Egon Erwin Kisch
Soldat im Prager Korps
Egon Erwin Kisch

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Serbische Begegnungen

 

Dienstag, den 11. August 1914.

Im gestrigen Befehle waren die Nachrichten verlautbart, die wir über die Serben besitzen, die Dislokation der Hauptarmeen und der Vortruppe, daß Exz. Pavlovič das Kommando des Generalstabs an Stelle des Herzogs Putnik übernommen habe, und über angebliche Mängel der Proviant- und Munitionsnachschübe. Morgens übten wir auf dem Bjelina-Exerzierfelde die Vorrückungen in den Kukuruzfeldern und die selbständigen Aufmärsche der Schwärme, die fast so groß sind wie unsere Kompagnien im Frieden. Außerdem wurden wir über das Vorgehen gegen die Komitatschi und ihre Banden, gegen Weiber und Kinder, welche Waffen gebrauchen, belehrt. Als wir an der Leichenbaracke vorüberkamen, sahen wir darin den Hauptmann Pokorny von den 73ern auf der Bahre; er war gestern nachts an der Drina erschossen worden. Wir marschierten bald nach Hause. War auch die körperliche Anstrengung eine kleine gewesen, trat diesmal psychisches Unbehagen an deren Stelle. Von zwei Leuten wurde mir gesagt, daß gestern ein Brief für mich eingelangt sei, aber die Tagschargen und der Rechnungsunteroffizier erklärten, von nichts zu wissen. Ich war in Besorgnis, daß der einzige Brief, den ich seit einem Dutzend von Tagen bekommen sollte, mir verloren gegangen wäre. Bis jetzt hatte ich das Fehlen von Post nicht empfunden, aber jetzt, da ein Brief hier war und nicht in meine Hände kam, wurde ich ganz nervös und rannte von Pontius zu Pilatus, um nach ihm zu forschen, und ich weiß nicht, was ich für ihn gegeben hätte. Endlich – ich war bereits überzeugt, daß die Leute falsch gelesen hätten und nichts für mich eingelangt sei – übergab mir ein Soldat meines Schwarmes den Brief, den er für mich eingesteckt und in der Tasche vergessen hatte. Es war ein Brief von meiner Mutter. Sie zwang sich darin zu einem gefaßten, beruhigten Tone. Aber alle meine Brüder sind bereits Soldaten geworden, und mein seit kurzem verheirateter Bruder Wolfgang, der nach Stryj als Fähnrich eingerückt ist, dürfte bereits heute im Feuer stehen. Meine Mutter hatte einige Ausschnitte von Zeitschriften beigelegt, die sich mit meinem letzten Buche befaßten und während meiner Abwesenheit erschienen waren. Sie prophezeite mir eine Zukunft. »Zukunft!« Heute nacht gehen wir an die Drina.

Bei unserem Zuge wurde die Fahne eingeteilt, dann zogen wir aus Bjelina. Daß dies unwiderruflich die letzte Station der Kultur und der Heimat sei, war uns allen klar, und zum ersten Male zog die Truppe in trübseliger Stimmung los. Die Soldaten sangen ein Lied, das sie im Frieden hundertmal angestimmt hatten, und das heute zum ersten Male zur Stimmung paßte: das Lied von dem Soldaten, der es fühlt, daß er niemals mehr über die Grenze heimmarschieren werde. Der Tornister war schwer, Staubwolken lagen über den Kolonnen, und die Müdigkeit machte sich bald geltend. Da hunderte von Trains- und Geschützwagen die Passage erschwerten, stockte jeden Augenblick der Zug, um sich sofort für einige Schritte vorwärts zu bewegen. Bei jeder Stockung warfen wir uns auf die Landstraße, obwohl wir wußten, daß das Aufstehen mit der schweren Rückenlast eine mühselige Arbeit sei.

Aber die vorrückenden Truppen boten ein Nocturno von gewaltiger malerischer Wirkung. Werestschagin, du Stümper! Am Himmel ein Armeekorps von Sternen, wie man es kaum je im Abendlande sah, und von dem fast hellblauen Nachthimmel hob sich die Silhouette der kriegerischen Figuren und ihrer Gewehre und Säbel düster und bedrohlich ab; an der rechten Straßenseite war eine Böschung, auf der einzelne Leute neben ihrer Kolonne marschierten, um nicht so viel Staub zu schlucken. Von unten sahen sie aus wie Giganten unheimlichster Art.

