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Kiku und Haruko.

Grüßen Sie, ach grüßen Sie Frau Klara noch einmal und sagen Sie ihr, daß ich immer, immer an sie denke und daß – und daß –«

Schluchzen erstickte Ruths Stimme. Sie hatte sich aus dem Fenster des Eisenbahnwagens hinausgelehnt und wandte ihr tränenüberströmtes Gesicht Herrn Überle zu, der auf dem Bahnsteig stand und dem enteilenden Zug nachsah.

Der nahm die Freunde mit. Wie nah war man sich in diesen Unglückstagen gekommen! Nichts bindet so wie geteilter Schmerz. Herrn Überle war es denn auch, als laste das Unheil doppelt schwer, wie er nun so allein stand, noch einmal winkte und sich dann wandte, in sein zerstörtes Heim zurückzukehren. Und wie würde erst seine Frau unter der Trennung leiden! Ihr bedeutete sie ein noch größeres Vereinsamen als ihm. An eine Rückkehr des verschwundenen Kindes glaubte er nicht mehr. Sie freilich klammerte sich daran mit allen Fasern ihres Mutterherzens. Er konnte ihr die Hoffnung nicht rauben. Mochte die Zeit das Ihre tun!

Die Rümelin fuhren indessen der neuen Heimat entgegen. Eine Stunde Eisenbahnfahrt sollte sie dahin bringen.

Tokio, die Haupt- und Residenzstadt Japans, liegt an der Mündung der Sumidagawa. Da deren Bucht aber für das Landen großer Schiffe zu seicht ist, dient Yokohama als Hafen für Tokio. Von der Sumidagawa aus windet sich ein Kanal in zwei großen Bogen um die Stadt. Der innere umgibt die Residenz des Mikado; dann zwischen ihm und dem zweiten liegen die Regierungsgebäude, die fremden Gesandtschaften und die Villen vornehmer Europäer. Außerhalb dehnt sich die japanische Stadt.

Vom alten Yeddo, der Stadt der Shogune, ist nicht viel geblieben. Hodschi Udschisama legte zuerst im fünfzehnten Jahrhundert an der Stelle, wo jetzt der Herrscherpalast des Mikado steht, eine kleine Festung an und vereinzelte kleine Dörfer lagen ringsum. Shogune nannte man im alten Japan die Heerführer und Machthaber des Landes. Die Macht des Mikado selbst, des eigentlichen Herrschers, war sehr beschränkt. Kein sterbliches Auge durfte den Sohn des Himmels sehen. Er saß in seinem Palast in Kioto und war fast nur dem Namen nach Herrscher des Reiches. Die Shogune aber hatten beinahe unumschränkte Gewalt.

Sie zwangen auch die Daimio, die Großen des Landes, einen Teil des Jahres in Yeddo zuzubringen. Diese bauten sich nun da Schlösser, Jaschiki genannt, und kamen mit ihrem Gefolge, den Samurai, gezogen, um eine Zeit hier zu verleben. Dieser gelungenen Ansammlung des Adels im alten Yeddo verdankt die Stadt ihre Bedeutung und Größe. Etwa dreihundert Jaschiki standen dort. Jetzt ist davon nicht mehr viel zu sehen. Als nach blutigen Bürgerkriegen die Macht der Shogune gebrochen war, machte der Mikado die Stadt unter dem Namen Tokio zu seiner Residenz. Sie nahm immer größeren Aufschwung, büßte aber durch Einführung der europäischen Kultur viel von ihrem ursprünglichen Reiz ein. Doch steckt zu viel Nationalstolz und Eigensinn in dem Japaner der bürgerlichen Klassen, als daß er sich das Fremde vollständig aufpfropfen ließe. So zeigt Tokio japanisches Leben in einem europäischen Rahmen.

»Vaterle, nun müssen wir doch bald dort sein! Ich vergehe vor Neugier. Drei Jahre an einem Ort zubringen zu sollen, ist keine Kleinigkeit. Da ist ein bissel Neugier gerechtfertigt, was?«

Die Eltern dachten wie das Töchterlein und alle standen am Fenster. Der Blick über das Hügelland war lieblich, über die weit ausgedehnten Massen von niederen Holzbauten aber etwas überwältigend. Die Stadt Tokio überdeckt ein riesiges Gelände. Neben ungemein dicht bevölkerten Teilen findet man weite grüne Parkanlagen, neben volksreichen Verkehrsstraßen grüne stille Einsamkeiten. Zunächst aber fallen die unschönen Holzbauten unangenehm auf.

»Rein wie Meßbuden,« sagte denn auch Ruth. »Und das will eine Haupt- und Residenzstadt sein?« Die Eltern dachten nicht viel anders, sagten aber nichts.

Man war auf dem Bahnhof. Ruth sprang als erste aus dem Wagen. »Was ist das?« fragte sie und lauschte.

Ein Klappern wie von Riesenkastagnetten erfüllte die Luft. Die Eltern hörten es ebenfalls, konnten aber keine Antwort geben. Sie merkten dann, daß das Geräusch vom Schuhwerk der Japaner herrührte. Sie tragen Holzsandalen, zuweilen mit zwei untergenagelten Brettchen, die beim Gehen auf dem Pflaster klappern. Ganz Japan scheint erfüllt von diesem Geräusch.

Einige Kurumaja boten ihre Dienste an. Die Rümelin wußten damit nun schon Bescheid.

»Ich nehme Nummer siebenundsiebzig, das bringt Glück.« Ruth lachte und winkte dem Betreffenden. Grinsend schob der Mann seinen Karren herbei. So fuhren sie zum Hotel, das ganz europäisch aussah, mit Kellnern in Frack und weißer Binde, Aufzug, Zentralheizung und elektrischer Beleuchtung.

»Ob wir im Hotel Marquardt in Stuttgart sitzen oder hier,« sagte Ruth sehr mißbilligend. »Deshalb hätten wir nicht über all das Wasser zu schwimmen brauchen.« Sie tat sehr empört.

»Wenn sie noch wenigstens niedliche Mädchen zum Bedienen hätten,« sagte auch die Mutter. »Ich liebe die befrackten Kellner nicht.« Ruth flog ihr begeistert um den Hals. Selten noch war die Mutter so in Übereinstimmung mit der Tochter gewesen.

»Morgen gehe ich gleich ins Ministerium und erkundige mich nach den Wohnungsverhältnissen,« tröstete Vater Rümelin. »Wir sehen dann, daß wir so schnell als möglich ins eigene Heim kommen.«

Dieser Wunsch fand rasch Erfüllung; ein hübsches, kleines, fast europäisches Haus wurde ihnen angewiesen. Es lag auch da, wo die meisten Europäer wohnen, innerhalb des zweiten Bogens des Sumidagawakanals. Die Vorderseite ging nach der Straße, die auch ganz europäisch aussah. Die Rückseite aber grenzte an das Märchenland, und zwar an das japanische. Da war ein stilles grünes Gartenreich, begrenzt von dem Kanal, der die kaiserliche Residenz umzieht. Pinien und Kryptomerien beschatteten den Rand und Lotosblüten überzogen seine Wasser.

Vater und Mutter wären einstweilen freilich noch lieber am Neckar als an der Sumidagawa gewesen. Der Vater mußte sich in das ihm Fremde mit viel Mühe einarbeiten. Die Mutter – in der Küche regierte mit großer Würde ein dürrer gelber Japaner! Er war der einzige Kochkundige, den man in dem Vermietbureau zurzeit hatte auftreiben können. Sein altersbrauner Kimono, der ihm um die dürren Waden schlug, das Handtuch, das er turbanartig um den Kopf legte, seine kriechende Höflichkeit und nicht zuletzt seine Kunst, bereiteten der armen Mutter manche schlimme Stunde. Sie war aber tapfer, die Frau Regierungsrat.

Ruth hatte gejubelt: »Wie im Hotel Marquardt, einen Chef de Cuisine! Huije, was wird die Leni sagen, wenn ich das berichte! So nobel! Und Izakura heißt er, Mutterle; denk doch!« Diese zuckte aber nur die Achseln.

Besser brauchbar erwiesen sich die beiden Dienerinnen, Haru und Sighe, niedliche, freundliche und frohe Dinger mit stets wie zum Ball frisierten Köpfen. Ihre Kenntnisse standen freilich nicht auf der Höhe ihres Putzes, aber sie hatten den besten Willen, und das war schon viel wert.

