Egon Erwin Kisch
Soldat im Prager Korps
Egon Erwin Kisch

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Verwundung, Heimfahrt

 

Donnerstag, den 18. März 1915.

Der heutige Tag ist bis jetzt der verhängnisvollste in diesem Kriegsjahre für mich gewesen. Früh bekam ich reichliche Post von zu Hause, darunter ein Bild meiner Mutter. Gestern hatte mir der mit dem Marschbataillon wieder eingerückte Dr. Stransky als erster Mensch seit achteinhalb Monaten eine Schilderung des Lebens in meinem Vaterhause gegeben, heute sah ich zum erstenmal wieder das Gesicht meiner Mutter, wenn auch nur auf einer Photographie.

Um halb 3 Uhr nachmittag händigte mir der Generalstabschef der Brigade Hauptmann Löhr einen unwichtigen Befehl an das Regimentskommando aus, der sich auf Abholung von Stacheldraht bezog. Da sich der Sappeur, der gemeldet hatte, daß der Draht zum Abholen bereit liege, gerade entfernen wollte, glaubte ich geschickt zu handeln, wenn ich mich auf dem Wege zum Regimentskommando beim Bataillonskommando stelle, damit dieses dem Sappeur eine Ordonnanz zur Fassungsstelle mitgebe; diese Ordonnanz hätte dann dem Abholungsdetachement den Weg zeigen können. Der Sappeur wartete vor dem Hause, welches gleichfalls auf dem Marktplatze von Wola Michova gelegen war. Ich ging hinein. Darin war Hauptmann Allé, der eigentliche, aber derzeit marode Kommandant des Bataillons, Hauptmann David, der provisorische Kommandant, Oberleutnant Klatovsky, der Bataillonsadjutant, der bei Tische saß und eine Feldpostkarte schrieb, Leutnant Basch, ein eben von seiner Schußrekonvaleszenz heimgekehrter Offizier, dann der gleichfalls neueingetroffene Leutnant Gustav Svoboda, der Sohn des Prager Universitätsrektors, Oberleutnant Doležal und Kadett Dr. Michal, sowie drei Offiziersdiener, die beim Ofen saßen.

Ich trat zu dem Tisch, ließ den Oberleutnant Klatovsky die Meldung lesen und bat um eine Ordonnanz, als ich mitten in meinem Satz dadurch unterbrochen wurde, daß ich unter grauenhafter Detonation einen furchtbaren Schlag in den Kopf bekam, so daß ich rücküber steif zu Boden stürzte. Ich verlor nicht die Besinnung, auch nicht für den Bruchteil einer Sekunde, aber ich weiß, daß ich im ersten Moment ganz erstaunt den Kopf erhob, nicht recht wissend, was los sei. Im zweiten Hundertstel der Sekunde wußte ich bereits, daß eine Granate in das Zimmer geflogen sei, gerade auf mich. Was ich tun sollte, wußte ich im dritten Hundertstel der Sekunde noch nicht, ich sah nur, daß das ganze Zimmer dunkel und voller Rauch war, ein Geräusch vernahm ich nicht. Dann stieß jemand heftig mit seinen Füßen in meinen Kopf, und ich erkannte, daß es Einer sei, der die Türe suche. Nun sprang auch ich auf, tappte auf die gegenüberliegende Seite, aber als die Türe von einem anderen geöffnet wurde, war ich orientiert und rannte etwa zehn Schritte aus dem Hause heraus, gegen das Regimentskommando zu.

Unterwegs spürte ich, daß das Blut in dicken Strömen mir über Nase und Ohren vom Kopfe auf die Bluse ströme, und daß auch mein übriger Körper irgendwie durchlöchert sei, da ich fühlte, daß sich mein Hemd auf dem Rücken, auf dem Oberarm und auf dem Schenkel mit warmem Blute füllte. Jetzt blieb ich eine Sekunde stehen und dachte: vielleicht brichst du im nächsten Moment zusammen und bist tot. Es schien mir wahrscheinlich, denn die Granate war direkt an meinen Kopf geflogen, sie hatte sich nicht vorher eingebohrt und mich dann mit ihren Sprengstücken überschüttet. Und auch viele andere, die ich im Kriege sterben sah, waren wenige Minuten vorher bei Besinnung gewesen. Ich reckte mich und merkte, daß ich noch sehr intensiv lebe. Die linke Kopfseite schmerzte mich, und von dort floß mir das Blut über die Augen. Ist vielleicht mein linkes Auge weg? Ich hielt das rechte mit der Hand zu und konstatierte, daß ich zwar sehr schlecht sehe, aber dies wohl von einer Wunde stamme, die sich an der Schläfe befinden müsse. Alle diese empirischen Untersuchungen meines Zustandes dauerten nur eine Sekunde, dann eilte ich weiter, der Wohnung unseres Chefarztes zu. Ich erkannte, daß der Mann, der in mich gestoßen und dann, die Türe öffnend, hinausgelaufen war, der Oberleutnant Klatovsky sei. Ohne mich gerade des Satzes cogito ergo sum ausdrücklich zu erinnern, kam ich zu der gleichen Erwägung wie Cartesius.

