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Hinaus in die Ferne.

. Durch die Königstraße in Stuttgart war eben die Wachtparade mit klingendem Spiel gezogen. Man hörte jetzt vom Schloßplatz her die Musik, am deutlichsten die große Pauke und helle Trompetentöne. Auch das Menschengewühl, das stets die Wache zu begleiten pflegt, hatte dorthin sich verlaufen.

Unweit dem Schillerdenkmal beim alten Schlosse lachte und kicherte es. Zwei sehr junge Dämchen standen da, höhere Töchter, Schülerinnen des damals unweit gelegenen Katharinenstifts. Sie waren eben im Begriff, Abschied zu nehmen. Leni Roland wohnte in der Neckarstraße, Ruth Rümelin dagegen mußte zur Silberburg hinauf – zwei entgegengesetzte Pole, was den beiden manchen Kummer bereitete. Sie waren nämlich gute Freundinnen, die zwei. Wie lange unter Umständen ein solcher Abschied dauern kann und was man sich alles noch notwendig gerade in der letzten Minute zu sagen hat, das kennt jedermann, der überhaupt etwas von den Gepflogenheiten sehr junger Damen im Alter von vierzehn oder fünfzehn Jahren weiß.

Leni Roland und Ruth Rümelin waren ja Herzensfreundinnen; seit drei Jahren gingen sie in dieselbe Klasse. Ruths Vater war damals als Regierungsrat nach Stuttgart ins Ministerium versetzt worden. Seit dieser Zeit hatten sich die beiden ewige Treue gelobt – und gehalten. Ja, sie waren gute Freundinnen, die zwei.

Leni zog die Uhr. »Je, du, 's ist Viertel. Mutter zankt!«

»Zu albern!« sagte Ruth und meinte damit, daß sie sich hier trennen müßten. Das sie das gleiche fast jedesmal sagte, wußte Leni genau, was es bedeutete.

»Zu dumm!« sagte auch sie und seufzte.

Der Seufzer klang aber so komisch aus dem immer lustigen Mund, daß die beiden lachen mußten, recht herzlich und hell.

»Da geht's ja fidel zu,« sagte jetzt eine Männerstimme, und ein Herr trat neben die beiden. Sie hatten ihn nicht kommen hören, hatten nichts gesehen als die eigenen frohen Gesichter.

»Vaterle,« jubelte Ruth und hing sich dem Herrn an den Arm, »da bist du ja. Jetzt brauch ich doch nicht allein zu gehen; es ist nämlich gar so langweilig, weißt du!«

Regierungsrat Rümelin lachte und zog sein Töchterchen an den Zöpfen, denn die hingen ihm noch über den Rücken, dick und schwer, lang und goldblond. Ruths ganzer Stolz waren sie, wenn sie's auch nicht zugab und gelegentlich sogar über die Last klagte.

»Eulenspiegel!« sagte der Herr Regierungsrat. Dazu schüttelte er Lenis Hand. »Tag, Kind! Immer fidel, was?«

»Ein bißchen, Herr Regierungsrat,« lachte die und zeigte dazu alle Grübchen und Zähne. »Aber ich muß gehen. Je, was wird Mutter sagen! Schon so spät!« Wieder ein Blick auf die Uhr, die noch nicht gar lang in Lenis Besitz war. »Vergiß das Kränzle nicht, Ruth. Punkt halb vier. Wer zu spät kommt, zahlt Strafe. Ich muß wirklich fort!«

Damit setzte sich Leni Roland in Trab, daß die braunen Zöpfe nur so flogen; gar nicht würdevoll, wie es sich doch für eine junge Dame geschickt hätte, die »schon« fünfzehn Jahre und vier Monate alt war.

»Leni!« rief Ruth und machte Miene, im selben Tempo hinter der Freundin herzusausen. Da aber faßte der Herr Regierungsrat die Ausreißerin noch eben zur rechten Zeit.

»Halt, nicht gerührt und Order pariert! Jetzt geht's heim. Denkt denn die Mamsell, mein Magen sei von Gummi, der beliebig schrumpft? Nichts da, ich habe Hunger. Verstanden?« Er schob den Arm in den Ruths.

»Ich ja auch, Vaterle.

Nämlich gräßlichen Hunger, wirklich! Nur – bloß – Leni! – – Leni!« Das trompetete sie dermaßen, daß Regierungsrat Rümelin erschreckt zusammenfuhr. Dann aber zankte er: »Ist das ein Benehmen, Mädle? Wie alt bist du eigentlich? Und bist du meine Tochter oder ein Gassenjunge? Ich muß mich ja schämen.«

»Tag, Kind! immer fidel, was?«

Er war ernstlich böse. Ruth hing den Kopf, aber nur einen Augenblick; dann lachte sie wieder.

»Verzeih, Vaterle, ich tu's nicht wieder! Hab' der Leni nur noch sagen wollen, daß – na, einerlei! Komm, Vaterle, komm!«

Sie hing sich in des Vaters Arm, von dem sie sich zuvor frei gemacht hatte, und die beiden gingen nun sehr vergnügt und einträchtig die jetzt ziemlich leere Königstraße hinauf.

Regierungsrat Rümelin sah sein Töchterchen neckend von der Seite an. »Ich weiß was Neues, du!«

Ruth rieb den Kopf an seiner Schulter. »Sag's, bitte!« Sie kniff ihn in den Arm. »Schnell, sag's!«

Er lachte. »Werd mich hüten! Erst die Mutter, dann du!«

Das fand sie nun ganz in der Ordnung, versuchte ihr Heil aber doch noch einmal. Sie machte ihr beweglichstes Gesicht, faltete die Hände, hielt sie ihm entgegen und flehte mit Augen und Mund: »Bitte, Vaterle, bitte!«

Er aber schüttelte nur neckend den Kopf.

Als sie in der Silberburgstraße die Treppe zur Wohnung hinaufstiegen, wollte Ruth sich losreißen und vorausstürmen. Der Vater hielt sie fest. »Immer hübsch gemütlich!« Da fügte sie sich und blieb, aber alles an ihr fieberte.

Sie waren auch kaum hinter der Glastüre, riß sie sich los, stieß die Eßzimmertür auf und posaunte: »Mutter, Vaterle weiß was Neues! Er will's aber nur dir zuerst sagen.«

An ihrem Arbeitstisch saß die Frau Regierungsrat Rümelin, sichtlich das Urbild ihrer blonden schlanken Tochter, eine feine, noch sehr hübsche Dame. Sie hob erschreckt das Gesicht, als Ruth so in ihren Frieden brach. »Kind, wirst du denn nie ruhiger werden?«

Aber Ruth hatte schon die Arme um ihren Hals gelegt und sah sie fröhlich an. »Ich kann nichts dafür, Mutterle. Es muß ein Springmännle in mir sein; das läßt mich nicht zur Ruh kommen. Aber geh doch zum Vater; ich soll ja erst nach dir erfahren, was es gibt, und hör doch für mein Leben gern was Neues.«

Die Mutter drohte ihr, war aber selbst schon an der Tür, sichtlich gar nicht abgeneigt, zu hören, was der Vater zu sagen hatte. Man vernahm, wie die Tür zu des Vaters Arbeitszimmer geöffnet wurde, und dann war alles still.

