Anpreiseamt freiwillig übernommen habe. Sie forderte Tribut, wie wenn das Ganze ihr Werk sei. Der gute Kamerad mußte seinen blühendsten Wortvorrat erschöpfen, um ihr Genüge tun, auch nachher, auf dem Heimweg, zum Preis der Freundinnen.

»Sind sie nicht nett?« fragte sie gewiß zum zwölften Male.

Er versicherte genau zum ebensovielten Male: »Außerordentlich nett!«

»Bin ich nicht glücklich, daß ich sie gefunden habe?«

»Beneidenswert glücklich!«

»Schlitzaugen haben sie aber doch,« sagte er nach einer Pause und blinzelte sie von der Seite an.

»Die sehe ich gar nicht mehr,« erwiderte sie großartig.

»Ja, ja, Liebe macht blind,« neckte er weiter.

»Mir gefallen Schlitzaugen sogar,« überbot sie sich.

»Hm, Geschmackssache!«

»Gelt, de gusticum, oder wie der Erich sagte, non disputandes?« Da war die alte frohe Ruth. Wie die zwei lachten!

Vater Rümelin saß daheim schon auf der Lauer; er war sichtlich mit allerhand geladen.

»Wo strolchen denn die Herrschaften herum? Ich warte auf sie sicherlich schon seit Stunden.«

»Genau eine halbe,« schob die Mutter ein.

»Unterbrich mich nicht immer, Anna! Ich wollte mir die ergebenste Anfrage erlauben, ob mir die Herrschaften das Vergnügen machen wollen, mich ins Theater zu begleiten. Danjuro spielt in einer seiner besten Rollen.«

Ruth hing dem Vater schon am Halse. »Um wieviel Uhr?«

»Wir sollen so um vier Uhr dort sein, sagt Herr Nezira. Da werde Danjuro wohl gerade auftreten.«

»Ja, aber –« Ruth war ganz Frage und auch die anderen. Regierungsrat Rümelin erklärte.

»In Japan dauern die Theaterstücke sehr lang, oft mehrere Tage. Man nimmt das Spiel am nächsten Tag da wieder auf, wo es am vorhergehenden stehen blieb. Der Japaner aus dem Volk liebt das Theaterspiel sehr. Da zieht er denn mit Weib und Kind frühmorgens aus und richtet sich für den Tag im Theater häuslich ein. Die bessere Klasse, die vielleicht auch schon übersättigter ist, beschränkt sich darauf, zu den Stunden hinzugehen, da ein besonders beliebter Schauspieler auftritt. Solch einer ist Danjuro. Er stammt aus einer Schauspielerdynastie; seit Menschengedenken und darüber sind alle Danjuro Schauspieler gewesen.«

»Auch die Frauen, Vaterle?«

»Bis vor kurzem, ehe die europäische Reform eingeführt wurde, hat nie eine Frau die Bühne betreten. Jetzt erst fängt es allmählich an.«

»Und die Frauenrollen?«

»Sind von Männern gespielt worden, die mit Fistelstimme sprachen.«

»Urkomisch!« Ruth lachte. »Ich freue mich wie ein König. Sie auch, Herr Kamerad? Wir wollen mal lustig sein!«

Kurz vor vier Uhr traten die Rümelin vor ihre Tür und bestiegen ihre Kuruma. Nummer siebenundsiebzig war richtig wieder zur Hand.

»Mein Schicksal,« seufzte Ruth mit lachenden Augen. »Gut, daß es zweimal die Glückszahl ist!«

»Man spricht zuweilen auch von einer bösen Sieben; hier sind gleich zwei.«

Neckend sah Herbert Norten sich um.

»Pfui, Herr Kamerad,« sagte Ruth und rümpfte die Nase.

Sie bogen in die Straße, in der das Theater lag. Lustig genug sah sie aus. Teehaus an Teehaus, bunte Wimpel und Fahnen an jedem. Der Himmel verschwand fast unter der Masse von buntem Flatterstoff. Bunte Lampions an den Galerien der Häuser, bunte Menschenkinder, die sich daran her schoben, frohe, lachende Mienen ringsum.

»Wie auf der Messe,« jubelte Ruth. »Und so was dauert nun hier das Jahr hindurch.«

Sie hielten vor einem Teehaus. Auf Holzgestellen vor der Tür standen Geta und Sandalen aller Art dicht gereiht.

»Gehen nur denn nicht gleich ins Theater, Vaterle?« fragte Ruth kläglich. »Paß mal auf, wir kommen sonst zu spät!«

»Dies ist ja das Theater, Kind. Das Teehaus hängt damit zusammen. Man bekommt hier die Karten. Ach, da ist ja Herr Nezira! Er wollte mitgehen und uns Bescheid sagen. Wir verstehen dann alles besser.«

Der junge Japaner begrüßte die Damen sehr gemessen und höflich.

»Steifer Peter,« brummte Ruth und nickte dem Kameraden zu.

Dann standen sie im Innenraum des Theaters. Ruth machte große Augen. »Ja, aber –«

Der Mund stand ihr offen, sie war ganz Frage.

»Roten Plüsch gibt's hier nicht!« Der Vater lachte.

»Den vermisse ich gar nicht, nur – bloß – das Schachbrett da unten ist zu komisch! Und dies Gewimmel!«

Was Ruth als Schachbrett bezeichnete, war das Parkett des Theaters, das durch fußhohe Bretterwände in gleichartige Vierecke eingeteilt war. In jedem solchen Viereck hatte sich eine Familie häuslich eingerichtet, Männlein und Weiblein mit allen Sprößlingen bis zu den Tragkindern. Allerhand mitgebrachte Bequemlichkeiten, sowie Lebensmittel aller Art zeigten, daß sie den Tag hier verweilt hatten und fürder zu verbringen gedachten.

Die Rümelin befanden sich der Bühne gegenüber auf einer breiten Galerie, der Fremdenloge. Sie hatte Sitze; wo sie aber zu beiden Seiten schmäler verlief, war sie ebenfalls in viereckige Räume eingeteilt, auf deren Matten die Zuschauer aus dem Boden hockten.

Die Bühne war eine Art Podium mit einem Vorhang, hatte aber keine Seitenwände und keine Kulissen. Von ihr aus liefen rechts und links etwa mannshohe breite Estraden quer durch den schachbrettartig eingeteilten Zuschauerraum nach dem Hintergrund, wo sich die Ankleidezimmer der Schauspieler und andere Nebenräume befanden.

Totenstille herrschte im Raum, als die Rümelin eintraten. Sie setzten sich nach den ersten Ausbrüchen des Erstaunens lautlos.

»Danjuro!« flüsterte Herr Nezira geheimnisvoll und wies nach der Bühne.

»Der?« fragte Ruth. »So alt schon?« Es klang sehr enttäuscht. Herr Nezira legte nur den Finger an die Lippen.

Steinern und unbeweglich saß der Greis auf der Bühne. Vor ihm lag der tote Körper eines jungen Mannes. Die Männer im Hintergrund hatten ihn wohl eben gebracht. Einer berichtete noch. Aus einer deutlich sichtbaren Stirnwunde des Toten floß Blut. Unbeweglich verharrte der Greis vor der Leiche.

Zwei Frauen stürzten nun mit Jammern herzu, sichtlich die Mutter und das junge Weib des Erschlagenen. Händeringend warfen sie sich über den Körper. Verzweifelnd lagen sie dann zu des Greises Füßen und flehten ihn an, Rache zu üben; man sah es am Gebärdenspiel.

Wie aus Stein gemeißelt, saß der Greis da. Plötzlich reckte er die Hand und wies nach der Tür. Er wollte allein sein. Eilig verschwanden die Männer im Hintergrund, die Frauen drängten ihnen nach.

Nun war der Greis allein; er hob den Kopf, sich davon zu vergewissern. Wie auf einen Zauberschlag veränderte sich seine Miene; namenlose Qual und Verzweiflung lagen darin, herzzerreißender Schmerz. Er richtete sich auf, ein gebrochener Mann. Er fiel über den Körper des Sohnes; seine Gestalt krümmte sich in wildem Weh. Dabei kam kein Laut über seine Lippen; nur seine Gebärden zeigten, was er empfand. Seine Haltung war dabei durchaus angemessen und würdevoll, sein schmerzerfülltes Greisengesicht von Tränen überströmt.

Wieder richtete er sich auf und betastete das Gesicht des Toten. Ein erneuter Schmerzenskrampf befiel ihn. Wie leblos lag er über dem Körper des Sohnes, nur das Wogen seiner Brust ließ erkennen, daß er noch atmete. Und jetzt ging ein Zucken durch ihn hin. Das Leben kehrte zurück und mit ihm das Bewußtsein des Gräßlichen; man sah es in den Mienen des qualverzerrten Gesichts. Er rang die Hände in stummer Qual; er konnte es nicht ertragen. Mit raschem Entschluß riß er das Schwert aus der Scheide. Mit einem letzten Blick auf den geliebten Toten stürzte er sich in die Waffe und brach entseelt zusammen. Die herbeieilenden Frauen fanden zwei Tote. Das Stück war zu Ende. Schluchzen ertönte rings.

Ruth wischte an ihren Augen. Daß sie die Mutter dasselbe tun sah, tröstete sie. »Dies bewundernswerte Mienenspiel,« sagte die Mutter.

»Herr Nezira erklärt mir eben, daß man in Japan ganz besonderen Wert darauf lege,« antwortete der Vater. »Es komme vor, daß man das Gesicht irgendeines Schauspielers durch Männer mit Lampions besonders erleuchten läßt, um dem Publikum das Beobachten des Mienenspiels zu erleichtern!«

»Urkomisch!« Ruth prustete los und damit war der Bann gebrochen, der seit Danjuros Spiel über der Gesellschaft lag.

»Was tun die Leute?« Herbert Norten rief es erstaunt. Er hatte kein Auge von dem Schauspieler gelassen.

Danjuro war über die Estrade hingeschritten, die von der Bühne nach dem Ankleideraum führte. Jubel und Zuruf des Publikums begleitete jeden seiner Schritte. Sie warfen Blumen auf seinen Weg. »Hana mischi«, blumige Wege, heißen darum auch diese beiden Estraden. Aber zwischen den Blumen lag auch anderes. Fächer, Schirme, Nadeln, Pfeifchen, was den Leuten zur Hand kam, legten sie ihm in der Begeisterung zu Füßen. Dort entledigte sich eine junge Dame sogar ihres Obi und wenig fehlte, daß der Gefeierte sich den Fuß darein verwickelte und stürzte.