Nach 7 km Marsch gegen Osten via Konvaluka machten wir hinter Amalijah, einem Orte hart an der Drinakrümmung, auf einem niedergemähten Kukuruzfelde halt. Vor uns schossen unsere Schwarmlinien. Wir lagen ruhig da, von Mücken belästigt. Manchmal surrten große Fliegen laut vorbei. Es dauerte einige Minuten, bis wir erkannten, daß es keine Fliegen seien, die das Surren verursachten, sondern – – Gewehrkugeln. In kurzen Intervallen pfiffen sie über unsere Köpfe hinüber. »Pzing, das war eine,« lachten die Leute, »und wieder eine.« – Das waren die ganzen Bemerkungen, die unsere Burschen machten, und der Gefreite Hevera, der, durch die Zähne pfeifend, den Schall der Kugeln täuschend nachzumachen wußte, hatte großen Lacherfolg. Was hatte ich nicht schon über die Gefühle im ersten Kugelregen gelesen! Aber keinen von uns berührte die Feuertaufe besonders. Vielleicht nur deshalb, weil wir keinen Feind sahen und die Schüsse nicht direkt gegen uns gerichtet, sondern für die Schwarmlinie vor uns bestimmt waren. Als uns erlaubt wurde, uns in die Zeltblätter einzuwickeln, legten wir uns nieder und schliefen ein.

 

Mittwoch, den 12. August 1914.

Um 12 Uhr nachts wurde ich von dem Hauptmanne als Ordonnanz zum Regimentskommando beordert. Ich legte mich auf meinen Tornister und wollte eben einschlafen, als ich vom Regimentsadjutanten geweckt wurde, um dem Bataillonskommandanten Banauch die Meldung zu überbringen, daß er nach Einstellung des Artilleriefeuers eine Kompagnie selbständig für sich verwenden könne. Ich konnte den Major über eine Stunde nicht finden und irrte über Wege, die trotz der ungeheueren Truppenzusammenziehungen menschenleer waren, und wo es rechts und links hinter Hecken und Kukuruzfeldern aus zehntausend Flinten krachte. Endlich brachte ich ihm die Meldung. Um ¼5 Uhr ging ein grausames Krachen, ein riesiges Artilleriefeuer los. Es war unsere Artillerie, die, um unseren Pionieren den Brückenbau zu erleichtern, die in dem jenseitigen Gehölz versteckten Serben verjagen und die Büsche rasieren wollte. Diese eigenen Schüsse wirkten schrecklicher als die fremden auf die Stimmung. Die Pferde bäumten sich auf, die Enten und Hühner rannten wie verrückt umher. Die Ordonnanzen und Offiziersdiener sprangen von ihrem Faulbett, alles wurde nervös, der Oberst begab sich zum Divisionär Scheuchenstuel und dann weiter bis zur kleinen Drinainsel, die von der zweiten Kompagnie durch eine provisorische Brücke in der Nacht besetzt worden war. Über unseren Häuptern schoben sich wie unsichtbare Riesenvögel die Geschosse der hinter uns postierten Kanonen vorwärts. Als einmal ein Schrapnell durch die Krone eines Baumes huschte, unter dem wir standen, griff sich ein alter Generalmajor erbleichend ans Herz: »Herrgott, das Geschoß hätte leicht krepieren können! Ich gehe lieber zurück.«

