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Ein Erdbeben und was dabei herauskam.

Leihe mir Deine Tochter auf acht Tage, alter Freund, willst Du? Sie ist von Deiner Art und wird gern dies Opfer bringen. Ich weiß, daß es eines ist, denn in unserem Haus ist nicht viel Sonne. Ich muß nach Osaka und kann meine arme Frau nicht allein lassen. Sie liebt Ruth; deren junge Frische wird ihr wohltun. Sag Fräulein Ruth, daß ich ihr zum voraus danke.«

Dieser Brief war von Freund Überle gekommen. Vater Rümelin sah sein Kind fragend an.

»Ich gehe natürlich, wenn's euch recht ist,« rief Ruth, »und ein Opfer ist es gar nicht. Ich habe Frau Klara sehr lieb.«

Sie ging also und wurde von Frau Klara still empfangen.

»Es ist mir leid um dich, Kind, daß mein Mann dir dies zumutete,« sagte sie.

Am liebsten hätte Ruth laut aufgeweint, als sie in das verhärmte Gesicht der armen Mutter sah, solch ein Schmerzenszug stand darin. Aber sie besann sich zur rechten Zeit, daß sie ja zum Erheitern gekommen war. So sagte sie frisch: »Wenn Sie wüßten, wie gern ich kam!«

»Du bist gut.« Frau Klara nickte, und ein hellerer Schein lief über ihr Gesicht.

Maiblümchen und Schneeglöckchen wichen nicht von Ruths Seite.

»Mis dis lieb haben. Du so sön lachen. Arme Mama dar nist lachen!« lispelte Schneeglöckchen; aber Maiblümchen verwies ernst: »Arme Mama kann nicht lachen, weil Klein-Iris fort ist. Arme Mama nie wieder lachen.«

Es war zu traurig. Ruth brauchte wirklich all ihre junge Frische, um den Kopf oben zu halten. Aber sie war tapfer. Sie las Frau Klara vor, obgleich deren Augen von allem anderen als von Verstehen sprachen, und sie lockte sie auf weitere Gänge, die allen gut taten.

Ihre zwei kleinen Mädchen ließ die arme Mutter nie aus den Augen. Es erschreckte Ruth, den Ausdruck fast irrer Qual zu sehen, wenn die Kleinen beim Spiel nur für Sekunden außer Sehweite waren, die Töne höchster Herzensangst zu hören, in denen die arme Mutter dann nach ihnen rief. Das grenzte schon ans Krankhafte. Was sollte daraus noch werden?

Schweren Herzens schied Ruth, als Herr Überle heimkehrte. Die Freunde taten ihr namenlos leid. Und doch ging es wie ein Aufatmen durch sie, als sie Tokio zudampfte, noch mehr, als sie des Vaters liebes Gesicht am Bahnhof sah. Mit Tränen flog sie ihm um den Hals. »Es war zu traurig, Vaterle.«

Er strich ihr sacht über das Haar. »Komm heim zur Mutter, Kind. Wir haben dich sehr vermißt.«

Das war Balsam, Mutterles klares Gesicht war es noch mehr.

In der nächsten Stunde schon ertappte sich Ruth auf einem hellen Lachen. Beschämt hing sie den Kopf. »Kann man so leichtsinnig sein, Mutterle? Lachen, wenn andere weinen!« Jetzt waren ihre Augen naß.

Die Mutter legte den Arm um ihr Kind. »Leichten Sinn haben, ist nicht leichtsinnig sein. Danke du dem Himmel für deinen Frohsinn; es ist eine köstliche Gabe, dir und anderen zur Freude, solang du auch Tränen für der anderen Leid hast.«

Still schmiegte sich Ruth an die Mutter, ein heiliges Gelöbnis im Herzen. – – –

»Was glaubt ihr, daß ich bringe?« Mit diesen Worten trat Vater Rümelin einige Tage später zu den Seinen ins Zimmer und hob einen Briefumschlag hoch.

»Briefe von den Buben! Ein Theaterbillett!« Die Mutter und Ruth riefen es zugleich. Der Vater lachte.

»Ihr ratet's doch nicht, darum sag' ich's lieber.« Er schüttelte das Papier in seiner Hand bedeutungsvoll. »Hier Frau Regierungsrat und Fräulein Ruth Rümelin: Seine Majestät der Kaiser von Japan erbitten sich die besondere Ehre der Anwesenheit der beiden Damen bei dem Chrysanthemumfest, das nächsten Donnerstag in den Gärten des Palastes gefeiert wird. Werden die Damen ihm die Ehre geben?« Schmunzelnd sah er Ruth an.

Die hob die Stumpfnase. »Das wissen wir noch gar nicht, was, Mutterle? Wenn er Zeit braucht bis in den November, um sich zu erinnern, daß wir zwei existieren, während wir doch schon seit Juni hier sind, dann – dann – –«

»Also sage ich für mein Fräulein Tochter ab? Ganz recht! Stolz lieb ich den Spanier!« Der Schelm sah aus des Vaters Augen, aber Ruth rief erschreckt: »Um Himmels willen, Vaterle, du wirst doch nicht! Verstehst du denn gar keinen Spaß? Wo wird die Ruth Rümelin so dumm sein!«

Die Frau Regierungsrat wäre nun wirklich lieber daheim geblieben, aber sie wollte Ruths Freude nicht stören.

War also beschlossene Sache, daß man gehe. Ruth zappelte schon im Gedanken an allen Gliedern.

»Wären nur Kiku und Haruko nicht wieder in der Schule, sie gingen sicher mit, Mutterle. Denk doch, was das für mich bedeutete!«

Seit ein paar Wochen waren die beiden von Hause fort und Ruth vermißte sie sehr. Ein Trost war es, daß sie im Frühjahr für immer heimkehren würden. Einstweilen kamen sie nur in langen Zwischenräumen. Ruth sah sie aber jedesmal.

Endlich war der Tag des großen Festes da. Wie der Japaner seine Monate nach den Blumen benennt, die darin blühen, und wie er seinen Frauen Blumennamen gibt, so feiert er auch seine Feste zu den Zeiten, da besonders beliebte Blumen in ihrer reichsten Blüte stehen. So beginnt der Festreigen mit dem Fest der Kirschenblüte im Mai. Die Lotosblüte wird im August gefeiert und das Fest der Chrysanthemen beschließt die Reihe.

Vater Rümelin war in Fracklaune, wie Ruth dies nannte. Er war es stets bei besonders festlichen Gelegenheiten, die das Tragen des genannten Kleidungsstücks bedingten. So heute, am Tag des Chrysanthemumfestes.

Gereizt schritt er in seinem Zimmer hin und her; nur seine angeborene Höflichkeit hielt ihn davon ab, durchs Haus zu wettern und seiner Ungeduld Lust zu machen. Frau und Tochter blieben auch gar zu lange. Natürlich, bis das Mädel in seinen Fähnchen drin steckte, das war auch eine Haupt- und Staatsbegebenheit! Ob seine Krawatte schief saß oder gerade, das war dagegen nicht von der geringsten Wichtigkeit. Man sollte sich wirklich vorsehen, ehe man sich Töchter anschaffte! Um solch einen Kickindiewelt in den Hintergrund gedrängt, ja die reine Null im eigenen Haus zu werden, das war kein Spaß.

»Wie gefall' ich dir, Vaterle?« Ruth kam endlich und strahlte. Dem hielt des Herrn Regierungsrats Fracklaune nicht stand. Er brummte etwas, das alles bedeuten konnte, und besah sich sein Kind im weißen Staatsgewand, mit dem rosa Hut und Schirm, unter dem das Schelmengesicht wirklich niedlich vorsah. Dann sagte er zahm: »Willst du nicht nach meiner Krawatte sehen, Frau?«

»Laß mich, Vaterle, bitte. Du weißt, ich bin Meisterin darin.«

»Es geht nichts über die Bescheidenheit!« Der Vater lachte und sein Gleichgewicht war wieder hergestellt. Er mahnte zum Aufbruch.

In den kaiserlichen Gärten war bereits ein großes Gedränge, als die Rümelin kamen. Der Japaner liebt es, seinen Gärten, einerlei ob groß, ob klein, einen landschaftlichen Charakter zu geben. Baumgruppen, Rasenflächen, Felspartien, Schluchten, Seen, Flüsse, Bäche, Brücken darüber, kleine Tempel, Teehäuschen, alles ist in reichem Wechsel vertreten. So ist der Miniaturgarten angelegt und so waren es in großem Maßstab auch die kaiserlichen Parke. Was heute den besonderen Reiz ausmachte, das waren die Tausende von Chrysanthemumpflanzen, die in Gruppen und einzeln auf den Rasenflächen und längs der Baumgänge aufgestellt waren, alle mit Blüten bedeckt, eine unglaubliche Menge und Farbenpracht.

Die Rümelin waren am Eingang von einem japanischen Kollegen des Herrn Regierungsrat empfangen worden. Er wollte es den Fremden heimisch machen. Er ließ sich den Damen vorstellen, und da er sehr gut Deutsch sprach, war es diesen eine große Erleichterung.

»Zeigen Sie mir nur, bitte, gleich den Mikado! Die Blumen sind ja wundervoll, aber die kann ich zur Not auch bei uns sehen, wenn auch nicht in dieser Vollkommenheit. Der Mikado aber ist mir noch viel interessanter.«

Herr Nezira verneigte sich tief und ergeben. »Bedaure, den Wunsch des gnädigen Fräuleins nicht sofort erfüllen zu können. Seine Majestät erscheinen erst um fünf Uhr; gnädiges Fräulein müssen sich gedulden. Ich bin untröstlich.«

Es war so ernst gesagt, daß Ruth in Verlegenheit geriet. »O, bitte, das macht nichts,« sagte sie scheu und hätte sich selbst ohrfeigen können, als sie des Vaters Schmunzeln sah. Sie machte sich nun eilig ans Bewundern, und vergaß über der Herrlichkeit ihr eigenes junges Ich. »Sieh nur, Mutterle, sieh! Läßt sich so was auch nur im Traum ahnen?«

Ruths Begeisterung war gerechtfertigt. Wohin das Auge schaute, Blumen, Blumen und Blumen! Alles Chrysanthemen, von den kleinsten zu den größten, von den hellsten zu den dunkelsten Schattierungen aller Farben. Hier Blüten in Büscheln, dort eine einzige Wunderblüte von unbeschreiblicher Vollkommenheit und Größe. Über den kostbarsten dieser Art waren seidene Schutzzelte angebracht. Schier andächtig schob sich die Menge an diesen Blumen hin, in Staunen versunken. Auf den weiten Rasenflächen waren Erfrischungszelte aufgeschlagen; Diener boten Leckerbissen aller Art herum.

»Tischlein deck dich! Das kennen wir vom Schiff her, was, Mutterle? Ich muß aber doch sehen, wie es bei einem Kaiser schmeckt. Das wird mir sobald nicht wieder geschehen, von so hochgestellten Sterblichen bewirtet zu werden.« Ehe sich die Eltern besinnen konnten, hatte Ruth schon einen Diener herangewinkt und versah sich seelenruhig mit dem, was er zu bieten hatte.