»Dummes Ding!« rief Ruth ingrimmig. »Wenn er nun gefallen wäre und den Fuß gebrochen hätte!«

Ein Diener schritt hinter Danjuro her, die Sachen zu sammeln.

»Was geschieht damit?« fragte Ruth Herrn Nezira.

»Wollen Sie kommen und sehen?«

Herr Nezira führte die Gesellschaft in Danjuros Garderobe.

Der Gefeierte war von Verehrern umringt, sah aber sehr gelangweilt aus.

Als er Ruths Blondkopf und ihre Blauaugen sah, in denen helle Begeisterung zu lesen stand, kam etwas Leben in ihn. Schnell trat er herzu und neigte sich tief.

»Mit einer tiefen Verbeugung reichte Danjuro Ruth den Fächer zurück.«

Ruth stammelte etwas, das sie selbst nicht verstand. Danjuro nahm ihr mit raschem Griff den Fächer aus der Hand, hatte alsbald Tusche und Pinsel zur Stelle, was in Japan Feder und Tinte vertritt, und malte seinen Namenszug mit kühnem Schwung in lateinischen Buchstaben. Man sah, derlei mußte ihm schon oft vorgekommen sein. Mit tiefer Verbeugung und freundlichem Blick reichte er ihr den Fächer zurück. Sie war freuderot und stammelte ärger als zuvor. Danjuro aber mußte sich anderen zuwenden.

»Was sagt ihr nun?« Ruth sah triumphierend ihre Begleiter an.

»Eine unbegreifliche Geschmacksverirrung,« erwiderte der Vater trocken.

»Wieso?« Ruth stand fast herausfordernd da. Die Mutter lenkte ab.

»Seht doch nur, seht! Dort zahlen die Leute Geld für die geworfenen Sachen.«

So war's. An der Tür stand der Diener, der die Sachen aufgerafft hatte. Der betreffende Eigentümer konnte das Seine von ihm gegen Bezahlung zurückerhalten. Dies soll eine bedeutende Einnahmequelle der japanischen Schauspieler sein. Ruth starrte nur so.

»Das find' ich einfach unwürdig,« sagte sie. »Der Danjuro gefällt mir jetzt nicht mehr halb so gut. Wie jung er übrigens ist! Das hätte ich nicht für möglich gehalten, als ich den Greis auf der Bühne sah.«

»Ich habe ihn einmal als Geisha gesehen,« erwiderte Herr Nezira. »Er glich täuschend einem jungen Mädchen und tanzte wunderschön.«

»Ein großer Künstler!« rief Ruth. »Stecke meinen Fächer in die Rocktasche, Vaterle: ich habe Angst, daß ihm in dem Gedränge was geschieht.«

»Der wird wohl als Heiligtum aufbewahrt?« fragte neckend Herbert Norten.

»Aus dem guten Kameraden spricht der Neid,« sagte Ruth nur.

»Es könnte sein,« antwortete der und lächelte geheimnisvoll.

Dann waren die Kuruma zur Stelle und man fuhr heim.

Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Der gute Kamerad mußte Abschied nehmen.

Er versprach, vor seinem Fortgang aus Japan noch einmal zu kommen, und reiste dann, mit vielen gutem Wünschen von den Rümelin begleitet, nach Osaka, seinem neuen Bestimmungsort.

Ruth vermißte ihn sehr. »Siehst, Mutterle, es war so nett, einen Kameraden zu haben, der Deutsch spricht. Wie er da war, wußte ich eigentlich erst, was mir bei Kiku und Haruko fehlt. Wie's Leni gehen mag?« Ruth seufzte. »Sie hat lange nicht geschrieben.«

Wie man's zumeist in Büchern liest, zuweilen aber auch selbst erlebt, so ging es hier. Ruth war kaum zu Ende mit der Klage über Lenis Schweigen, da stand der Vater unter der Tür.

»Rate, was ich bringe!«

»Briefe!« jauchzte Ruth, jauchzte die Mutter. Jede erhielt ihr Teil. Wie die Augen glänzten! Die der Mutter waren feucht dabei. Nächst dem Schönen, was man sieht, und dem Interessanten, was man erlebt, sind die Briefe der Lieben, die daheim bleiben mußten, der größte Genuß auf Reisen.

Da sieht man doch mal, was man wert ist,« sagte Ruth.

Leni schrieb: »Herzliebste Ruth! Ich hab' Dir gräßlich viel zu erzählen und weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Armes Ding Du, unter Deinen Gelben! Du, sind sie häßlich? Ich bin nämlich kein bissel eifersüchtig auf Deine Kikeriki oder wie sie heißen. Was ein echtes deutsches Mädel ist, das kann sein Herz nicht an so was Exotisches hängen. Das ist gut für den Augenblick, und ich bin froh für Dich, daß Du's hast, armer Schneck. Man nascht und knabbert gern mal an fremdländischem Kuchen und allerhand kuriosem Gebäck herum; es geht aber nichts über das Hausbrot. Und das bin ich, Ruth, denk immer dran! Siehst Du auch zuweilen mal den Ring vom Föhr auf der Königstraße an, he? Ich tu's alle Morgen und denk' an Dich, und wie fein es wird, wenn Du erst wieder dabei sein kannst, wenn – – Ach, Ruth, es war ein wundervoller Winter, himmlisch, unbeschreiblich schön. Vier Bälle hab' ich mitgemacht, Ruth, vier Bälle! Jeder war immer schöner als der vorige! Das ist doch was anderes, als unser Herumgehopse in der Tanzstunde! Wirst's schon noch erfahren, Ruth! Huijeh Du, wenn man erst mit wirklichen Herren tanzt und sich unterhält! Ich hätte gar nicht gedacht, daß man da auf so ernste Dinge verfällt. Neulich haben wir sogar von Kant gesprochen, denk Dir! Weißt Du, das ist der mit dem kategorischen Imperfekt, nein, wart mal, das Ding heißt anders, glaub' ich; wer kann aber das Zeug all behalten? Aber es interessiert mich doch sehr, wenn man es mir so erklärt, und ich meine allemal, ich habe es fein verstanden, bloß, daß ich es leicht wieder vergesse. Du willst nun gewiß wissen, wer das ist, der mich so bildet? Es ist unsere Reisebekanntschaft aus der Schweiz. Ich schrieb Dir damals – oder schrieb ich's nicht? – der Herr Assessor würde wohl nach Stuttgart versetzt werden. Eines Tages tauchte er richtig auf. Er ist sehr nett; Vater mag ihn auch sehr gern, und deshalb ist er auch viel in unserem Haus. In den Familienkranz hat er sich gleich aufnehmen lassen. Ach, und der Winter war herrlich! Ruth, das nächste Mal erzähle ich noch mehr. Auch von der › Quinta fidelia‹, obgleich da noch alles beim alten ist. Heute habe ich keine Zeit mehr. Der Brief soll zur Post und ich muß mich zu einem Spaziergang fertig machen; der Assessor holt Vater ab. Leb wohl, herzallerliebste Ruth! Ich hab' so Sehnsucht nach Dir und zähle die Tage, bis Du wieder bei mir bist. Es läßt sich alles viel besser sagen als schreiben. Alle grüßen!

Leni.«

 

Aus Ruths Gelegenheitsbuch.

Solange der gute Kamerad da war, habe ich meine Freundinnen schmählich vernachlässigt. Es gab eben alle Tage was anderes und solch ein Besuch geht allem vor; das erfordert schon die Höflichkeit. Heute habe ich nun das Versäumnis nachgeholt. Ich fand die Freunde in großer Bestürzung. Nur Kiku war daheim; Haruko war zu den Matsuka gegangen. Die kleine Sakura war gleich nach dem wunderbaren Kirschblütentraum in Mukodschima krank geworden; sie muß sich da verdorben haben. Seitdem ist es rasch schlimmer geworden und jetzt bangt man um ihr Leben. Kiku war sehr traurig, als sie mir das erzählte; sie muß das kleine Mädchen sehr lieb haben. Oder drückt sie sonst etwas?

Auch mir tut die kleine Sakura leid; sie war so niedlich und zutulich mit mir. Ich hoffe, ihre Verwandten ängstigen sich umsonst. Aber Kiku sagt, sie sei zart wie eine Rose, die der Lenz eben geweckt hat. Kiku ist zuweilen sehr poetisch.

Wir sprachen viel und ernst zusammen; das kann die Ruth Rümelin auch mitunter. Kiku erzählte von dem Glauben ihres Volkes. Ich lasse sie selbst reden und verbessere nur ihre Sprachfehler. So etwa sagte Kiku:

»Wir haben drei Religionen in unserem Lande, den Buddhismus, den Shintoismus und die Konfuziuslehre. Eine schließt die andere nicht aus. Es gibt viele Buddhisten, die ebensogut in einem Shintotempel anbeten und umgekehrt. Für uns alle gelten die gleichen Vorschriften, die wir in ihrer Gesamtheit ›Bushido‹ nennen. Unsere Person ist das kostbarste Vermächtnis unserer Väter; wir sind Verwalter unserer Gesundheit und dürfen sie nicht freventlich schädigen. Wir sollen nach allen Tugenden streben; Selbstbeherrschung ist eine hohe unter diesen. Die Stimme des Gewissens ist der einzige Richter über Recht und Unrecht. Unrecht soll uns mit Scham erfüllen; wir sollen redlich sein und wohltätig, den Mikado und unser Land lieben, auch wahrhaftig und höflich gegen alle Menschen sein. Unsere Eltern zu lieben, ihnen zu gehorchen, ist die höchste Tugend, die wir üben können; Gehorsam schulden wir ihnen, was sie auch verlangen mögen. Wir sollen lächeln, wenn wir weinen möchten, nicht klagen, wenn wir Schmerzen leiden, sondern immer ein heiteres Gesicht zeigen.«

»Ist das nicht sehr schwer, Kiku?« Mir war recht beklommen. Kikus Augen aber strahlten eigen und sahen in die Ferne, als ob sie nichts sähen.