So waren die Rümelin also bereit, das neue Leben zu beginnen. Von daheim waren befriedigende Nachrichten eingetroffen. Mutters Buben schrieben heiter; infolgedessen sah Mutter Rümelin aus hellen Augen in die fremde Welt und keines Izakura eigenartige Kochkunst konnte sie dauernd verstimmen.

 

Aus Ruths Gelegenheitsbuch:

Ein Glückspilz bin ich, ein wahrer Glückspilz! Ehe ich aber erzähle, will ich nur schnell sagen, daß ein Brief von dem guten Kameraden angekommen ist. Er schreibt sehr lieb und nett; Vaterle und Mutterle sagen es auch. Er hat in Singapore alles nach Wunsch getroffen und hofft, von seinem Aufenthalt dort Nutzen zu ziehen. Er spricht wieder von seinem Besuch bei uns, und ich freue mich riesig darauf. Freilich – anderthalb Jahre dauert es noch bis dahin, aber was tut's; man hat doch immer etwas, worauf man sich freuen kann. Und im übrigen, denke ich, soll mir die Zeit jetzt fliegen, denn –

Da bin ich wieder beim Glückspilz angelangt! Kann mein lieber Leser sich auch nur im entferntesten denken, weshalb ich einer bin? Ich wette, nein und tausendmal nein! Drum sag' ich's lieber!

Also – ich habe zwei Freundinnen – Herzensfreundinnen! Seit drei Tagen kennen wir uns schon. Die Leni braucht nicht eifersüchtig zu werden, da es Japanerinnen vom reinsten Wasser sind, und das ist doch ganz was anderes als eine deutsche Freundin. Ich meine, sie gehen sehr gut nebeneinander her, so wie Hausbrot und Kuchen. Bravo, Ruth Rümelin, der Vergleich ist nicht übel. Und nun, wie es gekommen ist?

Ich hatte mir eine Hängematte ins dichteste Kryptomeriengrün unseres Gartens aufmachen lassen. Er stößt dort an einen Nachbargarten, der mit seiner Rückseite an den unseren grenzt. Von allen Gärten, die hier zusammenstoßen, war er mir der interessanteste, denn ich hatte schon gleich anfangs ein japanisches Haus drin entdeckt. Haus sage ich? Kiku würde mich schön ausschelten. Es ist eines der wenigen Jaschiki, das heißt Schlösser der Daimio, wie sie im alten Yeddo standen. Die Yusugura sind nämlich – aber ich greife vor. Ruth Rümelin, schön der Reihe nach!

Da liege ich also an einem erstickend heißen Tag – es kann unbeschreiblich heiß hier sein – in meiner Hängematte und denke an, ja eigentlich an gar nichts. Ein richtiger Schriftsteller würde sagen: Ich lag und dachte just daran, wie gar einsam ich doch hier im fremden Lande sei, weit weg von denen, die mich kennen, lieben, meine Sprache reden. Heimweh in der Brust, zum Tode betrübt, lag ich und sann. Da –

Doch nein, ich will lieber die Ruth Rümelin reden lassen. Ein bissel was Wahres war ja an dem Heimweh. Aber meines Vaters Tochter ist tapfer, und hat auch ein glänzendes Beispiel an Vaterle und Mutterle. Wie oft sehe ich, daß das Mutterle Tränen in den Augen hat, und zeigt doch immer ein frohes Gesicht, wenn Vaterle heimkommt, und auch, wenn sie meint, ich könne sie beobachten. So ein Mutterle!

Ich hatte in meiner Hängematte die Augen geschlossen. Ein leiser Wind fächelte mich an und süßer Blütenduft lag über dem Garten. Ob ich schlief? Jedenfalls hatte ich kein Bewußtsein für das was um mich her vorging. Ich glaube, ich war zu tief in Gedanken. Kiku und Haruko behaupteten nachher freilich, daß ich schnarchte, aber da greife ich schon wieder vor.

Mitten in meine tiefsten Gedanken hinein traf mich etwas an der Stirn. Ich griff schnell danach, setzte mich aufrecht, machte die Augen auf und da hielt ich in der Hand einen Lilienstengel, bedeckt mit den weißen Riesenglocken der Goldbandlilie. Alsbald flogen noch mehr durch die Luft über den Nachbarzaun, ein wahrer Blumenregen ergoß sich über mich. Die blühende Last drohte mich fast zu begraben. Ich muß nicht eben geistreich dabei dareingeschaut haben.

Ein Kichern neben mir machte mich aufsehen. Über den Zaun lugten zwei lachende Gesichter. Schlitzaugen hatten sie, es ist wahr; goldene Nadeln, Schmetterlinge und Blumen nickten über den Köpfen. Japanerinnen! Aber sie kicherten und in den Augen sprühten tausend lustige Teufelchen. Junge Mädchen wie ich! Ob ich schnell auf den Füßen war! Ich blinzelte noch ein bissel und rieb mir die Augen. Lautes Lachen tönte von drüben; ich stimmte ein. Dieser Versuchung bin ich noch immer erlegen; gemeinsames Lachen bindet wie geteilter Schmerz. Von da an waren wir Freunde.

»Ich Kiku,« sagte die Größere, im taubengrauen Kimono mit der goldfarbenen Schärpe. Sie sprach Deutsch, zwar gebrochen, aber doch Deutsch.

»Ich Haruko,« sagte die zweite rosenfarbene, wies alle blanken Zähne und zwei Schelmengrübchen. Ebenfalls Deutsch! Ich muß nicht geistreicher ausgesehen haben als zuvor.

»Ja, sprecht ihr denn Deutsch?« fragte ich, was der bewiesenen Tatsache gegenüber ziemlich überflüssig war. Sie nickten und kicherten wieder.

»Eine wenig,« sagte die Graue. »Sehre wenig,« die Rosenrote.

»Fein,« jubelte ich. »Und ihr seid Japanerinnen?«

Sie richteten sich stramm aus und nickten stolz. Ein merkwürdiges Selbstgefühl zeigten die lachenden Mienen mit einem Male.

»Woher versteht ihr Deutsch?« verhörte ich weiter.

»Wir Lehrerin haben.«

»Wie alt seid ihr?«

»Mich vierzehn,« sagte die Rote; »mich sechzehn,« die Graue.

»Da steh' ich mitten zwischen euch,« rief ich. »Und ich bin eine Deutsche« – ich reckte mich genau so stolz wie sie zuvor, warum auch nicht? – »komme von Stuttgart und heiße Ruth Rümelin.« Die Vorstellung war fertig.

»Ut Ümelin,« probierten sie mit drollig gespitzten Lippen. Wir lachten alle drei. Dann erzählten sie.

Sie heißen Yusugura und ihr Vater arbeitet im Ministerium wie der meine. Daher wissen sie auch schon von mir. Ihr Vater war als junger Mann in Deutschland, und hat deshalb auch seine Kinder Deutsch lernen lassen. Sie gehen in die Lordstöchterschule, wie sie sagen, sind aber eben auf Ferien daheim. Darum hab' ich sie zuvor in alle den vier Wochen, seit wir hier sind, noch nicht gesehen.

»Wir nach dir suchen,« erklärte die rosige Haruko. »Du schlafen und wir dich mit Blumen wecken.«

Ich ließ sie ruhig bei dem Glauben, daß ich geschlafen habe – was lag daran? – und nickte fröhlich. »Darf ich die Blumen behalten?«

»Du noch mehr haben,« rief Haruko eifrig und lief in ihren Garten zurück. Kiku blieb bei mir stehen und wir unterhielten uns unterdessen. Sie fragte, wie es mir in ihrem schönen Land gefalle.

»Jetzt werde ich es lieben,« sagte ich und sah sie dazu bedeutungsvoll an. Sie mußte mich verstanden haben, denn sie reichte mir beide Hände, und dann überschüttete uns Haruko noch einmal mit einem Blumenregen. Ich raffte zusammen, was die Arme faßten. Zugleich rief Mutterle nach mir. Wir gingen also auseinander mit dem Versprechen, treue Freunde zu sein.

Ich bin jetzt sehr glücklich und die Eltern sind es mit mir. Vaterle kennt Herrn Yusugura; er sagt, er sei aus sehr guter alter Familie und bekleide einen hohen Posten im Ministerium. Bin ich nicht wirklich ein Glückspilz?

Ich war auch schon bei den Yusugura! In einem wirklichen japanischen Hause! Das ging so zu. Ob ich es richtig schildern kann? Ich will's versuchen.