»Fix und fertig, das muß ich sagen!« Eine leise Mißbilligung klang in Mutters Ton. Ruth hing den Kopf, aber nicht lange.

»Es schmeckt vortrefflich beim Mikado,« sagte sie gleich darauf und kaute fleißig. »Wann kommt unser hoher Wirt, daß ich ihm danken kann?«

Das galt Herrn Nezira; der verneigte sich wiederum tief und ernst. »Wenn Seine Majestät wüßte, daß sie so sehnlich erwartet wird, würde sie sicherlich das Erscheinen beschleunigen. Seine Majestät sind ein sehr höflicher Mann gegenüber Damen.«

Ruth sah ihn lachend an. Kein Funke von Schelmerei war in seinem Gesicht; er verzog keine Miene. »Langweiliger Peter!« Damit war er für Ruth abgetan.

Aber er kam nun ins Reden. »Gnädiges Fräulein hätten solch ein Fest früher hier sehen sollen! Alle unsere Damen in japanischer Tracht! Ich liebe ja die abendländische Kultur« – ein fast geringschätziger Blick streifte dazu die Menge, die nach europäischen Begriffen recht elegant aussah – »der Mikado hat gesprochen und so muß es ja gut sein, daß sie bei uns eingeführt worden ist. Jetzt ist die Hoftracht europäisch. Aber vor dieser Reform, wie war unser Land schön!« Er senkte den Kopf, wie in Träumen verloren. Ruth wagte nicht, ihn zu stören. Er fuhr fort: »Gnädiges Fräulein bewundern die Blumen. Unsere Damen waren damals selbst wie die Blumen. Diese Kimono, die wunderbarsten Farben und Stoffe! Die Kimono mit Blumen gestickt, wie sie eben zur Jahreszeit paßten, wahre Kunstwerke! Wer kennt sie heute noch? Einige alte Familien bewahren sie auf und man findet sie in den Museen des Abendlandes. Wie bald werden sie verschwunden sein wie das Japan der alten Zeit! Ich aber werde es nicht vergessen und auch seine Frauen nicht; die waren wie die Blüten des Landes.« Er sah vor sich hin, hob aber dann lauschend den Kopf. Ein fernes Raunen lief durch die Menge.

»Die Majestäten!« Herr Nezira klappte zusammen und verharrte in dieser Stellung. Ruth aber machte die Augen weit auf. Ihr sollte nichts entgehen, was zu sehen war. Sie mußte doch davon erzählen können, wenn sie wieder heim kam.

Dort nahten Mutsu Hito und Haruko, Kaiserin »Frühling«. Er in einer Uniform, die der eines französischen Artillerieoffiziers glich, sie, Kaiserin Frühling, ganz in Weiß, mit einem flockigen Mantel, der mit Hermelin besetzt war. Ernst sah sie aus, aber gütig. Ruth hatte durch Kiku und Haruko, die wie die Kaiserin hieß, viel von deren Wohltun und Beliebtheit gehört. So kam ihr die tiefe Verbeugung jetzt wirklich von Herzen.

Die Majestäten schritten durch die Menge und sahen nicht rechts noch links; kaum daß sie den Kopf neigten, die tiefen ehrfurchtsvollen Grüße zu erwidern. Auch dies war eine Neuerung, die erst seit der Reform in Japan Eingang gefunden hatte. Früher war der Mikado kaum je einem sterblichen Auge, nur seiner nächsten Umgebung sichtbar gewesen. Fern und unsichtbar wie die Gottheit, lebte er in Kioto, seiner alten Residenz, während die Shogune das Land beherrschten. Mutsu Hito hatte aber in einem großen Bürgerkrieg die Macht der Shogune gebrochen, und dann unter Beihilfe des Marquis Ito, des Bismarcks von Japan, durch sein Machtwort europäische Sitten und Gebräuche in seinem Land eingeführt. Er hatte die Zügel der Regierung selbst ergriffen und zeigte sich seinem Volk, wie es europäische Herrscher tun.

Als die Majestäten an der Gruppe der Rümelin angelangt waren, hob Kaiserin Frühling wie von ungefähr den Blick. Ob ihr der Sonnenstrahl, der eben Ruths Blondkopf unter dem Rosenhut vergoldete, in die Augen gefallen war? Eine Sekunde lang ruhte ihr Auge in dem der jungen Ruth; dann neigte sie leicht grüßend das Haupt. Etwas in den jungen Augen hatte ihr den Gruß entlockt, wohl das Staunen, die junge Begeisterung, die darin geschrieben standen.

»Mich hat sie gegrüßt. Ihr Gruß hat mir gegolten! Mutterle, Vaterle, habt ihr gesehen? Mir!!!« Ruth war atemlos und freudeheiß.

»Einbildung!« Der Vater lachte, aber Ruth kümmerte das wenig. Sie hatte ihren Gruß weg, den nahm ihr niemand mehr. Wie wichtig kam sie sich vor! Was Wunder? Wer von den Mädchen in Stuttgart konnte sich rühmen, einen Gruß der Kaiserin von Japan erhalten zu haben? Das war ein Erlebnis! Was würde Leni sagen? Die barst ja einfach vor Neid! Huijeh, so was! Ruth hob die Nase sehr hoch.

Mit dem Rundgang der Majestäten hatte das Fest seinen Höhepunkt erreicht, für Ruth natürlich mit dem kaiserlichen Gruß. Daher wehrte sie sich gar nicht, als Mutterle vorschlug, nun heimzugehen.

»Ich möchte den Herrschaften zuvor noch etwas echt Japanisches zeigen,« sagte Herr Nezira. »Sie gestatten?«

»Aber bitte, mit dem größten Vergnügen! Wir sind Ihnen sehr dankbar,« beeilte sich die Frau Regierungsrat zu versichern. Ruth nickte eifrig.

Herr Nezira führte sie nun vor ein großes Bild, das ganz aus Chrysanthemumblüten zusammengesetzt war. Es stellte den Zimmu Tenno, den Gründer der Herrscherdynastie, dar. Die Farben gingen bewundernswert ineinander über, keine Blume stand vor; es war wie eine große, gleichmäßig geschorene Fläche. Alle Einzelheiten des Bildes traten wie mit dem Pinsel hingeworfen deutlich vor. Daß es Blumen waren, sah man erst bei naher Prüfung.

»Wie kann man so etwas fertig bringen?« Ruth war ganz Staunen.

Herr Nezira führte sie hinter das Bild. Da sah man, daß ein großes Lattengestell das Ganze stützte. Die Pflanzen waren dahinter in den Boden eingegraben, ihre Blüten durch Drähte in die gewünschte Lage gebracht. So konnte dies Blumenbild seine Frische lange Zeit hindurch bewahren. Ein Riesenschiff aus Blumen und allerhand ähnliche Künsteleien mußten die Rümelin dann noch bewundern, was sie mehr Herrn Nezira als dem eigenen Geschmack zulieb taten.

Eben wollten sie sich für alle erwiesene Freundlichkeit bedanken, da ging ein sonderbares Dröhnen durch die Luft. Wie ferner Donner war's und doch ein anderer Ton, dumpf, hallend und schwer.

»Ein Gewitter?« fragte Ruth erschreckt. Sie sah zum Himmel auf und merkte jetzt erst, daß die Sonne verschwunden war und eine seltsame bleigraue Färbung das ganze Firmament überzog.

Herr Nezira lächelte. »Ebenfalls etwas echt Japanisches, gnädiges Fräulein. Kein Gewitter, aber etwas, woran wir gewöhnt sind, wie Sie an Gewitter. Es ist ein –«

Er konnte nicht vollenden. Dasselbe dumpfe Rollen von zuvor dröhnte wieder durch die Luft, wiederholte sich sofort mit größerer Wucht und zugleich ging ein Schüttern durch den Boden, erst leicht und dann immer kräftiger, immer gewaltiger. Es war wie eine Wellenbewegung des Meeres auf dem festen Land.

Die Gruppe Chrysanthemen, vor der die Rümelin eben standen, stürzte ein; zugleich schmetterte unweit ein Baum zu Boden, ein alter, morscher Riese, dessen Todesstunde dies Wanken des Grundes bedeutete.

Es war so schnell gegangen, daß Herr Nezira seinen Satz nicht vollenden konnte.

Jetzt kam ein Stoß, dem nichts standzuhalten schien. Vater Rümelin faßte schnell nach seiner Frau, die ihm zunächst stand; er hielt sich selbst nur mit Mühe auf den Füßen.

Ruth hatte haltlos in die Luft gegriffen; ein starker Arm umfaßte und stützte auch sie. Stumm vor Schreck sah sie in das bleiche Gesicht Herrn Neziras.

»Schlimm,« sagte er, »schlimmer als gewöhnlich! Wir lachen sonst über die Erdbeben, aber diesmal –«

»Ein Erdbeben?« Ruth hauchte es nur. Da kam ein Stoß, der sie aus Herrn Neziras Armen zu Boden schleuderte; sie konnte sich nicht halten. Sie sah nur, daß Mutter und Vater gleichfalls nicht mehr standen.

Ein Krachen und Splittern von berstenden, stürzenden Bäumen füllte die Luft. Dumpfes Dröhnen und Rollen erklang, dazu von fern Klagetöne und Hilferufe.

Nun war eine Panik über alle gekommen. Zwar lautes Schreien hörte man nicht. Der Japaner wird nie laut, nicht in der Freude, noch im Leid. Aber alles stürzte nach dem Parkausgang. Wie mochte es daheim, in der Stadt aussehen?

Es gab ein wildes Drängen und Hasten nach den verschiedenen Kuruma. Sie waren wohl noch alle zur Stelle, aber die Kurumaja hatten schreckensbleiche Gesichter. Zu den Rümelin drängten sich die drei heran, die sie auch befördert hatten. Sie waren lauter als sonst und gestikulierten erregt.

Die Erdstöße hatten aufgehört. Der schlimme, der die Rümelin zu Boden schleuderte, war der letzte gewesen. Die ganze Sache hatte sich in wenig Minuten abgespielt. Aber was für Minuten! Ruth bestieg ihre Nummer 77, deren Lenker merkwürdigerweise immer zur Stelle war, wenn Ruth ihn brauchte. Sie sah noch, daß auch die Eltern in ihren Kuruma saßen, und erkannte mit einem raschen Rundblick, daß die kaiserliche Residenz anscheinend ohne Schaden davongekommen war. Die Zyklopenmauern, die sie umschlossen, waren wie für die Ewigkeit geschaffen. Aber auch der weit ausgedehnten Gruppe von niederen Holzbauten, die den Palast umgaben, war nichts geschehen. Ruth wußte nun mit einem Male, weshalb die Japaner ihre Bauten niedrig und von Holz aufführen. In einem Lande, wo Erdbeben zu den Tagesereignissen gehören, wären hohe Steinbauten nicht am Platz.

»Wie wird's bei uns aussehen!« jammerte Ruth plötzlich laut hinaus. Sie vergaß ganz, daß nur ihr Kurumaja sie hören konnte, weil die Eltern in eigenen Wagen fuhren.