Und schon stieg mir eine neue Befürchtung auf. Wie, wenn meine Wunde überhaupt nur eine Lappalie sei, diese herrliche Gelegenheit nach achteinhalb Monaten grausamsten Elends wenigstens für einige Tage in eine Atmosphäre von Sauberkeit und Ordnung zu kommen, verpaßt sein solle, wie, wenn der Arzt mir lächelnd ein Pflaster aufpappen und mich wieder in den Dienst schicken würde? Dazu hatte ich keine Lust, sind Hunderttausende meiner Altersgenossen daheimgeblieben, will ich wenigstens für einen Monat auch zu Hause sein. Und baden, baden. Also werden wir dem Arzte eine traumatische Neurose und innere Schmerzen vorspielen!

Ich lief wankend weiter zum Chefarzt und sah, wie die auf die Detonation hin aus den Stallungen und Häusern geeilten Soldaten mir entsetzt nachschauten. Vor der elenden, am Bach gelegenen Hütte, die der Chefarzt mit einigen Offizieren bewohnte, da ein Hilfsplatz noch nicht etabliert ist, lag schon in einer Ecke wimmernd Oberleutnant Klatovsky.

Hier begann ich nun meine Komödie. Ich brach in der Mitte des kleinen Zimmers absichtlich zusammen und drehte das Weiße der Augen nach auswärts. Einige Sanitäter und Kameraden packten mich und trugen mich auf das Stroh, wobei ich kläglich zu winseln anfing. Ein Arzt war noch nicht da, den Chefarzt bekam ich überhaupt nicht zu Gesicht (wahrscheinlich hatte er bei den übrigen durch die Granate verwundeten Offizieren zu tun), aber einige Sekunden später kam Assistenzarzt Dr. Hausdorf. Er wandte sich zuerst dem Oberleutnant zu, dann mir, schaute meine Kopfwunden an und mich, der ich die Augen verdrehend und von seiner Anwesenheit scheinbar keine Notiz nehmend, die Beine in Todeszuckungen an den Körper zog und bemerkte, daß sich der Arzt mit erschrecktem Kopfschütteln zu mir neigte und meine Behandlung in Angriff nehmen wolle. Aber der Oberleutnant rief ihn so verzweifelt, daß er sich von mir abwandte und zunächst den Offizier vornahm.

Das besorgte Kopfschütteln des Medikus und seine beabsichtigte Fürsorge für mich ließ mich innerlich frohlocken. Nicht eine Sekunde fiel mir ein, daß ich wirklich schwer verletzt sein könne. Ich wußte nur, daß meine Wunde nicht als eine »dienstbare« belächelt werden und mir zum Schaden nicht noch Spott bringen werde. Was wäre jetzt weiter zu tun? Ich müßte jetzt trachten, nicht in ein Spital des Etappenraumes geschafft zu werden, wo ich bis zu meiner Heilung bleiben müßte; ich müßte zusehen, daß ich eine Reise nach Prag herausschlage. Das könnte nur geschehen, wenn – nun kam mir ein Gedanke, der Verrat an meinen Prinzipien bedeutet: ich müßte zum Offizier befördert werden. Ich überlegte: soll ich mir jetzt die so oft von mir abgelehnte Beförderung zum Kadetten verschaffen? Ich hatte mir ja nur vorgenommen, den Krieg als einfacher Soldat des Mannschaftsstandes mitzumachen, nicht aber auch die Krankheit. Sollte ich meiner Idee wegen mich der Möglichkeit einer schlampigen Behandlung, der Möglichkeit eines Wundbrandes, eines qualvollen Herumstoßens in Viehwaggons und in den Spitälern aller Winkel der Monarchie aussetzen, ohne die Bewilligung zur Heimkehr zu bekommen, während ich als Offizier direkt nach Prag fahren könnte? Jetzt ist der Moment. Ich tat also, als ob ich aus meiner Apathie und Unempfindlichkeit gegen die Umgebung erwache, und rief den Feldwebel Švec zu mir heran: er möge den Hauptmann Schöch herbeirufen, ich müsse von ihm Abschied nehmen, ich müsse von ihm Abschied nehmen . . . Er rannte davon. Alles sah mich besorgt an.