Ruth stand und lauschte erst ein Weilchen, dann drehte sie sich auf dem Absatz. Sie hatte den Bücherpack in eine Ecke, Hut und Jacke in die andere geworfen, besann sich jetzt aber; Mutter konnte das Unordentlichsein nicht leiden. »Wenn Mutterle das sieht, muß ich erst alles forttragen, eh' ich höre, was Vater zu sagen hat. Fort damit also!« Trällernd ging sie hinaus.

Auf dem Vorplatz kam ihr Minele, das Hausmädchen entgegen.

»Fangen, Minele!« rief Ruth, und ehe das Mädchen wußte, wie ihm geschah, flogen ihm Hut, Jacke, Bücherriemen und Handschuhe vor die Füße.

Lachend bückte es sich danach. »Du mein! No net so stirmisch, Fraile Ruthle. Wann d' Frau Mutter des g'sehe hättet, no – – i will nix gesagt habe.« Minele zeigte alle Zähne. Kichernd hing sie ihres Fräuleins Sachen an den Kleiderständer und trat dann an den Eßtisch, wo es noch allerhand zu tun gab.

Ruth eilte in ihr Zimmer, ein nettes, freundliches Mädchenstübchen, das nichts zu wünschen übrig ließ. Denn Ruth war ein verwöhntes Töchterlein.

Noch zwei Brüder waren da, Georg und Erich, wilde Jungen, Bengel, wie Ruth sie nannte, aber brave Buben, die ihre Pflicht taten, daheim und in der Schule. Georg war Primaner, folglich älter als die Schwester, Erich zählte erst elf Jahre und besuchte gleichfalls das Gymnasium. Eben stürmten sie mit Gepolter die Treppe herauf.

Ruth hatte inzwischen ihr Haar glattgestrichen und die Hände gewaschen; Mutter hielt darauf nach der Schule. Sie trat auf den Vorplatz, die Brüder zu erwarten. Krachend flog die Glastür hinten wieder.

»Atsch, ich weiß was!« sagte Ruth anstatt jeglicher Begrüßung.

»Wird was Rechts sei,« antwortete Georg, der Primaner. »Sag's, Ruth! Kriegscht au was,« bat Erich, der Kleine, der noch von früheren »Kindertagen« her gewohnt war, sich der großen Geschwister Wohlwollen durch allerlei Bestechungen zu erkaufen.

»Was?« fragte denn auch Ruth, und tat gar begierig; allzu lang lagen die Kindertage noch nicht hinter ihr.

Erich besann sich und überschlug im Geist seine Schätze. Ehe er aber zu einem Ergebnis gelangte, öffnete sich Vaters Zimmertür, und die Eltern traten heraus. Der Vater hatte den Arm um der Mutter Schultern gelegt, und diese sah verweint aus.

Ruth sah es ganz genau und rümpfte die Nase. »Uijeh, – also nichts Nettes! Und ich hab' mich schon so drauf gefreut!«

Das sagte sie aber nur innerlich, stellte sich alsbald an der Mutter andere Seite und blickte ihr mitleidig ins Gesicht.

»Was gibt's, Mutterle?«

Die Frau Regierungsrat fuhr sich über das heiße Gesicht, dann lachte sie mit frohen Augen Ruth an.

»Brauchst die Augen nicht so aufzureißen, Mädle, es geht mir noch nicht an den Kragen, obgleich – – na, laß gut sein, Albrecht,« – das galt dem Herrn Regierungsrat, der den Arm noch fester um sie gelegt hatte. »Erst wird jetzt gegessen; alles muß seine Ordnung haben. Georg, Erich, seid ihr da? Sagt eurer Mutter doch guten Tag!«

Es lag etwas besonders Zärtliches in dem Ton, fast wie eine leise Klage. Sonst pflegte die Mutter ihre Söhne nicht so zu begrüßen. Die waren denn auch sichtlich erstaunt, ja bedrückt davon.

»Grüß Gott!« sagten beide sehr trocken und sahen verwundert dabei aus.

»Und –?« fragte Ruth, »und –?« Ihre Augen waren noch einmal so groß als sonst.

Mutter und Vater lachten. »Zu Tisch!« rief der Herr Regierungsrat. »Zu Tisch!«

Ruth wußte, dem war nicht entgegenzutreten, und daß alle Ungeduld vergebens sei; also ergab sie sich. Eben brachte auch Minele die Suppenschüssel. Ruth merkte jetzt selbst, wie hungrig sie war.

Erst als das Fleisch geschnitten und verteilt war, ging ein fragender Blick vom Vater zur Mutter. Diese nickte, und da sagte der Vater: »Ich habe euch etwas mitzuteilen, Kinder, worüber ihr staunen werdet. Ihr müßt mich ruhig reden lassen; ich will erst nachher hören, was ihr zu sagen habt. Es wurde vom japanischen Gesandten in Berlin bei uns angefragt, ob sich einer der Herren vom Ministerium entschließen könne, für etwa drei Jahre als juristischer Beirat der Kaiserlich Japanischen Regierung nach Tokio zu gehen. Sogar mein Name wurde dabei erwähnt; wie ich zu der Ehre komme, weiß ich nicht. Jedenfalls war es mir sehr überraschend. Ich habe bei dem Herrn Minister, der mir die Sache selbst vorlegte, um drei Tage Bedenkzeit gebeten, denn ich wollte erst mit eurer Mutter und auch mit euch drüber reden, Kinder. Ich will nicht allein bestimmen über etwas, das eine solche einschneidende Veränderung für uns alle bedeutet. Eure gute Mutter geht mit mir, sagt sie. Was, Anna?« Er hielt ihr die Hand hin. Sie nickte nur, hatte aber die Augen voll Tränen.

Eine kurze Weile saßen die drei, mit weit offenem Mund; dann brach der Sturm los.

»Ja, gehst du denn wirklich? Du bist also entschlossen? Vater, Vater, fein! Hurra! Hurra! Wir kommen alle mit! Alle! Natürlich! Selbstverständlich! Hurra! Hurra!«

Vater und Mutter ließen die Aufregung etwas abflauen und schwiegen ganz stille, lachten auch nicht. Ja, die Mutter trocknete nun offen ihre Augen, was sie zuvor nur verstohlen getan hatte. Das machte die drei doch etwas stutzig.

Sie waren im Eifer vom Tisch aufgesprungen. Georg, der Primaner, wedelte mit der Serviette über seinem Kopf herum, als ob er eine Fahne schwinge. Der kleine Erich stand bei der Mutter und kniff sie in der Freude seines Herzens empfindlich in den Arm. Ruth hing an des Vaters Hals und sah ihm mit den strahlenden Blauaugen ins Gesicht. »So was, Vaterle, nein, so was!«

Hilflos sah indessen die Mutter den Vater an. »Sprich du, Albrecht; ich kann's nicht,« sagte ihr Blick, und der Vater verstand ihn.

»Kinder,« begann er, »wir wollen die Sache einmal sehr ruhig überlegen. Was meinst du, Georg? Du bist eben in Unterprima eingetreten; glaubst du, daß eine dreijährige Pause in deinem Bildungsgang dir förderlich oder auch nur wünschenswert wäre?«

Georg war ein kluger Bursche und ein strammer dazu. Eine Sekunde stutzte er. »Nein, Vater,« sagte er dann klar und fest.

Der Vater reichte ihm die Hand über den Tisch hin. »Du bist mein guter Sohn!«

Der kleine Erich machte große, erschreckte Augen. Ahnte er, was folgte?

»Und du, Erich?« fragte denn auch jetzt der Vater und wollte seinen Jüngsten von der Mutter weg zu sich heranziehen.