»Sieht's in der Stadt schlimm aus, Akira?«

So hieß der Mann, der sie fuhr. Ruth hatte mit ihm schon Freundschaft geschlossen, bedachte aber in der Erregung nicht, daß sie verschiedene Sprachen redeten. Er hatte sich bei Ruths Jammerlaut gewandt, und war sehr bleich; jetzt wies er nach der Richtung der Stadt. Ruth konnte nichts unterscheiden; sie sah nur, daß dichte Wolken darüber lagerten. War es der aufgewirbelte Staub von den stürzenden Häusern oder –

Wehe! Rauch war's! Und jetzt stieg eine Feuergarbe in wilder Lohe zum Himmel.

Ruth schrie auf. Ihr Kurumaja wandte sich, sah die Flammen, die im Zusehen riesengroß anwuchsen, und setzte sich in wilden Trab. Über dem japanischen Stadtteil schlugen die Flammen auf. Dort war das Heim seines Weibes, seiner Kinder. Akira lief wie blind und toll.

Ruth war so erregt, daß sie gar nicht acht hatte, wie er von der Stadtgegend abbog, in die er sie hätte befördern müssen. Sie dachte nicht mehr an Mutter und Vater. Sie hatte sich aufrecht gestellt und sah nach dem Feuer hin. Immer wilder lohten die Flammen. Schon hörte man das Brausen in den Lüften, schon meinte Ruth die unerträgliche Hitze zu spüren. Jedenfalls biß sie der Rauch bereits empfindlich in den Augen.

Sie achtete auf nichts. Es war die erste Feuersbrunst, der sie in ihrem jungen Leben beiwohnte. Schreck und Entsetzen, der geheimnisvolle Reiz, den das Grausige für den Menschen hat, nahmen ihr jedes Besinnen und Überlegen. Sie dachte nicht an die Angst der Eltern, die sie vermißten; sie dachte an gar nichts als an die wilden Flammen und ihr Zerstörungswerk.

Einzig daran dachte auch Akira, Ruths Kurumaja. Er rannte der Stätte zu, wo er Weib und Kind wußte.

Daß er zugleich zwischen den Deichseln seines Wägelchens lief, war ihm ganz natürlich; das war sozusagen ein Teil seiner selbst. Daß in dem Wägelchen ein fremdes junges Menschenkind saß, für das er eigentlich bis zu einem gewissen Grade verantwortlich war, das hatte er völlig vergessen. Nur heim, wo in diesem Augenblick vielleicht Weib und Kinder, die letzteren namentlich, in Gefahr waren. Wenn er zu spät käme! Akira flog nur so. Ruth konnte sich kaum im Gleichgewicht halten.

Die Hitze wurde immer unerträglicher. Jetzt bogen sie in eine Straße, deren eine Seite schon brannte. Wie die Flammen züngelten, prasselten, fauchten, sich reckten und wuchsen!

Ruth wurde es unheimlich. Zum erstenmal sah sie wieder mit Bewußtsein auf ihre Umgebung. Vor den brennenden Häusern standen händeringende Menschen. Weiber flüchteten sich mit Kindern auf dem Rücken. Weinende Kindergruppen sah man, Männer mit Bündeln ihrer Habe bepackt. Jammer ertönte wohl, aber keine starre, trostlose Verzweiflung gab sich kund.

So schnell die japanischen Behausungen der Wut des Elements zum Opfer fallen – ganze Stadtteile verheert meist solch eine Feuersbrunst – so schnell sind die leichten Holzbauten auch wieder hergestellt. Viel Mobiliar zu verlieren hat der Japaner auch nicht; seine lose Habe ist bald gerettet.

Wohl aber sind diese rasend um sich greifenden Brände oft mit Lebensgefahr verbunden. Wehe, wenn einer säumt, sich sofort aus dem bereits brennenden Haus zu flüchten, vielleicht um noch nach einem Stück seiner Habe zu suchen! Dem ist schon manch ein Menschenleben zum Opfer gefallen.

So flog Akira eben an einem Hause vorbei, um das sich ein Menschenhaufen drängte. Die Leute waren lauter, als es in Japan Sitte ist, gestikulierten erregt und sahen alle nach einem Punkt.

Auf der Galerie am Obergeschoß des bedrohten Hauses stand ein Weib und preßte etwas gegen die Brust. Sie rief dieselben Laute immerzu in flehenden Tönen; jetzt hob sie, was sie in Armen hielt, und zeigte es der Menge unten, wie um dadurch ihr Flehen zu verstärken. Es war ein Kind! Deutlich konnte man es nicht sehen, vor dem immer dichter werdenden Rauch und den immer gieriger züngelnden Flammen. Ein Jammern hub an. Ein Kind, ein Kind in Gefahr!

Japan ist das Land der Kinder. Nirgends werden sie mehr bewertet wie dort. Es wird gleichsam ein Kultus mit ihnen getrieben, und da die Religion wie das Gesetz das Kind verpflichten, mit Hintansetzung der eigenen Interessen unter allen Umständen die alternden Eltern zu versorgen, so verstärkt sich für die Eltern mit jedem Kind sozusagen die Bürgschaft eines sorglosen Alters. Aus diesem bedingungslosen Sichfügen der Jugend unter das Alter, aus diesem Übergewicht des letzteren über die Jugend ist wohl auch der Ahnenkultus entstanden.

Als nun das Weib dort oben in den Flammen ein Kind hoch hielt, wurde das Jammern groß. Selbst Akira hatte seinen wilden Lauf unterbrochen; er und Ruth starrten atemlos.

»Eine Leiter,« rief Ruth, »eine Leiter!«

Ihre Stimme verhallte in dem allgemeinen Wirrwarr. Ihr Ruf wäre ja auch nicht verstanden worden. Sie stand aufrecht in ihrer Kuruma und gestikulierte wild gleich den anderen.

Ob die Menschen alle den Kopf verloren hatten oder keine Leiter zur Stelle war? Niemand rührte sich; alle starrten kopflos und jammerten.

Die Flammen züngelten immer gieriger. In einen Mantel von Lohe gehüllt stand das Weib. Nun hörte man auch eine weinende, klagende Kinderstimme. Ein Schluchzen ging durch die Menge.

Da, in höchster Not, kam Hilfe. Ein Zug Feuerwehr, ganz nach europäischem Vorbild, bog um die Straßenecke. In gestrecktem Trab sausten sie daher. Ein Schrei der Erlösung begrüßte sie.

Im Nu waren die Leitern angelegt und zwei, drei Mann oben an der Galerie. Unmerklich hatten sie zuerst gezögert; die Feuerlohe hatte sich immer dichter um die Bedrohten oben geschlossen, Aber die Rettung war da.

Hände griffen zuerst nach dem Kind. Verzweifelt wehrte sich das Weib; es wollte das Kind nicht aus den Armen lassen.

War die Frau wahnsinnig? Hatte ihr der Schreck, die Todesangst das arme Hirn verwirrt? Es war keine Minute mehr zu verlieren, sollte nicht des Kindes Leben, ja das Leben aller derer, die zur Hilfe geeilt waren, dem Verderben verfallen. Ein Schrei des Schreckens und der Entrüstung wurde laut. Alle zumal riefen Mahnungen, Ratschläge und Drohungen nach oben.

Ein gewaltiges Krachen, Bersten und Stürzen ertönte. Der hintere Teil des brennenden Hauses war zusammengefallen. Jetzt galt's kein Zögern.

Die Retter griffen zu, das Weib kreischte. Sie hatten es zusamt dem Kinde gepackt. Der ganze Knäuel kam über die Leitern herunter, langsam, zu langsam für die entsetzte, fiebernde Ungeduld der unten Harrenden.

Aller Hände griffen zu, alle drängten heran, auch Ruth, die von ihrem Wägelchen gesprungen war. Sie stand fast am Fuß der Leiter. In ihrer jugendlichen Erregung und Ungeduld hatte sie sich kräftig Bahn gemacht.

Da geschah etwas Unerwartetes.

Sie hatten die Gerettete mit dem Kind dicht vor Ruth zu Boden gesetzt. Mit irr flackernden Augen schaute das Weib um sich. Es starrte Ruth ins Gesicht, stand eine Sekunde reglos, wie versteint, schrie dann wild auf, und ehe jemand es halten konnte, schlug es alle die zufassenden Hände beiseite; mit einem weiten Satz, mit Puffen und Stößen schob es sich durchs Gedränge und enteilte in rasender Hast, immer das Kind an sich gepreßt.

»Ruth hatte das Kind erfaßt und zog es an sich.«

Ruth hatte ebenfalls wie zu Stein erstarrt gestanden und sich mit den Händen nach der Stirn gefaßt. Ihre Augen waren groß und weit geöffnet, Alles Leben schien aus ihr gewichen. Als aber das Weib die Flucht ergriff, kam Leben in Ruth.

»Haltet sie! Haltet sie!« Damit setzte sie hinter der Fliehenden her. Niemand verstand sie, niemand begriff, was sie wollte; aber alle liefen mit. Es war eine tolle Jagd.

Das Weib hatte einen großen Vorsprung. Ruth hatte zu lange gebraucht, ehe sie begriff, worum es sich handelte. Aber das Weib war alt und Ruth hatte junge Füße. Die Liebe lieh ihr Kraft. Näher und näher kam sie der Flüchtenden. Nur drei Schritte noch, nur zwei, nur einen! Schon streckte Ruth die Hände aus, das Weib zu fassen. »Lieber Gott, gib mir Kraft!« Das war ihr Stoßgebet, und sie wurde erhört.

Als das Weib Ruth so dicht hinter sich hörte, wandte es sich und hob einen Arm zum gewaltigen Streich gegen das Mädchen. Dumpf schmetterte der Schlag auf Ruths Stirn. Aber zugleich hatte Ruth das Kind gefaßt, das nur noch ein Arm des Weibes umklammerte. Mit der letzten Kraft zog sie es an sich, ehe der Schlag sie niederwarf; sie hielt es im Fallen an sich gepreßt und deckte es dann mit ihrem bewußtlosen Körper.

Das Weib floh wieder in sinnloser Hast. Niemand dachte daran, es zu verfolgen. Hier gab es viel Interessanteres zu schauen.

Da lag die junge Fremde am Boden, das Kind im Arm. Ein fremdes Kind war es! Goldbraune Löckchen ringelten sich um ein schmales, kleines, rosiges Gesicht, aus dem große braune Augen sahen. So schaute kein Kind des Landes darein. Was für eine Bewandtnis hatte es mit diesen beiden Fremden? In welchem Verhältnis stand die junge Dame zu dem Kind, das jetzt bitterlich weinte und mit den kleinen Händen das bewußtlose Gesicht da neben sich streichelte?

Und die junge Fremde? War sie tot? Sie lag bleich und still. Was sollte man mit ihr beginnen? Wo gehörte sie hin? Wie kam sie hierher? Wo war ihre Kuruma und der Kurumaja, der Auskunft hätte geben können?