Übrigens trog der Instinkt, der eine größere Unruhe vor den eigenen Kanonenschüssen als vor dem fremden Feuer hervorgerufen hat, leider nicht. Während beim ganzen Drinaübergange von serbischen Kugeln niemand getroffen wurde, passierte auf unserer Seite ein Unglück. Vier Schrapnells unserer Artillerie waren zu kurz tempiert oder platzten vorzeitig, von der vierzehnten Kompagnie unseres Regiments, die gefechtsgemäß in Schwarmlinie vor den Haubitzen als Geschützbedeckung lag, wurden von eigenen Füllkugeln 21 Soldaten verletzt. Andere Geschosse unserer Kanonenregimenter krepierten in der Drina, große Wasserhosen bildend, statt am jenseitigen Ufer niederzufallen. Ordonnanzen der Infanterie rannten zurück, um der Artillerie zu melden, daß sie zu kurz schieße und Unheil angerichtet habe. Eine Batterie schob die Schuld auf die andere. Die serbischen Schüsse verstummten, und man entsandte eine Patrouille auf das serbische Ufer, um zu rekognoszieren. Der Generalstabshauptmann Stojan von Lasotič sprang mit dem theatralischen Ruf »Für Kaiser und Vaterland« als erster ins Wasser, um hinüberzuschwimmen. Die Patrouille gab übrigens bald die Nachricht, daß sich die Serben unter dem Druck des Artilleriefeuers zurückgezogen hatten. Nur einige Komitatschis müssen drüben versteckt sein, denn hie und da bohrt sich eine Gewehrkugel ins Wasser oder surrt an uns vorbei. Die Pioniere begannen sofort auf großen Holzzillen, die in Lastautomobilen ans Ufer gefahren kamen, eine Brücke zu bauen. Neben uns etablierte sich die k. und k. Feldtelephonstation. Wenn ich so jetzt nach Haus telephonieren könnte! Was wäre die Stimmung in Werfels »Interurbanem Gespräch« gegen diese! Wir lagerten den ganzen Morgen vor der Brücke, die die Pioniere über die Drina bauten. Trinkwasser war nicht vorhanden, da die zahlreichen bosnischen Schwengelbrunnen vergiftet sein sollen. Wir sandten nach Amalijah, aber in den Trinkeimern kam nur ein trübes, von Infusorien bevölkertes Wasser zu uns. Ich trank es durch einen blauen Nackenschützer, den ich an den Mund legte. Durch diesen Nackenschützer, der bisher auf dem Halse eines Infanteristen geklebt hatte, und den nun schon der halbe Zug als Filter im Munde gehabt hatte, schmeckte das Wasser besser als Sekt. Ich saß auf der Straße neben den Offizieren und kritzelte in diesem Notizbuche, als mich Leutnant Görner fragte, ob ich ihn schon in meinem Tagebuche verewigt habe. »Zuerst müssen Herr Leutnant etwas Besonderes getan haben«, entgegnete ich. Etwa eine halbe Minute später pfiff eine verirrte Serbenkugel durch die Luft, und Leutnant Görner äußerte schnell, aber nicht besonders erregt: »Ich bin getroffen.« Er wies auf seinen Fuß. Wir wollten es zuerst nicht glauben, aber sahen bald darauf, daß er die Wahrheit gesprochen hatte. »Es schmerzt wie ein Peitschenhieb«, sagte Görner und humpelte in der Richtung zum Sanitätsplatz davon; er hatte seine Verwundung, die eine Heimreise bedeutet.

Um 1 Uhr mittags überschritten wir die Pontonbrücke und waren auf der ersten Drinainsel, auf serbischem Gebiet. Die südlich von dieser großen Insel gelegene Gutič Ada war schon in der Nacht von der 2. Kompagnie besetzt und gesäubert worden. Die Insel, auf der wir in Gefechtsform als rechter Flügel des Regiments vormarschierten, ist auf der Spezialkarte gar nicht als Insel eingezeichnet, da die sie umgebenden und durchfließenden Drinateile als tote Arme dargestellt sind. Aber die Drina ändert jedes Jahr ihren Lauf, und so geschah es, daß wir beim Vormarsch dreimal bis an die Hüften im Wasser, von der Strömung fast umgeworfen, mit Gewehr und Gepäck von Ufer zu Ufer marschierten und dann steile Böschungen hinaufklettern mußten.

Vor einer Kutja auf der Amalijah Ada im Gehölze Osmin Sip trat ein Komitatschi, der dort gelauert hatte, plötzlich, während die 3. Kompagnie vorbeimarschierte, aus dem Versteck hervor und erschoß aus einer Nähe von drei Schritten den Reserveleutnant Hugo Schulz aus Auval, mit dem ich im Frieden gedient hatte. Der Serbe wurde sofort von Kugeln durchlöchert und lag auf dem Rücken, Hände und Füße von sich gestreckt, die Augen noch im Tode offen, und es schien, als ob er lächle, daß er sein Leben gegen das eines feindlichen Offiziers eingetauscht hatte. Die meisten Komitas hatten sich auf die Bäume versteckt, ließen die Truppen passieren und gaben dann von rückwärts auf sie Feuer, wodurch heillose Verwirrung entstand und alles gegeneinander zu schießen begann.