Ein paar Tage, nachdem wir uns immer nur im Garten gesehen und gesprochen hatten, kamen Kiku und Haruko in ihrer Kuruma angefahren. Sie haben nämlich eine zweisitzige; die ist ihr Privateigentum, ebenso wie Nomura, der Kurumaja. Ist das nicht nett?

Glücklicherweise waren wir alle drei daheim; so konnten Vaterle und Mutterle meine Freundinnen gleich kennen lernen. Sie haben sich gegenseitig sehr gefallen. Wenn die Kimono nicht wären – Kiku war diesmal in Lila, Haruko in Blaßgrün – ihrem Benehmen nach könnte man die beiden für Europäerinnen halten, so anmutig verbeugten sie sich und sprachen so niedlich lebhaft und fein.

Dazu das drollig gebrochene Deutsch! Sie sind wirklich allerliebst; sie würden Leni auch gefallen, das weiß ich gewiß. Sie luden mich im Namen ihrer Eltern ein, sie am folgenden Nachmittag zu besuchen und bis zum Abend zu bleiben. Ob ich strahlte! Mutterle sagte: »Wenn Ruth will, habe ich nichts dagegen. Es ist zu freundlich von Ihren Eltern.«

»Mein Eltern sehre froh sein, Ut kennen zu lernen,« erwiderte Kiku, und Haruko nickte vergnügt.

Ich war im siebenten Himmel und führte nun die beiden mit in mein Zimmerchen.

»Seht ihr, ich habe mich ganz japanisch eingerichtet. Imitation ist the best compliment, sagt der Engländer.«

Sie lachten und blickten einander schelmisch an. Ich habe es gut gemerkt. Weshalb wohl? Ich verstand es damals nicht. Jetzt aber weiß ich's, nachdem ich ihre Zimmer gesehen habe. Aber ich verrate einstweilen nichts.

Sie blieben nicht lange. Ich begleitete sie zu ihrer Kuruma; Vaterle kam mit und half ihnen hinein. Vaterle war immer nett mit meinen Freundinnen; sie schwärmen auch alle für ihn. Ein paar Leute auf der Straße blieben stehen, um zuzusehen; es schien Aufsehen zu erregen. Ich staunte. Kiku hat mir dann erklärt, daß der Japaner im allgemeinen wenig Aufmerksamkeit für die Frauen übrig hat; es erscheint ihm unter seiner Würde. Kiku sagt aber auch, daß es schon viel besser geworden ist, seit die fremden Sitten Eingang gefunden haben.

Ich winkte noch lange hinter der Kuruma her und ging dann ins Haus. Wie lang mir der Tag wurde und der Vormittag des nächsten, brauche ich kaum zu erwähnen. Mutterle neckte mich viel. Aber es wurde endlich doch vier Uhr und ich machte mich auf den Weg. Unsere Sighe ging mit bis zur Nebenstraße, wo die Yusugura wohnen.

An einer kleinen Pforte, zwischen zwei niederen, langgestreckten Holzbauten blieb sie stehen; wie Scheunen sahen letztere aus. Konnten die Yusugura hier wohnen? Aber Sighe hatte schon an eine Metallscheibe geschlagen, die da hing, machte mir nun eine tiefe Verbeugung und ging.

Ich wartete, was für einen Erfolg der hallende Ton haben werde, und mein Herz pochte sonderbar. Woher das kam? Scheu ist meines Vaters Tochter eigentlich nie gewesen.

Bald ertönten trippelnde Schritte von innen. Es kicherte jemand, die Tür ging auf und ich sah in Harukos Grübchengesicht.

»Du sehre willkommen,« sagte sie. Da kam auch schon Kiku geeilt und begrüßte mich. Dann zogen sie mich eilig mit sich fort. Aber ich machte mich los und sah mich erst einmal um. Es war doch zu interessant.

Was ich sah, war wirklich der Mühe wert. Die niederen Holzbauten, die an die Straße grenzten, ließen so was freilich nicht ahnen. Das war ja wie im Feenland! Ein weiter Rasengrund breitete sich aus; schlanke Pinien und ehrwürdige Kryptomerien beschatten ihn. Mit Blüten bedeckte Boskette und leuchtende vielfarbige Blumenfelder belebten das Bild. Über einen kleinen See inmitten spannte sich in hohem, kühnem Schwung eine leichte Brücke. Ein Geranke von lila Glyzinen kletterte am Geländer empor, schlang sich von da zu den Nachbarbäumen und stieg an den alten düsteren Riesen bis zur Krone, daß sie ganz jugendlich dareinschauten. Eine solche Blütenfülle schien mir kaum glaublich. Ich habe dann auch den Stamm dieser Glyzine gesehen. Er war wie der einer mäßig starken Buche.

Ich stand und staunte; Meine Augen wurden immer größer. »Das ist ja wie im Märchen!« Ganz andächtig sagte ich es und dämpfte unwillkürlich die Stimme. Kikus und Harukos Augen leuchteten. Sie freuten sich meines Staunens.

»Du Blumen lieb haben?« fragte Haruko. »Mich sehre!«

»Und ob,« sagte ich und war ganz benommen. »Von solcher Üppigkeit macht man sich bei uns einfach keine Vorstellung.«

»Japan sein wunderschöne Land,« erklärte Kiku stolz.

Ich nickte nur. Anderes beschäftigte mich. Jenseits des kleinen Sees war mir plötzlich das Haus ins Auge gefallen. Es standen noch andere kleinere Bauten unter den Bäumen verstreut, Vorratsräume und Dienerwohnungen, wie ich später hörte; aber dies hier mußte das Wohnhaus sein.

Es war ein zweistöckiger Holzbau, wie die anderen japanischen Häuser alle. Aber das sonderbar geschweifte Dach und das besonders schön gearbeitete Holzwerk zeichneten es aus. Man sah sofort, es war die Behausung gut gestellter Leute.

Jaschiki heißt eigentlich Schloß. Wer sich aber darunter eins mit Zinnen und Türmen denkt, der ist bös angeführt. Eine Galerie zog sich rings um das »Schloß«; ihre Säulen trugen im oberen Stockwerk leichte Balkone, die mit blühenden Pflanzen bestellt waren. Eine Wirrnis von Kletteretterrosen spann sich darüber hin. Im unteren Geschoß waren Vorder- und Rückwand weggeschoben, so daß man durch und durch sah. Ein weiter luftiger Raum schien das Ganze.

Wir gingen die Stufen zur Galerie hinauf. Drei zierliche Dienerinnen eilten auf uns zu und verbeugten sich fast bis auf den Boden. Ich dachte, es sei die gewöhnliche Begrüßung. Aber das Mädchen vor mir faßte meinen Fuß, und ehe ich wußte, wie mir geschah, hatte sie meine Stiefelchen ausgezogen; ich stand in Strümpfen da. Ich war zu verdutzt, Widerstand zu leisten, sah aber sicher recht albern aus, denn Kiku und Haruko lachten ein bißchen.

»Wir das tun wegen Matten,« sagte Kiku entschuldigend.

Jetzt sah ich, daß der Boden des weiten Raums mit dicken, weichen, lichtgelben Matten belegt war. Kein Wunder, daß die wie geblasen aussahen – kein Stäubchen oder Sandkörnchen war darauf zu sehen, – weil man sie immer nur in Strümpfen betreten durfte! Mir war es aber doch ein bißchen ungemütlich und ich nannte es im stillen eine alberne Mode. Gesagt habe ich aber nichts.

Jetzt kam eine Dame aus dem hinteren Teil des Gartens über die Stufen der Galerie. Sie trug einen violetten Kimono mit goldfarbiger Stickerei.

»Hier Mutter,« sagten Kiku und Haruko wie aus einem Mund. »Und dies Ut!«

Frau Yusugura sah mich sehr freundlich an, gab mir die Hand und sagte etwas Japanisches. Ich neigte mich so tief, wie es Kiku und Haruko vor dem Mutterle getan hatten. Die Leni hätte gelacht; aber man muß doch zeigen, daß man weiß, was sich schickt.

»Mutter sagen, du sehre willkommen,« übersetzte Kiku. Ich verneigte mich noch einmal. »Ich bin so froh, kommen zu dürfen,« sagte ich. Sie übersetzte wieder.

Haruko hatte mittlerweile mehrere Kissen zusammengeschleppt, die im Raum verstreut lagen als einziges Mobiliar außer ein paar großen Vasen auf Bronzeständern, die an den Wänden entlang verteilt waren. Auch auf dem Boden standen ein paar.