»Wir werden von Kind an dazu erzogen; da ist es nicht schwer. Unsere Männer gehen für ihren Kaiser und ihr Land in den Tod, ohne mit der Wimper zu zucken. Unsere Frauen aber bergen manches, was sie tragen und leiden, im innersten Herzen, und ihr Mund lacht dazu. Ist es anders bei euch?«

Erstaunt sah sie mich an. Ich sann nach und ließ den Kopf hängen.

»Ich fürchte ja, Kiku. Weshalb seid ihr so streng gegen euch?«

»Sollen wir irgend jemand Kummer machen, weil wir leiden?«

Sie sagte es so einfach, daß ich sie umarmen mußte. »Dann seid ihr ja viel bessere Menschen als wir,« rief ich begeistert. Aber ich mußte gleich danach hell auflachen. Mir fiel jener Kanadier ein, der »Europens übertünchte Höflichkeit« nicht kannte, und sein: »Seht, wir Wilde sind doch bessere Menschen!« Das hatte mich immer zum Lachen gereizt. Was würde Kiku sagen? Nicht, daß ich sie zu den Wilden rechnete, aber immerhin – – –

»Ein jeder versucht gut zu sein, wie es ihm gelehrt wurde; mehr kann man von niemand erwarten,« sagte sie einfach. Ich legte den Kopf an ihre Schulter, schob meine Hand in ihre und so saßen wir lange. Dann sagte sie leise: »Wir haben viele Götter, zu denen wir beten; aber du mußt dir das nun nicht falsch vorstellen. In jedem Gott verehren wir eine Seite des Allgewaltigen, der die Welt mit Andacht füllt. Ich habe viel mit meinem Vater darüber gesprochen und er hat es mir so erklärt. Vater ist gut und groß und klug; ich bin stolz, seine Tochter zu sein. Darum kann ich mich auch darein finden, daß man zu seinen Ahnen als zu Göttern betet, wie es bei uns Sitte ist. Ich finde es schön, daß man ihnen in jedem Haus eine Gedächtnisstätte errichtet, die Butsuma, den Hausaltar, den du ja bei uns gesehen hast. Du mußt mit mir kommen, einen unserer Tempel zu besuchen. Mit dir kann ich es tun; ich weiß, du wirst nicht spotten. Mir aber liegt daran, daß du mich und unser Land richtig verstehen lernst.«

Sie schwieg und ich schmiegte mich dicht an sie. Wie gut sie ist! Ich kann viel von ihr lernen. Warum sie nur seit einiger Zeit so traurig ist? Mir fällt es sehr auf. Ob es wirklich nur die Angst um die kleine Sakura sein mag? – – –

Heute nachmittag klingelte es an unserer Tür; als Sighe öffnete, war es Kiku in ihrer Kuruma. Sie wollte mich, wie sie es versprochen hatte, abholen, um mit mir in einen japanischen Tempel zu gehen. Mutterle erlaubte es gern und so fuhren wir denn eilig los.

Ich fragte nach Haruko. Sie war bei der kleinen Sakura, die beständig nach ihr verlangte. Es schien dem Kind noch gar nicht besser zu gehen, was mir sehr leid tat.

Wir bogen in den Uyenopark ein. Diese Wohltat nach den heißen, sonnenhellen Straßen! Weite Alleen von Kirschbäumen, hohe, ernste Kryptomerien, Pinien und Kiefern überschatteten die Wege. Große Rasenflächen, Teiche, mit Lotosblumen übersät, dazwischen dichtere Haine, aus denen das Dach oder der Turm eines Tempels emporragte. Und Blumen, wohin das Auge sah! Iris in gewaltigen Massen, dicht gereiht, wie bei uns der Rasen eine Fläche deckt. Ebenso Päonien, deren Blüten oft tellergroßen Umfang hatten und von einer Farbenpracht waren, wie man sie nur in Japan findet. Glycinien und Windenranken spannten sich von Baum zu Baum. Ein Blühen in den Lüften wie auf dem Boden. Oh, dies gesegnete Blumenland!

Wir waren in einen der dichteren Haine eingebogen und hielten vor einem Tempel, wo wir ausstiegen. Kiku war sehr ernst und auch mich überkam eine gewisse Feierlichkeit.

Der Tempel war nicht groß; er hatte ein seltsam geschweiftes Dach mit allerhand fremdartigen Zieraten. Aus diesem schien ein zweiter kleinerer Tempel herauszuwachsen und aus diesem ein dritter. Drei durchaus gleiche, sich nach oben verjüngende Stockwerke. Ein Gitter umschloß den Bau gegen den Hain. Stufen führten zu dem Tor.

Ehe sie die Stufen betrat, legte Kiku ihre Geta ab. Ich schlüpfte eilig aus meinen Schuhen, was mir einen dankenden Blick Kikus eintrug.

Ein junger Priester öffnete uns das wundervoll aus Metall getriebene Tor. Leider hatte ich keine Zeit, es näher zu besehen; der Priester ging zu schnell voran und öffnete den inneren Tempelraum.

Der war leer und nur, wie alle japanischen Räume, mit dicken Matten belegt. An der hinteren Schmalseite stand auf einem Sockel eine weibliche Figur, soviel ich in dem gedämpften Licht sehen konnte, das die Papierwände einließen. Ein eigentümlicher Duft füllte den geheimnisvollen Raum, japanischer Weihrauch, wie mir Kiku später sagte.

Sie blieb dicht beim Eingang stehen und neigte sich dreimal tief nach dem Bild im Hintergrunde hin. Dann klatschte sie dreimal in die Hände, die Götter aufmerksam zu machen, wie sie dann erklärte. Endlich kniete sie auf den Boden nieder, die Stirn auf die Matten beugend.

Ein seltsames, fast andächtiges Gefühl ergriff auch mich. Die weibliche Figur im dämmernden Hintergrund war Kwan-on, die Göttin der Barmherzigkeit. Sie hat, der Überlieferung nach, die Ruhe und die Glückseligkeit bei den Göttern verschmäht und ist zur Erde niedergestiegen, die Menschheit zu trösten. Sie wird in vielerlei Form abgebildet, zuweilen als die Hundertarmige, die alle Hände gebraucht, den armen Menschen zu helfen, weit öfter noch als schönes, japanisches Mädchen, auf einer Lotosblüte sitzend, um ihre reine Güte anzudeuten. Das hat mir Kiku gesagt, als wir danach wieder im Tempelhain standen.

Ihr Gebet hatte nicht lange gedauert, aber sie schien davon tieferschüttert, denn ihr Gesicht war von Tränen naß. Sie hatte sich noch dreimal vor Kwan-on, der Barmherzigen, verneigt, mir dann gewinkt und wir waren die Stufen hinuntergegangen. Ich sah, daß sie immer noch weinte. Wir legten unsere Fußbekleidungen wieder an, grüßten den Priester noch einmal und schritten dann Seite an Seite unter den alten stillen Pinien hin. Scheu sah ich zu Kiku auf; daß Ungewöhnliches sie bewegte, fühlte ich. Sie wandte mir endlich ihr Gesicht zu und ein wehes Lächeln ging darüber hin. Ihre Züge zuckten vor innerer Qual aber sie zwang sich zu einem Lächeln, das mir das Herz erbeben ließ. Wie hatte sie neulich gesagt? »Sollen wir andere traurig machen, weil wir selber leiden?«

»Kiku neigte sich dreimal tief vor dem Bilde.«

Aber die Ruth Rümelin ist noch keine Japanerin an Selbstbeherrschung! Ich weinte einfach laut hinaus. Da legte Kiku den Arm um mich und erzählte mir von ihrem Kummer. Ich glaube, es hat ihr gut getan.

Das nun ist ihr Kummer: Sie soll Oto Matsuka heiraten, weil ihr Vater es will. Was der Vater wünscht, ist für Kiku Gesetz, und wenn es sie das Leben kostete. Sie hatte einen anderen Lebensplan, von dem ich schon erzählte, und fühlt für Oto Matsuka nicht so viel Zuneigung, daß sie ihn heiraten möchte. Ihr Herz hängt daran, zu studieren. Sie hat es auch ihrem Vater gesagt, aber der bleibt bei seinem Wort. Kiku wird also tun, was er befiehlt.

Otos Mutter ist Herrn Yusuguras einzige Schwester, die er sehr lieb hat. Sie ist Witwe und hat außer Oto nur noch die kleine Sakura, die jetzt so krank ist. Herr Yusugura sagt, wenn sie das Kind verliere, sei es seine Pflicht, ihr von seinem Überfluß mitzuteilen. Er besitze zwei Töchter; eine davon solle sie haben und Kiku hat er hierfür bestimmt. In Japan ist es nämlich Sitte, daß ein Vater, der keinen Sohn hat, einen solchen adoptiert. Er will also Oto Matsuka adoptieren; damit sei seiner Schwester und ihm selbst geholfen.

Wenn daher das kleine Mädchen stirbt, muß Kiku ihren Vetter heiraten. Ich fragte: »Aber wohl nicht gleich? Du bist doch noch sehr jung.« Da sagte mir Kiku, daß in Japan die Mädchen oft mit fünfzehn oder sechzehn Jahren heiraten. Mit siebzehn, in Kikus Alter, ist es gar nichts Ungewöhnliches.

»Und glaubst du, daß Sakura sterben muß?«

»Sie ist krank wie die Blüte, die der Sturm geknickt hat.«

»Würde nicht Haruko – – –?«

»Eines japanischen Vaters Wille ist seinen Kindern Gesetz.«

Kikus Los hängt also vom Leben und Sterben des kleinen Mädchens ab! Still gingen wir unter den Bäumen hin; die Blumen dufteten, die Grillen zirpten und wir sannen. Dann fuhren wir heim.

Ich habe meinen Eltern alles erzählt – Kiku hat mir kein Schweigen auferlegt – und habe dazu geweint; Kiku dauert mich schrecklich, um so mehr, weil sie so still und ergeben ist.

Vaterle hat die liebe Stirn in Falten gelegt; er hat sogar etwas gebrummt, das wie »barbarische Tyrannei« klang. Das Mutterle aber nahm mich in den Arm. »Herr Yusugura hat seine Tochter lieb; du hast es selbst gesagt. Er wird nichts von ihr verlangen, was sie unglücklich macht; Elternliebe ist in aller Welt gleich groß. Nun geh schlafen; es nutzt nichts, sich im voraus um etwas zu quälen, das vielleicht gar nicht kommt. Trockne die Augen, Ruth; morgen scheint die Sonne doch wieder!«

Ich bin zu Bett gegangen und habe auch geschlafen. Ich kann mich nicht erinnern, daß mich ein Kummer je wach gehalten hätte. Trotzdem habe ich Kiku sehr lieb und ihr Los bewegt mich sehr. Denn – – –

Die arme kleine Sakura war am anderen Morgen tot! In der Nacht war sie gestorben. Kiku hat es mir sagen lassen, auch daß Haruko noch im Hause der Verwandten sei. Ich eilte sofort hinüber, aber Kiku war mit den Eltern auch im Hause der kleinen Toten.