Ein solcher Vorfall ereignete sich um 3 Uhr nachmittags. Die Leute fühlten sich von rückwärts beschossen und spürten die Kugeln über ihre Köpfe pfeifen. Sie rannten wie aufgescheuchte Hühner auseinander, und ohne, daß ein Befehl zum Feuern gegeben worden oder ein Gegner zu sehen gewesen wäre, schossen sie nach rechts, schossen sie nach links, nach vorne und nach hinten und verletzten in Massen eigene Leute. Unsere Kompagnie, die gar nicht beisammen, sondern in dem dichten, unwegsamen Gehölz ungeordnet vorwärtsgegangen war, war gleichfalls nicht zu halten. Die meisten begannen wie verrückt zu schießen. Ich glaube, daß in meinem Schwarm, der sich weniger aus Disziplin als aus dem Zusammengehörigkeitsgefühl einer Platte immerfort beisammenhält, jeder meinem Gebrüll gehorcht und nicht geschossen hat. Nur der Infanterist Rejsek, der sich um mich nicht scherte, und in kniender Stellung wie toll vor sich hinfeuerte, erhielt von mir eine Ohrfeige, daß er Vernunft annahm. Im allgemeinen waren die Leute, welche feuerten, wohl in der Minderzahl, aber sie richteten in den eigenen Reihen viel Unheil an. Neben mir stand ein Korporal, der ununterbrochen mit seinem Schwarmpfeifchen das Signal zum Feuereinstellen gab. Plötzlich vernahm ich einen leichten Fall, dem das Krachen folgte, das durch das heftige Niederfallen eines Gewehres verursacht war. Ich wandte mich nach rechts und sah den Korporal auf der Erde liegen. Auf seiner Stirne sah ich ein Loch, aus dem ein ungeheuerer Blutstrom spritzte. Eine Minute später regte er sich nicht mehr. Es dauerte zehn Minuten, bevor endlich auf das laute Pfeifen und Brüllen der Offiziere und besonneneren Soldaten das Feuer ganz eingestellt war und wir weitermarschieren konnten. Auf dem Wege sah es böse aus: Hie und da ein toter Serbe, aber leider viel mehr verwundete Kameraden vom Regiment. Das war unser erstes Gefecht.

Am Abend nach Vorrückung über die Prud-Au und Skokica Ada lagerten wir auf dem östlichen Ende des Osmin Šip auf dem Karrenwege, der gegen Novoselo führt, mähten vor uns alle Kukuruzstauden bis zur Drina nieder und sorgten um gute Deckungen. Ich war mit den Infanteristen Šlapák und Tima als Seitenpatrouille ausgesendet worden, um den Anschluß an die bisher noch nicht bis zu uns vorgerückte 14. Kompagnie zu suchen. Wir bekamen vom jenseitigen Ufer des Flusses Feuer, suchten Deckung. Wir lagen etwa zehn Minuten hinter den Bäumen, und wenn ich meine Gefühle während dieser Zeit schildern wollte, da ich mich als Belagerter hätte fühlen müssen und beim Aufstehen von der Kugel lauernder Gegner getroffen werden sollte, müßte ich sagen, daß mich die Landschaft entzückte. Die Sonne ging über der glitzernden Drina unter, die Laubbäume hoben sich in feingeäderten Zeichnungen, der Sand des sonst inundierten Drina-Ufers leuchtete hell wie neuer Schnee, die Birken und Weiden streckten sich gerade und stark in Turmhöhe empor. Wir zogen uns kriechend zurück und begaben uns zur Kompagnie, nachdem wir wieder einen Drinaarm bis zur Brust durchschritten hatten. Zurückgekehrt, wechselte ich die Strümpfe und legte mich in die Deckung, die meine Plänkler schon für mich geschaufelt hatten. Wir begannen uns einen Tee zu kochen, aber bevor das Wasser zu sieden anfing, erhielten wir den Befehl zur Vorrückung. Wir mußten auf unseren Tee verzichten, den mühselig erschaufelten Schützengraben zurücklassen, fünf Minuten später watete ich mit meinen reinen Strümpfen wieder durch die Drina. Dann wurde wieder Halt befohlen, aber es gab keine Ruhe. Unser Schwarm wurde als Feldwache am Rande eines Kukuruzfeldes aufgestellt. Ohne einen Bissen gegessen zu haben (seit zwei Tagen), legte ich mich in den nassen Kleidern auf den hügeligen Boden auf die Patronentaschen und blieb so, zähneklappernd, bis der Morgen tagte.