Der klammerte sich aber an, so fest er konnte.

»I bleib beim Mutterle,« stieß er hastig heraus, und es klangen Trotz und verhaltene Angst aus seiner Stimme.

Der Mutter Tränen flossen nun frei und ungehindert. Sie hielt ihren Jüngsten erst an sich gepreßt, aber dann schob sie ihn doch ein Endchen von sich ab. »Du willst doch kein Dummkopf bleiben, Erich? Und etwas Tüchtiges gelernt haben muß der Mensch heutzutage. Ich hoffe, du überlegst dir die Sache noch.«

»Mammabüble,« höhnte Georg halblaut, was ihm einen strafenden Blick des Vaters eintrug. Der Bruder drohte mit der geballten Faust nach ihm, ohne das Gesicht aber von der Mutter Schulter zu heben.

Die liebkoste ihn leise. »Bist mein tapferer Bub, gelt?«

Da stand auch er stramm und blitzte den Bruder an. »Was du kannscht, kann i au, Dicktuer, du!« Sprach's und lief zur Tür.

Das heißt, er wollte laufen. Die Mutter faßte ihn aber noch eben zur rechten Zeit am Jackenzipfel, und der Vater zog ihn zu sich.

»Mein braver Bub!« sagte er, weiter nichts, aber der Kleine war so stolz, als ob er einen Orden bekommen hätte. Ganz gehoben fühlte er sich, was ihn freilich nicht hinderte, dem Bruder hinter des Vaters Rücken die Zunge blitzschnell vorzustrecken.

Dann kam den Brüdern zugleich derselbe Gedanke. »Und Ruth?« fragten sie atemlos.

Diese hielt noch immer die Arme um des Vaters Hals und lehnte ihr weiches Gesicht an seine Wange. Jetzt blieb ihr für einen Augenblick das Herz stillstehen; nun kam die Entscheidung. Unwillkürlich schmiegte sie sich noch fester an den Vater.

»D' Ruth muß doch au no viel lerne, des domme Ding,« sagten die Brüder wie aus einem Mund, getrieben von derselben brüderlichen Höflichkeit, von einem gewissen untrüglichen Vorahnen.

»Das muß sie freilich,« sagte der Vater, »und das wird sie auch. Aber sollen wir ganz allein gehen, die Mutter und ich? Glaubt ihr nicht, daß wir uns sehnen und Heimweh nach unseren Kindern haben würden? Wir bringen schon ein großes Opfer, wenn wir unsere beiden lieben Buben dahinten lassen müssen, weil es für ihr späteres Leben so besser ist. Ruth aber hat zu Ostern die Schule hinter sich; bei ihr bedeutet diese Reise keine Unterbrechung wichtiger Studien. Also, Georg und Erich! Ich werde viel von eurer Mutter fern sein müssen; es ist kein leichter Dienst dort für mich in den vollständig fremden Verhältnissen. Soll sie da ganz allein sein in dem fernen Land? Wollen wir ihr das Opfer, das sie mir bringt, nicht so leicht als möglich machen? Ja, Georg, Erich?«

Sie ließen die Köpfe hängen.

»Was sagen meine Söhne?« fragte der Vater noch einmal mild und freundlich.

Beide Jungen sahen ihn nun an, offen, ehrlich und treuherzig. »Ruth muß natürlich mit, Vater!« kam es wie aus einem Mund.

»Ich wußte es ja,« sagte der Vater und nickte der Mutter zu, die noch an ihren Tränen trocknete.

»Wie wär's, Anna, wenn du uns eine Flasche Rheinwein stiftetest? Deine Söhne haben wie Männer gesprochen; ein Männertrunk soll also die Sache besiegeln.«

Georg und Erich waren noch nie in ihrem Leben so stolz gewesen wie jetzt; alle Not war vergessen und auch kein Neid gegen Ruth kam auf. Die ging eben einfach der Mutter wegen mit; die Mutter sollte nicht allein im fremden Land sein.

»Daß du die Augen aufmachst, Ruth,« sagte Georg später, als schon die Gläser ein paarmal aneinander geklungen hatten, »du mußt uns viel erzählen, wenn ihr erst wiederkommt.« Nun seufzte er doch.

»Eine riesig lange Zeit, Vater. Drei Jahre!«

»Das ist's, aber die Zeit fliegt bei eifriger Arbeit. Wir wollen unsere Pflicht tun, mein Sohn!«

»Das wollen wir, Vater!« Sie drückten sich die Hände. Die Mutter hatte den Arm um ihren Jüngsten.

Ruth war wie im Traum; ganz ungewiß sah sie drein. War sie das wirklich, sie, Ruth Rümelin, die in ihrem jungen Leben noch nicht weit über das Schwabenland hinausgekommen war? Sie sollte nun diese »unmenschlich weite« Reise machen? Über das Meer in das fremde, ferne Land, in einen anderen Weltteil gar? Staunen erfaßte sie, etwas wie Grauen fast. Ihre Augen waren mit einem Male trüb und traurig. Dem ersten Entzückensausbruch, der nur durch die Rücksicht auf die Brüder gedämpft wurde, folgte nun der Rückschlag.

»Was hat mein Mädle?« fragte der Vater, dem dieser Wandel nicht entging. »Ja, ja, das Wasser hat keine Balken, gelt?« Er lachte gutmütig.

Schallend stimmten beide Brüder ein. Wenn es noch irgend einer Tatsache bedurft hätte, sie mit Ruths Reise auszusöhnen, hier war sie. Ruth fürchtete sich! Wahrhaftig, Ruth fürchtete sich! Ihr war bange vor der Reise, die ihnen, Georg und Erich, als der Inbegriff der höchsten Wonne erschien! So 'n Mädel, nein, so ein Mädel!

Ruth ließ sie lachen. Gut, daß sie es taten, die armen Schelme! Das Weinen würde ihnen schon noch kommen, wenn erst – ja, wenn erst –

Ruth richtete sich stramm auf.

»Ich fürcht mich nicht, Vater,« sagte sie mit einem ehrlichen Blick in dessen Gesicht. »Ich glaub wenigstens nicht, daß ich's tue. Ein bissele bang ist mir ja wohl, glaub ich, aber das tut nichts. Ich will schon tapfer sein; ich bin ja bei euch, Vaterle! Die Leni wird aber Augen machen, uijeh! Was die sagen wird! Und die anderen alle! Heut nachmittag ist ja Kränzle; da kann ich die Neuigkeit gleich brühwarm mitteilen. Uijeh, uijeh!«

Jetzt war Ruth doch auf den Füßen und drehte sich wie ein Kreisel, daß Zöpfe und Röcke flogen. »Vaterle, Mutterle,« jauchzte sie, »'s wird fein, fein!«

»Ruth,« mahnte die Mutter, »Ruth!«

Diese begriff, was die Mutter meinte, trat vor Georg und klopfte ihm auf die Schulter. »Alter, Lieber,« sagte sie weich, »ich wollt, ihr könntet mitkommen, alle zwei; 's wird nur das halbe Vergnügen sein ohne euch. Ich mag gar nicht dran denken.«

Georg sah die Schwester ein bißchen mißtrauisch an; sie hatte manch liebes Mal schon anders gesprochen. Ihm klang's noch im Ohr wie: »Bengel, weshalb die nur auf der Welt sind?« und sonstige schwesterliche Liebenswürdigkeiten. Nein, jetzt eben meinte es die Ruth ernst; das sah man an ihrem Gesicht und ihren Augen, in denen wahrhaftig Tränen standen. »D' Mädle sind halt zu domm,« dachte er, reichte ihr gönnerhaft die Hand und sagte: »Buben kommen schon eher in die Welt als Mädle. Ich gönn dir die Gelegenheit. Mach nur die Augen auf!«

Als Ruth sich dann an Erich heranmachen wollte, stieß er mit dem Fuß nach ihr; so sparte sie sich die Beileidsbezeugung.