Mein Vetter Dr. Stransky stürzte ins Zimmer. Der arme Junge war kreidebleich vor Schreck und wurde noch entsetzter, als er mich im Todeskrampfe liegen sah. Ich deutete ihm durch Winke an, daß ich ihm etwas sagen wolle. Alle traten scheu und feierlich zurück, während er neben meinem Kopfe niederkniete und sein Ohr über meine Lippen beugte, um besser zu hören, was ich ihm in meinem letzten Stündlein anvertrauen wolle: »Ich spüre gar nicht, daß mir etwas fehlt, aber ich spiele Theater. Ich mache so, als ob ich eine Granate beim Krepieren wäre.« Der arme Junge mußte lächeln. »Lach nicht,« herrschte ich ihn leise an, »du wirst doch beobachtet. Schreibe nach Hause, daß ich einen Streifschuß bekommen und gelacht habe, daß ich wieder einen Monat lang in Prag Schlapak tanzen könne.« Mein Vetter war ernst geworden, und ich fürchtete, er glaube, ich spiele ihm die Komödie von meinem Komödienspiel nur vor, um ihn und damit meine Familie zu beruhigen. »Du glaubst doch nicht, daß es mir Erleichterung verschafft, wenn ich die Beine mit leisem Wimmern emporziehe, z. B. so.« Ich zog die Beine mit leisem Wimmern empor, wobei ich bemerkte, wie alle Anwesenden bei dieser Annäherung des Todes die Gänsehaut bekamen. »Oder wünschst du einen jähen Aufschrei mit Geste gegen das Herz? Voilà!« Ich schrie auf und griff mir an das Herz. Der Junge wußte nicht, ob er lachen oder weinen solle. Ich aber wußte es, deshalb erklärte ich ihm den Grund meiner Simulation: »Erstens will ich nach Hause kommen, und zweitens will ich jetzt Kadett werden.«

Der tragikomische Dialog wurde dadurch unterbrochen, daß sich der Arzt nunmehr zu mir wandte. »Apathisch und völlig teilnahmslos« betrachtete ich seine besorgt gerunzelte Miene, als er mich abtupfte, konstatierte, daß die Stirnader durchgeschlagen sei, die Wunde behandelte, mir den Ärmel zerschneiden ließ, um einige Wunden am Arme zu verbinden, und mich dann fragte, wo mir noch etwas fehle. Zuerst gab ich keine Antwort, dann spielte ich, obwohl ich nun wirklich große Schmerzen zu spüren begann, den Schmerzverzerrten und stöhnte: »Rücken.« Auch auf den Oberschenkel deutete ich. »Du bist ja ganz durchlöchert,« bemerkte der Arzt und verband die neuentdeckten Verletzungen. »Die Wirbelsäule ist bloßgelegt,« bemerkte er leise zu meinem Kousin.

Hauptmann Schöch trat ein. Ich tat so, als ob ich ihn nicht sehe. Feldwebel Švec: »Du Kisch, der Herr Hauptmann Schöch ist hier.« Ich schien aus dem Jenseits zu erwachen: »Wo?« Dann erkannte ich ihn und streckte ihm die Hand entgegen: »Ich danke Ihnen für alles Gute, das Sie mir erwiesen haben, Herr Hauptmann,« stöhnte ich, und es war bei diesem Betrug mein Dank ziemlich ehrlich gemeint. »Nichts zu danken, Kisch, Sie sind ein braver Soldat, und einem braven Soldaten muß man schon helfen.« »Nein, Herr Hauptmann, ich habe Ihnen viel zu danken,« beharrte ich mit der Starrköpfigkeit von Sterbenden, dann streckte ich ihm die Hand von neuem entgegen, die er ergriffen drückte. »Herr Hauptmann.« Ich zog ihn zu mir hernieder. »Könnten Sie nicht veranlassen, daß ich ein Grab bekomme, ein eigenes Grab für mich allein.« »Aber Kisch, so weit ist es doch noch nicht.« Er hatte selbst Tränen in den Augen. Ich merkte, daß er nachdachte, wie man das machen könne, daß für den Korporal ein eigenes Grab geschaufelt werde. »Jeder Kadett hat sein eigenes Grab, warum soll ich nicht auch eines haben.« Ihm kam eine Idee: »Jetzt haben Sie doch nichts dagegen, wenn wir Sie zum Kadetten machen?« – »Ja, das wäre gut,« wimmerte ich, »dann bekäme ich ein eigenes Grab.« – »Also warten Sie, ich gehe gleich zum Obersten.«