»Mich Blumen hinein füllen,« sagte Haruko, wies nach den Vasen, und sah sehr stolz aus. Mir schien das nichts Besonderes, aber Kiku erklärte mir später, daß dies in Japan immer nach gewissen Regeln geschehe und ein recht schwieriges Studium sei.

Frau Yusugura hatte sich mittlerweile gesetzt; das heißt, sie hockte auf dem Boden auf den Matten, hatte ein Kissen herangeschoben und lehnte sich dagegen. Man läßt sich in Japan nämlich auf die Kniee nieder und sitzt dann auf den untergeschlagenen Beinen. Recht unbequem ist das freilich, aber jedermann tut's. Des Ulks halber hatte ich es mir eingeübt, als ich es Izakura, Haru und Sighe tun sah. Es kam mir jetzt zugut, als mich Frau Yusugura an ihre Seite winkte. Ganz vergnügt hockte ich mich daneben. Sie lachte mich freundlich an. Aber was machte ihr Gesicht nur so sonderbar? Jetzt wußte ich's. Sie hatte die Augenbrauen wegrasiert und kohlschwarze Zähne!

Vaterle sagt, die verheirateten Frauen tun das in Japan, um keinem anderen Mann mehr zu gefallen. Abscheulich, was? Ich heirate keinen Japaner! Wir hockten also alle auf dem Boden und mir kam es vor, als sei ich schon immer hier gewesen. Frau Yusugura lachte mich an und ich sie, Kiku und Haruko plapperten darauf los und übersetzten nach beiden Seiten hin. Es war riesig gemütlich.

Da schob sich mit einem Male die Seitenwand zurück – es gibt in Japan weder Türen noch Fenster, nur verschiebbare Wände – und herein humpelte ein uraltes, verhutzeltes Mütterchen. Es war Kikus und Harukos Großmutter, Herrn Yusuguras Mutter. Sie trug einen dunkelblauen Kimono und vom Mund hing ihr – ja jetzt kommt was Komisches! – ein kleines silbernes Tabakspfeifchen. Wirklich und wahrhaftig, ein Tabakspfeifchen! Sie sah mich immerzu an, erst gar nicht sehr freundlich. Ihre kleinen funkelnden Augen haben etwas Scharfes und Durchdringendes. Mir war recht beklommen. Als ich aber mit Kiku und Haruko aufsprang und mich tief wie diese neigte, da wurde das Runzelgesicht viel freundlicher. Sie nickte mir zu und murmelte Frau Yusugura ein paar Worte zu. Kiku erzählte dann, sie habe gesagt – doch das wiederhole ich lieber nicht. Eitel sein, ist lächerlich, sagt das Mutterle.

Eine Dienerin war hinter der alten Frau hereingekommen und trug einen Holzkasten, den sie vor uns auf die Matten stellte. Ein Gefäß mit glühenden Kohlen und ein zweites verdecktes war darin. Wozu, sollte ich gleich sehen.

»Tabako bon,« sagte die alte Dame und schob mir den Kasten hin. Sie sah mich dazu auffordernd an und ich muß recht dumm und hilflos dreingeschaut haben.

»Du rauchen?« fragte Kiku und schmunzelte.

»Nee,« sagte ich erschrocken. »Du?« Sie lachte, schüttelte aber den Kopf.

Aber Frau Yusugura hatte mit einem Male auch ein winzig kleines silbernes Pfeifchen, wie die Großmutter. Sie füllte erbsengroß Tabak in den winzigen Kopf, entzündete ihn an den Kohlen und dampfte lustig darauf los. Nach wenigen Zügen war das Pfeifchen leer, wurde ausgeklopft und verschwand wieder. Nur die Großmutter füllte ihres frisch, nachdem sie zuvor in das verdeckte Gefäß gespuckt hatte! Dazu also war das da. Sie schien auch gar nicht zufrieden, daß Frau Yusugura schon genug hatte.

In Japan raucht fast jedermann, sagt Kiku, seit die Portugiesen zu Ende des sechzehnten Jahrhunderts den Tabak einführten. Es ist aber kein Dauerrauchen wie bei uns, wo die Herren immer in einem greulichen Dampf sitzen – Vaterle nämlich auch – sondern nach zwei, drei Pfeifchen wird aufgehört und später wieder angefangen. Kiku sagte auch, daß ihre Mutter überhaupt nur raucht, wenn die Großmutter zugegen sei. Diese halte darauf, weil es für sie althergebrachte Sitte und darum ehrwürdig sei.

Rauchen finde ich für Frauen häßlich, und ich sehe auch nicht ein, weshalb eine Sitte, die an sich nicht ehrwürdig ist, es sein soll, bloß weil sie alt ist. Das habe ich mir aber nur gedacht. Man muß nicht alles aussprechen, was einem durch den Kopf geht, sagt Mutterle.

»Du Haus sehen?« fragte Kiku nach einer Weile.

Wie elektrisiert sprang ich auf. Aber natürlich! Nun würde doch erst das Wahre kommen; hier unten, das war ja nur ein leerer Raum, wohl so eine Art Versammlungshalle, dachte ich. Ich war auf die Einrichtung oben begierig.

Ja, Essig! Ich will sagen, ich hatte mich getäuscht.

Wir gingen die wundervoll blank polierte Treppe hinauf. Im Obergeschoß waren die trennenden Wände nicht fortgenommen. Aber so viele wir auch zurückschoben, in wie viele Räume wir auch traten, nirgends eine Spur von Möbeln! Nur kleine Ständer und große Vasen wie unten, sonst nichts, rein nichts! Aber Matten überall, da und dort ein paar bunte seidene Kissen.

»Ja, habt ihr denn gar keine Möbel?« Mein Erstaunen war zu groß, als daß ich hätte schweigen können.

Kiku und Haruko lachten. »Wir nichts brauchen!«

»Und keine Betten? Wo ums Himmels willen schlaft ihr denn?« Voll Mitleid fragte ich's; mein Bett ist mir nämlich sehr wichtig.

Da nickten sie, warfen mir einen lustigen Blick zu und verschwanden durch eine Seitenwand. Ehe ich mich aber von meinem Staunen erholt hatte, waren sie wieder da. Jede trug ein Bündel, das sie vor mir auf den Boden warfen. »Hier Betten sein!«

Im Nu war entfaltet, was sie herbeigeschleppt hatten. Sie legten sich kichernd probeweise auf den Boden, auf eine schmale Matratze, und hüllten sich in seidene Steppdecken. Unter den Hals schoben sie eine Art kleinen Holzkasten, der einen Einschnitt für den Nacken hatte und mit einem Kissen belegt war. Sonst lag der Kopf frei.

»Und so schlaft ihr?« Ich muß entsetzt ausgesehen haben, denn sie lachten.

»Wir nichts anderes kennen,« sagte Kiku dann ernst und ich war beschämt. Das ist doch sicher die Erklärung für vieles, was uns bei anderen Sitten und Gebräuchen sonderbar vorkommt. Sie werden mein Bett genau so seltsam finden wie ich ihre Schlafanstalt.

Wenn ich übrigens bedenke, wie viel Arbeit, Ärger und Plage, nicht zu reden von den Kosten, sich der Japaner dadurch spart, daß er sich mit so wenig Hausrat belastet und dies Wenige auch noch wegpackt und nur zum Gebrauch herbeizuholen pflegt! Ich heirate vielleicht doch einen Japaner! Jetzt weiß ich auch, weshalb Kiku und Haruko über meine »japanische« Einrichtung verstohlen schmunzelten. Das hätte Vaterle billiger haben können!

Auch das finde ich praktisch, daß man die Innenwände des Hauses nach Bedürfnis verschieben kann. So vermag man, wie man's just nötig hat, einen großen oder kleinen Raum herzustellen, einen Tanzsaal oder einen Schmollwinkel. Praktisch, was?

Die Küche ist der einzige feststehende Raum, und selbst da ist der Herd beweglich. Alles wird auf kleinen tragbaren Feuerkästen gekocht. Die Japaner sollen sogar sehr schmackhaft kochen, sagt Vaterle, der schon bei einem Kollegen vom Ministerium zu Gast war. Wenn mich doch auch jemand einladen wollte!

Viel Geschirr steht in der Küche nicht herum. Das kramen sie weg wie alles andere. Mir fiel noch was auf.

»Wo sind denn eure Öfen? Es soll im Winter ja recht kalt sein.« Man sah nämlich weder einen Ofen noch einen Kamin.

»Hibachi,« sagte Kiku und wies nach einem Kasten mit glühenden Kohlen. »Sein wundervoll warm.«

Na, ich danke! Dabei kann man sich ja alle Glieder erfrieren! Gesagt habe ich das nicht, nur gedacht. Ich werde klug!