»Schäm dich, Erich!« sagte die Mutter, aber nichts weiter. Sie trug diesmal den Verhältnissen Rechnung.

Dann war die Flasche Wein zu Ende und die Familie Rümelin ging den Pflichten des Tages nach: der Vater in seine Kanzlei, dem Herrn Minister schon heute seinen Entschluß zu melden, die Mutter an ihren Flickkorb, Georg und Erich in die Schule.

Ruth aber, die ging in ihr Kränzchen! Auf ihr Teil kam diesmal das leichteste Tagewerk. Erst freilich mußte sie noch eine Stunde üben. Sehr glatt ging die Beethovensonate nicht; die Mutter hätte viel zu tadeln gefunden, wenn sie nicht zu tief in Gedanken gewesen wäre. So spielte Ruth eben schlecht und recht, wie's die Finger gerade hergaben. Endlich war's drei Uhr. Sie konnte mit Anstand sich fürs Kränzchen zurechtmachen und Abschied vom Mutterle nehmen. Eins, zwei, drei – fort war sie. So schnell und achtlos war sie noch nie die interessante Königstraße hingeflogen. – – –

Bei Leni Roland waren die Kränzchenschwestern schon alle versammelt, ihrer sechs. » Sexta fidelia« hatten sie den Bund getauft. Sechs lustige Mädel waren es wirklich, nette, frische, junge Dinger, die aus hellen Augen in die Welt sahen, aber gelegentlich, wenn es nottat, auch ernst dreinschauen konnten. Sie wußten, daß es neben dem Lachen auch Weinen in der Welt gibt, und daß es nächst dem, mit den Frohen froh zu sein, das schönste Vorrecht des Menschen ist, mit den Weinenden weinen zu können.

Jetzt lachten sie. Bei Leni war's immer sehr nett; alle kamen gern zu ihr. Sie war das einzige Kind wohlhabender Eltern und recht verwöhnt; da fiel manches Außergewöhnliche für die Freundinnen mit ab. Das nahmen sie gerne mit, die Schelme, vor allem, weil es liebenswürdig geboten wurde, denn Leni war anspruchslos und gut. Anderen eine Freude machen, war ihre größte Freude.

So saßen sie also schon um den gedeckten Tisch und warteten nur auf Ruth. Die vier, die außer Ruth und Leni zur » Sexta fidelia« gehörten, hießen Lotte und Trude Müller, Bäschen, nicht Schwestern, ferner Anne Meyer und Mariele Motz; alle ungefähr gleichalterig, alle in derselben Klasse.

»Wo die Ruth steckt? Ich hab nen Bärenhunger,« sagte das Mariele eben und liebäugelte mit der Kuchenplatte. Mariele war kurz, rosig und rund. Man sah ihr an, daß sie vollen Schüsseln nicht abgeneigt war, und – sie auch zu leeren verstand.

»Frau Gieremund,« schalt Anne Meyer, ihre Intima.

»Du, wir haben Spätzle gehabt und die mag ich nicht,« entschuldigte sich das Mariele etwas kläglich.

»Und das will ein Schwabenmädle sein!« Anne, gar nicht besänftigt, zuckte die Schultern und verdrehte die Augen. »Schäm dich!«

Nun wurde auch Mariele hitzig.

»Du, i mag mei Ländle und i mag mein Kenig, aber die Spätzle send mir wurscht!« Hatte sie bewiesen, daß sie ein Schwabenmädle war? Alle lachten.

Leni Roland hatte indes das Fenster aufgemacht und beugte sich halben Leibes hinaus. »Dort kommt sie!« Das beruhigte denn alle Gemüter und hungrigen Magen. Sie eilten ans Fenster und stürmten dann Leni nach, die der Freundin entgegeneilte. Am Treppenknauf drängten sie sich jetzt; lustige Gesichter sahen auf Ruth nieder, die atemlos heraufkeuchte.

»Da bin ich und – Mädle, wenn ihr wüßtet – wenn ihr wüßtet!«

»Was gibt's, Ruth, was gibt's?« Atemlose Neugier, große, runde Augen, starkes Drängeln ringsum. Jede wollte die nächste bei Ruth sein. »Was gibt's, sag doch, was gibt's?«

Ruth machte bloß die Augen noch weiter auf. »Wenn ihr wüßtet – – wenn ihr wüßtet!«

Da erreichte die Erregung den Höhepunkt. Sie stießen und drängelten an Ruth herum, daß sie sich kaum im Gleichgewicht erhalten konnte.

»Ich fall!« schrie sie. »So paßt doch ein bißle auf, sonst komm ich nicht heil und ganz nach Japan!«

Da war's heraus! Eigentlich hatte ja Ruth die Freundinnen ganz anders zappeln und raten lassen wollen. Aber wer kann immer seine Absicht so durchführen, wie er's vorhatte? Die Ruth nicht; ihr war die Bombe noch in der Hand geplatzt. Sie stand nun und hielt den Atem an. Was würden die anderen sagen?

Zunächst überhaupt nichts. Sie begriffen die Sache offenbar gar nicht, hielten es wohl für einen Witz, den Ruth machte. Es galt also, schärferes Geschütz aufzufahren.

»Ja, und nach Japan möchte ich doch mit heilen Gliedern kommen, denn eine solche Gelegenheit bietet sich einem nicht alle Tage, seht ihr.« Herausfordernd sah Ruth um sich.

Die anderen lachten noch immer harmlos. Bloß Leni, die Ruth besser kannte, sah sie scharf an. »Was soll das heißen, Ruth?« fragte sie und machte dazu große, erschreckte Augen.

Aha, also eine hatte es doch begriffen! Ruth blickte der Freundin ins Gesicht und nun brachen Triumph und Jubel durch: »Nach Japan, nach Japan gehen wir, denkt doch! Vaterle ist für drei Jahre dahin berufen und – ich darf mit! Ich darf mit, denkt doch!« Sie hielt den Atem an. Was würden sie jetzt sagen?

Die Wirkung fiel nochmals unerwartet aus. Lautes Weinen ertönte. Leni hatte beide Hände vorm Gesicht; die anderen umdrängten sie und trösteten an ihr herum. Vorwurfsvolle Blicke trafen Ruth.

»Wie kann man so herzlos sei!« sagte Trude Müller strafend, denn sie versah bei den Sechsenden selbstgeschaffenen Posten als Moralrichterin.

Ruth schaute sie erst sehr erstaunt an; ihr war nicht klar, was Trude meinte. Dann fiel ihr Blick auf die weinende Leni und auch sie faßte mit einem Male der drohende Abschiedsschmerz; sie legte die Arme um der Freundin Hals.