Ich wollte warten, bis er zurückkomme, aber das Fuhrwerk war bereits vorgefahren, und Oberleutnant Klatovsky drängte zum Aufbruch. Also trug man uns zum Wagen, legte uns nebeneinander, meinen Schlafsack breitete man über mich, und es ging ab. Ich schaute, ob mir der Hauptmann nicht die Ernennung bringe, aber sie kam nicht. Wir fuhren die Straße von Wola Michova südlich gegen Maniow zu, wo sich die Divisionssanitätsanstalt 29 befindet. Es ging schnell. Ein Kanonier hielt nach wenigen Minuten den Wagen an: »Fahren Sie nicht weiter, der Weg ist von Schrapnells bestreut.« – »Ach was,« schrie ich ihn und den Kutscher an, der schon gehalten hatte, »nur weiter fahren.« Aut – aut, dachte ich mir, entweder die Geschosse erschlagen uns, oder wir sind endlich nach einem Jahr außerhalb des Feuerbereiches. Wir wurden nicht getroffen.

Der Offizier neben mir stöhnte schrecklich, ich hielt dies für Wehleidigkeit, aber ich bat ihn wenige Minuten später im Geiste ab, als ich in der Sanitätsanstalt seine schweren Wunden sah. Die Sanitätsanstalt ist in einer hölzernen Kirche in Maniow etabliert, deren Bretter zu einem stilvollen Bau gefügt und so beinschwarz waren, wie die alten Steinkirchen irgendwo in Kulturland. Vor der Kirche ritt der Bataillonsadjutant Leutnant Weiser an unseren Wagen heran und hob die Plache in die Höhe. »Kisch, bist du bei Besinnung?« – »Ja.« – »Der Herr Oberst läßt dir sagen, daß du zum Kadetten befördert bist.« – »Haben das Herr Leutnant nicht schriftlich, damit ich mich legitimieren kann?« – »Nein, aber ich kann es dir aufschreiben.« Er kritzelte die Bestätigung auf ein Papier. So! jetzt war ich zufrieden, und vor der Kirche sprang ich »elastischen Schrittes« aus dem Wagen. In der Kirche waren die Betstühle ausgeräumt, und an der Wand lagen oder saßen die Kranken. Nur vor der aus Heiligenbildern zusammengesetzten Sakristeiwand (es war natürlich eine Kirche der Pravoslavna) stand eine Bank und einige Stühle, auf denen operiert wurde. Hier saß schon Oberleutnant Doležal, der also noch vor uns hierher transportiert worden war und sehr schwere Wunden am Rücken hatte. Man verband ihn gerade und legte ihn auf das Stroh. Er war ganz gelb im Gesicht, aber doch nicht so wächsern, wie der Infanterist, der hart neben ihm lag, mit der linken Hand eine Konserve umkrampft hielt und – – bereits tot war.

Oberleutnant Klatovsky wurde auf die Bank gelegt und narkotisiert. Mir banden sie die Verbände los, was furchtbar schmerzte. »Die Ader muß hergerichtet werden,« sagte der Oberstabsarzt, »sollen wir Sie narkotisieren?« – »Nein, aber eine Zigarette möchte ich gern dabei rauchen.« Das wurde mir gestattet, und während mir die Wunde mit dem Chirurgenmesser vergrößert und die beiden Enden meiner zerrissenen Arterie zu einer koketten Schleife zusammengebunden wurden, strengte ich mich furchtbar an, keine Miene zu verziehen. »Hat der Kerl eine Konstitution,« freute sich der Oberstabsarzt, »man sieht, daß Sie noch nicht lange im Felde sind.« – »Erst achteinhalb Monate, Herr Oberstabsarzt.« – »Sapperlot, ohne Urlaub?« – »Ohne Urlaub.« – »Na, jetzt werden Sie sich ein paar Wochen ausruhen. Wie heißen Sie?« – »Kadett Kisch,« stellte ich mich zum ersten Male in meinem Leben vor. – »Kisch? Mit dem Balneologen verwandt?« – »Mein Onkel,« log ich. – »Und mit dem Schriftsteller?« – »Das bin ich.« – »Ah, Egon Erwin. Also, wenn Sie nach Prag kommen, grüßen Sie mir meinen Bruder, den Advokaten Arthur Freund.«

Ich ließ auch mein Ohr untersuchen, welches mich sehr schmerzte. Der Doktor konstatierte, daß das linke Trommelfell zerrissen, das rechte anscheinend beschädigt sei. Hier sei dagegen nichts zu machen, ich möge schauen, bald in ein anständiges Spital zu kommen. Den Spitalzettel erhielt ich.