Erregt flogen diese Fragen hin und her. Weiber drängten sich heran, knieten um Ruth und weinten laut. Wie sie blaß war und still! Das schöne blonde Haar! Weshalb sie wohl dem Weib das Kind abgejagt hatte, mit Aufgebot all ihrer Kräfte, mit Lebensgefahr? Denn das Weib mußte wahnsinnig gewesen sein; das hatte man an dem wirren Blick, ja schon an dem Verhalten dort in dem brennenden Hause gesehen. Wie sie die junge Fremde zu Boden geschmettert hatte! Man hatte den Schlag ordentlich hören können. Ob die junge, zarte Fremde ihn überwinden, ob sie je wieder die Augen aufschlagen würde?

Die Weiber im Knäuel um die Bewußtlose weinten lauter; gewaltiges Mitleid erfüllte sie. Tatlos standen die Männer daneben.

Da kam ein berittener Polizeimann daher. Befehlend teilte er die Menge. Er sah, was die Ursache der Zusammenrottung war, die bewußtlose junge Fremde mit dem Kind im Arm, und ordnete an, was das einzig Richtige war und woran doch keiner von allen den Umstehenden und Jammernden gedacht hatte, nämlich daß man sie unverzüglich in ein Krankenhaus verbringe.

Eine Bahre war schnell zur Stelle. Ruths Körper wurde darauf gelegt. Eine mitleidige Frau hatte das Kind an sich genommen und trug es neben der Bahre her. Es hatte zu weinen aufgehört, sah nur mit erschreckten Augen um sich und breitete zuweilen die Arme nach der stillen Gestalt aus, die nebenher getragen wurde.

So erreichte der traurige Zug das Krankenhaus, wo alsbald Hilfe zur Stelle war. – – –

Herr Regierungsrat Rümelin und seine Frau waren, von ihren Kurumaja in wildem Trab befördert, sehr schnell vor ihrer Wohnung angelangt. Das Haus stand unversehrt. Die Erdstöße waren doch nicht stark genug gewesen, den verschiedenen Steinbauten etwas anzuhaben. Ein paar Kamine waren eingestürzt, einige Dächer hatten Schaden gelitten. Ziegel und Schieferplatten lagen in den Straßen verstreut. Auch viele gesprungene Fensterscheiben sah man. Wäre die Feuersbrunst in der japanischen Stadt nicht gewesen, das Erdbeben hätte weiter gar keine schlimmen Folgen gehabt.

Das ist überhaupt die zumeist gefürchtete Gefahr für den Japaner in einem solchen Fall. Seinen niederen Holzbehausungen können die Erdstöße nicht viel anhaben, und wenn sie stürzen, ist leicht Ersatz geschafft. Nur diese Feuer, die fast jedesmal im Gefolge der Erdbeben auftreten! Was Wunder bei dem Holzmaterial der Häuser und den offenen Feuerstellen! Kommt ein Wind hinzu, fallen ganze Stadtteile den Flammen zum Opfer. Aber, wie gesagt, Ersatz ist schnell beschafft. Fast so schnell wie sie zerstört werden, erstehen die Stadtteile wieder. Alle verschiedenen Teile eines Hauses sind fertig vorrätig. Das Balkengerüst ist rasch gezimmert; das leichte Dach wird aufgesetzt und gedeckt. Nun werden die Wände eingeschoben, Holzrahmen, mit Papier beklebt, und die Behausung ist fertig. Läßt sich etwas Einfacheres und Bequemeres denken?

Die Rümelin standen also vor ihrem unversehrten Hause. Auch Izakura, der Koch, Haru und Sighe standen da und schauten nach der Herrschaft aus. Sie getrauten sich nicht in das schwere Steinhaus zurück, das ihnen viel gefährlicher schien als die anderen Häuser ihrer Heimat. Sie schienen sehr froh und erleichtert, als sie die Herrschaft kommen sahen.

»Alles in Ordnung?« fragte der Regierungsrat, nachdem er die Kurumaja abgelohnt hatte. »Das war eine böse Überraschung, was?«

Er vergaß, daß er zu den Leuten in fremder Zunge redete. Aber sie verstanden seine freundliche, gütige Miene, kamen herzu und griffen mit tiefem Neigen nach seinen Rockzipfeln. Er nahm sie lachend an sich. »Schon gut, schon gut, ich weiß schon!«

»Meine Tochter daheim, Kinder?« fragte indes Frau Regierungsrat gütig, besann sich aber sofort, wies nach dem Haus und fragte bloß: »Ruth?«

Nun verstanden sie und winkten lebhaft: »Nein!«

Frau Regierungsrat wandte sich etwas beunruhigt ihrem Manne zu. »Sie sagen, das Kind ist noch nicht daheim. Was kann daran schuld sein, Albrecht?«

»Hast du sie abfahren sehen, Anna?«

»Wäre ich sonst selbst gefahren?« Es klang fast gekränkt. Der Herr Regierungsrat zuckte die Achseln. »Na, dann habe Geduld! Sie wird gleich kommen. Der Bursche, der sie fährt, hat wohl einen Umweg gemacht.«

Ruth kam nicht gleich. Sie kam sehr lange nicht, so viel die Mutter auch nach ihr ausschaute. Eine Stunde verging und sie war noch immer nicht da.

Die Mutter hatte sie in der letzten Viertelstunde vergessen gehabt. Das heißt, die Frau Regierungsrat war mit Haru und Sighe durch die Zimmer gegangen und hatte an den Möbeln viel zu ordnen und zu rücken gefunden, ehe alles wieder im gewohnten Stande war. Die Erdstöße hatten durcheinander gerüttelt, was nicht niet- und nagelfest war. Die Frau Regierungsrat war in hausfraulichen Eifer geraten und hatte alles um sich her vergessen. Als sie sich wieder besann und nach der Uhr sah, waren volle zwei Stunden vergangen, seit sie das Haus betreten hatte. Und Ruth war noch immer nicht da!

Jetzt erzürnte sich die Frau Regierungsrat zuvörderst. Sie eilte in ihres Mannes Arbeitszimmer, der an seinem Schreibtisch saß und gleichfalls die Welt vergessen hatte.

»Albrecht, ich bin sehr böse auf Ruth,« sagte Frau Rümelin. »Sie kann sich doch denken, daß die Geschichte nicht ohne alle Folgen im Haus abgegangen ist. Ich habe mit Haru und Sighe gearbeitet und die Mamsell läßt sich's draußen wohl sein.«

»Wieso?« fragte der Herr Regierungsrat. »Sich wohl sein lassen?«

»Nun, sie ist doch sicherlich zu den Yusugura hinüber; da wollte ich darauf wetten. Lerne mich mein Fräulein Tochter kennen! Nicht für eine Bohne Überlegung! Nur was eben der Augenblick mit sich bringt.«

»Von wem sie das nur hat?« Der Herr Regierungsrat fragte es eigentlich ganz harm- und gedankenlos. Seine Frau aber sah ihn mißtrauisch an, zuckte die Achseln, machte die Tür hinter sich zu und zwar etwas lauter, als gerade nötig war. Er sah erstaunt auf. Da aber niemand mehr da war, dem er seine Gedanken mitteilen konnte, so vertiefte er sich schleunigst wieder in seine Akten.

Die Mutter aber wartete noch eine halbe Stunde, ob sich ihr Kind von selbst auf seine Pflicht besinne. Als das nicht geschah, schickte sie Sighe aus, sie heimzuholen.

Aber Sighe kam allein zurück. Die Yusugura wußten nichts von Ruth. Da erst begann Mutter Rümelin sich um ihr Kind zu sorgen.

»Albrecht,« sagte sie und trat wieder hinter des Herrn Regierungsrat Schreibtisch, »Albrecht, dem Kind muß was zugestoßen sein.«

»Unsinn,« erwiderte der Herr Regierungsrat und kam nur schwer mit den Gedanken zurecht, »Unsinn, Anna! Wer weiß, was das Mädel vor hat und wo es steckt.«

»Aber das ist's ja eben, was ich frage! Guter Himmel, wo ist das Unglückskind hingeraten?« Jetzt weinte die Mutter bitterlich.

Da war der Herr Regierungsrat bei der Sache. Er stand auf und legte den Arm um seine Frau.

»Laß gut sein, Anna; ich gehe sofort nachsehen. Ich erwische sie sicher. Der Unband treibt sich gewiß ein bissel rum, wo's was zu sehen gibt. Ich bin gleich wieder da, Anna, wirst sehen.«

Er hatte es aber doch jetzt recht eilig, fortzukommen, der Herr Regierungsrat. Allerhand Bilder tauchten vor ihm auf, die ihm nicht gefielen. Die Frau Regierungsrat sah ihm nach, bis er an der Straßenecke verschwand. Dann machte sie sich daran, das Büfett zu räumen, dessen Inhalt ebenfalls tüchtig durcheinandergerüttelt worden war. Sie zählte zu jenen, die wissen, daß Arbeit das beste Heilmittel ist gegen allerlei Nöten der Seele.

Dann stand der Herr Regierungsrat mit einmal wieder vor ihr. »Ich habe nichts von dem Mädel entdecken können, Anna. Was nun?«

Sie sah ihn an und merkte die blasse Furcht in seinen Augen, wenn sie auch der Mund nicht aussprach. Sie zitterte stark, klammerte sich an ihres Mannes Arm, legte den Kopf dagegen, hob ihn dann wieder und war ganz ruhig.

»Zur Polizei gehen, Albrecht,« sagte sie nur.

»Natürlich doch!« Es ging wie eine Erleichterung durch ihn. »Daß ich daran nicht gleich gedacht habe,« und er war schon wieder unterwegs.

Die Frau Regierungsrat aber setzte sich in einen Sessel. So stark sie war, zur Arbeit konnte sie sich nun nicht weiter zwingen. Sie saß und harrte mit gefalteten Händen, was das Schicksal bringen würde.

Zunächst brachte es lange nichts, und das ist immer das Schwerste.

Dann kam Herr Yusugura, den seine Frau bei seiner Heimkunft benachrichtigt hatte, daß nach Ruth geschickt worden war, daß sie also vermißt würde.

Er war sehr höflich, teilnehmend und tröstend. Aber was er sagte, sein Erscheinen überhaupt brachte der armen Mutter erst zum Bewußtsein, daß Außergewöhnliches sich ereignet hatte; daß sie zu bedauern war, daß – daß vielleicht –

Als Herr Yusugura sich verabschiedet hatte, brach sie zusammen und weinte bitterlich.

So fand sie der Herr Regierungsrat, als er kurz danach heimkehrte.

Bei der Polizei wußte man einstweilen nichts von Ruth. Er nahm seine Frau tröstend in den Arm, hätte aber selbst eines Trostes bedurft. Man hatte ihm versprochen, er solle sofort benachrichtigt werden, sobald sich eine Spur finde, hatte ihn aber zugleich aufmerksam gemacht, daß er bei dem großen Wirrwarr, der allenthalben herrschte, einige Geduld haben müsse, mehr als in ruhigen Zeiten.

»Wären wir doch nie nach Japan gegangen, Albrecht,« schluchzte Frau Anna.

»Ein Unglück haftet nicht am Ort, Anna,« sagte er trübe.