 

Donnerstag, den 13. August 1914.

Früh kochten wir aus Konserven und Flußwasser Kaffee. Du guter Mokka von Bjelina, wie sehnsüchtig dachten wir deiner! Von Bjelina begleitet uns ein schwarzer Wächterhund, der angeblich der 8. Landwehr gehört und seine Truppe verloren hat. Im Gefechte von Osmin Šip wurde er durch einen Schuß auf dem Rücken verwundet und schleicht jetzt müde und blutig hinter uns her. Unsere Soldaten, die immerfort auf österreichische und serbische Leichen und auf schrecklich verwundete Menschen stoßen, haben mit diesem Hunde ein geradezu grenzenloses Mitleid. Sie wuschen seine Wunde und verbanden sie, ja sie gebärdeten sich geradezu verzweifelt über das traurige Schicksal dieses armen Tieres. Auch wenn wir an verreckenden Pferden vorbeikommen, werden Rufe unwilligen Mitleids laut: »Die armen Tiere, die ohne ihren Willen in den Krieg müssen und die nicht wissen, warum sich die Menschen schlagen!« Und die Menschen? Bis Nachmittag waren wir damit beschäftigt, Kukuruzfelder niederzuhauen und durchzusuchen, um die nachfolgenden Truppen vor Überfällen aus dem Hinterhalte zu bewahren. In einer Pause stellte jemand den Antrag, man könnte sich Zigaretten im Vorrate drehen. Das geschah. Ich wunderte mich, wie alle Leute plötzlich traurig wurden und von ihren Familien zu sprechen anfingen. Erst aus den Gesprächen wurde mir der Grund klar: Keiner drehte und stopfte die Zigaretten so gut wie seine Ehefrau, die ja ihre Bekanntschaft mit ihrem jetzigen Ehemann begonnen hatte, als sie noch Arbeiterin der Piseker Tabakfabrik und dieser noch aktiver Soldat vom »Elften« war. Nachmittags rückten wir in der Richtung gegen Lešnica vor, bis zum Kopf in den Kleidern die Drinica durchschreitend, und wieder durch die gelbe Unendlichkeit der Kokorica.

 

Freitag, den 14. August 1914.

Das Wasser schepperte in den Stiefeln, die Zunge war wie von Leder, so daß nicht einmal der Rauch der Zigarette gespürt wurde. Man hatte lange nicht geschlafen, der Feind war vor uns, und der (ärgere) Feind im Rücken ist der Tornister, Müdigkeit, Gestrüpp, daß Kleider und Haut in Fetzen gingen, Brennnesseln, Hunger, Kukuruz, nächtlicher Frost nach der Hitze des Nachmittags – so rückten wir gegen Lešnica vor. In den Maisfeldern platzten Minen, drei Leute unseres Bataillons wurden verletzt. Hie und da kamen wir an eine Kutja oder in ein Dorf, wo natürlich alles ausgeräumt war. Kein Lebewesen zu sehen, außer einigen Schweinen, Hühnern und Kühen. Gegen ¼5 Uhr morgens rückten wir aus unserer Stellung zur Besetzung eines Hügels, zu dessen Füßen die Stadt liegt. Kaum waren wir im Morgengrauen aufgebrochen, als aus den (wie wir später konstatieren konnten) sorgfältig ausgebauten Schützengräben des Feindes hunderte von Projektilen über unsere Köpfe sausten, jedoch ohne in meiner unmittelbaren Umgebung jemanden zu verletzen. Wir gingen vor, überschritten eine Eisenbahnstrecke, auf der wir von einem rechts von uns befindlichen Gegner Flankenfeuer bekamen, beschleunigten unser Tempo und machten hinter einer Böschung Halt. Im selben Augenblick krachten die Haubitzen der Serben, und etwa hundert Schritte vor uns ging ein Sprühregen von Schrapnellkugeln nieder. Im ersten Moment erschraken wir tödlich, umsomehr als wir wußten, daß sich die Artillerie nur einschieße, und mit dem nächsten Schuß unsere Schwarmlinien erreicht haben werde. Aber kaum drei Minuten später trat voller Gleichmut anstelle dieser Unruhe, und als nun unsere eigene Artillerie das Feuer zu erwidern begann, waren wir daran interessiert, wie die Geschosse zunächst oberhalb des Gegners einen feurigen Punkt in die Luft setzten, aus dem dann eine Rauchwolke und aus dieser ein Hagel niederging. Trotzdem die eigenen Geschosse scharf über unseren Köpfen wie elektrische Schlitten hinsausten, empfanden wir keine Angst mehr, und als das Infanteriefeuer eingestellt wurde, dachte ich an die belanglosesten Dinge der Welt, dachte daran, daß die Offiziersdiener, deren Herren verwundet sind, jetzt schön in Bjelina spazieren gehen, fragte mich, ob Frau Saftová am Obstmarkt in Prag noch so billige Pflaumen verkaufe, und schlief, den Tornister auf dem Rücken, im Kugelregen ein. Rechts und links platzten die Schrapnells, aber von meiner Kompagnie wurde niemand verletzt. Mein Schlaf dauerte etwa eine halbe Stunde. Patrouillen, die vorgesandt worden waren, hatten gemeldet, daß die feindlichen Gräben, die wohl nur schwach besetzt gewesen waren, geräumt worden sind.