Was wird nun werden? Ich kann mit den Gedanken nicht von Kiku loskommen. Mutterle schlug mir eine Ausfahrt vor: wir sind im Uyenopark gewesen. Ich habe sie auch zum Tempel der Kwan-on geführt, und ihr von der Göttin erzählt; sie denkt wie ich.

Dann war ich noch einmal bei den Yusugura. Nur Haruko war da; Kiku ist im Sterbehaus geblieben. Haruko war völlig verändert; keine Grübchen mehr, blaß, und große, todtraurige Augen. Kann der Tod der kleinen Base ihr so nahe gehen? Sie wollte das altgewohnte Lachen zeigen; statt dessen kamen ihr die Tränen. Ich habe sie in den Arm genommen und ihr die Tränen fortgewischt. In drei Tagen ist die Beerdigung und zugleich das Fest der Toten. Es wird hier im Lande mit allerlei wunderlichen Zeremonien gefeiert. Die kleine Sakura soll mit großem Prunk begraben werden, sagte Haruko; die Familienehre erfordere das. Ob der Vater die Mutter und mich zum Begräbnis fahren wird? Ich brenne darauf, zu sehen, wie ein Leichenzug hierzulande aussieht. Mach deine »süßesten« Augen, Ruth Rümelin! – – –

Sie haben genützt, die süßen Augen! Wir waren richtig dort. Aber ich hätte mich nicht einmal groß zu bemühen brauchen. Vaterle hatte selber Lust, und der unvermeidliche Herr Nezira kam auch mit. Das war ja insofern nett, als er uns herrlich Bescheid sagen konnte. Sonst kann er mir gestohlen werden. »Schäm dich, Ruth,« würde das Mutterle rufen.

Ich muß den Friedhof beschreiben, auf den er uns führte. Er liegt außerhalb der Stadt. Auf einem bewaldeten Hügel erhebt sich ein Tempel; Stufen führen zu ihm hinauf. Wir gingen über den Hof, der den Tempel umschloß, und kamen zu dem Tor des Friedhofs. Eine geheimnisvolle, nachtdunkle Welt schien sich vor uns aufzutun. Düster schattend, uralt sind die ragenden Kryptomerien und Pinien, tiefschwarz auch das Erdreich; kaum daß die Sonne einen zitternden Strahl durch das dichte Geäst werfen kann. Dunkel und Schatten, wohin wir schauten! Mich überkam ein wahres Grauen, so daß ich mich dicht zum Mutterle hielt.

Wie das Auge sich an den Schatten gewöhnt hatte, konnte man auch die einzelnen Gräber unterscheiden. Eigenartige Steinmonumente standen darauf, die meisten verwittert, altersgrau und bemoost. Da waren viereckige flache Platten, stufenweise übereinander getürmt, die ein aufrecht stehender, zugespitzter oder gerundeter Würfel oder auch ein Säulenstumpf krönte. Sie zeigten Reliefe und fremdartige Schriftzeichen. Der Name des Gestorbenen war nur verzeichnet, wenn das Sterbejahr angegeben war; sonst legt der Priester ihm im Tode einen neuen Namen bei, unter dem seine Seele weiterlebt.

Auch unbehauene, sonderbar geformte Felsstücke sah man auf Sockeln ruhen, die Spitze nach unten, so daß es rätselhaft war, was sie im Gleichgewicht hielt.

Das Sonderbarste war aber, daß um jedes Grab viele Latten steckten, die Holztäfelchen mit einer geheimnisvollen Inschrift trugen. Sie standen dicht wie Halme im Feld; wenn man über die Gräber hinsah, schienen sie sich zu Tausenden und Abertausenden zu erheben. Ihren Zweck konnte mir Herr Nezira nicht klar machen; er wußte ihn selber nicht. Die Täfelchen trugen alle eine uralte Sanskritinschrift, deren Sinn auch die Priester nicht mehr wissen.

Eine solche Tafel wird ans Grab gesteckt, wenn die »Haka«, der Grabstein, errichtet ist, eine weitere neunmal jeden siebenten Tag, dann am hundertsten Tag, nach Vollendung des Jahres, zuletzt nach Ablauf von drei Jahren, hundert Jahre lang. Was Wunder, daß sie stehen wie die Binsen im Moor!

Ein Priester erschien unter dem Tor des Friedhofs und winkte. Der Totenzug nahte. Wir traten zum Tempeltor, wo man die Stufen überschauen konnte, und sahen nichts als – Blumen!

Riesensträuße, pyramidenförmig, gebunden und so groß wie mittelgroße Christbäume, so schwankten sie daher, dicht gereiht. Männer in weißen Gewändern trugen sie. So weit man sehen konnte, Blumen, überall Blumen! Dann kam der Sarg, der von Männern getragen wurde; er war mit einem weißen Tuch überdeckt und so groß, wie der Sarg eines Erwachsenen. Die kleine Tote nahm all ihr Lieblingsspielzeug, und woran sonst ihr Herz hing, mit ins Grab; so sagte Herr Nezira.

Die großen Sträuße waren Geschenke von Freunden und Verwandten; der Name des Gebers war weithin sichtbar in großen Buchstaben auf einer Tafel über den Blumen angebracht. Es ist auch Sitte, allerlei Gaben, Kuchen, Früchte und Eßwaren in das Sterbehaus zu senden, als Spende an den Geist des Verstorbenen. Recht sonderbar! Aber die Ruth Rümelin hat nicht darüber gelacht.

Hinter dem Sarge kamen die Angehörigen, Verwandte und Freunde. Sie hatten ihre Wagen und Kuruma am Fuß der Stufen verlassen. Herr Oto Matsuka, in weißem Trauergewand und Strohsandalen, ging allen voran als Hauptleidtragender. Die Mutter sah ich nicht. Herr Nezira sagte, daß Eltern in Japan öffentlich nicht um ihre Kinder trauern; man trauert nur um Gleich- und Höhergestellte. Die Eltern aber stehen so hoch über den Kindern, daß sie oft nicht einmal Trauerkleider tragen. Frau Matsuka tat dies aber doch, wie ich später sah, denn ich entdeckte sie noch hinten im Zuge.

Nach Oto Matsuka kamen Kiku und Haruko. Sie trugen schwarzgraue Kimono aus Krepp, mit dem Wappen in Weiß auf Rücken und Ärmeln eingestickt. Wo der Kimono sich öffnete, sah man ein weißseidenes Untergewand. Da alle Frauen im Zuge gleich gekleidet waren, nehme ich an, daß dies die übliche Trauerkleidung in Japan ist.

Shintopriester in weißen, steifen Seidengewändern empfingen den Sarg am Tempeltor. Auf allerlei Blasinstrumenten und Trommeln wurde eine eigenartige, wenig harmonisch klingende Musik gemacht.

Wir schlichen uns mit dem Zug hinein. Der Sarg wurde im Hintergrund aufgestellt, die Angehörigen saßen darum herum. Ein Priester kniete daneben und las, wie ich später erfuhr, den Lebenslauf der kleinen Sakura von einer Papierrolle. Alle schienen tief ergriffen. Dann folgte wieder Musik. Grüne Zweige wurden gebracht, die mit weißen Bändern gebunden waren. Der Priester bot einen davon Herrn Oto Matsuka; der legte ihn mit einer tiefen Verbeugung auf den Sarg, als letzten Abschiedsgruß für die kleine Schwester. Kiku und Haruko taten dasselbe, dann alle Verwandten, endlich die Fernerstehenden. Ich habe der kleinen, niedlichen Sakura auch ein grünes Reis auf den Sarg gelegt; niemand hat mich fortgewiesen.

Ich fragte nach der Bedeutung dieser grünen Zweige. Herr Nezira sagte, da der Tod verunreinige – verschiedene alte Völker haben ja dasselbe geglaubt – so dienen diese Zweige, die stets von einem besonderen Baum geschnitten werden, dem toten Körper sowohl als den Lebenden zur Reinigung. Wie sonderbar und schwer verständlich doch manches ist! Aber ich habe mich gehütet, mein Erstaunen zu zeigen.

Der Sarg wurde dann zu Grabe getragen. Die Verwandten und Freunde folgten und sahen zu, wie man ihn in die Erde senkte. Die grünen Zweige deckten das Grab. Damit war alles zu Ende. – – –

Man feiert hier in diesen Tagen das Totenfest. Herr Nezira will uns auf den Bon-ichi, den Totenmarkt, führen. Vaterle hat für sich und mich angenommen. Das Mutterle macht sich nichts aus Orten, an denen viel Volk zusammenströmt. Heute abend gehen wir; ich bin sehr begierig.

Kiku und Haruko habe ich seit dem Begräbnis nicht gesehen. Wie es Kiku zumute sein mag? Die kleine Haruko hat mir neulich auch gar nicht gefallen. –

Ich muß noch gleich am Abend schreiben; es war zu interessant! Morgen also beginnt das Fest der Toten, das drei Tage dauert. Dazu werden alle Altäre und alle Gebetschreine in den Häusern geschmückt. Was man hierfür braucht, ist auf dem Totenmarkt zu haben.

Die ganze Straße entlang waren vor den Läden Buden aufgeschlagen. Alles war von bunten Lampions erleuchtet; so weit man sah, farbige Lichter! Ruhig und gesittet schob sich die Menschenmenge dazwischen hin und her. Kein Stoßen und Drängen, kein wüstes Schreien und Lärmen; der aufdringlichste Ton war das Geklapper der Geta.

Hier wurden Lotosblumen in Büscheln verkauft, und Lotosblätter, in Päckchen gebunden, die Speisen für die Toten darein zu wickeln. Dort Hanfruten, die Eßstäbchen, »Hashi«, für die Geister daraus zu schneiden. Ferner kleine, flache Schüsseln aus Ton, eigens für die Toten bestimmt; bunte, wundervolle Papierlaternen, die den Toten leuchten sollen, wenn sie den Weg zur irdischen Heimat zurücksuchen. Viele sind mit Lotosblumen bemalt, der heiligen Blume des Landes; andere sind mit breiten, kunstvollen Papierfransen geziert.