»Du glaubst an ein Unglück? Du verheimlichst mir etwas,« schrie die arme Mutter auf. Da hatte er zu trösten und kam etwas über das eigene erdrückende Leid hinaus.

Es war eine lange Nacht, die die armen Eltern in der Sorge um ihr Kind durchwachten!

Ein bitter schwerer Tag sollte folgen, und noch eine Schreckensnacht und noch ein langer, o wie langer Tag!

Die arme Mutter war am Rande ihrer Kraft; sie konnte nicht mehr weinen. In stummer Verzweiflung saß sie da und harrte. Grausige Bilder stiegen vor ihres Geistes Augen auf und zogen vorüber, um noch grausigeren Platz zu machen. Würde sie und wie würde sie ihr Kind wiederfinden?

Wenn der Herr Regierungsrat nicht bei seiner armen Frau war, lief er zwischen seinem Hause und der Polizei hin und her, und kam zurück, immer mit demselben trostlosen Erfolg. Nichts – nichts!

Es war am Abend des zweiten Tags, seit das Erdbeben gewesen war und sie Ruth vermißten. Das Dämmern brach schon herein, die lachende Sonne war gesunken. Sie hatte der armen Mutter in diesen Tagen fast wehe getan. Wie konnte die Sonne scheinen, während solches Leid auf der Welt Raum hatte! Die armen Augen schmerzten vom vielen Weinen. Erleichtert sah die Frau Regierungsrat nun in das Grau. Sie hörte ihren Mann im Nebenzimmer rastlos auf und ab gehen. Das hatte er nun in all der Zeit getan, wenn er zu Haus war und nicht bei ihr saß, in wortlosem Mitleiden.

O wie sie litten! Die arme Mutter faßte sich nach dem Kopfe. Es schien ihr ein Wunder, daß sie noch denken konnte.

Da gellte der Ton der Haustürklingel. Er schallte in dem todstillen Haus mit verdoppelter Kraft. Was bedeutete er? Was brachte der Ton?

Beide Eltern waren zumal in die Höhe gefahren und aus dem Zimmer gestürzt.

Es hatte sie durchzuckt: da war die Entscheidung! An ihren Mann klammerte sich Frau Anna. Die Kraft wollte sie verlassen, und er legte den Arm um sie.

So standen sie und warteten, bis Sighe die Tür geöffnet hatte.

»Vielleicht endlich eine Nachricht von der Polizei, Albrecht,« flüsterte Frau Anna ihrem Manne zu.

»Gott gebe es!« Mehr konnte er sonst nicht erwidern.

Die Tür ging auf und Kiku Yusugura stand vor ihnen. Frau Anna weinte laut auf; die Enttäuschung war zu groß.

»Mich sie gefunden haben! Mich sie gefunden haben, liebe gnädige Frau!«

Frau Rümelin sank zu Boden.

Kiku lag vor Frau Rümelin auf den Knieen und umschlang sie in Tränen, denn Frau Anna war zu Boden gesunken; ihr Mann hatte sie nicht halten können.

Kikus und seinen Bemühungen gelang es aber schnell, die Ohnmächtige wieder zu beleben. Auch die erlösende Freude tat ihr Teil. In ihre schlafenden Sinne hinein tönte es: »Ich habe sie wiedergefunden!« und das erste, was die erwachenden Sinne faßten, war ebenfalls der Wonnelaut: »Ich habe sie wiedergefunden!« Sollte der eine Mutter nicht vom Tod zum Leben wecken?

Frau Anna legte die Arme um Kiku und diese mußte erzählen.

 

Aus Ruths Gelegenheitsbuch:

Wo fange ich an? Büchlein, mein Büchlein, was habe ich alles erlebt, seit ich dich das letzte Mal beiseite legte! Es ist überhaupt ein Wunder, daß ich noch einmal nach dir greifen kann. Der Arzt sagte, wäre der Schlag nur um wenig stärker gewesen, ich wäre nicht wieder zum Leben erwacht. Zum sonnigen, wonnigen Leben! Doch der Reihe nach erzählen, Ruth!

Vom Chrysanthemumfest beim Mikado und von dessen Schluß-, Haupt- und Knalleffekt, dem Erdbeben, mag ich gar nicht reden. Es scheint mir jetzt recht unwesentlich. Wenn mein lieber zukünftiger Leser unbedingt davon erfahren will, rate ich ihm, in irgendeiner Reisebeschreibung von Japan darüber nachzulesen. Er findet es dort sicher viel besser beschrieben, als ich es tun könnte.

Aber was dann kam, das kann nur ich allein meinem lieben Leser berichten und ich werde es so genau und so schön tun, als ich es nur vermag. Ich werde auch versuchen, bei der Sache zu bleiben und nicht auf die Erschaffung der Welt zurückzugreifen, wie es der Ruth Rümelin sonst leicht geschieht.

So will ich denn ohne weitere Umschweife sagen: die alte Frau mit dem Kind in dem brennenden Hause, die ich dann verfolgte und die mich niederschlug, war – – – ja, wirklich und wahrhaftig, es war die alte Sada mit Iris!

Das Leben ist der kühnste Dichter, habe ich einmal irgendwo gelesen. Wer das gesagt hat, der hat recht. Man denke! Wir mußten beim Mikado und den Chrysanthemen zu Gaste sein, das Erdbeben mußte kommen, mein Kurumaja mußte wie blind und toll mit mir dorthin rennen, wo die Flammen wüteten – ich will mich übrigens kein bißchen besser hinstellen als ich bin! Ich machte auch nicht den geringsten Versuch, ihn zu halten; mir war es eben recht – und das Haus mußte brennen, wir, Akira und ich, mußten just zurecht kommen, wie das Weib in Lebensgefahr um Hilfe schrie! Wie alle die vielen, die zusahen, den Kopf verloren hatten, bis dann die Feuerwehr noch gerade recht kam, die alte Sada und Iris zu retten! Ich mußte sie erkennen, ich, gerade ich! Und durfte ihr das Kind abjagen! Ich darf es auch der armen Mutter wieder ans Herz legen! Ich, die Ruth Rümelin! Hat da das Leben nicht wirklich das Kühnste zusammengedichtet, was das phantasievollste Gehirn zu ersinnen imstande wäre?

Durch diese Betrachtung habe ich, wie ich merke, meinen lieben Leser auch mit dem Gang der Dinge, so wie sie sich an jenem denkwürdigen Tage zutrugen, vertraut gemacht und kann unbedenklich dort fortfahren, wo ich vorhin anfing: wie das alte Weib, die gräßliche Sada, mich niederschlug. Das letzte, was ich im Fallen mit klarem Bewußtsein noch in mich aufnahm, war, daß ich das Kind in den Armen hielt. Meine erste Frage soll dann auch der kleinen Iris gegolten haben. Aber ich greife vor. Hübsch der Reihe nach, Ruth Rümelin!

Und doch, wo sollte ich anders anfangen, als mit dem Zeitpunkt, da ich die Augen wieder aufschlug und mich zurechtzufinden suchte in der fremden Welt, die mich umgab?

Fremd war sie mir nur so lange, als ich meine Gedanken noch nicht alle beisammen hatte. Dann beugte sich ein liebes, bekanntes Gesicht über mich, Kiku, und ihre Stimme sagte: »Da du sein, meine Ruth! Wir furchtbar in Angst gewesen!«

»Wo ist Iris?« fragte ich und sah mit entsetzten Augen um mich.

»Wer Iris sein?« forschte Kiku. Sie sah mich bange dazu an; sie fürchtete wohl, ich phantasiere. »Du mir sagen.«

»Die kleine Iris, Frau Klaras armes verlorenes Blumenkind! Ich muß zu ihr; ich muß – ich muß –« Damit wollte ich aufspringen. Kiku hielt mich fest. Jetzt erst bemerkte ich klar meine Umgebung.

»Wo bin ich, Kiku?«

»Du in Krankenhaus sein. Sie dich hierher bringen, wie du bewußtlos sein. Ich dich hier finden; ich wollen in allen Krankenhäusern suchen, weil Polizei nichts von dir wissen. Arme Eltern sein sehr in Sorge.«

Da dachte ich erstmals an meine geliebten Eltern. Aber sofort verdrängte die kleine Iris sie wieder. Ich schrak zusammen.

»Wo ist das Kind? Kiku, wo ist das Kind?«

Kiku winkte einer Wärterin. Sie fragte und ließ sich offenbar dann berichten. Die Wärterin ging hinaus. »Du gleich sollen Kind sehen,« erklärte Kiku.

Wie ein Aufatmen ging es durch mich hin und getröstet legte ich mich in den Kissen zurecht.

Dann brachten sie mir die kleine Iris. Das Kind lachte mich an und legte mir die Arme um den Hals. Ich war glückselig. Kiku fragte, und ich erzählte.

Dann ging Kiku, meine armen Eltern holen. Was die um mich erdulden mußten, habe ich mir später erst klar gemacht. Aber kein Wort des Vorwurfs, nur Liebe! Doch ich greife wieder vor.

Erst wollte ich noch sagen, daß ich Kiku meine Auffindung verdanke. Die Gute hatte in ihrer Schule von meinem Verschwinden gehört, und auch, daß die Polizei vergeblich befragt worden sei. Hier schiebe ich noch etwas ein. Der Mann, auf dessen Geheiß ich ins Krankenhaus verbracht wurde, hat dann im Feuer selber auch eine Verletzung erhalten. Ein Balken ist ihm von einem brennenden Haus auf den Kopf gestürzt. Er wurde ebenfalls in ein Spital gebracht. Daher kam es, daß er nicht Bericht erstatten konnte und mein Aufenthalt verborgen blieb.

Aber zu Kiku zurück! Sie erbat sich in der Schule für einen Tag Urlaub, verriet von ihrem Plane nichts und durchsuchte nun alle Hospitäler der Stadt. Lange war es erfolglos. Das, wohin sie mich gebracht hatten, war das letzte. Sie kam erst gegen Abend dahin und eben recht, bei meinem Erwachen dabei zu sein. Bis dahin hatte ich bewußtlos gelegen. Die Ärzte sollen meinetwegen sehr besorgt gewesen sein. Meine treue Kiku!

Und dann ging sie, meine geliebten Eltern holen.

Soll ich von dem Wiedersehen erzählen? Ruth Rümelins Feder ist dazu nicht genug geübt. Ich weiß auch nicht mehr viel davon. Ich war doch wohl noch recht schwach. Ich erinnere mich nur, daß mir war, als sei ich nach endloser Reise wieder in die Heimat gekehrt, wie Mutterle und Vaterle nun an meinem Lager saßen. Reden konnte ich nicht viel; ich lag und sah den Geliebten ins Gesicht, beruhigt und geborgen.

Das Vorhandensein der kleinen Iris redete für mich; es war Erklärung und Entschuldigung zugleich. Mutterle hielt sie in einem Arm und hatte den anderen um mich geschlungen. Sie sah so blaß aus und verhärmt; das Herz tat mir weh. Aber wie ich etwas stammeln wollte, da hat mir das Mutterle den Mund mit einem Kuß verschlossen.