Gegenüber der Sanitätsanstalt lag der Bahnhof. Man wollte mich auf eine Tragbahre aufladen, aber ich zog es vor, selbst hin zu humpeln. – Der Bahnhof war eine Bretterbude, die Eisenbahn eine schmalspurige Vizinalbahn, die Waggons waren gewöhnliche Loris, ungedeckte Kohlenwagen, auf deren Boden sich Soldat neben Soldat sitzend drängte. Die Füße an den Leib gezogen, was furchtbar schmerzte, zwischen Ruhrkranken, deren Gebahren unbeschreiblich war, Schwerverwundeten und Halberfrorenen standen wir bald drei Stunden im Schneegestöber. Während wir dort standen, kam ein Bote den Zug entlang, der laut »Korporal Kisch« rief. Als ich mich meldete, übergab er mir einen Zettel, der die Liebenswürdigkeit des Hauptmanns Schöch deutlich von neuem charakterisierte. Er enthielt die amtliche Bescheinigung des Regimentskommandos, daß ich mit 1. März zum Kadetten befördert sei. Der Überbringer erzählte mir, daß von der Granate acht Offiziere und 2 Offiziersdiener getroffen worden seien, Hauptmann David habe zehn Schüsse, die wohl tödlich seien, Leutnant Gustel Svoboda einen Bauchschuß, zwei Offiziersdiener seien bereits tot.

Das Zügle fuhr fort, gegen Osten. In zwei Stunden waren wir in Cisna, wo sich ein kleines Spital befindet. Die Fahrt war schaurig, die Lokomotive wölbte über uns ein Dach von Rauch, das nicht abhielt, daß wir mit Tausenden von Schneeflocken und Hunderttausenden von Funken überschüttet wurden. In Cisna ging ich in die Offiziersabteilung des Spitals, aber niemand beachtete mich, trotzdem ich keine Distinktion hatte. Ich legte mich in meinen Schlafsack, aber ich konnte nicht einschlafen. Auf der linken Seite konnte ich vor Schmerzen nicht liegen, auch der übrige Körper war zerschlagen, die Ohren summten und schmerzten, besonders wenn ich mich räusperte, wozu ich fortwährenden Drang verspürte, und im Kopfe funktionierte ununterbrochen das Läutewerk eines Signalapparates. Ich versuchte einzuschlafen, es mißglückte. So wollte ich zu denken beginnen. Aber die unverhofften Schmerzen kreuzten sich mit den unverhofften Freuden.

 

Freitag, den 19. März 1915.

Früh, als ich aufstand und auch Kaffee haben wollte wie die übrigen Offiziere, stellte es sich heraus, daß man mich am Abend für einen Offiziersdiener gehalten hatte. Um nicht nächstens ärgeren Unannehmlichkeiten ausgesetzt zu sein, stahl ich schleunig ein Stückchen einer Säbelkuppel und zerschnitt sie in zwei Streifen. Diese goldenen Tressen spendelte ich mir auf den Kragen und heftete ein Halstuch darüber, damit man das Vorhandensein von Distinktionssternen nicht vermisse. »Wo ist dein Offiziersdiener?« wurde ich gefragt. »Dieselbe Granate, die mich getroffen hat, hat ihn getötet,« log ich traurig.