»Und nach Japan möchte ich doch mit heilen Gliedern kommen!«

»Uijeh, Leni, ja, glaub's nur, mir tut's ja auch gar zu leid – nur – bloß – ja, siehst, ich kann doch Mutterle nicht allein gehen lasse! Das ist doch meine Pflicht, nicht, Leni? Und ich vergeß dich nicht, gewiß nicht! Und schreiben tu ich dir auch, wahrhaftig. Und ich bring dir was Schönes mit, sollst schon sehen! Vielleicht eine Lackdose? Oder was von Seide? Ich weiß: ein Kleid, so ein weißes, leichtes! Das hast du dir doch gewünscht, nicht, Leni? Geh, sieh mich doch an, ich – ich –« Nun schluchzten die beiden herzbrechend und hielten sich umklammert, als sollten sie schon in der nächsten Minute voneinander gerissen werden. Die vier anderen schluchzten zur Gesellschaft mit. Die Szene war hochtragisch.

Lenis Mutter kam nachsehen, was es gebe. Erschreckt sah sie ihr Töchterchen in Tränen und in Ruths Armen liegend, bei der die Wasserwerke ebenfalls unheimlich tätig waren.

»Was gibt's, Kinder? Ist Ruths Mutter krank? Oder ist sonst irgend ein Unglück geschehen? So redet doch; ich ängstige mich.«

Trude Müller fühlte sich zur Sprecherin berufen; sie hatte ihre Fassung am schnellsten wieder erlangt. Staunend vernahm Lenis Mutter die Kunde.

»Nach Japan gehst du mit den Eltern, Ruth? Aber das ist ja wundervoll interessant für dich. Ich begreife nicht, weshalb du da weinst, Kind!«

»Ich – ich – die Leni –« stammelte Ruth und drängte sich enger an die Freundin, die sie ihrerseits leidenschaftlich umschlang.

Frau Roland blickte von einer zur anderen und lächelte leise. »Junger Schmerz,« dachte sie und nahm beide in ihre Arme. »Kinder,« sagte sie frisch und von ihrer Stimme ging es aus wie ein Windhauch nach Gewitterschwüle, »Kinder, jetzt hört, was ich euch sage. Sich lieb haben, ist schön, aber sich quälen ist nicht schön! Freundschaft muß ein Opfer bringen können. Daß es meiner Leni schwer wird, die Freundin herzugeben, begreife ich, auch daß Ruth sich schwer trennt; das soll so sein, wenn man sich lieb hat. Aber für Ruth ist es eine schöne Sache, mit ihren Eltern die Welt kennen zu lernen. Da soll Leni sich für die Freundin freuen und diese soll dankbar sein. Nicht vielen wird derlei beschert. Lieb behalten kann man sich doch und schreiben kann man sich auch; die Zeit fliegt und – –«

»Drei Jahr –!« Beide, Leni und Ruth, riefen es zugleich.

Frau Roland nickte. »Eine lange Zeit, freilich, und doch wie kurz gegen das ganze Leben gehalten! Will's der Himmel, bleiben euch danach noch schöne frohe Jahre zusammen. Und jetzt Kopf hoch, Kinder! Der Kaffee steht auf dem Tisch. Ich bin sehr begierig, was ihr zu meinem heutigen Kuchen sagt. Ich versuchte das Rezept zum ersten Male und möchte euer Urteil hören.«

Frau Roland kannte ihr Publikum. Eine sehr getröstete, um nicht zu sagen frohe Runde saß danach um den Eßtisch. Mit Kennerblicken und Kennermienen prüfte man aufs eingehendste den Kuchenkandidaten; begeistertes, einstimmiges Lob folgte danach. Ruth und Leni schlossen sich dabei nicht aus. Ruths Blauaugen glänzten wieder, Leni schaute tapfer drein. Dann half die Jugend und der göttlich leichte Sinn, der das schönste Recht der Jugend ist. Als der Tisch abgeräumt und die Krumen fortgefegt waren, schien auch aller Schatten mit weggefegt. Sonnig blickten die Augen und die Zünglein taten fröhlich ihr Werk.

Heute gab's aber auch Stoff. Derlei war der »Sexta fidelia« noch nicht vorgekommen. Eine von ihnen sollte eine solche Reise unternehmen! Alle fühlten sich mit gehoben und kamen sich ungeheuer wichtig vor.

»Du, Ruth,« sagte Trude Müller, »werdet ihr denn schon bald gehen?«

»Ich weiß nicht: Vater hat davon noch nichts gesagt. Ich werde aber wohl noch das Schlußexamen mitmachen, fürch– will sagen, denke ich. Georg und Erich müssen daheim bleiben, die armen Kerle. Sie sollen zu Widmayer in Pension kommen, sagt Vater. Überhaupt allzu schnell geht's nicht. Wir brauchen den Kopf noch gar nicht hängen zu lassen, Leni. Wer weiß, vielleicht wird auch gar nichts draus. Vielleicht wollen sie Vater am Ende doch nicht haben oder –«

»Oder sie hören, daß der sein Fräulein Tochter mitbringen will und bedanken sich höflich dafür. Die Japanerinnen sollen sehr untertänig und gehorsam erzogen werden. Da paßt es den Herren Vätern dort am Ende gar nicht, daß ihre Töchter so einen europäischen Unband zu Gesicht kriegen, he, Ruth?« Lotte Müller neckte gern; sie war die Älteste und Ernsteste, die Gelehrteste des Kreises, wußte also auch über das fremde Land wohl am genauesten Bescheid.

»Sag doch, Lotte, gelt, sie werden verbrannt, wenn ihre Väter sterben?« Das fragte Mariele und riß dazu die Augen schreckhaft weit auf.

Tosender Jubel antwortete. Sie konnten lang nicht zu Atem kommen. »Sie meint die indischen Witwen; Mariele, hol dir dein Schulgeld zurück! So was! Nein, so was!«

Mariele Motz war das Dummerle der »Sexta fidelia«. Aber sie nahm es auch nicht übel, wenn ihre Schnitzer einen großen Heiterkeitserfolg hatten. Sie war sehr gutmütig, die Marie, und alle hatten sie gern. So sagte sie denn auch jetzt ganz seelenruhig: »Indien oder Japan ist doch ganz gleich. Da hinten rum auf der Landkarte liegen sie alle zwei, und schwarz sind die Leute dort so wie so.«

Erneute Lachkrämpfe waren das Ergebnis. Mariele riß die Augen noch weiter auf, und nun huschte doch etwas wie ein leichtes Verstimmtsein über ihr Gesicht.

»So zu lachen, als ob ihr ersticken wolltet, braucht ihr nun nicht. Ich weiß, daß ich nichts weiß, aber –«

»Sokrates!« prustete Lotte, aber Mariele ließ sich nicht stören.

»– im Kochen und im Nähen weiß ich zehnmal mehr als ihr! Wer macht einen Gugelhopf ohne Rezept, he? Wer legt Spätzle ein, daß sie schön klein sind und keine Teigknollen, he? Wer macht einen Braten ganz allein? Wer kann ein Herrenhemd bügeln? Wer eins allein zuschneiden und nähen, he?«

Mariele hatte die Stimme immer mehr erhoben und immer triumphierender dreingeschaut. Die anderen hörten langsam zu lachen auf und Anne Meyer legte den Arm um Mariele. »Hast recht, du!«

»'s gibt halt Rosen und gibt Krautköpfe,« lachte Trude Müller ein bißchen spitz. Sie war nicht so gutmütig wie die anderen.

»Und Disteln,« sagte Ruth. Sie konnte es nicht leiden, wenn Trude von ihrer geistigen Höhe herab auf das Mariele hackte.

Trude war sofort kampfbereit, aber Lotte lenkte ab, freilich unbewußt. Ihr Charakter forderte eine Belehrung der Unwissenden; anders ging es nicht.