Zu sehen gab's weiter nichts im Haus. Ja doch! In dem Raum, wo Frau Yusugura und die Großmutter noch immer saßen, führte mich Kiku vor eine Nische, die ich zuvor gar nicht bemerkt hatte.

Es scheint der geheiligte Raum des Hauses, wo sie beten, denn hier ist der Hausaltar, der »Butsuma«, aufgestellt. Dies ist ein kleiner Schrein von köstlicher Lackarbeit. Seine Türchen sollen Tempeltoren nachgebildet sein. Ich fragte nicht, was drin sei. Vaterle erzählte nachher, meistens berge er ein kleines Buddhabild, oder auch nur Gedenktäfelchen mit den Namen lieber Verstorbener. Ich finde das schön und hab's auch gesagt. Wenn ich etwas loben kann, tu ich es immer.

»So schlaft ihr?«

Auch schöne Vasen, hübsch gefüllt, standen hier. An der Wand hingen schmale lange seidene Streifen, auf die Bilder gemalt und gestickt waren.

»Kakemono,« sagte Kiku und wies darauf hin. »Vater viele wunderschöne haben. Sie dir einmal zeigen.«

Ich bin's zufrieden. Ich soll also auch den Vater kennen lernen. Wie nett meine japanischen Freundinnen sind! Vaterle erklärte mir später, daß die vornehmen, reichen Japaner viel solcher Kakemono besitzen, wie bei uns die reichen Herren Gemäldesammlungen anlegen. Der Japaner packt aber seine Kakemono weg und wechselt häufig die an den Wänden hängenden.

Wir standen nun auf der Galerie an der Rückseite des Hauses. Ich jubelte auf: »Was für einen reizenden Puppengarten habt ihr da!«

Im Viereck dehnte sich vor uns ein kleiner Ziergarten. Angelegt war er wie eine großartige Landschaft, nur alles »Liliput«. Ein Wasserfall, der über Felsen stürzte, ein lotosbewachsener Teich, ein Bächlein, über das zierliche Brücken führten, ein kleiner Tempel, rosenbewachsene Teehäuschen, und überall zwerghafte, sonderbar verkrüppelte Bäume.

Sie lachten alle. Ich merkte, daß es meinem »Puppengarten« galt. Kiku hatte es Mutter und Großmutter übersetzt. Ich wurde ein wenig heiß und rot; niemand wird gern ausgelacht. Außerdem sah ich nicht ein warum. Was für einen anderen Zweck konnte die Spielerei da haben? O, Ruth Rümelin!

Es scheint, die Japaner legen großen Wert gerade auf diese Gärten. Wer irgend kann, legt sich einen an, und dann meist vor dem Wohnraum, daß man ihn von da aus beständig überschauen kann. Oft sind diese Gärtchen berühmten Gegenden nachgebildet, und die zwerghaften Bäume sind besonders künstlich gezüchtet. Sie sind oft hundert Jahre und mehr alt und doch kaum über einen Meter hoch. Das Wachstum wird absichtlich zurückgehalten. Ich kann einer solchen Spielerei keinen Geschmack abgewinnen. Für mich ist ein Baum eben gerade schön, wenn er hochgewachsen und breitkronig ist. Na, de gustikum, oder wie das Ding heißt! Ich sage nichts weiter.

Sighe kam dann, mich zu holen. Ich verabschiedete mich schnell und bedankte mich vielmals. Ich habe diesen ersten Einblick in ein japanisches Heim wirklich sehr genossen, und Kiku und Haruko sind einfach süß! – –

Ich schreibe einen Brief von Frau Überle ab, über den ich viel geweint habe. Die Arme, die Ärmste! Wenn ich ihr doch helfen könnte!

»Liebe Ruth! Du schreibst mir so lieb und teilnehmend, immer und immer wieder. Ich muß Dir einmal antworten, obgleich ich es nicht gern tue. Denn was ich zu sagen habe, ist traurig und Du bist jung, solltest lachen und nur Frohes sehen im fremden Land, wo Du Dich heimisch machen mußt. Von unserem Kind haben wir noch immer keine Spur. Die Polizei hat das Nachforschen ganz eingestellt. Auch mein Mann hat keine Hoffnung mehr; ich sehe es an seinem Blick. Ein Mutterherz hofft weiter! Ich weiß, daß ich mein süßes Kind noch einmal sehe. Ob freilich auf Erden? Maiblümchen und Schneeglöckchen sind wohlauf. Ihr Lachen und Plaudern macht das Haus hell und mein Herz trübe. Ich gebe mir Mühe, es niemand merken zu lassen. Was können die Kleinen dafür, daß ein Kinderherz so leicht vergißt! Grüße Deine lieben Eltern sehr. Ich vergesse nie, was ihr alle mir in jenen ersten Schreckenstagen waret! Wen Gott liebt, dem gibt er gute Freunde. O, mein Kind, meine süße kleine Iris! Leb wohl, Ruth! Sei nicht zu traurig um mich! Alles heilt, auch die tiefste Wunde und das zerrissenste Herz. Die Zeit ist der gewaltigste Arzt und macht auch den Ungebärdigsten still. Deine Freundin

Klara Überle.«

 

Ist der Brief nicht furchtbar traurig? Ich glaube, ich kann nie wieder froh werden. Ich hätte ja sonst kein Herz, und Ruth Rümelin hat eins, ein warmes sogar. – – – – –

Du lieber Himmel, das habe ich vor acht Tagen geschrieben, und heute?

Es war ein wunderschöner Tag! Ich wäre das undankbarste Geschöpf, wenn ich das nicht eingestehen wollte. Lachen mit den Frohen und weinen mit den Traurigen, so steht's, soviel ich weiß, schon in der Bibel. Das will auch die Ruth Rümelin tun und Mutterle sagt, das sei das rechte. Was würde es übrigens der armen Frau Überle nutzen, wollte ich jetzt immer den Kopf hängen lassen. Gewiß, ich denke oft an sie; aber wenn etwas Vergnügtes kommt, dann kann ich den Kopf nicht abwenden. Mitlachen habe ich noch immer müssen, wenn andere lachten; und wie haben wir gelacht! Das kam so!

Frau Yusugura hatte mich durch Kiku und Haruko einladen lassen, sie wieder an einem Nachmittag zu besuchen und bis zum Abend zu bleiben, um Herrn Yusugura kennen zu lernen. Ich sollte bei ihnen essen, mein größter Wunsch! Zwei Tage lang übte ich mich zu Hause im Hocken nach japanischer Art. Mutterle schalt zuletzt und nannte mich albern. So sehr es meine Würde kränkte, ganz unrecht hatte das Mutterle nicht.

Heute war also der große Tag. Da mich die Ungeduld schon seit dem frühesten Morgen umhertrieb, hatte mich das Mutterle an allerhand Arbeit geschickt. Wie ich aber eben ansetzte, einen Flicken aus einem Damasttuch herauszuschneiden, statt einen Stopf zu machen, da jagte sie mich fort, wegen Gemeingefährlichkeit, wie sie sagte.

»Lies mir im Wallenstein weiter, wir stehen am vierten Akt schlug Mutterle vor. Ich tat's. Aber ich schnatterte die wundervollen Szenen herunter, als ob ich einen Kursbericht aus der Zeitung läse, was ich für Vaterle zuweilen tun muß. Da nahm mir Mutterle den Schiller aus der Hand und sagte, es sei Sünde, des Dichters Werk so jämmerlich vorzutragen. Beschämt schlich ich in mein Zimmer. Sehr schnell war ich in meinem weißen Kleid, und als Sighe kam, mir zu sagen, daß es Zeit sei, mußte sie zweimal klopfen! Ob ich geschlafen habe?

Als ich diesmal an Yusuguras Pforte stand, hatte ich kein bissel Herzklopfen. Es war das erste Mal also doch nur ganz gewöhnliche Angst gewesen, Ruth Rümelin.

»Da du sein! Da du endlich sein!« Die Pforte tat sich diesmal auf, noch ehe ich an die Metallscheibe hatte schlagen können. Kiku und Haruko mußten auf mich gewartet haben. »Willkommen! Du sehre willkommen!« Man sah es ihren strahlenden Mienen an, ich war hier wirklich von Herzen willkommen.

»Wie ein kleines Kind auf Weihnachten, so hab' ich mich auf den heutigen Tag gefreut!« rief ich in hellem Jubel.