Gegen 5 Uhr erklommen wir den Hügel (Cote 404), der teils mit dichtem Laubwald, teils mit undurchdringlichem Gestrüpp durchwachsen war, so daß man die steile Höhe kaum empor konnte. Wir waren kaum oben, als das Gefecht furchtbar losging. Natürlich war bei dem Klettern alle Einteilung verlorengegangen, und wir standen, kaum 150 Schritte vom Feind, völlig ungeordnet. Ich wurde vom Oberleutnant beordert, mit einem Schwarm von 15 Leuten auf der linken Flanke rechtwinklig auf die Schwarmlinie Front zu nehmen und zu schießen. Wir hatten uns noch kaum in dieser Stellung hinter den Bäumen niedergeworfen, als die Serben wie wahnsinnig gegen uns feuerten, da wir ihnen näher waren und ein besseres Ziel boten als die im Walde gelegene Hauptmacht unserer Truppe, Meine Infanteristen Barbanek und Vavra erhielten Kopfschüsse und waren sofort tot, dem Gefreiten Perin wurde das Schulterblatt zerschmettert, zwei Leute trugen ihn weg, so daß wir binnen kaum fünf Minuten ein Drittel unseres Schwarmes verloren hatten. Ich riß daher eine Seite aus meinem Notizbuch und schrieb folgende Meldung, die ich an den Kompagniekommandanten im Laufschritt sandte: »Habe fünf Mann Verluste in fünf Minuten. Meine Stellung sehr gefährdet.« Nach einem Zeitraum von wenigen Minuten kam – als Antwort auf meine Meldung – ein ganzer Zug unter Kommando des Kadetten Weiser. Der rechte Flügel des Feindes bog sich nach rückwärts mit der Front gegen uns ab, um dem Flankenfeuer zu begegnen. Aber der Gegner vermochte sich nicht mehr zu halten. Von unserer rechten Seite waren Hurrarufe hörbar, und als nun auch wir zum Sturme vorgingen, war die feindliche Reihe bereits am Beginne des Rückzuges.

Nun rückten wir weiter auf dem Bergrücken vor. Was Durst ist, habe ich da erfahren, man bat auf den Knien die Kameraden um einen Schluck dreckigen Wassers; diese hatten es aus einem Tümpel geschöpft, der bald leer war. Auch ich bekam von einem Soldaten ein paar Tropfen, und trank sie unfiltriert. Wenn das so weiter geht, so sterben alle unsere Leute an Cholera oder sie verdursten. Bei der Vorrückung gegen den Hügel fanden wir sechs tote serbische Soldaten, die wir begruben, einige 15mm-Gewehrpatronen aus Blei ohne Stahlmantel, was nach der Genfer Konvention verboten ist, massenhaft weggeworfene serbische Gewehre und Patronenverschläge. Auf dem Hügel selbst, welcher das ganze Land in weitem Umkreise beherrscht und nach Bosnien bis Bjelina Aussicht gewährt, mußten die Serben eine Kanone moderner französischer Konstruktion zurücklassen. Hauptmann von Löw, der diese Geschützposition gestürmt hatte, übergab die Kanone unserer Artillerie, die sie mit großer Mühe fortführte. Unsere Verluste sind außerordentlich groß. Der erste Gefechtstag hat uns alle drei Bataillonskommandanten gekostet: Oberstleutnant Haluska ist tot, Oberstleutnant Hoffmann hat einen tödlichen Kopfschuß, Major Banauch ist durch Sturz vom Pferde kampfunfähig, sein Adjutant Oberleutnant Ullrich durch Schuß in den Unterleib und Oberleutnant Suchovsky durch Halsschuß getötet. Es ist mir schon gestern aufgefallen, wie unvorsichtig sich gerade die höheren Offiziere benehmen: Die meisten saßen während des Marsches zu Pferde, als ob sie den Komitas ein besondere deutliches Ziel zeigen wollten. Manche trugen Feldbinden, alle Säbel.