Gegen 9 Uhr früh wurde uns gesagt, daß der Staffel zum Transport bereitstehe, und daß wir in den wenig Vertrauen weckenden Landesfuhren bis in das Feldspital nach Nagy Polan, also 24 km zu fahren hätten, aber wenn dort nicht Platz sei, so müßten wir noch heute bis Takczany in den Wagerln fahren, wohin es mehr als 38 km seien. Die Fahrt war mehr als schauderhaft. An die in jeder Sekunde regelmäßig zweimal wiederkehrenden Stöße in Längsrichtung und in Querrichtung hätte man sich wohl gewöhnt, aber es gab auch Stolpern, Stoßen, Straucheln, Schwanken. Ich glaubte, auch ein Unverwundeter müsse wohl in dieser fahrbaren Folterkammer seine Seele aushauchen. Wie weit es nach Polan sei? fragte ich meinen Kutscher, einen Stockmagyaren, indem ich meine Uhr zeigte und »Polan« in fragendem Tone aussprach. Er erwiderte: »Rechts um, links um, rechts um, links um . . .« und wiederholte diese vier Worte sage und schreibe sechsunddreißigmal. Ein Irrtum im Zählen war unmöglich, denn er hob bei jeder Reprise einen Finger. Nach dem sechsunddreißigsten Male sagte er: Nagy Polan. Zuerst hielt ich den Mann für verrückt, aber bald erkannte ich, was er gemeint habe: von der Höhe herab schlängelte sich eine endlose Serpentine, an deren letzter Windung (jedenfalls der sechsunddreißigsten) die Ortschaft lag.

Bei unserem Descendo konnte ich ein Crescendo der allgemeinen Sorglosigkeit konstatieren, man spürte den Etappenraum, den Weg in das Hinterland. Die Serpentine hinauf fuhren endlose Trains, russische Gefangene zerrten und schoben die Wagen und halfen den Troßknechten die Pferde aufwärts zu reißen. Ich freute mich, nicht in Rußland gefangen zu sein, solche Fron wäre nichts für mich. Natürlich war in Nagy Polany kein Platz im Feldspital, und wir mußten unsere Passion noch mehr als 14 km fortsetzen. Es war halb 12 Uhr nachts, als ich in Takczany aus dem Wagen kroch. Nun erst spürte ich, daß ich schwerverwundet war. In dem bereitstehenden Maltheserzug erhielt ich einen Platz.

 

Samstag, den 20. März 1915.

Es war ein eigenartiges Gefühl, als ich heute nacht zum Malteserzug trat. Lange Gestalten, denen man die Aristokraten auf Artilleriedistanz ansah, in blauer Flottenkappe mit kleinem weißen Malteserkreuz standen herum und gaben, befehlsgewohnt, Befehle. Der alte Prinz Franz Lichtenstein (wenn ich nicht irre: gewesener Botschafter in Petersburg), Se. Königl. Hoheit der Herzog von Braganza, ein Rittmeister Prinz Lichtenstein, ein Hofarzt Dr. Ritter von Bielka, einige andere Herren, reizvolle Wärterinnen in schwarzem Kleide mit weißen Häubchen und weißer Schürze . . .

Ich fand in der Offiziersabteilung ein Bett, eine Stellage, aber ich übersiedelte bald in einen anderen Waggon, als ich in einem der hereingetragenen Schwerverwundeten meinen Freund Leutnant Glaser erkannte, der mich vor einer Woche aus russischer Gefangenschaft gerettet hatte und vor drei Tagen in Wola Michova verwundet worden ist. Man hatte ihm den rechten Arm abnehmen müssen, und er sieht zum Erbarmen schlecht aus. Ich legte meinen Schlafsack auf das Bett oberhalb des seinigen, womit die Übersiedlung beendet war.

Gegen halb 12 Uhr nachts waren wir einquartiert, früh gegen 5 Uhr fuhr der Zug, der auf allen Waggons außen und auf allen Geräten innen das weiße, gezackte Malteserkreuz auf rotem Grunde mit der Umschrift »Großpriorat für Böhmen und Österreich des souveränen Malteser-Ritterordens« trug, von Takczany ab. Vormittags kam der Hofarzt mit einem kleinen Verbandstischchen, das die Wärterin rollte, öffnete die Verbände und behandelte. Wir bekamen reine Wäsche und ein Lavoir, ein Kübel reinen Wassers und einige Handtücher standen bereit. Ich stürzte mich natürlich auf diese Waschgelegenheit und rieb mir Gesicht, Kopf, Oberkörper und Hände gründlich ab. Es waren kaum fünf Minuten vergangen, seit ich mich abgetrocknet hatte, als ich mir wieder Wasser in das Waschbecken goß und mich von neuem zu waschen begann. Ich tat dies ganz unbewußt, denn meine Sehnsucht nach der Waschung war durch das eine Mal nicht befriedigt. Erst als ich die Prozedur zum dritten oder vierten Male wiederholte und mich die anderen Patienten zu verspotten begannen, ob ich Hydromane sei, wurde ich mir der Lächerlichkeit meines Benehmens bewußt.

Unsere Strecke: Takczany, Szinna, Homonna, Nagy Mihaly, dann in nordöstlicher Richtung über Nagy Szalancz, Kaschau, Abos, Szepes, Olasy, Iglo.