»Was Weinaten sein?« Haruko öffnete die Äuglein weit.

Ich platzte los: »Menschenkind!« Da fiel mir ein, daß Haruko ja zu Buddha betete und nichts vom Christenglauben wußte. »Es ist eins unserer schönsten Feste,« sagte ich darum nur. »Ich erzähle euch später davon.«

Wieder begeisterte mich die Schönheit dieses Erdenfleckchens. Noch mehr Blumen schienen heute zu blühen. Eine märchenhafte Farbenfülle, märchenhafter Duft! Ich konnte mich nicht satt sehen. »O, wie schön, wie schön!«

Aber Haruko zog mich ungeduldig am Kleid. »Du mit in Zimmer kommen. Wir Scherze machen wollen!« Sie zeigte all ihre Grübchen.

»Ut erst Blumen sehen,« verwies Kiku. Sie ist viel ernster und gemessener als Haruko; ich mag sie aber doch sehr gern.

Für einen Scherz ist nun meines Vaters Tochter immer zu haben. Ich faßte Haruko sofort unter dem Arm. »Was gibt's? Beichte!«

»Du sehen,« sagte sie schelmisch und zog mich dem Haus zu.

Diesmal war die Vorderwand nicht zurück geschoben; man sah also nicht ins Innere. Unaufgefordert hatte ich meine Stiefeletten von den Füßen, flinker als die anderen ihre Sandalen abstreiften. »Seht ihr, ich bin schon eine halbe Japanerin.« Ich war sehr stolz. Sie lachten mich an.

»Du sollen gleich noch mehr sein.« Haruko sagte das und ich besann mich, was sie meinen könne. Bald sollte ich's wissen.

Wir stiegen über die blank polierte Treppe. In dem Raum, wo Kiku und Haruko schlafen, lagen auf den Matten allerhand Kleidungsstücke ausgebreitet.

»Was sollen diese?« fragte ich erstaunt. »Wollt ihr euch umziehen?«

»Du sollen haben, du sollen Japanmädchen sein,« rief Haruko mit Lachen und Strahlen.

Kiku sagte: »Eltern bitten, du uns machen Freude, Kleider nehmen. Anziehen, bitte; du sollen heute Japanerin sein.«

Ich stand starr. Für Maskeraden und dergleichen hatte ich schon immer eine ungewöhnliche Vorliebe, und dies hier war mehr! Ich sollte den wundervollen Anzug behalten? Wenn ich nur Kiku auch richtig verstanden hatte!

Es kamen mir plötzlich Zweifel. Aber das würde sich ja aufklären; ich ließ es am besten einstweilen auf sich beruhen. »Also los!« rief ich lustig und Bluse und Rock lagen schon am Boden. Ich griff nach dem Kimono, der für mich bestimmt war, aber Kiku nahm ihn mir wieder. Die Sache sollte ganz methodisch vor sich gehen. Das war mir denn doch fast etwas zu umständlich. Aber, wer A sagt, muß B sagen. Kiku und Haruko waren meine Zofen.

Zuerst wand mir Kiku eine Art Handtuch aus weichem weißem Baumwollstoff um die Hüften. Darüber kam ein sehr eng anliegendes Gewand genau vom Schnitt des Kimono aus rosa Seidenkrepp. Es heißt »Dschiban« und vertritt unser Hemd. Im Winter tragen die Japanerinnen noch ein zweites solches Gewand, das »Schitagi« genannt wird. Ich hatte aber mit dem Dschiban genug, denn es war grausam heiß zwischen den geschlossenen vier Wänden. Ich begriff, weshalb die Japaner ihre Hauswände, worin sie weder Fenster noch Türen haben, immer zurückschieben, sich frische Lust zu verschaffen.

Nun kam der Kimono an die Reihe. Er war entzückend, aus hellblauer Brokatseide mit Kirschblütengeranke durchwirkt. Ich hielt den Atem an. »Das soll ich tragen?«

»[Du] lieber andere Farbe?« Kiku zog mich vor einen Wandschrank. Kimono in allen Farben und Seidenarten hingen darin, vom dicksten Brokat bis zum dünnsten Krepp. Die vornehme Japanerin treibt darin großen Luxus, soweit sie überhaupt noch japanische Tracht trägt. Die meisten tun es freilich im eigenen Hause, sagt Kiku, die Yusugura auch. Ihr Vater hält darauf; er ist vollständig Japaner geblieben, trotz der europäischen Reformen, die er mitmachen muß, weil er zu Hofe geht.

»Du wählen,« sagte Kiku, und ich sah staunend die Pracht. Du lieber Himmel, was waren meine paar Fähnchen dagegen! Aber ich bin doch bei dem blauen Kimono geblieben. Sie hatten ihn ja für mich gewählt und er war der schönste von allen.

Bald hatte ich ihn um. Aber Haruko streifte ihn mir wieder ab.

»Erst müssen Haare machen,« bedeutete sie.

Nun kam etwas, auf das ich nicht eingegangen wäre, hätte ich das, was meiner harrte, im voraus geahnt. Die armen Japanerinnen! Solche kunstvolle Frisuren! Über eine halbe Stunde zog und zerrte, bauschte, puffte und steckte Haruko an meinem armen Kopf herum. Du lieber Himmel, ich war ganz dösig!

»Und das tut ihr alle Tage?« fragte ich kläglich.

Sie lachten mich an und schüttelten den Kopf. »Sweimal,« sagte Haruko.

Ich fuhr entsetzt auf. »Auch noch zweimal im Tag? Einfach gräßlich!«

»Sweimal Woche!« berichtete Kiku.

Ich staunte noch mehr. Nun erklärten sie mir die Sache. Die Frisuren der Japanerinnen sind so umständlich und kunstvoll, daß sie nicht jeden Tag gemacht werden können. Daher kommt es, daß sie nachts das Holzkästchen unter den Nacken schieben, wodurch der Kopf frei bleibt. Die armen Dinger! Da ist mir mein einfacher Haarknoten doch lieber.

Von diesen kunstvoll getürmten Puffen, Wellen und Tuffen macht man sich aber auch gar keinen Begriff. Und die Schmucksachen darin! Blumen, Nadeln, Schleifen, Kämme, Spangen und Bänder. Es scheint fast unmöglich, alles anzubringen. Aber immer ist's geschmackvoll und immer steht's hübsch zu Gesicht. Jedes Alter hat seine Frisur, Kinder und Schulmädchen ganz einfach; mit den Jahren steigt dann der Anspruch. Ein Wunder von Kunstfertigkeit soll die Brautfrisur sein. Das sagte Haruko und zeigte dabei all ihre Grübchen.

»Mich sie auch haben,« sagte sie schelmisch; sie will nämlich heiraten. Ich glaube, das kann hier jedes Mädchen; die Eltern machen es unter sich aus.

»Und Kiku?« fragte ich. Die sah mich ernst an, wie fast immer.

»Mich Medizin studieren, Armen Menschen helfen.« Ich wollte etwas fragen, aber sie unterbrach mich: »Du schnell machen jetzt. Sonst nicht fertig, wenn Vater kommen.«

Natürlich, die alberne Frisur! Aber nett sah ich aus. Kiku hielt mir einen Spiegel vor. Ganz japanisch war ich; ein Schmetterling wippte mir gerade über der Stirn und allerhand Nadeln guckten hinter den Ohren vor.

»Jetzt Obi!« sagte Kiku. Sie und Haruko brachten erst eine leichte Schärpe aus Krepp, die Falten des Kimono zusammenzuhalten. Dann kam der »Obi«. Das ist ein sehr langes und etwa einen drittel Meter breites Stück Seide, das zusammengefaltet und um die Taille gewickelt wird. Der Obi ist bei der japanischen Frauentoilette von großer Wichtigkeit und stets so kostbar, als es die Mittel der Trägerin nur irgend erlauben. Ich denke mir, es gibt in Japan Obinarren, wie es bei uns Blusennarren gibt, wozu ich selber zähle.

Ich sah ganz wehmütig zu, als sie mir den Obi umwickelten. Meine schöne schlanke Taille, auf die ich, unter uns gesagt, nicht wenig stolz bin! Der Leni hab' ich's nicht zugegeben, wenn sie mich damit neckte, aber die Wahrheit über alles!

Kiku und Haruko hatten mir also so zehn bis zwölf Lagen der schweren Seide über den Magen gewickelt und aus den Enden rückwärts eine kunstvolle Schleife gebunden. Über die Falten vorn legten sie mir, um sie zu halten, ein schmales dehnbares Seidenband, das mit fein gearbeiteten Goldschließen geschlossen war, das »Obi-dome«. Jetzt war ich fertig.