Wir rasteten auf dem Gipfel des Hügels, um dann von oben herab die Stadt Lešnica zu stürmen. Aber um 8 Uhr morgens wurde auf dem Kirchturm eine weiße Fahne gehißt, und mit den Triëdern konnten wir beobachten, daß auch aus allen Häusern weiße Tücher herausgesteckt wurden. Die Stadt ist also frei. Wir hofften nun, in die Stadt einmarschieren und dort unter Dach und Fach nächtigen zu können. Diese Annehmlichkeit hatten aber nur die anderen Regimenter unserer Division, wir mußten noch lange weitermarschieren, bis in das Dorf Slatina. Auch hier wehten schmutzige Leintücher als weiße Fahnen aus den Fenstern. Wir führten Feldwachen rings um das Dorf auf und rasteten darin. Zum ersten Male kamen wir hier mit der serbischen Bevölkerung in Berührung. Sie war sehr erstaunt, von uns zu vernehmen, daß unser Regiment aus tschechischen Soldaten bestehe, aus slavischen Brüdern. Es wurde uns nicht vergönnt, in den Häusern zu schlafen. Wir lagerten auf einem niedergemachten Kukuruzfeld die ganze Nacht.

 

Samstag, den 15. August 1914.

Unseren Kompagniekommandanten, Hauptmann Neseny, hatten wir seit gestern früh nicht mehr gesehen und ihn schon tot geglaubt. Erst heute erfuhren wir, daß er am Eisenbahndamm einen Schuß bekommen habe, der ihm den rechten Arm zertrümmerte. Früh fiel mir beim Waschen meine Seife in den Dorfteich von Slatina. Ich blickte ihr wehmütig nach, dem letzten Reste der Kultur. Wie sagte doch König Franz I. von Frankreich, als ihm ein Glied amputiert wurde: »Adieu mon plaisir . . .« – In Jadranska Lešnica machten wir mehrstündige Rast auf einer Wiese und badeten ganz pudelnackt und feuchtfröhlich in einem Bächlein. Bald sah man Serben herankommen, ein furchtbare Panik entstand, einige Offiziere und Soldaten rannten splitternackt zu den Gewehrpyramiden, um ihre Schießprügel zu ergreifen, aber bald erkannte man lächelnd den Grund der Panik: es kamen vier Serben mit weißer Fahne ohne Gewehre, blutjunge Burschen, Überläufer. Es folgten ihnen 24 andere serbische Deserteure nach, teils aus dem mazedonischen Neu-Serbien, teils aus dem geschlossenen bulgarischen Sprachgebiete Serbiens.

Ein geradezu tödlicher Regen ging um 5 Uhr nieder, als wir abmarschieren sollten. Die Kolonne hatte sich bereits so formiert, wie sie aus Slatina hierher abmarschiert war: Ein Bataillon 73 als Flankensicherung, die restliche Brigade im Tale der Lešnica: Tete ein Bataillon 73, dann unser Bataillon unter Kommando des Hauptmanns Popelak, dann Gebirgshaubitzen, dann unser II. Bataillon, dann schwere Haubitzen, I. Bataillon Elf, dann Gefechtstrain und zuletzt der Bagagetrain. Als der Regen begann, der uns in der Hitze des Tages höchst willkommen gewesen wäre, jetzt am Abende aber mehr als deplaziert war, rissen wir die Zeltblätter vom Tornisterdeckel und schlugen sie über den Kopf. An ein Weitermarschieren war nicht zu denken, trotzdem es heißt, daß wir am 18. August zu Kaisers Geburtstag Valjevo bereits erobert haben müssen, und uns zu diesem Geschäft also nur drei Tage Zeit gelassen ist. Die Truppe stand. Die Tausende von bewegten Gruppen schienen zu bizarren Felsblöcken erstarrt. Das steinerne Heer! Die sandsteinfarbenen Zeltblätter waren über Mann, Tornister und Brotsack geworfen, über stehende, sitzende und liegende Leute. Dergleichen Formationen habe ich, wenn auch nicht so mannigfaltig, in der böhmisch-sächsischen Schweiz gesehen. Wir haben schon viel erlebt während dieses serbischen Feldzuges, wir haben Tote, Verletzte, Häftlinge und Hinrichtungen gesehen, wir haben Strapazen, Müdigkeit, Hunger, Durst, Frost und Hitze in den 14 Tagen überstanden, seit wir Kleider und Stiefel nicht von unseren Leibern ziehen konnten. Aber ich glaube, wenn wir noch tausendmal Seltsameres und Grausameres erleben, nichts wird uns stärker in Erinnerung haften, nichts werden wir je deutlicher schildern können, als diesen unerbittlichen Guß. Zuerst stand ich unter meinem Zelttuche wie unter einer Hütte und dachte, wie es wäre, wenn jetzt ein einziger der Serbenfranktireure den Lagerplatz beschleichen und mit einem einzigen Gewehre ein paar hundert von uns vermummten Gestalten über den Haufen schießen würde.