»Schwarz sind die Leute dort in Japan aber nicht, Mariele,« verwies sie drum. »Sie sind gelb, gehören zur mongolischen Rasse.«

»Schlitzaugen haben sie und die Männer tragen Zöpfe,« belehrte Leni.

»Auch die Männer?« entsetzte sich Mariele. »Das muß arg sein, wenn auch den Buben die Zöpfe vor der Schule geflochten werden müssen. Mutter und ich, wir haben genug zu tun mit den drei kleinen Schwestern. Wenn ich denke, die drei Buben warteten des Morgens auch noch aufs Haarmachen! Das sollte eine nette Kugelfuhr werden!« Schallend lachte das Mariele; es stammte aus einer kinderreichen Familie. Dann kam ihm ein Gedanke.

»Läßt dein Vater sich dann auch einen Zopf wachsen, Ruth? Wär das gräßlich, du!«

Ruth fuhr auf und wollte gereizt erwidern. Sehr höflich wäre die Antwort nicht gewesen. Da fiel ihr ein, wer die Bemerkung gemacht hatte. Sie lachte mit den anderen, und sagte dann nur: »Ihr verwechselt die Japaner mit den Chinesen, Kinder. Die haben Zöpfe!«

Leni war zu ihr herangerückt, hatte den Arm verstohlen unter den ihren geschoben und lehnte den Kopf an ihre Schulter. »Wirst schreiben, Ruth?«

Diese Frage war nicht ganz so unberechtigt, wie sie scheinen mochte. Ruth war als großer Faulpelz im Schreiben bekannt. Sie rümpfte denn auch das Näschen, besann sich sofort aber mit einem kurzen Blick in Lenis verdächtig zwinkernde Augen.

»Und ob! Sollst mal sehen! Ich will ein Tagebuch führen und –« Erschrocken brach sie ab. Um Himmels willen, was hatte sie da gesagt? Leni würde sie doch nicht beim Wort nehmen? Das wäre? Scheu schielte sie nach der hin.

Richtig, in deren Gesicht war's wie heller Sonnenschein aufgegangen. »Willst du, willst du wirklich?« Jubelnd drückte Leni die Freundin an sich. »Und dann schickst du's jede Woche gelt? Und ich weiß alles, was du tust und treibst. Ich leb mit dir fort! Ich schreib dir auch alles, sollst schon sehen. Und wenn wir dann wieder beisammen sind, ist's, als ob wir nie getrennt gewesen wären. Fein wird's, fein!«

Mit der Spannkraft der jugendlichen Phantasie waren die drei Jahre überbrückt, die dazwischen lagen, bis dies Wiedersehen herankam. Der kühnste Baumeister ist die Jugend. Schwindelhohe Bauten türmt ihre Einbildungskraft im Handumdrehen auf der kleinsten, auf keiner Basis. Klüfte überspannt sie, über trennende Wasser schlägt sie Brücken, und wo kein Menschenarm hinreicht und kein Menschenfuß sich hintraut, da klimmt sie am goldenen Seil ihrer Phantasie zu Himmelshöhen.

Die »Sexta fidelia« machte ihrem Namen auch heute Ehre. Frau Roland hörte das laute Lachen und lächelte selbst vor sich hin. »Jung sein,« sagte sie leise, »jung sein!«

Drüben wuchs der Lärm; Blindekuh spielten sie jetzt.

Das war nicht mehr vorgekommen, seit sie glaubten, es ihrem »Erwachsensein« zu schulden, sich wie Erwachsene zu benehmen. Heute war ein besonderer Tag; da konnte man auch einmal etwas Besonderes tun. Man ließ das Kind zu Wort kommen, das von der »jungen Dame« nur mühsam gebändigt war.

»Nun, wie war's?« fragte die Mutter, da Ruth später als sonst und mit roten heißen Wangen heimkam.

»Einfach wundervoll, Mutterle! Blindekuh haben wir gespielt und alles unterst zu oberst gekehrt.«

»Wundervoll!« sagte Georg, der bei seinem Latein am Tische saß. Erich lachte schallend und verächtlich. »Elend domme Mädle!« brummte er vor sich hin; er war ein unverfälschter »Schwobebue«.

Ruth tat, als höre sie nicht, was sich in ihrem Verkehr mit den Brüdern schon oft als wirksam erwiesen hatte.

Der Vater kam heute müde und spät heim. Beim Abendessen erzählte er, es habe viel mit dem Herrn Minister zu beraten gegeben. Es sei nun bestimmt, daß er, der Herr Regierungsrat, um einen Urlaub von drei Jahren einkomme, nach dessen Verlauf es ihm freistehe, wieder in den Staatsdienst einzutreten, und zwar in einen gleichwertigen Posten wie der jetzt aufgegebene. Dienst- und Anciennitätsrechte würden ihm vorbehalten.

»Eine günstigere Regelung der Sache hätte es für mich nicht geben können, siehst du, Anna.« Der Herr Regierungsrat schien sehr zufrieden. »Ich werde nun noch nach Berlin müssen, die Angelegenheit mit dem japanischen Gesandten zu besprechen. Das mündliche Verfahren ist da immer bei weitem das beste. Ich möchte nur wissen, wer mich dem Herrn als geeignet empfohlen hat. Ich kann mir keinen Vers drauf machen, wirklich.«

»Weshalb sollt der Kaiser von Japan net von dir gehört habe? Der Mohr meint's auch, Vater.« Mohr war Erichs Intimus in der Schule und Erich hatte heute in der Klasse eine große Rolle gespielt. Es besaß aber auch nicht jeder einen Vater, der nach Japan berufen wurde! Das machte ihm, Erich Rümelin, so leicht keiner nach. Der Mohr hatte das auch zugegeben.

Gutmütig lachte der Vater seinen stolzen Jüngsten an. »Größenwahn, mein Büble. Hüte dich!« Aber Erich blieb trotzdem bei seiner Meinung. Alles wußten die Großen nicht besser, wirklich nicht, und der Vater war eben zu bescheiden. Mutter hatte es auch schon gesagt; Erich konnte sich ganz genau daran erinnern.

Ruth hatte sehr gläubig zu des kleinen Bruders Vermutung dreingeschaut. Auch ihr war es nicht ganz unwahrscheinlich, daß der japanische Herrscher vom Vater gehört haben könne, und sie ärgerte sich deshalb über Georg, der bei Erichs Worten den Finger sehr bezeichnend zur Stirn hob. Der wollte auch immer alles besser wissen, der Herr Primaner, und tat, als ob er allein den Verstand in der Familie gepachtet habe!

Aber Ruth ließ ihres Herzens Meinung doch nicht laut werden. Vater und Mutter hatten einander seltsam in die Augen geschaut und sich dazu auf die Lippen gebissen; Ruth hatte es ganz deutlich gesehen. Da war es doch wohl besser, zu schweigen. Das stellte einen wenigstens nicht bloß, denn dagegen war Ruth sehr empfindlich. Gedanken konnte einem niemand von der Stirn ablesen. Oder doch?

Der Herr Regierungsrat hob die Hand und strich seinem Töchterlein von unter her, wie er es liebte, übers heiße Gesicht. »Wollen dem Kaiser telegraphieren, daß die Ruth Rümelin auch mitkommt, was?« fragte er.