Schöne weiße Matten liegen in Haufen geschichtet; die Tokonoma, die Gebetsnische des Hauses, muß in diesen Tagen neu ausgelegt werden. Grüne, geheiligte Zweige zum Schmuck der Altäre werden feilgeboten und Räucherwerk aller Art.

Aus einer kleinen Bude, die wie ein Schilderhäuschen aussah, drang ein schriller, zirpender Ton. Ich fragte Herrn Nezira.

»Hotaru ni kirigirisu,« sagte er lachend. Dies hatte nun nichts mit den Toten zu tun. Es waren Leuchtkäfer und Grillen, jede in einem winzigen Käfig.

»Kinderspielzeug,« sagte Herr Nezira noch. Ich habe mir trotzdem so ein Lebewesen gekauft. Vaterle schmunzelte vor sich hin; ich tat, als sähe ich es nicht. Die kleine Grille muß mit Melonenrinde und Eierpflanzen gefüttert werden. Ich muß das der Leni schreiben; vielleicht kann ich ihr auch eine mitbringen.

Wir wurden von dem Gewühl geschoben und standen endlich vor einem Hügel, von dem ein Tempel sich zum Nachthimmel hob. Um den Rand seines geschweiften Daches glühten bunte Laternen wie Edelsteine. Man schob uns die Stufen hinauf; in Hunderten wallfahrteten die Leute zu dem Heiligtum. Unablässig wurde an einen Gong geschlagen; jeder Ton bedeutete eine Opferspende. Die Gaben müssen nur so geströmt sein.

Ich zog Vaterle aus dem Gewühl heraus an eine Laternenbude, weil ich diese wirklich künstlerisch schönen Lampions so gern sehe. Ich habe auch für Leni eine gleiche Lotosblume gekauft, wie ich sie von Mukodschima mitbrachte. Wir sind dann die Stufen wieder hinuntergegangen, immer zwischen leuchtenden Wunderblüten hin. Ich habe mich nicht sattsehen können, und auch Vaterle war ganz begeistert, als wir dem Mutterle davon erzählten. Aber was sind Worte gegen die Poesie des Erlebens! Hier sitze ich; meine Wunderlotos am vergoldeten Stab glüht mir zu Häupten, und die kleine Grille zirpt leise, leise wie im Traum. Es ist wie ein seltsames Märchen, was ich hier alles erlebe. – – –

Ich bin ein paar Tage lang nicht an mein Büchlein gekommen. Aber gleich zuerst will ich sagen: Haruko, die liebe frohe Haruko ist sehr krank! Kiku pflegte die Schwester Tag und Nacht. »Wie Kwan-on selber,« sagt Frau Yusugura. Wir würden sagen, wie ein Engel! Ich verstehe Frau Yusugura nun schon ein bißchen und das ist gut, denn Kiku kann ich kaum sehen. Sie weicht nicht vom Lager der Schwester. Einen Augenblick kam sie heute zu mir heraus. Ich muß sie fragend und kummervoll angesehen haben, denn sie legte mir den Arm um die Schultern. »Nicht um mich sorgen, Ut; ich Sonne sehen durch Schatten.«

Ja, die arme Haruko ist sehr krank. Das ganze Haus ist verstört. Alle Papierwände sind zugeschoben; es macht den Eindruck eines Trauerhauses. Dabei hat Haruko kein Bett! Dieser Gedanke quält mich bei Tag und bei Nacht. Mein Mutterle lacht mich freilich darum aus; ich kann mir aber nicht helfen. Meine Sorge um die Kranke teilt sie.

Doch ich will noch vom Totenfest erzählen, obgleich der Sinn mir gar nicht danach steht. Vaterle sagt aber, was man begonnen hat, muß man durchführen. Ich will seine gute Tochter sein. Wir schulden es den Eltern für all ihre Liebe, das Gute, das sie in uns gepflanzt haben, wachsen und blühen zu lassen. Wir laufen doch gewissermaßen als lebendes Zeugnis für sie herum. Vaterle und Mutterle sollen Ia bekommen, soweit es an ihrer Ruth liegt!

Am Morgen des Totenfestes ging ich zu den Yusugura; Kiku wollte mir die Totenopfer zeigen. Da hatte sich aber Haruko schon gelegt und ich konnte nur Frau Yusugura sehen. Sie führte mich selbst zur Tokonoma, wo der Hausaltar reich geschmückt war.

Frische Matten waren ausgebreitet und Lotosblüten, wohin man sah. Kostbare Vasen mit geheiligten Zweigen des Shikimi; an den Wänden die köstlichsten Kakemono, die der Schatz des Hauses barg. Was mich am meisten erstaunte, war dies, daß vor dem Altar ein niederer Ständer, mit Speisen aller Art besetzt, aufgestellt war. Hashi (Eßstäbchen) lagen dabei, alles niedlich und lockend geordnet, wie für liebe erwartete Gäste.

Sie erwarten auch Gäste, die Japaner, in diesen drei Tagen des Totenfestes! Die Geister ihrer geschiedenen Lieben sind es, die sie erwarten und so bewirten. Jeden Morgen wird ihnen frischer Tee vorgesetzt, den die Frau des Hauses selbst bereitet. Am Abend werden vor allen Türen Laternen entzündet, daß die Geister den Weg in die verlorene irdische Heimat zurückfinden. Auch werden allgemeine Begrüßungsfeuer entfacht, immer am Wasser entlang.

Das hat mir aber nicht Frau Yusugura gesagt, sondern Herr Nezira, der am letzten Abend des Festes kam, uns noch allerhand zu zeigen.

Er führte uns unter anderem in einen Tempelhof, den Tanz zu Ehren der Toten zu sehen. Wir standen inmitten einer dichtgedrängten, lautlosen Menge. Nur der Mond beleuchtete die Szene und der geisterhafte Schein weißer Totenlaternen, der über eine altersgraue Mauer fiel. Dort mußte eine »Hakaba«, ein Friedhof sein. Ein tiefer, metallischer Ton durchzitterte die Luft. Aus dem Schatten des Tempels glitten Gestalten mit wallenden Gewändern ins Mondlicht, Frauengestalten alle, der Größe nach geordnet, kleine Mädchen zuletzt. Diese Gestalten begannen einen Tanz, ein Schweben und Gleiten, ein Wiegen und Neigen. Dazu winkten sie rhythmisch mit den Händen, glitten in den Schatten zurück und erschienen wieder in dem geisterhaften Mondenschein mit demselben Schweben und Winken, Neigen und Beugen. So mögen die Geister der Seligen ihren Reigen schlingen; man fühlte sich wie der Erde entrückt.

Dazu die lautlose Menge, die in ehrfürchtigem Staunen schwieg und schaute! Erlebten wir ein Märchen? Ich habe mich fest an das Vaterle geschmiegt.

Es ging eine lange Weile so weiter. Oder war's nur ganz kurz? Sie haben auch zu singen angefangen, leise, weich und geheimnisvoll. Hier störte es mich nicht; es klang so unirdisch, wie es die ganze Szene selbst zu sein schien. Wie lange wir so standen und lauschten, weiß ich nicht.

Mit einem Male wiederholte sich derselbe metallische Ton, der zu Beginn die Traumgestalten hervorgezaubert hatte. Er machte sie verstieben wie Schemen; der Traum war zu Ende. Lautlos verlief sich die Menge; wir folgten ihr. Dem Mutterle daheim haben wir vorgeschwärmt, das Vaterle und ich. Ja, auch das Vaterle hat geschwärmt! »Ein wunderbares Land, dies Japan, Anna,« hat er gesagt, »ein Märchenland, wahrhaftig! Und heute haben wir einen Märchentraum geträumt, unsere Ruth und ich, was, Kind?«

Ich habe nur genickt und mein Gesicht an seine Schulter gelegt. Ich freute mich, daß das Vaterle fühlte wie ich. – –

Haruko ist kränker geworden; Kiku hat es mir sagen lassen. Sie fürchten für ihr Leben, erzählte Sighe. Wenn sie sterben müßte! – – –

Ich war drüben und habe niemand sehen können, auch Frau Yusugura nicht. Herr Oto Matsuka fuhr eben in seiner Kuruma weg. Er tat, als sehe er mich nicht. Oder hat er mich wirklich nicht bemerkt? Sein Gesicht war ungewöhnlich ernst. Was die Dienstboten welschten, konnte ich nicht verstehen; dazu reichte mein Japanisch noch nicht aus. Ich muß wirklich eifriger daran gehen! Ruth Rümelin, welcher Weg ist mit guten Vorsätzen gepflastert? – – –

Es sind nun schon fast acht Tage verflossen, seit die arme Haruko krank geworden ist. Ich habe seit dem Morgen am Totenfest, da Frau Yusugura mir die Tokonoma zeigte, niemand aus dem Hause mehr gesehen. Ich kann es kaum mehr ertragen, und daß das Mutterle mir so gelassen zuredet, ärgert mich jedesmal.

Weshalb die Erwachsenen nur so viel geduldiger sind als wir? Mutterle sagt, das Leben lehre es. Ob ich's auch einmal lerne, wenn ich alt und grau bin und einen krummen Rucken habe und humpele? Aber dann lohnt es sich ja gar nicht mehr; darum will ich mir lieber gar keine Mühe geben.

Aber Mutterle hat doch recht, wie auch das alte Sprichwort: »Geduld bringt Rosen«, das ich nicht ausstehen kann. Daß die Erwachsenen auch so oft recht behalten! »Immer« kann ich nicht sagen, denn das wäre nicht wahrheitsgetreu; aber das »oft« ist auch schon niederdrückend genug für eine, die doch bereits beinahe sechzehn Jahre der Sonne ins Gesicht blinzelt!

Kiku hatte mir sagen lassen, daß sie mich am anderen Tag am Gartenzaun sehen wolle; sie habe mir viel zu erzählen und müsse allein mit mir sein. Das hat mich sehr stolz gemacht; Kiku hat etwas Erwachsenes an sich, und daß sie auf mich hält, beweist wohl, daß ich auch etwas wert bin.