Vaterle hat mich gleich mit heim nehmen wollen. Doch nach längerer Beratung mit dem Arzte wurde beschlossen, daß ich noch die Nacht über im Spital bleiben solle. Ich war's zufrieden. Mutterle saß neben mir. Die kleine Iris legten sie auf ein Lager daneben. Wie in den Kindertagen schlief ich ein, mein Kindergebet von damals auf den Lippen.

Anderen Tags haben sie mich dann heimgebracht. Kiku holte mich in ihrer Kuruma; ich hielt die kleine Iris auf dem Schoß. Mutterle und Vaterle fuhren hinter uns. Wie mich unsere Leute bewillkommneten! Es rührte mich förmlich. Als sei ich von den Toten auferstanden! Ich war wohl wirklich nahe daran vorbeigegangen, am Tod meine ich; der Arzt sagte so zum Vater. Aber er sagte auch, daß meine kräftige Natur sich schnell herausreißen würde.

Das tat sie auch. Ich fühlte mich schon fast die alte, als ich jedes Stück im Haus mit Freuden begrüßte. Daß dabei meine Tränen strömten, war wohl noch ein bißchen Schwäche, also zu begreifen und zu entschuldigen.

Aber die kleine Iris! Vaterle hat mir versprochen, daß ich sie selbst den armen – nein, den glücklichen Eltern zurückbringen darf. Was werden sie sagen! Einen Tag soll ich noch warten. Ich sei noch nicht kräftig genug, sagt Mutterle. Vaterle hat an Herrn Überle telegraphiert. Er hat aber nur gesagt, ich habe etwas über Klein-Iris in Erfahrung gebracht und komme morgen, darüber zu berichten. Es wird sie vorbereiten.

Abends spät am nächsten Tag.

Ich kann nicht an Schlafen denken, ehe ich berichtet habe, was ich heute erlebte, und sollte ich darüber alt und grau werden! Huijeh, wie gut, daß es noch ein Weilchen dauert bis dahin! Aber wirklich, nie in meinem Leben werde ich vergessen, was ich heute erleben durfte. Dieses Glück! Dieser Dank!

Ruth Rümelin, schön bei der Sache bleiben!

Früh am Morgen schon waren wir munter. Wie frühe ich auf war, verrate ich gar nicht. Ich hätte gerne die kleine Iris bei mir haben wollen, aber Mutterle hatte das nicht erlaubt. Ich sollte meine gute ungestörte Nachtruhe genießen, hieß es, sonst sei ich den Anstrengungen und Erregungen des kommenden Tages nicht gewachsen. Das hatte gewiß seine Richtigkeit, denn Frau Klara – – – pst, Ruth Rümelin!

Ich saß am Fenster meines Stübchens, sah die Strahlensonne Japans über den grauen Tag Herr werden und dachte, wie heute auch über Frau Klaras nachtgrauen Jammer die leuchtende Glückssonne Meister werden sollte. Ach und welch ein Glücksgefühl war in mir! Welch ein Danken, daß ich – ich ihr dies bringen durfte!

Dann hörte ich auch der kleinen Iris Silberstimme und Mutterles liebe, weiche Laute. Da hielt es mich nicht mehr fern von meinen Lieben. Ich mußte die Arme um sie legen und ihnen ins Auge sehen.

Sehr früh, lange vor der bestimmten Zeit, waren wir denn auch alle gerüstet. Wir fuhren zur Bahn, und da will ich noch geschwind erzählen, daß Akira, meine Nummer siebenundsiebzig, wieder da war, seine Dienste anzubieten, als sei gar nichts vorgefallen. Ich war sehr erstaunt und zögerte natürlich, seine Kuruma zu besteigen. Dadurch wurden die Eltern erst aufmerksam.

Aber ehe sie etwas tun konnten, stand schon unsere Sighe bei ihm und plapperte lebhaft mit allen Zeichen der Erregung, wobei sie beständig auf mich wies. Sie erzählte ihm offenbar von meinen Erlebnissen, nachdem er mich schnöde im Stich gelassen hatte. Er stand zu Stein erstarrt.

Dann lag er vor mir auf dem Boden, faßte den Saum meines Kleides, preßte die Lippen darauf und flehte in den weichsten Klagetönen. Wie leid ihm alles war, sah man ihm an. Und war es am Ende ein Wunder, daß er des fremden Menschenkindes vergaß, als seine eigenen Kinder vielleicht in Gefahr waren? Wir hörten ja dann später wirklich, daß sein Haus abgebrannt war; keines der Seinen hatte aber dabei Schaden gelitten. Hätte ich hart sein sollen?

Ich gab ihm die Hand, stieg in seine Kuruma, als sei nichts vorgefallen, und sah an der Eltern Mienen, daß ich das Rechte getan hatte. So fuhren wir zur Bahn.

Nie aber bin ich mit einem solchen Bummelzug gefahren! Er schien nicht von der Stelle zu kommen. Ich hätte herausspringen und schieben helfen mögen. Komisch! Wie dann Vaterle mir auf mein beständiges Jammern gegen das Ende der Fahrt die Uhr hinhielt, da – ja, da war genau die fahrplanmäßige Zeit eingehalten. Auf die Minute liefen wir in Yokohama ein!

Herr Überle stand auf dem Bahnsteig. Ich hatte ihn schon erspäht, als er noch winzig klein wie eine Nippfigur in der Ferne stand.

»Da ist er! Ich sehe ihn deutlich. Das ist er!«

»Unsinn, Mädel! Man kann noch nichts unterscheiden.« Vaterle ist kurzsichtig; auch Mutterle konnte noch nichts sehen. Aber ich hatte doch recht! Da stand er und wir sahen in sein gutes Gesicht, auf dem Hoffen und Zweifeln deutlich genug zu lesen waren.

Jetzt erst bedachten wir, daß eine große, wenn auch freudige Überraschung zu viel sein kann für einen Menschen, der gelitten hat. Was tun? Mutterle hatte gesagt: »Es wird ihm doch nicht schaden?« Da erst war uns klar, was wir wagten. Ein Zurück gab's aber nicht mehr.

Wir ließen Vaterle vorangehen, als der Zug hielt. Dann kam Mutterle; ich hielt mich mit der kleinen Iris rückwärts.

»Was bringt ihr?« Ich hörte es Herrn Überle sagen und vernahm das Herzklopfen förmlich in seiner Stimme.

»Laß uns nur erst aussteigen, alter Freund,« sagte das Vaterle, um Zeit zu gewinnen.

»Wo – wo ist Ruth?« Die Stimme klang erstickt; mir wurde angst. Unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück und wollte die kleine Iris zurückhalten, die sich nach Kinderart vordrängte.

Aber sie entwischte mir, war auch an Mutterle vorüber, bevor diese zufassen konnte, und ehe wir wußten, wie uns geschah, stand sie vor Vaterle auf der Plattform des Wagens, jauchzte und breitete Herrn Überle die Arme entgegen.

Da sah ich etwas, das ich nicht für möglich gehalten hätte, wäre es nicht vor meinen eigenen Augen geschehen. Herr Überle, der starke Mann, wankte! Wäre Vaterle nicht schnell vom Wagen gesprungen und hätte ihn gestützt, er wäre gefallen. Laut weinte er, und einen starken Mann weinen sehen, ist einfach schrecklich. Mutterle und ich ließen denn auch die Tränen fließen. Wer hätte anders gekonnt?

Über Klein-Iris aber war das Erinnern gekommen. Sie stand, hob die Ärmchen und rief mit ihrer Silberstimme: »Papa! Papa!«

Als dies keine Wirkung hatte – Herr Überle war noch nicht er selbst – da wollte sich der kleine Mund zum kläglichen Weinen verziehen.

Ich hob das Kind und legte es sanft in die Vaterarme. Die schlossen sich fest darum. Die Englein im Himmel müssen ihre Freude daran gehabt haben. Wir standen, trockneten uns die Augen und sahen zu.

Klein-Iris fuhr mit den Patschhänden dem Vater ins Gesicht, schmiegte die Wangen daran, streichelte wieder und krähte dazu: »Papa! Papa!« Mehr sagte sie nicht, es war auch genug.

Dann kam das Erklären. Herr Überle legte den Arm um mich – mit dem anderen hielt er Klein-Iris – beugte sich zu mir und küßte mich auf die Stirn. »Kind, wie kann ich Ihnen das je danken! Sie haben mir nicht nur das Kind wiedergegeben, Sie haben mir auch die Frau gerettet. Klara –«

»Wie wird sie's tragen?« fragte ich. »Da es Sie schon – da es schon fast zu viel für Sie war.«

»Wir müssen es überlegen,« sagte er.

Wir setzten uns zusammen und sannen; er hielt Klein-Iris dabei fest im Arm. Wir machten aus, daß er einen kleinen Vorsprung haben sollte, um Frau Klara etwas vorzubereiten. Dann mußten wir's eben kommen lassen, wie's wollte.

»Freude erschüttert vielleicht, aber schadet nicht,« tröstete das Mutterle.

Herr Überle fuhr also ein Weilchen vor uns ab. Nur schwer ließ er Klein-Iris aus dem Arm; die winkte, solange wir ihn sehen konnten.

Uns war bange, denn wenn es den starken Mann schon so erschüttert hatte, sein Kind wiederzusehen, wie würde die zarte Frau es ertragen, deren Gemüt unter dem Schweren gelitten hatte.

Sehr bange fuhren wir durch die Straßen der Stadt, Nipon o dori entlang dem Bluff zu. Wir hatten den Kurumaja befohlen, langsam zu fahren; uns war, als ob wir ein Verhängnis dadurch hinausschieben könnten.

Wie der Mensch sich sorgt und grämt, überlegt, zurechtrücken und vorbeugen will bei etwas, das dann doch ganz anders kommt, als er erwartet hat!

Mit Herzklopfen hatten wir den Bluff erreicht, und fuhren an den schönen Gärten hin, die in der Blütenpracht der Chrysanthemen prangten. Für nichts hatten wir Augen noch Sinn.

Ich preßte die Hand aufs Herz, das wild schlug und hämmerte. Ich war wohl doch noch ein bißchen schwach. Die Tränen liefen mir über die Wangen, ohne daß ich es wußte. Als ich mir einmal mit der Hand nach der Stirn fuhr, merkte ich es. Meine Hand war naß von meinen Tränen. Eilig trocknete ich an meinem Gesicht und sah mich mißtrauisch um. Nein, niemand hatte es gesehen.

Da kam das Haus der Überle in Sicht, das kleine helle Haus, das aus dem Kryptomeriengrün doppelt hell und freundlich vorleuchtete, das so viel des Glücks faßte und dann so viel Leid hatte umschließen müssen. Was würden seine Mauern in der nächsten Stunde bergen?

Unsere Kuruma hielten. Ich zitterte so, daß Mutterle erschreckt den Arm um mich legte. »Nicht so, Ruth! Sei stark, Kind!«

Das Haus lag still, wie ausgestorben. Herr Überle hatte wohl Anordnungen getroffen, um seine Frau nicht durch den Lärm der Leute, die sich sicher nicht beherrschen konnten, vor der Zeit aufmerksam zu machen. Auch von Maiblümchen und Schneeglöckchen war keine Spur zu sehen.