Nein doch! In die Falten des Obi, die samt den weiten Ärmeln als Taschen dienen, schoben sie mir noch eine Anzahl viereckiger Papierblättchen – Taschentücher! Dann Schmink- und Puderdose, ein Spiegelchen, Kämme und Nadeln fürs Haar! Die echte Japanerin trägt auch noch ihre Rauchutensilien mit herum. Damit verschonten mich aber Kiku und Haruko.

An die Füße hatten sie mir statt meiner Strümpfe eine Art Socken gezogen, daran ein besonderer Behälter für die große Zehe vorgesehen ist. Die »Geta«, Sandalen mit untergenagelten Brettchen, standen für meinen Straßengebrauch bereit. Die Japanerin war fertig! Ich konnte mich wirklich kaum vom Spiegel trennen, so »echt« sah ich aus, nachdem sie mir auch noch einen Fächer in die Hand geschoben hatten.

»Nun aber flink hinunter!« rief ich und eilte über die Treppe. »Ich muß mich zeigen.« Auf die anderen wartete ich gar nicht.

O Schreck! Die glatte Treppe, der enge lange Kimono, die ungewohnten Socken, oder alles zusammen brachte mich zu Fall. Ich kam ins Gleiten und Stolpern. Aber ehe ich richtig fiel, hatte mich jemand gepackt und hielt mich sehr fest.

Ich hatte im Entsetzen die Augen geschlossen, als das Rutschen losging. So'n bissel wie der Vogel Strauß. Als ich mich nun fest verankert fühlte, machte ich sie wieder auf und sah dicht bei mir ein fremdes, lachendes japanisches Männergesicht! Wahrhaftig, ein Japaner hielt mich.

»Du lieber Himmel!« rief ich erschrocken und machte mich nicht eben sanft los.

Er schien jetzt nicht minder erschrocken und gab mich sofort frei, verbeugte sich auch. Nun sah ich, daß er in europäischer Kleidung war. Ein zweiter Herr mit japanischem Gesicht und europäischen Kleidern stand neben ihm. Ich wurde recht rot und verlegen.

Der jüngere, der mich aufgefangen hatte, sagte etwas auf Japanisch. Ich hörte Haruko hinter mir kichern.

»Sein Vetter Oto Matsuka. Haben dich für Japanmädchen gehalten; drum so zufassen, er sagen.« Sie kicherte wieder.

Ich konnte nicht viel erwidern. Ob er mich ruhig hätte purzeln lassen, wenn er seinen Irrtum früher bemerkt hätte?

Jetzt kam Kiku. »Hier Vater sein!« Sie wies auf den zweiten älteren Herrn, der mit ausgestreckter Hand herantrat. »Dies sein Ut!« So waren wir vorgestellt.

Herr Yusugura gefiel mir sehr gut, nicht nur, weil er gut Deutsch sprach; er hatte so was Gütiges, Ernstes im Auge. Er begrüßte mich auch sehr warm in seinem »armseligen« Hause, wie er sagte.

Ich lachte laut und versicherte ihm, mir komme es wie ein Feenpalast vor. Vaterle sagte mir dann später, daß es Höflichkeit bei den Japanern sei, das eigene Heim, Hab und Gut herunterzusetzen. Komisch, nicht?

Die beiden Herrn wollten sich noch umziehen, sagten mir Kiku und Haruko. Also gingen wir in den Garten. Ich fragte nach Frau Yusugura. Die sei in einer Sitzung, hieß es.

Die Frauen nehmen sich hier, scheint es, genau wie bei uns in großem Maßstab der öffentlichen Wohltätigkeit an. Sie haben Armenvereine und Spitäler, alles wie bei uns. Die Frauenerziehung steht überhaupt auf sehr hoher Stufe. Ich staunte, als Kiku darüber sprach. Sie haben höhere Schulen und Seminare, auch Kurse für Kunststudium. Dem Lehrerinnenseminar in Tokio ist ein Kindergarten und eine höhere Mädchenschule angegliedert, als praktischer Lehrkurs für die Seminaristinnen, also ganz wie bei uns. Es gibt auch eine Frauenuniversität in Tokio. Was ich besonders praktisch finde, das sind die Kurse für Haushaltslehre, Zuschneiden und Nähen, die jeder höheren Mädchenschule, jedem Seminar, ja sogar der Universität angegliedert sind. Kiku sagt, das Hauptbestreben der Japaner sei eben darauf gerichtet, die Frau durch die höhere Bildung nicht untüchtig für den Beruf als Gattin und Mutter zu machen. Haruko hat dazu gelacht und alle Grübchen gezeigt.

Ich fragte Kiku, ob sie wirklich studieren wolle. Sie nickte ernst. Sie ist ganz begeistert für die Idee, der leidenden Menschheit zu helfen. Es ist ein großer Zug in Kiku; Mutterle sagt's auch. Ich überlege mir's. Vielleicht studiere ich auch noch, wenn ich heim komme. Aber, ich weiß nicht, Haruko gefällt mir auch mit ihrer Idee von der Zukunft. Doch ich habe ja einstweilen noch Zeit, ehe ich mich entscheide.

Dann kam Frau Yusugura heim. Sie begrüßte mich sehr freundlich und fand, daß mir der Kimono sehr gut stehe. Sie ließ mir auch sagen – Kiku übersetzte wieder – ich solle den Anzug zum Andenken an Japan und an sie behalten. Also doch! Ich wurde ganz freudenrot und fand kaum Dankesworte. Sie nickte mir freundlich zu.

Sie trug jetzt europäische Kleidung, aber ich hätte ihr das Kompliment vom Gutstehen nicht zurückgeben können; ich schwieg darum lieber. Die Japanerinnen sehen in der Nationaltracht am hübschesten aus.

Vom Haus her tönte nun der Gong. Wir eilten dahin. Ich war, offen gestanden, recht hungrig und freute mich auf alle die fremden Genüsse, die mir bevorstanden. Vaterle hat mich glücklicherweise so erzogen, daß ich alles essen kann; da brauchte mir nicht bange zu sein.

Sie hockten schon alle auf dem Boden, als wir eintraten. Auch die alte Großmutter war wieder da. Zu ihr eilte ich zuerst, sie zu begrüßen. Aber sie schien mürrisch heute, oder war sie auch hungrig? Sie nickte nur kurz.

Kiku sagte mir dann, es verstimme sie immer, wenn sie jemand von der Familie in europäischen Kleidern sehe. Frau Yusugura hatte ihren Anzug nicht mehr wechseln können. Ich begreife die alte Frau. Ihr ist heilig, woran sie von Kind auf gewöhnt war. Ich kann das nur achten; Vaterle sagt's auch.

Aber jetzt zu meiner ersten japanischen Mahlzeit! Ich hockte lustig unter den anderen am Boden. Wie vor einen jeden stellte eine Dienerin auch vor mich einen niedlichen Schemel, auf dem ein Tablett mit vielerlei gefüllten Schüsselchen und Näpfchen stand.

Ein bißchen hilflos schaute ich mich um. Aber Kiku, die Gute, war schon zur Hilfe bereit. Sie saß dicht an meiner Seite und griff ein, wenn sie mich schwanken sah. Ach, und leicht war's nicht, sich durchzufinden! Ziemlich mißtrauisch betrachtete ich die niedlichen, zierlichen Geschirre, in denen ein ebenso niedlicher, zierlicher Klecks von irgend was sich befand. Was mochte das alles sein? Da setzte Kikus Hilfe ein.

»Dies hier sein Bohnensuppe mit Fisch drin. Da sein gebratener Fisch, da roher. Diese Tunke schmecken gut dazu. Da Omelette, Reis, Lotoswurzeln, Rüben, Pilze. Hier Früchte und süße Kuchen. Ich hoffe, du satt werden!«

Das hoffte ich nun auch. War's von allem auch nur sehr wenig, so tröstete das Vielerlei. Aber nun kam noch eine Schwierigkeit. Ich sah mich nach dem um, womit ich das Essen in den Mund befördern könne. Kein Löffel, kein Messer, keine Gabel war zu sehen.

Kiku und Haruko mußten auf diesen Augenblick gewartet haben; ich sah es an ihren Schelmenaugen. Die letztere hob zwei viereckige Holzstäbchen: »Hier sein Löffel, Messer und Gabel!« Zugleich beförderte sie sehr geschickt und flink einen Bissen zum Mund, indem sie ihn zwischen die Spitzen der Stäbchen einklemmte. Die Stäbchen hielt sie dabei nur in der rechten Hand, durch zwei Finger getrennt. Es sah lustig aus.