 

Sonntag, den 21. März 1915.

In der Nacht hatte ich Fieber und wälzte mich auf meiner Bettstatt umher. Früh schlief ich endlich ein, als mich schon ein Mitpassagier, Fähnrich Payer, aufweckte: wir seien in Poprad. Ich hatte ihm nämlich versprochen, seine Angehörigen, die das Hotel National am Bahnhofe innehaben, aus den Federn zu trommeln, da er selbst wegen seiner erfrorenen Füße seine Liegestelle nicht verlassen konnte. Also machte ich Alarm im Hotel: »Ernö ist da.« Binnen wenigen Sekunden liefen die Mutter, im Kopftuch, der Bruder in unzugeknöpfter Landsturmuniform, die Schwester in Morgentoilette, das Hotelpersonal mit Schinken und Kognak (meine Anregung!) in den Waggon. An Schlaf war nicht mehr zu denken, und so stand ich denn während der Weiterfahrt draußen auf der Plattform und ließ einen Film (Naturaufnahme in Farben) »Die hohe Tatra« an mir vorüberrollen.

Die Fahrt geht über Ruttka, Szolna, Teschen, Oderberg, ein Umweg auf der Fahrt nach Wien, über den wir fluchen. Ebenso schimpfen wir über das Essen. Wenn 15 oder 20 Offiziere im Zuge sind, erklärte uns der Wärter, werde für sie Extramenage gekocht, aber heute fahren 92 Offiziere mit, und da reicht die Küche nicht aus. So müssen wir uns mit der Mannschaftsmenage begnügen. Das ist besonders für mich schmerzhaft: »Ich und Mannschaftsmenage!« Wie lange bin ich schon nicht mehr Mannschaftsperson!

 

Montag, den 22. März 1915.

In der Nacht kamen wir über Prerau, morgens gegen 6 Uhr, als ich wieder auf der Plattform stand, sah ich schon bei Leopoldau die drei Gürtel von Schützengräben, Artilleriestellungen, Stacheldrähten, Wolfsgruben und andere Befestigungen, die um Wien neu hergestellt wurden. Es seien nur »Notstandsarbeiten«, hat die Regierung die Bevölkerung beruhigt, aber das Wort ist ein zweideutiges.

Auf dem Bahnhof in Wien wollte ich vom diensthabenden Bahnhofsoffizier die Bewilligung zur sofortigen Weiterreise nach Prag erhalten, aber der Arzt machte die Einwendung, daß ich Quarantäne halten müsse. Also fuhr ich im Sanitätsauto in das Spital Rudolfinerhaus, wo ich neuerlich meine Bitte vorbrachte, aber ebenso höflich als bestimmt mit ihr abgewiesen wurde. Zum Glück erkannte ich unter den Ärzten einen alten Prager Bekannten, Dr. Bunzl, der mir sofort eine Übersetzungskonsignation »in das Spital nach Prag« ausstellen ließ, auch für Schnellzüge giltig. So blieb ich noch zu einem guten Gabelfrühstück im Spital, das uns Schwester Maria Isabella, die Tochter des Erzherzogs Friedrich kredenzte, und fuhr dann mit dem Sanitätsomnibus auf den Nordwestbahnhof. Auf dem Bahnhof sandte ich, da ich nicht wußte, ob ich nicht in Prag direkt vom Bahnhofe in ein Spital transportiert werden würde, ein Telegramm nach Hause: »Ankomme dienstlich heute 7 Uhr 52 abends Franz Josefsbahnhof. Bin glücklich und pumperlgesund. Egon.« Ich malte mir aus, welche ungeheuere, glückliche Aufregung dieses Telegramm zu Hause hervorrufen werde; meine Mutter, die vor Sorge fast krank war, wenn den dritten Tag keine Feldpostkarte von mir ankam und doch oft 14 Tage auf eine solche warten mußte, meine Mutter, die sich wohl tausendmal die Hoffnung auf das Wiedersehen mit mir verneint hatte, wird nun dieses Telegramm bekommen, das ihr ganz unerwartet zuruft, daß ich, den sie im Schützengraben in Todesnähe glaubt, in zwei oder drei Stunden in ihren Armen liegen werde.