Ja doch! Man hörte ihre Stimmen jetzt vom Garten her.

Und Klein-Iris? Die lauschte; man sah es deutlich. Sie war ganz still, aber ein Aufmerken lag in dem Gesicht. Man sah, wie die kleine Seele sich zurechttasten wollte durch die dunkle Strecke, die Fernsein und Vergessen zwischen sie und das Elternhaus gelegt hatten. Ich hob die kleine Süße hoch und preßte sie gegen mein klopfendes Herz.

Da stand mit einem Male Frau Klara unter der Tür. Sie breitete die Arme aus und sagte sehr ruhig, aber mit einem verklärten Leuchten im Gesicht: »Mein Kind! Ich wußte es ja. Gib mir mein Kind, Ruth!«

Da habe ich Klein-Iris in die Mutterarme gelegt. Es war mir, als ob ich eine heilige Handlung verrichte, und feierlich still standen die anderen daneben. Es fiel kein Wort. Man hörte nur das Stammeln der Mutter, die ihr Kind betastete, sich zu überzeugen, daß ihr Kleinod heil und ganz sei. Klein-Iris jauchzte dazu vor Wonne.

»Gib mir mein Kind, Ruth!«

Über Herrn Überles Gesicht liefen die Tränen; er scheute sich kein bißchen, sie rinnen zu lassen. Er hat uns später erzählt, Frau Klara habe seine vorbereitenden Worte mit der Frage abgeschnitten: »Bringt Ruth das Kind? Sag alles, Fritz, ich bin stark.« Da habe er alles gesagt. Sie habe dazu mit keiner Wimper gezuckt und nur einmal tiefatmend gesagt: »Mein Gott, ich danke dir!« Dann sei sie hinunter zur Tür gegangen und habe auf uns gewartet.

War das nicht groß, stark und vornehm? Ich will lernen, mich so in der Gewalt zu haben. Mutterle sagt, es sei das Ahnen des Mutterherzens gewesen; Frau Klara habe die Nähe ihres Kindes gespürt. Ob das sein kann? Vaterle sagt, sie sei durch das wochen-, ja monatelange Leiden erschöpft und mürbe gewesen, habe nicht mehr die Kraft zu einem erschütternden Gefühlsausbruch besessen. Wer hat nun recht, Mutterle oder Vaterle? Mir gefällt Mutterles Deutung besser.

Sehr still ist Frau Klara und sehr blaß, aber auch unbeschreiblich glücklich. Mich hat sie nicht von ihrer Seite gelassen. »Ich vergesse dir das nie, Ruth.« Mehr hat sie nicht gesagt, aber mir ist es genug, nein, fast zuviel gewesen. Was habe ich mehr getan, als die gebotene Gelegenheit ausgenutzt?

Ich sagte so was; da erwiderte Herr Überle, das sei das erste und beste im Leben, mit Umsicht und Geistesgegenwart zu handeln, wenn die Gelegenheit an uns herantritt. Das ist wahr. Hätte ich mich nur eine Sekunde zu lang besonnen, wäre die alte Sada mit Klein-Iris entkommen. Also darf ich wohl ein bissel Lob ohne Gewissensbisse einstecken.

Es rührte mich, wie weich mir Frau Klara dann später einmal über den Kopf strich: »Schmerzt er noch, Ruth?«

»'s ist ein Dickschädel, Frau Klara,« antwortete ich. »Er verträgt schon einen Puff!«

Aber von dem Wiedersehen zwischen den kleinen Schwestern will ich noch erzählen.

Wir waren durch das Haus auf die hintere Veranda gegangen. Dort auf der Terrasse, deren Blumenfelder jetzt von zahllosen Chrysanthemen bestanden waren, haschten sich Maiblümchen und Schneeglöckchen. Wie zwei große weiße Falter gaukelten sie zwischen den Blüten. Es sah ungemein lustig und niedlich aus.

»Schneeglöckchen, Maiblümchen!« rief da der Vater.

Sie stutzten, sahen auf, rannten jauchzend eine Strecke, stutzten wieder und sahen scheu zu uns hin, so als ob sie den eigenen hellen Braunäuglein nicht trauten. Sie machten noch ein paar Trippelschritte und hielten endgültig, die Fingerlein im Mund.

»Schneeglöckchen, Maiblümchen,« rief der Vater noch einmal, »kommt doch und seht, wer hier ist!« Immer noch zögerten sie.

Da breitete Klein-Iris die Arme gegen die Schwestern.

»Maibümsen, Sneedöksen!« Es war das erste Mal, daß die kleine Maid die Namen der Schwestern aussprach. Sie lispelte noch einmal: »Maibümsen, Sneedöksen!« und krähte dazu nach Kleinkinderart.

Da weinte Frau Klara zum ersten Male hell auf. Des Kindes Fortschritt im Sprechen machte ihr die Zeitdauer des Fernseins klar.

Aber da flogen auch schon die kleinen Schwestern heran. Jede reckte die Arme nach Klein-Iris; jede wollte die erste sein, sie zu begrüßen.

»Mis Iris Tuß deben!« rief Schneeglöckchen.

»Ich ersten Kuß geben!« verlangte das vorgeschrittenere Maiblümchen.

Beide standen auf den Fußspitzen und reckten sich an der Mutter hoch; Klein-Iris patschte den Schwesterlein ins Gesicht und schrie dazu vor Wonne. Dem hielten Frau Klaras Tränen nicht stand. Ein stilles Leuchten ging in ihren Augen auf, und ist den ganzen Tag nicht wieder daraus gewichen.

Wir wollten uns gleich wieder verabschieden, aber die Freunde ließen uns nicht fort.

»Im Leid wart ihr uns treu und wollt uns in der Freude allein lassen?« Herr Überle sagte es ziemlich vorwurfsvoll. Da sind wir geblieben.

Auch das Wiedersehen der Leute des Hauses mit der kleinen Iris war rührend. Das Kind schaute sich dabei mit sonderbar suchenden Augen um. Ob es an die alte Sada dachte?

Bei Tisch aßen alle Kinder mit. Frau Klara wollte sie nicht eine Sekunde aus den Augen lassen. Zum ersten Male an diesem Tag kam da das Krankhafte wieder bei ihr zum Vorschein. Sie brach auch in Tränen aus, als Herr Überle die Kinder mit einer der Dienerinnen wegschicken wollte.

»Ich lasse sie nie wieder allein, Fritz. Maju darf Iris nicht berühren! Nie, nie wieder! Hörst du? Noch einmal könnte ich so etwas nicht überleben!«

Sie schluchzte ein paarmal wild auf und dann kam der Ausbruch: »Laß uns fort aus diesem gräßlichen Lande! Sie nehmen uns ein zweites Mal das Kind und dann ist keine Ruth da, es uns wieder zu bringen! Man soll den Schöpfer nicht versuchen. Laß uns fort, Fritz, ich flehe dich an! Fort, nur fort!« Weinend und schluchzend lag sie am Boden; die drei Süßen umdrängten sie mit erschreckten Gesichtern, mit Mäulchen, die sich schon zum Weinen verzogen.

Wir waren alle sehr bestürzt. Herr Überle zog Frau Klara vom Boden auf, Mutterle und ich trösteten und beschwichtigten sie. Die drei Kinder zeterten jetzt ein bißchen.

»Wir überlegen es, Fraule,« sagte Herr Überle weich.

»Ich kann nichts überlegen, Fritz; ich weiß nur, daß ich hier zugrunde ginge in Sorge um das Kind. Komm, Fritz, komm fort!«

Was konnte er tun? Er, der Frau und Kinder so lieb hat? Er nickte meinem Vater zu. »Na, dann werd' ich wohl unser altes Stuttgart früher sehn als du, Freund! Hascht was zu bestelle?«

Der Schwabe war in ihm wach geworden beim Gedanken an die alte Heimat. Frau Klara sah ihn mit leuchtenden Augen an, durch ihre Tränen hindurch.

»Du willst, Fritzle, du willst?«

»Gibt's eine Wahl?« fragte er launig dagegen. »Du hast mir ja das Messer auf die Brust gesetzt, Fraule. Aber das sag' ich dir, mindestens dreimal Spätzle die Woch' und einen Kalbsbraten am Sonntag! Anders tut's ein guter Schwabe nicht. Wenn i erscht wieder im Ländle bin, dann will i au wisse, worum.«

Er hielt sie in den Armen und Frau Klara nickte verklärt.

Dann saßen wir fröhlich bei Tisch. Es ist also ausgemachte Sache, daß die Freunde das Land verlassen. Herr Überle will die Seinen heimbringen und dann noch einmal hierherkommen, um das Geschäft abzuwickeln. Es ist nicht schnell zu machen, sagt er, und will doch Frau und Kinder nicht so lange warten lassen. Er fürchtet wohl davon für Frau Klara. Gewiß ist es auch besser, sie möglichst rasch von hier fortzubringen. Mir tut es aber leid; ich habe sie sehr lieb.

Mein Kopf begann mit einem Male unerträglich zu schmerzen. Mutterle merkte gleich, daß mir was fehle. Die Überle wollten mich bei sich behalten; ich fuhr aber lieber mit den Eltern heim. Sie wußten nicht, was sie mir noch Liebes tun sollten.

Die Fahrt hierher war bös. Jede Umdrehung der Räder fühlte ich im Kopf. Daheim wurde es dann besser. Ich war recht froh darüber, denn ich wollte ja noch gerne in mein Büchlein schreiben. Frische Eier, gute Eier! Jetzt aber mit einem Male sind die Stiche wieder schlimm. Das brennt und wühlt und bohrt, als ob –

Ich muß mir den Kopf halten, ich kann nicht mehr. – – –

Zehn Tage später!

Eben kommen wir von Yokohama, wo wir die Freunde ans Schiff geleiteten. Wer das gedacht hätte, als sie uns einholten! Frau Klara wurde der Abschied zuletzt doch schwer.

»Wir haben viel Schönes in dem lieben Haus erlebt, siehst du, Ruth,« sagte sie und trocknete sich die Augen. »Aber ich muß fort, der Kinder wegen. Wenn ich ihnen eine gesunde Mutter erhalten will, dann muß ich gehen; ich fühle es. Um meinen Mann ist mir's leid. Er trennt sich schwer von dem Geschäft, das er zum Aufblühen brachte. Er wird sich nicht leicht an die engeren Verhältnisse daheim gewöhnen. Er bringt mir ein großes Opfer; ich weiß es und muß es annehmen, was nicht leicht ist. Selbst Opfer bringen ist leichter, glaube mir, Kind. Dir aber dank' ich –«

Doch halt, das gehört nicht hierher. Selbstlob ist nicht vornehm, sagt Mutterle.