Ich probierte es, meinen Freundinnen nachzumachen, aber o weh! Mein erster Bissen landete in Kikus Schoß und ich war sehr verlegen; aber Kiku lachte nur. Die anderen blieben alle ernst und taten, als hätten sie es gar nicht bemerkt. Es sind doch höfliche Menschen, die Japaner!

Allmählich kam ich etwas besser zurecht. Aber sehr genossen habe ich dieses erste japanische Mittagsmahl nicht. Ich war rechtschaffen hungrig, und wenn ich auch sah, daß Kiku und Haruko nur nippten, hätte mich das nun weiter nicht abgehalten, meinen Hunger zu stillen. Wenn nur die verflixten Stäbchen nicht gewesen wären! Lächerliche, dumme Dinger! Ja so, Ruth Rümelin! Wie sagt Vaterle? Ländlich, sittlich.

Wenn nur die verflixten Eßstäbchen nicht gewesen wären!

Hier könnte es eher schändlich heißen. Da ich die Speisen nicht kannte, aß ich alles durcheinander, ein Stückchen Fisch, einen Klumpen Reis, einen Schluck Suppe, die in Tassen serviert wird, Krebs, Obst, Zuckerwerk und wieder Fisch. Süß, salzig, sauer, alles wie's gerade kam. Ich biß herzhaft in eine Rübe und gleich hinterher in eine rosenfarbene Chrysanthemumblüte aus Zucker. Fast alles Zuckerwerk zeigte schöne Blütenformen.

Reis schien mir den Hauptbestandteil der Mahlzeit zu bilden. Er wird trocken gekocht, so daß die Körner ganz bleiben. Er war auch das einzige, wovon ich Kiku und Haruko wirklich essen sah, so was ich essen nenne. Dann gab es auch eine Art Wein, »Sake« genannt, der aus Reis bereitet und in Japan viel getrunken wird.

Als wir fertig waren, klatschte Frau Yusugura in die Hände. Die Wände teilten sich; eine Anzahl Dienerinnen erschien, nahm unsere Tischchen weg und setzte dafür einige Tabakkästchen hin. Was jetzt kam, kannte ich schon. Die Herren nahmen diesmal auch teil.

Viel gesprochen hatten wir während der Mahlzeit nicht. Jetzt fragte Herr Yusugura, wie es mir in ihrem Land gefalle. Ich sagte ihm, außerordentlich gut, besonders seit ich Kiku und Haruko kenne. Das schien allen Freude zu machen. Es ist so nett, wenn man jemand Freundliches sagen kann. Ich lobe viel lieber, als daß ich tadle. Mutterle sagt auch, in einem solchen Falle soll man lieber schweigen.

Herr Yusugura gab mir dann die Freundlichkeit zurück, indem er Deutschland lobte. Ich könne stolz auf mein Land sein, sagte er. Dazu brauche ich nun Herrn Yusugura nicht, um das zu wissen. Das sagte ich aber nicht, natürlich!

Haruko hatte diesmal merkwürdig wenig Zeit für mich; sie neckte sich mit dem Vetter, der, wie ich jetzt erst merkte, auch ein wenig Deutsch sprach.

»Können gar nicht mehr arme alte Japansprache, Vetter Oto, wissen auch nicht mehr, wie Japanmädchen aussehen, he?« Sie blinzelte ihn aus ihren Schelmenäuglein an. Er wehrte sich.

»Wissen noch immer, daß kleine Haruko gerne necken. Und wie sagen Europäer?«

Aber Haruko war aufgestanden und reckte sich, so sehr sie konnte. »Sein große Haruko worden, solange Oto in fremden Land gewesen. Nix mehr da von kleine Haruko!«

»Schade,« sagte Herr Oto Matsuka und zwinkerte lustig mit den Augen, »sein sehr nette kleine Haruko wesen.«

»Wenn er große nicht mögen, er nicht brauchen anzusehen!« War das die sanfte Haruko, die so schnippisch sein konnte? Ich traute meinen Ohren nicht.

Ich sah Kiku an; sie schaute ernst drein. Auch die Eltern beide, wie mir schien. Aber da waren sie alle mit Rauchen fertig und wir standen auf.

Wir drei Mädchen gingen nun mit Herrn Oto Matsuka in den Garten. Ich konnte mich wieder nicht satt sehen an der Blütenpracht. Sie erzählten dem Vetter vom Puppengarten und er lachte mit ihnen. Ich machte gute Miene dazu, obwohl ich es hasse, ausgelacht zu werden.

Nun machten sie mir riesige Sträuße und ich war ganz versöhnt. Haruko hat mir versprochen, mich in die Regeln der japanischen Bindekunst einzuweihen. Das ist dort nämlich eine wirkliche Kunst; sie wird nach besonderen Regeln ausgeübt, die gut studiert sein wollen. Ich freue mich darauf, denn ich liebe die Blumen.

Ich mußte aber ans Heimgehen denken und das Umkleiden wollte mir gar nicht in den Sinn. Ich schlug vor, über den Zaun zu klettern; Kiku und Haruko machten aber so entsetzte Gesichter, daß ich tat, als sei es nur ein Scherz gewesen. Wenn sie wüßten, wie oft ich mit der Leni über die Gartentür unseres Gärtchens gestiegen bin, wenn wir den Schlüssel vergessen hatten! O die schönen Zeiten! Ob sie je wiederkehren? Ich scheine mir hier wie in einer anderen Welt.

Ich bedachte auch, daß ich doch Abschied von den Eltern meiner Freundinnen nehmen und mich bedanken müsse. So verzichtete ich auf das Überklettern, das mich sonst mächtig gereizt hätte, denn ich bin für das abgekürzte Verfahren. Wir gingen also dem Hause zu, wo Herr und Frau Yusugura auf den Matten hockten und sich sehr eifrig unterhielten. Ich bedankte mich nun noch einmal und es wurde beschlossen, daß ich in der Kuruma meiner Freundinnen heimfahren sollte.

Ich nahm es sehr gern an, denn so konnte ich in meinem Anzug bleiben und alle meine Kleider und Blumen mitnehmen. Sie verpackten mich dann wundervoll und nach herzlichem Abschied fuhr ich weg.

Und daheim?

Ich hatte Sighe zu Vaterle und Mutterle hineingeschickt und fragen lassen, ob die Kaiserin von Japan ihre Aufwartung machen dürfe. Sighe muß dies sehr glaubhaft ausgerichtet haben. Denn das Vaterle kam heraus mit einem verlegenen, ungewissen Zug im lieben Gesicht. Er ist dazu ein bissel kurzsichtig. Leider lachte Kaiserin Ruth, sonst hätte sich das Vaterle vielleicht vor ihr bis zum Boden verneigt. So schien er aufzuatmen.

»Eulenspiegel,« sagte er, »was soll das nun wieder?«

»Bin ich nicht fein?« jauchzte ich. »Konnte ich nicht wirklich die Kaiserin sein?« Und ich stand vor ihm, neigte mich tief und wedelte dazu graziös mit dem Fächer. »Und das alles ist mein! Geschenkt, Vaterle, von den Yusugura geschenkt!«

Mutterles scheues Gesicht erschien im Türspalt. »Brauchst dich nicht zu fürchten, Anna; es ist nur dein Flederwisch von Tochter,« rief ihr das Vaterle zu.

Also, sie hatten doch eine Minute lang an die Kaiserin geglaubt! Ich triumphierte.

»Wer kann genau wissen, was hier Brauch ist,« sagte das Vaterle noch.

Es klang entschuldigend und ich bekam einen Lachkrampfanfall.

»Dummes Ding,« sagte der Vaterle nun ärgerlich, »was gibt's da zu lachen. Erzähle lieber, wie du in die bunten Lappen hineinkommst!«

»Bunte Lappen!« Ich entrüstete mich weidlich, aber erzählte doch. Vaterle und Mutterle waren zuerst etwas betreten über das reiche Geschenk, als was sich die »bunten Lappen« auswiesen. Eine Weile zitterte ich, ob ich meine Märchenpracht werde behalten dürfen. Aber sie sagten dann, eine solche Freundlichkeit könne man nicht zurückweisen, ohne zu kränken, Vaterle will selbst danken. Und ich sitze hier glückselig bei meinem Buch und überdenke all das Schöne.


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