»Wird der aber e Freud habe, Herrschaft!« jubelten Georg und Erich schallend auf. In brüderlicher Liebenswürdigkeit wie in unverblümten Äußerungen waren sie immer einig.

»Nur immer höflich gegen die Damen, ihr Buben, wenn ich bitten darf,« mahnte der Vater. Die beiden wollten über die »Dame« noch einmal losplatzen; da lenkte die Mutter ab mit dem Hinweis auf die noch im Rückstand gebliebene Schularbeit, und die beiden verzogen sich alsbald.

Der Herr Regierungsrat fuhr wenige Tage später nach Berlin, und alles, was er dort hörte, gefiel ihm. Der angebotene Posten, die Bedingungen, die Aussichten, die mit dem Amt verbundene Arbeit, alles war nach seinem Geschmack. Er kehrte also sehr befriedigt in die Heimat zurück, und für den Mai wurde die Reise denn endgültig festgesetzt.

Für die Frau Regierungsrat gab's nun eine schlimme Zeit. Tausenderlei war zu bedenken und vorzubereiten; vor allem für sämtliche Familienmitglieder eine neue Ausstattung zu beschaffen, für die beiden Söhne sowohl, die in Pension sollten, als auch für die Reisenden. Frau Anna wußte in diesen Wochen oft nicht, wo ihr der Kopf stand.

In Ruth fand sie dazu wenig Hilfe. Nicht durch deren Schuld oder Mangel an gutem Willen, sondern gleich vor Ostern sollte das Schlußexamen sein; da waren die Schülerinnen sehr angestrengt. Ruth wollte gut abschließen. Sie hatte ernstes Streben und großen Ehrgeiz und wußte auch, daß Vater und Mutter darauf hielten. Sie sollten Freude haben an der Tochter, das hatte sie sich gelobt, und Ruth war bekannt dafür, daß sie ihr Wort hielt. So lernte sie mit wirklich großem Eifer in dieser Zeit; es blieb wenig für die Mutter und deren Sorgen übrig.

Frau Anna aber wußte auch allein fertig zu werden. Allmählich und sicher nahmen alle Vorbereitungen ihren Fortgang.

Die Abreise rückte näher und näher.

Ostern fiel dieses Jahr spät, erst Ende April. Am fünfzehnten war der große Examenstag. Wie viel junge Herzen zitterten ihm entgegen!

Endlich war er angebrochen. In der Friedrichstraße – das Katharinenstift befand sich damals noch dort – wimmelte es von geputzten höheren Töchtern. Durch die weit offene Tür des alten, langgestreckten, grauen Baues drängte es sich in buntem Gewimmel: große, kleine, dicke, schlanke, blonde, braune, schwarze Mädel mit sorgenvollen und verängstigten, aber auch mit leichtsinnigen, lachenden Mienen. Viele stumm, viele mit fröhlichem Plappern.

Auf dem Hof, in der Nähe des großen Einfahrtstores, stand jetzt eben eine Gruppe der obersten Klasse beisammen. Sie warteten sichtlich auf irgend jemand. Die »Sexta fidelia«, die wir schon kennen, bildete den Kern- und Mittelpunkt.

»Wo sie nur bleibt?« Leni Roland sagte es und ihr Gesicht zeigte Sorgenfalten. »Ich kann nicht begreifen, wie man auch heute nicht pünktlich sein kann. Wieviel Uhr ist's eigentlich? Zehn Minuten nach halb haben wir's doch verabredet?« Alle zogen zugleich die Uhren.

»Natürlich, aber die Ruth ist doch immer pünktlich gewesen sonst, wirklich!«

»Da kommt sie! Da kommt sie!« Alle eilten ihr entgegen. Ein Hagel von Vorwürfen umprasselte sie. Sie schüttelte sich wie ein Pudel nach einem Wasserguß.

»Zankt nicht, ihr, hört ihr! Wollen gemütlich sein heut. Was?«

»Schöne Gemütlichkeit am Examenstag!«

Wieder schüttelte sich Ruth und lachte. »Na, die Haut werden sie uns nicht abziehen, wenn wir was nicht wissen. Angst hab' ich kein bißchen. Kein bißchen!« Sie wiederholte es ganz triumphierend und sah sich dazu im Kreise um.

»Aber wir! Aber wir! Wer das Examen erfunden hat? Man sollte den bei lebendigem Leib rösten!« Das sagte eine kleine Schwarze und kollerte dazu wie ein Truthahn. Ein Lachchor stimmte ihr bei. Allzutief saß die vorgegebene Angst also doch nicht.

Da tönte mit lautem Schall die Glocke über den Hof. Sie mahnte zur Pflicht. Das Lachen verstummte jetzt doch. Alle drängten zur Tür und die langen Gänge hallten von eiligen Füßen wider.

Im großen Schulsaal saß die oberste Klasse in langen Reihen. Tiefe Stille lag jetzt über dem Bau. Viel junge Gemüter waren in schwerer Bedrängnis. Davon ahnten die nichts, die draußen vorübergingen. Da drängte sich das Leben wie jeden Tag. Menschen hasteten, Fuhrwerke aller Art, dazwischen elektrische Bahnen mit ihrem Klingeln und Sausen. Es ist eine verkehrsreiche Ecke, wo der Bau steht, in dem damals die Töchter von Schwabens Hauptstadt am Born des Wissens tranken.

Dort oben im langgestreckten Schulsaal zwischen den hohen Säulenreihen nahm das Verhängnis seinen Fortgang. Hier sah man strahlende Augen, da verängstigte, dort feuchte und zuckende Mundwinkel, ganz wie später draußen in der Welt, wo der große Lehr- und Prüfmeister Leben uns mit dem Finger auf die Brust tippt und sagt: »Was bist du, was weißt du, was hast du gelernt?« Ob wir dann bestehen werden?

Im Saal mit den hohen weißen Säulen nahm die Qual schließlich ein Ende. Wie im Leben draußen hoben manche mit leuchtenden Augen die Köpfe, andere ließen sie hängen; zuversichtlich waren die einen, geknickt die anderen; Triumph hier, Scham und Scheu dort, Zorn, Neid, Mißgönnen, auch ehrliches Bewundern und junges, frohes Mitfreuen. Überall ist es so auf Erden, im großen wie im kleinen. Nichts Neues gibt's unter der Sonne, nirgendwo.

Der Rektor hatte gesprochen. Er hatte denen eine Abschiedsrede gehalten, die er nun ins Leben draußen entlassen mußte. Mit sinnendem Auge übersah er die jugendliche Schar. Wie würden die Lose fallen?

Ruths Hand hielt der alte Herr länger als die der anderen fest.

Eine nach der anderen trat zu dem geliebten Lehrer heran, ihm für alle Mühe zu danken. Sie wußten, jedes einzelne der seiner Hut anvertrauten Schäflein hatte er mit Sorgfalt betreut, hatte in ihm zu wecken gesucht, was es tüchtig und stark machen konnte.

Ruths Hand hielt der alte Mann, der sie bis hierher so treu geführt hatte, länger als die der anderen fest. Sie war ihm lieb als gute Schülerin und vielversprechendes Menschenkind.