Sie sind also fort. Wie haben wir ihnen nachgewinkt! Die drei Süßen ließen die Tüchlein flattern, solange unser Boot in Sicht war. Noch lange sah ich die drei weißen winzigen Punkte über der steilen Schiffswand oben. Dann merkte man, wie ein Schwanken den Riesenkörper erschütterte; das Schiff setzte sich in Bewegung. Es trug die Freunde der neuen – der alten Heimat entgegen. Wann werden die Rümelin es so gut haben?

Aber, Ruth Rümelin, du bist undankbar. Du hast einstweilen nur Schönes erlebt, hier im Lande der Blumen und der Sonne, das ein schönes, gesegnetes Land ist! Hast auch liebe Freunde finden dürfen und die Freunde, von denen du eben geschieden bist, wirst du im alten trauten Heim wiedersehen. Derweil ist hier gut sein.

Wie waren alle lieb und gut mit mir, als mich der böse Kopfschmerz befiel, nachdem wir von Yokohama zurück waren! Es war wohl doch zu früh gewesen, daß ich die Fahrt unternahm. Drei Tage habe ich gelegen und nicht viel von mir gewußt. Nur gefühlt habe ich, wie das Mutterle ab und zu ging, die Umschläge zu erneuern, die ich Tag und Nacht haben mußte. Kiku, die Gute, hat treulich geholfen. Wie leicht ist ihre Hand und wie lind! Als mir dann besser war, da habe ich auch Harukos Grübchengesicht wieder gesehen. Treulich kamen die beiden, mich zu erheitern. Wäre ich nun nicht das undankbarste Geschöpf, wenn ich klagen oder gar Heimweh haben wollte? Nein, undankbar ist die Ruth Rümelin nicht!


Der Winter setzte ein, ein strenger Herr für Japan. Die Rümelin hatten viel zu leiden, denn die Heizverhältnisse waren schlecht.

Ruth war recht unwirsch. Sie fror ungern und behauptete, frieren sei menschenunwürdig. Blaugefroren kam sie von den Yusugura heim, als sie wieder einen Nachmittag dort zugebracht hatte, um Kiku und Haruko zu sehen, die den Winter durch noch die Schule besuchten.

»Unglaublich, Mutterle!« Damit stürmte sie ins Zimmer, flog zum Kamin und streckte beide Hände fast in die prasselnden Flammen. »Wie man dabei existieren kann! Kauern sie da drüben alle am Boden, der Wind pfeift durch die papierenen Wände und sie haben nichts weiter, sich zu wärmen, als diese Hibachi, die Kästen mit glühenden Kohlen! Ich danke! Schändlich, sage ich dir! Ich klapperte mit den Zähnen. Kiku hat mir zwei Hibachi hingestellt und sie haben mich dazu ausgelacht. Nee, gemütlich ist anders! Uff! Will ich froh sein, wenn ich erst wieder einen gemütlichen Ofen sehe! Diese Kamine sind auch nur ein Notbehelf. Ich friere nicht gern!«

»Hast du sonst nichts zu erzählen?«

»Nee! Wenn ich friere, bin ich für nichts zu haben.«

»Und Kiku und Haruko?« fuhr die Mutter fort.

»Frieren nicht, wie sie behaupten, und das ärgert mich! Akira war auch ganz blau. Gestern hat ihm der Schnee auf Kopf und Schultern gelegen; dabei war er in der besten Laune. So was begreife ein anderer!«

Ja, Ruth war in übler Stimmung. Oft kam das nicht vor; darum ließ die Mutter sie ohne weiteres Mahnen gehen. Sie lachte nur. »Es wird auch wieder warm, Ruth. Lange dauert die kalte Zeit ja nicht, hier im Sonnenlande.«

»Ist auch ein Glück, sonst –« brummte Ruth und ging zur Tür, ehe sie den Satz fertig hatte. Sie stieß nicht eben sanft gegen den Vater an.

»Holla, Mamsell! Achtung, Augen auf! Was ist das?«

»Ein Brief! Ein Brief! Von der Leni!«

»Und nichts von meinen Buben?« Die Mutter war ganz blaß.

Aber da erhielt sie schon einen, der Doppelporto kostete, und sie rief wie ihr Kind: »Gott sei Dank!«

Dann saßen sie und lasen. Die Buben schrieben munter und vergnügt. Ihre Hauptsorge schien, wie sie an Weihnachten zu dem kommen sollten, was ein rechtes Kinderherz zumeist von dem Fest verlangt, die üblichen Gaben. Der kleine Erich erkundigte sich sehr eindringlich, ob die Eltern auch bedacht hätten, wie lange Zeit ein Brief und gar eine Sendung von Japan nach Stuttgart beanspruche. Das war zart mit dem Zaunpfahl gewinkt und wurde von denen weidlich belacht, die damit gemeint waren. Auch Georg betonte die Nähe des Festes. Der Herr Primaner schien das nicht unter seiner Würde zu halten. Die Mutter lachte und hatte doch Tränen in den Augen.

»Meine Buben! Gut, daß wir beizeiten sorgten! Ich denke, sie werden mit uns zufrieden sein, was, Albrecht?«

»Wie du wieder sprichst!« brummte der Herr Regierungsrat. »Wichtiger ist mir, daß ich's mit ihnen sein kann. Lies, was der Professor schreibt, Anna!« Er schmunzelte dazu.

Das Zeugnis, das seinen Buben da ausgestellt wurde, mußte nicht schlecht sein. Die Mutter lachte unter Tränen. »Brave Buben!«

»Was schreibt Leni, Ruth? Oder ist's ein Geheimnis?« Der Vater nahm Ruth am Ohrläppchen, hob ihr Gesicht zu sich und gab ihr einen Kuß. Es war längst wieder das alte Sonnengesicht, das man an Ruth gewohnt war. Die Wolken hatten sich verzogen. Ruth las:

»Herzliebste Ruth! Ich schreib' Dir nicht genug von daheim, sagst Du. Ja, schreibt mir die Ruth Rümelin denn gar so viel von Japan? Und hätte gewiß mehr Stoff! Das Vertrösten auf das sogenannte Gelegenheitsbuch kümmert mich die Bohne. Mir ist ein Spatz in der Hand allemal lieber als eine Taube auf dem Dach, und wenn's ein Paradiesvogel wäre. Na, aber ich sammle feurige Kohlen auf Dein Haupt. Unsere Schweizerreise war wonnig. Ich habe ein Tagebuch geschrieben; wenn Du kommst, kannst Du's lesen! Hm! Spiritus, merkst Du was? Aber eins will ich Dir geschwind doch sagen: wir haben sehr nette Bekanntschaften gemacht. Ein Assessor Rehmer und sein Freund – sie sind vom Rhein – haben sich uns angeschlossen und fast die ganze Reise mit uns gemacht. Die Eltern waren sehr froh darüber und mir – nun, mir war's auch nicht unlieb. Es sind wirklich nette Herren, die schon viel gereist sind und viel gesehen haben. Ihr Umgang war sehr bildend.«

Hier prustete Vater Rümelin heraus; auch Mutter Rümelin hatte ihr liebes Gesicht in Lachfalten gelegt. Ruth sah ungewiß auf und sagte gekränkt: »Wenn ihr Leni auslachen wollt, kann ich ja aufhören. Ich finde hier gar nichts zu lachen.«

»Verzeih mir nur, gute Ruth,« sagte der Vater scheinbar ernst, »ich will's gewiß nicht wieder tun.«

Ruth las weiter: »Daheim traf ich alles im alten Geleise. Die Mädel schienen alle froh, mich wieder zu haben, und das Kränzchen ist wieder schön im Gang. Alle grüßen Dich sehr. Für den Winter treten die meisten in den Familienkranz ein. Das wird fein! Schade, daß Du nicht dabei sein kannst! Mir wird's nur die halbe Freude sein. Übrigens, Du, in der Sexta fidelia – eigentlich ist's ja eben nur eine Quinta – gehen wichtige Dinge vor. Man merkt, daß wir alt werden. Neulich haben wir allen Ernstes unsere Zukunft besprochen. Höre und staune! Lotte Müller will Bibliothekarin werden; sie soll einen Kurs in Berlin durchmachen. Die Trude weiß noch nicht recht, wofür sie sich entscheidet. Die Eltern haben es ihr freigestellt, ob sie dasselbe werden will wie Lotte oder ins Lehrerinnenseminar geht. Diesen Winter soll sie sich noch darüber besinnen. Wir haben ihr zu den Büchern geraten. Weshalb? Da muß sie sich belehren lassen, während uns im anderen Fall die Kinder erbarmten, die sie belehren sollte. Sie ist nämlich noch viel ›lehrhafter‹ geworden. Na also! Die Anne Mayer weiß noch nicht, was sie will. Sie sagt, sie habe zu großes Talent für alles. Wenn sie Sängerin werde, sei's schade für ihr Maltalent und umgekehrt. Vielleicht widmet sie sich auch der Schriftstellerei. Wie gesagt, sie ist noch nicht einig mit sich. Dabei sah sie sehr großartig aus und wir fühlten uns ordentlich klein. Du, es wär' fein, wenn's mal hieße, aus der Sexta fidelia sei solch eine Größe hervorgegangen! Das wär' doch noch mehr, als wenn eine nach Japan reist, verzeih! Wir waren zwar recht erstaunt, daß in der Anne solche Talente schlummern, aber sie muß es doch selbst am besten wissen, denke ich. Und das Mariele und ich? Je ja, wir sind die zwei Dummerle. Ich hab' kein Talent, nicht einmal viel zum Haushalt wie das Mariele. Wie sie die fragten, hat sie einen roten Kopf bekommen, hat ein bissel vor sich hingelacht, wie sie tut, wenn sie sehr verlegen ist, und hat dann was gestottert. Als wir's 'rausbekamen, was es heißen sollte – man hat's wirklich raten müssen – da hat's geheißen: ›I – i – i will ebe in Gotts Namen heirate! Für was anders hab' i kei' Talent!‹ Die Lachsalve kannst Du Dir denken! Als sie mich dann fragten, bekannte ich mich zu des Marieles Lebensplan. Ich habe ja auch kein Talent, das der Mühe lohnt, ausgebildet zu werden. Und wo sollten die herkommen, die für die Männer den Haushalt führen, wenn alle Mädchen irgendwas sonst werden wollen? Das scheint mir denn doch nicht ganz recht. So will ich mich denn opfern wie das Mariele und den anderen überlassen, groß und berühmt zu werden. Hast Du Dich schon für irgend etwas entschieden, Ruth? Vielleicht wirst Du Weltreisende und entdeckst neue Erdteile. Das wäre fein, was? Überleg's, gelt? Übrigens grüßen Dich alle vieltausendmal. Sie freuen sich auch auf das Gelegenheitsbuch. Grüße auch Deine lieben Eltern sehr, hörst Du. Die meinen grüßen Dich.

Deine alte Leni.«

 

Ruth seufzte: »Je, daran hab' ich ja noch gar nicht gedacht.«

»Woran?« fragte der Vater und sah sein Töchterlein mit Schalksaugen an.

»An meinen künftigen Beruf,« sagte Ruth großartig, raffte ihren Brief auf und ging würdevoll ab. Des Vaters Lachen hörte sie noch auf der Treppe. Es kümmerte sie wenig.


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