Heute war ich also zur bestimmten Zeit am Gartenzaun. Das Vaterle hatte mich beim Essen immer wieder mit meinem Rendezvous geneckt; ich bin aber ruhig geblieben. Daraus sehe ich, daß ich reifer werde; früher hätte ich geheult über solches Necken. Jetzt – – – bravo, Ruth Rümelin!

Da stand ich also auf der Steinbank am Gartenzaun, von der aus ich Kikus und Harukos Bekanntschaft gemacht hatte. Da kam auch schon Kiku daher. Ehe ich wußte, was über mich kam, saß ich mit einem Male auf dem Zaun oben und war auch schon hinübergeklettert, ehe Kiku ein Wort sagen konnte. Sie machte entsetzte Augen, aber dann lachte sie so froh, wie ich sie nur im Anfang unserer Freundschaft habe lachen sehen. Ihre Augen glänzten. Ich finde jetzt Schlitzaugen schön und kann nicht begreifen, was ich je daran auszusetzen hatte.

Ich legte die Arme um Kiku. »Es ist alles gut? Haruko ist besser?«

»Haruko sehr gut gehen, sehr gut!« Sie lachte eigen dazu.

»Ist sie schon aufgestanden?« Fast hätte ich »außer Bett« gesagt; da fiel mir die Matratze und das Holzkästchen ein.

»Sein noch sehr krank, aber gehen gut, sehr gut!«

Das mochte jemand anderer verstehen! Ich fühlte mich zu dumm dazu. Ich habe wohl das entsprechende Gesicht gemacht, denn Kiku lachte recht spöttisch und schadenfroh, wie mir vorkam. Das ärgerte mich; es läßt niemand gern über sich lachen. Niemand ist gern der dumme August, der es nicht von Natur oder Beruf wegen sein muß. Aber Kiku fuhr mir über das Gesicht und zog mich unter die dichten Kryptomerien, dort wo ihre Zweige den Boden berühren und man von der Welt ganz abgeschlossen ist. Da hat sie mir alles erzählt.

»Ehe ich wußte, was über mich kam, saß ich mit einem Male auf dem Zaun oben und war auch schon hinübergeklettert, ehe Kiku ein Wort sagen konnte.«

Aber jetzt kommt eine Überraschung für Ruth Rümelins Leser, die er nun und nimmer erraten hätte! Man höre und staune: Haruko will nämlich ihren Vetter, Herrn Oto Matsuka heiraten!!

Kiku ahnte es längst, und da sie ihres Vaters Pläne kannte, hat sie das so traurig gemacht. In ihren Fieberphantasien hat sich Haruko dann verraten. Sie hatte von des Vaters Plänen gehört. Gesagt hat sie nichts; eines japanischen Vaters Wille ist seinen Kindern ja Gesetz. Aber sie hat sich hingelegt, ist krank geworden, die arme Haruko, und hat im Fieber ausgeplaudert! Kiku aber hat alles dem Vater berichtet. Der hat seine Kinder nun doch lieb; da hat das Mutterle wieder einmal recht behalten!

Haruko, die liebe Haruko soll jetzt ihren Vetter heiraten und Kiku – darf studieren!!

Deshalb glänzten ihre Augen so, wie ich sie noch nie habe glänzen sehen. Ich sagte ihr, wie froh ich ihretwegen sei und auch Harukos wegen. Aber ich sagte ihr zugleich, sie solle es sich noch einmal gut überlegen, mit dem Studieren; es sei ein schwerer Beruf, Arzt zu sein. Sie brauche ja nicht gerade Herrn Oto Matsuka zu heiraten; es gebe gewiß noch andere nette junge Leute. Wie eine Mutter habe ich ihr zugeredet; ich kann das so gut, daß ich manchmal selbst staune, wie klug ich sein – ich meine reden kann für andere Leute. Das ist eine besondere Gabe von mir.

Kiku hat nur gelacht; sie weiß genau, was sie will. Ich an ihrer Stelle würde es mir noch einmal gut überlegen. Die Jahre gehen hin, und wenn man erst alt ist – ich meine so von sechsundzwanzig an – braucht niemand mehr ans Heiraten zu denken. Da ist man doch schon sehr alt! Nun, ich habe ja noch lange bis dahin; ich brauche mir den Kopf jetzt nicht zu zerbrechen.

Ich fragte Kiku, ob Haruko also nun Braut sei und wie lange sie das wohl bleiben müsse, weil sie doch noch so sehr jung ist.

Kiku sah mich sehr erstaunt an. Es scheint, sie kennen in Japan nicht den Begriff, den wir mit dem Worte Braut verbinden. Haruko wird sehr bald heiraten; sobald sie gesund ist, sagt Kiku.

Ich bin mit Kiku noch eine Weile unter den Kryptomerien hingegangen; wir hatten uns lange nicht gesehen und viel zu bereden. Kiku spricht nämlich sehr gern über ernste Dinge und die Ruth Rümelin ist auch kein Gänschen, das immer bloß Ulk treiben und dummes Zeug schwätzen muß. Obgleich – – na, ich bin ja nicht immer mit Kiku zusammen, und wenn ich heimkomme, habe ich die Leni wieder; mit der läßt sich eins lachen, wenn es nottut. Ach, solch ein herzerquickendes Lachen, wenn man nicht weiß, worüber man lacht! Das müssen die Englein im Himmel erfunden haben.

Nun bin ich begierig, ob ich zur Hochzeit eingeladen werde. Was ich da wohl anziehe? – – –

Oh, Ruth Rümelin, du hättest dich nicht um Anziehen und dergleichen zu kümmern brauchen, denn – aber ich will der Reihe nach erzählen.

Haruko erholte sich von Tag zu Tag mehr. Immer, wenn ich hinüberkam, lauteten die Nachrichten besser. Endlich durfte ich sie sehen, aber wie schmal war sie geworden! Nur die Äuglein glänzten und alle Grübchen in ihren Wangen waren wieder da wie früher.

Ich umarmte sie und hätte sie beinahe geküßt; da fiel mir zum Glück ein, daß das in Japan nicht Sitte ist. Darum schüttelte ich ihr bloß kräftig die Hand.

»Liebe Haruko, ich wünsche dir alles Gute,« sagte ich, »mögest du sehr glücklich werden!« Sie sah mich erstaunt an. Ob ein solcher Wunsch in Japan auch nicht Sitte ist?

Kiku hat mir dann gesagt, daß eine Heirat in Japan nicht das bedeute, wie bei uns, daß sie kein Bund fürs Leben zu sein brauche. Der Mann kann seine Frau einfach wieder heimschicken, wenn sie ihm nicht behagt. Ob die Frau dasselbe tun kann, weiß ich nicht, hoffe es aber. Ich finde jedoch, daß man einem Mädchen, das dort heiratet, unter diesen Umständen erst recht Glück wünschen müßte. Ich habe das auch Kiku gesagt und sie hat ernst genickt.

Ein paar Tage später kam Kiku, mich zu Harukos Hochzeit einzuladen, die in ungefähr einer Woche stattfinden soll. Ich sage Hochzeit aus Gewohnheit. In Japan gibt es im großen ganzen keine kirchliche Trauung, nur vereinzelt wird eine in einem Shintotempel oder in einer christlichen Kirche gefeiert. Die Heirat ist in Japan ein Privatvertrag zwischen den beiden Parteien, sagt Vaterle. Es bedarf nur einer schriftlichen Anzeige des Vaters der Braut an die Polizeibehörde, daß seine Tochter in das Haus des Bräutigams übergesiedelt sei. Dies ist die einzige Formalität, die zu erfüllen ist. Recht einfach, nicht?

Aber es scheint doch irgendeine feierliche Zeremonie stattzufinden, und der soll ich beiwohnen dürfen. Das habe ich Kiku zu verdanken, ich weiß es; Kiku ist sehr gut mit mir. Nur eine Bedingung ist daran geknüpft: ich soll in japanischer Tracht kommen! Frau Matsuka und die alte Frau Yusugura fürchten, es könnte Unheil bringen, wenn eine Fremde anwesend wäre; die Götter sähen die fremden Kleider nicht gern. Da ist Kiku auf diesen Ausweg verfallen und den anderen war es recht, denn sie haben mich gern, sagte sie. Ich war sehr froh und besonders auch, daß ich in meinem lieben Kimono erscheinen sollte. Er ist mir schon richtig ans Herz gewachsen. – – –

Endlich kam der große Tag. Um sechs Uhr abends sollte ich mich bei den Yusugura einfinden; Haruko würde ihr Elternhaus um halb sieben verlassen, um in das Haus ihres Verlobten zu gehen.

Um sechs Uhr morgens war ich schon wach. Ich hatte also reichlich Zeit zur Vorbereitung. Dem Vaterle habe ich aber davon nichts gesagt; das hätte ein rechtes Necken gegeben, und wenn die Ruth Rümelin das vermeiden kann, tut sie's – und weiß warum.

Zur richtigen Zeit war ich bei den Yusugura, eine Viertelstunde zu früh freilich, aber das ist besser als zu spät. Ich finde, Pünktlichkeit ist eine große Tugend; daran will ich mich immer halten. Ich will nur noch sagen, daß mir das Mutterle so viel Ermahnungen mit auf den Weg gab, als ob ich noch im Hängekleidchen herumliefe; sie meinte es fast zu gut damit.

Es war sonderbar still im Hause Yusugura, so als ob ein Toter im Hause sei, keine Braut. Kiku sagte mir dann, daß dies gerade die richtige Stimmung gewesen sei. Im Hause, das die Tochter verläßt, soll es zugehen, als habe der Tod sie entführt. Sie ist für die Ihren gestorben, denn sie lebt nun nur noch dem Mann und den Seinen. In früheren Zeiten wurden sogar im Brauthaus die Zeremonien vorgenommen, wie wenn man einen Toten hinausbrachte. Es wurde sorgfältig gekehrt und vor dem Haus ein großes Feuer angezündet.

Haruko saß ganz in Weiß, also in die Farbe der Trauer gekleidet, zwischen ihren Eltern. Stumm neigten sie sich, mich zu begrüßen; stumm tat ich dasselbe. Dann kam eine kleine Dienerin im Festputz, etwas zu melden. Sie ging mit der jungen Herrin in das neue Heim über; sie war auch im Elternhaus Harukos persönliche Dienerin gewesen.