»Halte die Augen auf,« sagte er mit seiner milden, ruhigen Stimme. »Wen Gott lieb hat, den schickt er in die weite Welt. Es gibt viel seiner Wunder zu bestaunen; wer sie mit rechten Augen sieht, dem machen sie das Herz groß und weit, daß es nie mehr eng und arm werden kann. Bring dir mit aus der Gotteswelt draußen, woran du fürs Leben zehren kannst! Nicht vielen geht es so gut. Daran denke, Ruth, und auch daran, daß jede erwiesene Güte Verpflichtungen auflegt. Wem Besonderes zuteil wird, von dem wird Besonderes gefordert. Behüt dich Gott, Ruth! Ich werde mich immer freuen, von dir zu hören.« Ein Händedruck, und er stand bei anderen.

Ruth aber war sehr rot und heiß. Sie blinzelte stark; es mußte ihr was ins Auge gekommen sein.

Leni legte den Arm um sie. So gingen die beiden zum letzten Male durch die langen Gänge des Baues hin, in dem sich manche Lust und manches Leid ihrer Jugend abgespielt hatte, und dann geradeswegs hinein in des Lebens Ernst, der sich für ihre jungen Augen ansah wie eitel Sonnengold.

Vor dem Tor auf der Friedrichstraße drängte sich dann die ganze oberste Klasse. Von hier aus liefen die Wege auseinander, nicht bloß in die Straßen der Stadt. Ob eine Ahnung davon in den jungen Köpfen war? Jedenfalls schüttelten sich die Scheidenden eifrig und ernster als sonst wohl die Hände. Manch warmes Wort wurde gesagt, wie es der junge Mund im Alltag nicht oft fand. Für viele hörte ja jede Beziehung jetzt auf, die sich nur an die Schulbank knüpfte. Wo Freundschafts- oder Familienbeziehungen mitsprachen, war es ein ander Ding.

So stand die »Sexta fidelia« zuletzt noch in einem Trüppchen beisammen.

»Wir kommen auf die Bahn, Ruth, alle. Wirst schon sehen!«

Ruth hatte auf Mutters Wunsch alle Einladungen für die noch bleibende Zeit ablehnen müssen. Sie hatte es auch gern getan, denn nun kam für sie die Möglichkeit, wenn auch in zwölfter Stunde noch, ihr Teil zu den Vorbereitungen beizutragen. Leni allein hatte sie noch einen Abend versprechen dürfen.

Der war nun auch schon vorbei. Es hatte viel Weinen und Lachen und wieder Weinen gegeben. Sie hatten Ringe getauscht, die beiden, »süße« Ringe! Leni hatte sie auf der Königstraße bei Föhr entdeckt: ein Herz von blauen Türkisen auf einem schlichten Goldreif. Sie hatten es sich heimlich seufzend was kosten lassen, denn billig waren die Türkisenherzen nicht gewesen. Aber was tat's? Dafür war dieser Herzenstausch ungemein sinnig; es ließ sich gar viel dabei denken. Auch konnte man noch nett dabei sprechen und schwärmen, am letzten Abend. Das hatten sie denn auch mit Genuß getan. Lenis Mutter hatte im Nebenzimmer wieder viel vor sich hin zu lächeln gehabt; aber ihr war es dabei selbst feucht in die Augen gestiegen. Wie verträumt hatten sie in ferne Zeiten zurückgesehen. Aber, wie gesagt, der Abend war nun auch bei den gewesenen zu verzeichnen. Die Zeit ging ihren Gang.

Der Tag kam, der Georg und Erich aus dem Elternhaus nahm. Ein schöner Tag war's für keinen der Beteiligten. Die zwei Buben bewiesen sich tapfer, sehr tapfer sogar. Alle waren tapfer, bis – sonderbarerweise bis auf Ruth. Diese weinte, als solle ihr das Herz brechen. Die Brüder sahen sie mißtrauisch an und wußten sich solchen ergiebigen Schmerz offenbar nicht zu erklären. Sie waren aber, ohne es [???wahr]Wort haben zu wollen, doch sehr davon befriedigt. Ruth schnellte in ihrer Achtung in die Höhe wie das Quecksilber des Thermometers in heißem Wetter.

»Mädle sind doch net so iebel!« Das war das letzte, was der kleine Erich vor dem Einschlafen zu seinem Bruder sagte, mit dem er im fremden Haus das Zimmer teilte. Georg brummte nur unverständlich; der kleine Erich konnte sich dabei denken, was er wollte. Er nahm's für eine Zustimmung. Einig schliefen die beiden ihren ersten Schlaf unter dem fremden Dach.

Und dann war der Reisetag wirklich da! Ein Sonnentag. Der Himmel weinte den Scheidenden keine Träne nach. Es flossen deren aber doch ungezählte. Die ganze »Sexta fidelia« stand mit tränenschweren Tüchlein, mit fließenden Äuglein und roten Näschen. Fidel war die »Sexta fidelia« gar nicht. Ruth hatte von Arm zu Arm, von Mund zu Mund schon gewiß zehnmal und mehr die Runde gemacht und tat es eben wieder. Da wurden die Türen des Wartesaals geöffnet.

»Einsteigen!« rief der Mann an der Tür, der mit der Zange zum Durchlochen der Karten.

Wie ein Wirbel faßte es die Reisenden. Alles drängte, schob und wurde geschoben. Ruth fand sich erst wieder zurecht, als sie an einem der Fenster stand, die Freundinnen alle zuhauf davor auf dem Bahnsteig.

»Leb wohl, Ruth! Ruth, leb wohl! Daß du schreibst, Ruth! Vergiß uns nicht! Denk an das Tagebuch, hörst du?« So schwirrte es hin und her.

Ruth nickte, rieb die Augen, lachte, weinte, trocknete wieder, alles in hübscher Reihenfolge.

»Guck immer den Ring an, Ruth.« Leni war's, die der Freundin diese etwas schwierige Aufgabe stellte.

Ruth nickte. »Immer,« flüsterte sie und legte dazu die Hand aufs Herz.

Da zog der Zug an. Langsam kreisten die Räder. Wagen um Wagen kam ins Rollen. Eine ziemliche Strecke schon stand die »Sexta fidelia« dahinten. Aus ihren tränenden Augen sah Ruth gar nichts; aber sie lag halben Leibs aus dem Fenster und winkte.

Die große Halle war schon durchfahren und Ruth winkte noch. Es hatte sein Gutes. Da konnten die im Wagen doch ihre Tränen nicht sehen.

Ein Arm legte sich um Ruth. »Komm, Kind, laß genug sein. Sieh nach der Mutter; sie braucht dich. Die Trennung von ihren Buben fällt ihr sehr schwer.«

Da war Ruth bei ihrer nächsten Pflicht und ihr junger Schmerz trat zurück. Sie tröstete die Mutter. Die hatte freilich schon am Abend zuvor von ihren Söhnen Abschied genommen. Die saßen jetzt eben in der Schule wie jeden Tag. Der Vater hatte es so für besser gehalten, für alle Teile. Aber die Abfahrt hatte allen Schmerz erneuert. Unerbittlich legte der Zug Strecke um Strecke zwischen die Davonziehenden und die Bleibenden.

Als Ruth wieder zum Fenster trat, schwand eben die letzte der sonnenübergoldeten Höhen, die sich liebend und eng um die schöne Hauptstadt des gesegneten Schwabenlandes schmiegen. Diese selbst konnte Ruth nicht mehr sehen. Nur der Turm des Hasenbergs grüßte noch der Scheidenden nach. Wie manches liebes Mal hatte Ruth dort gestanden und stolz auf die Vaterstadt niedergeschaut!

»Behüt dich Gott!« flüsterten ihre Lippen. Wie Andacht ging's durch sie hin. Dann saß sie ruhig neben den stillen Eltern.


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