Ich stieg in den Zug, und die Fahrt ging näher zur Heimat. Von 6 Uhr abends an vermochte ich, obwohl ich im Abteil nette Gesellschaft hatte, meine Unruhe nicht mehr zu bemeistern. In 245 Tagen und Nächten hatte es kaum eine Stunde gegeben, in der ich mir nicht die Frage vorgelegt hatte, wie sich das Wiedersehen mit der Heimat wohl gestalten werde, ob man mich als Krüppel, als Leiche nach Prag schaffen werde, ob ich unverletzt nach einem siegreichen Feldzug heimkehren werde oder mit einem Transport aus Feindesland entlassener Gefangener, wie oft hatte ich mir sehnsüchtig die Freude eines Wiedersehens mit meiner Mutter ausgemalt, aber auch nach der Stadt hatte ich mich gesehnt, nach meinen Jugendfreunden und nach der alten Wohnung im alten Bärenhaus, nach meinem Bett und nach einem Bad . . . Und jetzt bin ich so weit. In wenigen Minuten soll ich alles wieder haben, was ich verloren hatte, was mir zu einem Traum geworden war. Kann es sein?

Nein, es kann nicht sein. Plötzlich fällt mir ein: der Zug wird entgleisen! Natürlich, das ist der Witz des Schicksals. Unvermutet? O nein, Schicksal, ich durchschaue dich, und wenn du mich auch quälen kannst, überraschen kannst du mich nicht! Ich weiß ganz gut, daß du jetzt einen Zusammenstoß beabsichtigst! Ich weiß es, ich warte sogar darauf.

In einer Station kaufte ich mir eine tschechische Zeitung und las sie mechanisch. Franz Zavřel ist gestorben, steht darin. Ich versuche mir zu vergegenwärtigen, wie schwer der Verlust für mich ist. Mein Chef und Freund. Ich möchte ihm gerne meinen Schmerz weihen, aber ich kann es nicht, ich zittere vor Aufregung, ich schwitze kalten Schweiß, stehe immerfort von meinem Sitze auf und laufe auf den Korridor, dann wieder vom Korridor in das Abteil zurück, die Passagiere belästigend.

Ein Ruck, die Waggons bäumen sich ein wenig auf: Aha, das ist der Zusammenstoß. Ich schließe die Augen. Aber der Zug fährt weiter. Eine Haltestelle. Vorort von Prag. Ein Herr, der aussteigt, wird von einer Dame erwartet, die ihm etwas mitteilt. Der Herr dreht sich zu uns um und ruft uns in Koupé: »Przemysl ist heute gefallen.« Große Aufregung bei allen Fahrtgenossen. Also Österreichs beste Festung ist in russischen Händen! »Das ist das Ende des Krieges.« – »In 14 Tagen sind die Russen in Wien. Glauben Sie nicht?« Ich erkenne, daß die Frage, an mich gerichtet ist. »Es ist schrecklich,« erwidere ich.

Es ist auch schrecklich. Aber nicht für mich, was stört mich Przemysl! Dort unten unter meinem Eisenbahnzug flimmern tausend Lichter, die ich nicht mehr zu sehen geglaubt hatte, man sieht Straßen, durch die Menschen gehen, und durch die ich auch gehen werde, ohne von Granaten getroffen, ohne aus dem Hinterhalte beschossen zu werden, ich werde von Tellern essen, eine Mehlspeise zum Fleisch bekommen, meine Mutter wird bei mir sitzen und die ganze Wohnung wird mein sein, kein schmutziger Korporal werde ich mehr sein, der sich in der Nähe der Fahrküchen herumtreibt, um etwas von den Abfällen zu erhaschen, ich werde im Bette liegen und Bücher lesen, und vielleicht werde ich Mädchen küssen, im Kaffeehause sitzen und mit Freunden sprechen . . .

Przemysl ist gefallen. Ja, ja, ja – es ist schrecklich, ich habe es doch schon gesagt! Und ich werde ja nicht in Prag bleiben, ich muß ja doch wieder zurück ins Feld, im Gegenteil, der Abschied wird noch schwerer sein, Zavřel ist tot, ein Künstler . . . Ich rufe mir das alles krampfhaft in das Gefühl, ich denke gewaltsam an meine Kameraden, die noch in den Schützengräben vor Wola Michova liegen, vielleicht eben stürmen, ich will an tote Kameraden denken, an viele hundert tote Freunde, denen keine Heimkehr beschieden war, die verscharrt und unverscharrt in schrecklichen Winkeln Serbiens und Galiziens liegen, aber ich kann nicht, ich kann nicht, mag ich ein Schuft sein, ich möchte schreien vor Freude.

Noch zwei Minuten. Es wird sicher eine Verspätung sein . . .

Meine Mutter war auf dem Bahnhof.

 


 


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