Haruko erhob sich, warf sich vor den Eltern zu Boden und beugte das Gesicht auf die Matten. Dasselbe tat sie vor der alten Großmutter, die im Hintergrund saß, dann vor Kiku. Es wurde kein Wort dabei gesprochen; ernst und unbeweglich waren aller Mienen. Dann neigte sich Haruko vor dem »Butsuma«, klatschte dreimal in die Hände, die Götter zu benachrichtigen, und senkte den Kopf im Gebet. Ohne sich umzusehen, schritt sie dann zur Tür. Draußen hielt ihre Kuruma; sie stieg auf und fuhr davon. Haruko hatte das Elternhaus verlassen!

Ich starrte ihr verblüfft nach; so etwas von schweigsamer Förmlichkeit zwischen Eltern und Kindern war mir doch noch nicht vorgekommen! Wenn ich mich in einen solchen Fall denke! Ich würde dem Mutterle am Hals hängen und dem Vaterle nicht von der Seite gehen. Sie würden mich auch nicht so hölzern und stumm ziehen lassen, das weiß ich. Ländlich, sittlich, Ruth Rümelin! Sie haben sich doch lieb, das hast du ja erst kürzlich wieder erfahren.

Wir warteten nun noch eine Weile. Geredet wurde nicht viel; sie schienen mir bei näherer Betrachtung doch recht bewegt. Die Ruth Rümelin kam denn auch zu der Überzeugung, daß das Herz in der ganzen Welt dasselbe bleibt, mag es in einer weißen, einer gelben, roten oder schwarzen Brust schlagen. Die Farbe ändert nichts am Gefühl.

Wir brachen auf. Unsere Kuruma waren mit Blumen geschmückt; wir stiegen ein und fuhren ab. Vor dem Hause des Bräutigams hielten viele Kuruma und Wagen. Man hörte ein Summen und Stimmengewirr; es mußten viele Menschen versammelt sein. Auch waren Blumen gestreut.

Wir wurden von zahlreichen Dienern und Dienerinnen empfangen, die uns absteigen halfen. Im Hause wimmelte es von Menschen, aber von dem jungen Paare und der Mutter des Bräutigams war nichts zu sehen. Ich hielt mich dicht zu Kiku; mir war nun doch ein bißchen bänglich unter alle den fremdartigen Menschen. Aber alle waren sehr höflich; kein lästiger Blick, kaum ein erstaunter traf mich. Ich war ein geladener Gast wie sie; das genügte, meine Anwesenheit zu erklären.

Eine Wand wurde zurückgeschoben. Frau Matsuka erschien, hinter ihr der Bräutigam und Haruko. Diese hatte ihr weißes Trauergewand inzwischen mit einem Festkleid vertauscht. Rosa Brokat mit Silber, riesig pompös! Ich hätte die niedliche Haruko kaum wiedererkannt.

Das junge Paar wurde nun zu einem Tischchen geführt, das vor der Tokonoma stand. Herr Oto Matsuka hockte sich rechts, Haruko links davon auf die Matten. Hinter dem Bräutigam kniete seine Mutter, hinter der Braut deren Eltern nieder, Auf dem Tischchen sah ich eine kleine Zeder oder Tanne, die Nachbildung irgendeines heiligen Baumes, sagte mir Kiku später. In welcher Beziehung er zu der Zeremonie stand, habe ich vergessen.

Die Gäste waren alle zurückgetreten. Nun erschien Kiku mit einer flachen Schale, darin Reiswein war. Dreimal nippten Bräutigam und Braut daran. Dann wurde die Schale frisch gefüllt und wieder nippten sie dreimal. Noch einmal dasselbe Füllen und Nippen und dann – – – dann waren Haruko und Herr Oto Matsuka Mann und Frau!

Ich war etwas überrascht von dieser Plötzlichkeit und wußte nicht recht, was für ein Gesicht zu machen. Ich habe auch Kiku später gefragt, was für einen Sinn die Zeremonie habe, denn irgendeine Bedeutung muß dies wiederholte Nippen an der gebotenen Schale doch haben. Sie weiß es selbst nicht; es sei ein uralter hergebrachter Brauch, sagte sie, und der Sinn wohl verloren gegangen. Sie will sich aber danach erkundigen.

Nun kam mit einem Male eine große Freude in der ganzen Gesellschaft zum Durchbruch. Alle umdrängten das junge Paar; ich sah, daß jedermann ein Geschenk brachte, gerade wie bei uns. Die Braut dagegen mußte jedes Glied des Hauses beschenken, in das sie eintrat.

Die Gaben waren alle ausgestellt. Über einem Ständer hingen auch die Kleider, die von der jungen Frau mit in die Ehe gebracht wurden. Ja, die konnten der jungen Frau wirklich für ihr Leben ausreichen! Und prächtig waren sie! Kostbare Stoffe, kunstvolle Stickereien, ich staunte nur so. Lächelnd, plappernd und fächerwedelnd bestaunten auch die Damen der Gesellschaft die Kleider; sie schienen viel Beifall zu finden.

Eine niedliche Blaue suchte mich zu unterhalten, was sehr einseitig ausfiel, ihr aber trotzdem viel Spaß zu machen schien. Sie sprach sehr laut und sehr langsam, so als ob ich taub sei, machte viel Gesten, lachte und war ganz befriedigt, wenn ich mitlachte. Den Gefallen konnte ihr die Ruth Rümelin leicht tun.

Nun kam das Festmahl. Es war urkomisch, ehe alle auf dem Boden hockten; ich mußte meine ganze Erziehung zu Hilfe nehmen, um ernst zu bleiben. Ich hockte mich zwischen der Blauen, die mich in ihr Herz geschlossen zu haben schien, und Kiku. Uns gegenüber, am selben Tisch, bemerkte ich einen jungen Mann, einen Freund des Bräutigams, der mit ihm in Berlin studiert hatte. Dieser Herr versuchte, besonders aufmerksam gegen mich zu sein, was mir sehr unangenehm war. Ein solcher Zierbengel! Er prahlte mit seinem Deutsch und tat, als ob er alles Japanische verachte. Er spricht meine liebe Sprache wirklich sehr gut; ich schämte mich meiner geringen Fortschritte in der seinen. Aber ein Mann, der sein Land und alles, was damit zusammenhängt, nicht hochhält, kann mir gestohlen werden. Ich finde es lächerlich. Wir sollen gewiß das Gute bei den anderen Völkern sehen, aber was mein Volk hat, tut, denkt und übt, braucht darum nicht minderwertig zu sein. Ich habe es ihm ein wenig angedeutet, aber wirklich sehr höflich, und bin froh darüber, denn Vaterle meinte danach, der Herr habe wohl nur aus Höflichkeit gegen mich so gesprochen; die Japaner seien im allgemeinen die glühendsten Patrioten. Wie jemand aus Höflichkeit lügen mag, begreife ich noch weniger. Ich sage immer die Wahrheit. Halt, Ruth Rümelin, solltest du nicht jetzt selber flunkern? Na, zum Gastmahl zurück!

Es gab, was ich schon kannte, und bei den Yusugura oft gegessen hatte, alle möglichen verschiedenen Dinge in einer fast unbegrenzten Anzahl von höchst zierlichen Schüsseln.

»Wie finden gnädiges Fräulein die japanische Küche?« fragte der junge Japaner.

»Man muß sich an alles gewöhnen,« sagte ich diplomatisch. »Es wird Ihnen bei uns ebenso ergangen sein.«

»Nicht die Spur! Die deutsche Küche hat mir vom ersten Augenblick an sehr zugesagt.«

»So? Ich dachte, wer nicht an Fleischkost –«

In seinem übergroßen Höflichkeitsdrang unterbrach er mich: »Ja, meine Landsleute essen freilich fast nur Fische; aber wir, die wir im Abendland Kultur kennen lernten ...«

»Ich denke, Japan ist selbst eines der ältesten Kulturländer?«

»Ich bitte, gnädiges Fräulein, sind sehr gütig, so zu sprechen; aber nennen Sie das hier Kunst?« Er wies nach einem Kakemono. »Die Nationalgalerie dagegen, oh!« Er verdrehte seine Augen, daß die Pupillen fast auf Nimmerwiedersehen verschwanden.

»Es kamen nun eine Anzahl Maiko und Geisha; sie tanzten und spielten sehr niedlich.«

Ich mußte über den jungen Japaner lachen und meine Blaue tat lustig mit. Kiku war sehr rot und heiß; sie schwieg aber und stellte sich, als verstehe sie kein Wort. Ich dachte, sie habe nicht alles begriffen. Sie sagte mir aber später, es sei nicht höflich, einem Gast zu widersprechen; sie habe sich im Haus ihrer Schwester – Haruko gehöre doch nun zu den Matsuka – nicht berechtigt gefühlt, deren Gast zu verletzen. Kann es ein feineres Gefühl geben? Und das soll kein Kulturland sein!

Zum Glück war das Mahl nun zu Ende und ich gedachte, aus des Herrn Nähe zu flüchten. Aber er heftete sich an meine Sohlen und schien für den übrigen Teil des Festes meinen Schatten vorstellen zu wollen. Auch die Blaue hielt sich dicht zu mir. Ich habe sie nun freilich im Verdacht, daß diese Anhänglichkeit zum größten Teil Herrn Akira galt.

Es kamen nun eine Anzahl Maiko und Geisha; sie tanzten sehr niedlich. Ich erzählte Herrn Akira von dem Totentanz, den wir gesehen hatten. Er aber schwärmte von der Berliner Oper.

»Was sind diese Puppen dagegen?« Ein verächtlicher Blick streifte die kleinen bunten Mädchen, die sich im Reigen drehten. Er muß aber dann doch seine Ansicht geändert haben, denn späterhin sah ich ihn bei der nettesten Geisha stehen und sein Gesicht sah dabei durchaus nicht nach Verachtung aus.

Ich ging mit Kiku in den Garten des Hauses. Bunte Lampions hingen da in Massen. Wie Edelsteine leuchteten sie im dunkeln Grün und wiegten sich leise im Nachtwind. Fröhlich, feierlich, festlich sah es aus. Sämtliche Wände des Hauses waren zurückgeschoben; man sah das frohbewegte Treiben im Innern. Gesang, Samisen- und Kotoklänge ertönten. Mein Ohr hatte sich nun schon an die japanische Musik gewöhnt und ich war froh darüber; es konnte mir den Genuß der hübschen Szene nicht stören.

Ich sprach zu Kiku von der Verschiedenheit des Geschmacks, und daß eigentlich niemand wissen könne, was wirklich schön sei, denn der Begriff von dem, was er schön finde, sei ihm anerzogen. Wortlos wies Kiku nach den Sternen.

Ich verstand, was sie sagen wollte. Um die Wunder Gottes schön zu finden, braucht es keinen anerzogenen Geschmack; da redet die innerste Natur bei den Völkern aller Zonen, aller Grade der Bildung und Kultur. Im staunenden Hallelujah vor der Wundergröße des Weltenschöpfers treffen sie sich alle. Kiku hat immer so schöne Gedanken.

Es war tief in der Nacht, als wir heimfuhren. Die niedliche Haruko ist also jetzt Frau Matsuka. Sie hat uns zum Abschied noch alle Grübchen gezeigt. Stumm fuhren Kiku und ich unter den Sternen hin, jede in Gedanken.

»Wann wirst du zur Universität gehen, Kiku?«

»Sein schon bald, Ut, schon in eine Woche.«

»Ich werde sehr allein sein, Kiku.« Trübselig sah ich vor mich hin.

Sie hat mich lieb und weich getröstet und gesagt, daß sie immer alle zwei Wochen für einen Tag daheim sein werde. Das ist wenig, aber besser als noch weniger. Dann war ich daheim und mußte erzählen. – – –

Heute ist Kiku zur Universität abgegangen. Sie hat gestrahlt und ich hätte beinahe – nein, ich habe geweint. Vaterle hat mich wieder geneckt und Mutterle mich gescholten. – – –

Ich habe geraume Weile nichts in mein Buch geschrieben. Inzwischen hat der Winter schon eingesetzt; die letzten Novembertage sind da.

Haruko ist nun schon fast ein halbes Jahr verheiratet, Kiku ebenso lange auf der Universität.

Was sage ich vom Sommer? Vaterle wollte uns einiges im Lande zeigen, Mutterle und mir. Er war aber im Ministerium so stark in Anspruch genommen, daß Woche um Woche verging, und dann war's kaum mehr der Mühe wert. Mit dem Warten und Hoffen ging die Zeit auch hin. Was ist das ganze Leben eigentlich anderes? Ruth Rümelin, du wirst zur Philosophin!

Wir hoffen nun auf den nächsten Sommer und Vaterle hat fest versprochen, eine Reise durch das Land dann unter allen Umständen möglich zu machen. Es wird unser letzter Sommer in Japan sein. Man höre und denke!

Dies ist hier schon der zweite Winter. Ein kalter dazu! Ich habe mich aber schon mehr an den Gedanken gewöhnt, daß die Leute eben einfach frieren müssen, bis es wieder anders kommt. Mit ihren Kohlenbecken, die sie überall herumschleppen, der kleinen Feuergrube in einem Wohnraum und dem wattierten Schlafsack bei Nacht überstehen sie die Kälte, so gut sie können; das muß so sein, denken sie.

Langweile habe ich aber gar nicht gehabt, trotzdem ich ziemlich allein war; diesen Begriff kenne ich nicht. Wir haben uns sehr hübsche Handarbeiten angeschafft, Mutterle und ich, und sind auch fleißig spazieren gegangen. Ich weiß jetzt in Tokio Bescheid, fast wie eine Eingeborene. Bloß mein Japanisch – uijeh! Seit Kiku sich meiner nicht mehr darin annehmen kann, liegt es im argen.

Kiku ist selig, wenn sie alle vierzehn Tage heimkommt, und Haruko zeigt immer mehr Grübchen.

Ich war recht oft bei ihr im Hause. Frau Matsuka ist sehr lieb mit mir. Aber eins muß ich sagen: ich will doch lieber einmal für meinen Mann allein sorgen, selbst auf die Gefahr hin, daß ich die Küchenzettel selber machen muß – was ich mir gräßlich denke, unter uns gesagt.

»Was tust du den ganzen Tag?« habe ich Haruko gefragt. Sie braucht ja nicht einmal Staub zu wischen.

Sie hat mich verdutzt angesehen und dann waren die Grübchen wieder da. »Mich auf Oto warten!« Auch eine Beschäftigung!

Kiku wird nicht verlegen sein um das, was sie zu tun hat. – – –

Die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr. Briefe von allen Seiten! Unsere Buben schreiben sehr froh und befriedigt, daß es nun schon das zweite Fest ohne uns ist. Noch eines und dann sind wir wieder daheim. Ob wir das wirklich erleben? Zuweilen kommt es doch wie so ein bißchen Heimweh über mich.

Die Leni schreibt glückselig. Sie scheint im Vergnügen nur so herumzuplätschern, was ich reichlich viel finde für solch ein junges Wurm.

Ruth Rümelin, kennst du die Fabel vom Fuchs und den Trauben? Diese Trauben sind süß, Ruth – wären süß, wenn – Heimweh ist wirklich keine bloße Sage.

Ein Brief von Frau Klara hat mich sehr gefreut; mein liebes Stuttgart gefällt ihr sehr. Sie bleibt mit den Kindern in Pension, bis Herr Überle wiederkommt. Frau Klara schreibt, sie freue sich darauf, mich in Stuttgart zu begrüßen. Wie mich das auf dem Papier schon anlacht! Mein geliebtes altes »Schtuegert«! Ich gehe, glaube ich, einen ganzen Tag nicht von der Königstraße weg, nur um zu wissen, daß ich wieder daheim bin! – – –

Neujahrstag heute, ein großer Festtag in Japan. Jedermann steckt in neuen Kleidern, alle Häuser sind mit Tannengrün, Bambuszweigen und Reisstroh geschmückt. Gestern, am Silvesterabend, war ein Markt, der an unsere Christmesse erinnerte. Vaterle und ich gingen hin.

Heute sind alle Straßen voll von herumziehenden Musikanten und Leuten, die in den verschiedenen Häusern etwas zum besten geben wollen. Auch zu uns sind sie gekommen. Das Vaterle hat sie fortschicken wollen, aber ich habe meine flehendsten Augen gemacht; die nützen immer.

Da ist eine Bande gekommen und hat einen greulichen Gesang losgelassen, »die bösen Dämonen für das folgende Jahr zu bannen«. Wenn ich ein Dämon wäre, so etwas bannte mich auch! Straßensänger kamen dann, Musikanten und Zauberkünstler.

»Ich glaube, sie machen es wie bei uns die Handwerksburschen; einer sagt es dem anderen, wo man ankommen kann.« Dem Vater wollte die Fülle zuviel werden; aber er ließ mich gewähren. Mir war es je mehr, desto lieber. Es war sehr lustig. Ein Zauberer zog mir ein Geldstück nach dem anderen aus der Nase. Wo die bei deren kurzer, stumpfer Beschaffenheit Platz hatten, ist mir unbegreiflich. Wie Vaterle schmunzelte! Ich bat den Mann, mir doch die Sache zu erklären, daß ich im Notfall Gebrauch davon machen könne. Mein Japanisch war mangelhaft, aber der Mann hatte auch keinen Sinn für Humor; er starrte mich nur dumm an.

Wem die Sache schließlich zu bunt wurde, das war unser alter Izakura, der Koch. Er stellte sich an der Haustür auf und trieb die Landsleute mit seinem brummigsten Gesicht in die Flucht.

»Pest über gelbe Schlingel!« rief er liebenswürdig und seine Gebärden ergänzten das weitere. Ich gab mich zufrieden; die Flut war auch mir unheimlich geworden. Das Mutterle war schon lang verschwunden und gar nicht mehr zum Vorschein gekommen. – – –

Heute, am zweiten Januar, ist hier der erste Schnee gefallen.

Er blieb aber nur ganz kurz liegen; am Abend war alles schon wieder weg. Die Japaner berechnen ihre kälteste Zeit auf ungefähr zwanzig Tage, sagt Kiku; das läßt sich aushalten. Unser Kurumaja war ganz blau, als ich heute nachmittag mit Kiku zu Haruko fuhr. Er hatte wenig mehr an als im Sommer; ich begreife nicht, wie er es aushalten kann. Aber er war lustig, als ob Sommerlüfte wehten, wie ich ihm Glück zum neuen Jahre wünschte.

Bei Haruko war es nett und behaglich wie immer, wenn man zu ihr kommt. Alle begrüßten mich gleich freundlich.

Im Vorzimmer saß ein Mann, der eifrig mit Pinsel und Tusche hantierte; er sah kaum auf, als wir kamen.

»Was tut er?« fragte ich. »Was hat er zu schreiben?«

»Er werden bezahlt, unsere Glückwünsche und Dank aufzuschreiben. Sein Dichter, tun es in Versen,« erklärte Haruko.

Mir wurden die Augen groß und weit. Daß man sich einen Dichter hinsetzt, um seine Neujahrswünsche schreiben zu lassen, habe ich auch noch nicht gehört! Japan ist eben ein Land der Überraschungen.

Der Mann sah von seiner Arbeit auf; er mochte mein Erstaunen merken. Da kramte er in seinen Papieren, nahm eine Karte und pinselte emsig darauf herum. Ich sah ihm neugierig zu. Als er fertig war, reichte er mir die Karte.

»Für mich?« fragte ich erstaunt. Er nickte. Ich schaute ziemlich hilflos darein; Kiku erbarmte sich meiner und übersetzte.

»Omedeto«, war da zuerst in großer Schriftzügen über die ganze eine Seite hin gemalt. Glückwünsche heißt es ungefähr. Dann kam der Vers; er lautet in freier Übersetzung etwa so: »Du blühest wie die Blume, und wie der Duft der Blume sei dies Jahr, von Sonnenschein erfüllt nur und von Wonne!«

Es schmeichelte mir sehr, ist auch wirklich poetisch, nicht wahr? Und galant dabei! Ich habe dem Mann sehr freundlich gedankt; er hat's verdient.

Das Vaterle hat zwar am Abend gemeint, man sollte dem Mann lieber Geld geben, wenn er nicht dichte, statt ihn dafür zu bezahlen. Ich kann das aber nicht richtig finden. Vaterle ist ein zu strenger Kritiker; es kann nicht jedermann ein Goethe sein, und wenn ein Gedicht an uns gerichtet ist, dann drückt man auch gern ein Auge zu. So denkt jeder, glaube ich.


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