Es troff durch mein zerrissenes Dach aus Zeltstoff, die Wäsche wurde naß, und die Füße standen bis zum Knöchel in einer Lache. Der Tornister riß nach rückwärts, und die Füße wankten. Niederlegen konnte man den Tornister nicht, denn er wäre zu kotig, zu naß und so zu schwer geworden. Manchmal zerbrach ein Rattenkönig von Blitzen die Finsternis, und die Bäume rings um den Lagerplatz hoben sich in solchen Sekunden vom Hintergrunde ab, als ob sie Geier wären oder Furien oder riesige Hunde. Dem Einsamen unter Bataillonen von Menschen wurde fast ängstlich zu Mute bei diesen Lichteffekten. Auch andere kleine Beleuchtungsscherze gab es, wenn ein Leutnant mit seiner elektrischen Taschenlampe umherging, oder eine Zugslaterne zum Ausweiden eines eben mitten unter uns geschlachteten Stieres leuchtete, oder der Assistenzarzt und die Blessiertenträger sich über einen ohnmächtig gewordenen Mann beugten. Dann gab es unverständliche Bilder, man sah nur Füße oder nur Hände, die sich bewegten, oder ein Gesicht auf einem riesigen Buckel, – dem eingehüllten Tornister am Rücken. Bald sah es aus, als ob man in einem Heinzelmännchen-Bergwerk wäre, bald wie in der Adelsberger Grotte, bald wie in einem Weinberg.

Wiederholt versuchte man fortzumarschieren, aber bei jedem Schritt auf der Landstraße rutschte man zwei Schritte zurück. (Das Mittel, verkehrt zu marschieren, ist in solchen Fällen problematisch.) So blieben wir. Einige legten sich auf ihre durchnäßten Zeltblätter nieder, auch ich versuchte es, aber der Boden war zu naß, und mein halber Rumpf lag im Wasser. Schließlich setzte ich mich mit fünf Kameraden auf den Kutschbock der Fahrküche und dachte eine endlose, endlose Nacht daran, daß ich niemals mehr im Hotel oder im Restaurant oder im Café oder zu Hause über Bett, Heizung, Speisen oder Getränke schimpfen würde, wenn ich je wieder in ein Land des Friedens käme.

 

Sonntag, den 16. August 1914.

Eine Kotlösung, die sich Kaffee nannte, im Magen, gingen wir um 4 Uhr früh durchnäßt auf der unsagbar unwegsamen Landstraße vorwärts. Gleich rechts am Wege sahen wir eine Feldkanone und ein totes Pferd im Bache liegen. Das Geschütz mit Bemannung ist gestern abend infolge des Sturmes, des Kotes und der Dunkelheit die acht Meter tiefe Böschung hinabgestürzt. Am Wege liegen tote Tschuschen. Wir bekommen Feuer aus den Bäumen. Dann kommen wir zu einem Äroplan, dessen Pilot verwundet wurde und niederging. »Erbeutet von der 11./11. Kompagnie« steht auf dem weißen Aluminiumrand des Eindeckers, dessen Steuer blau-rot-weiß ist, mit Tintenstift geschrieben. Gegen ¼12 Uhr besetzten wir, die wir bisher neben der 8. Korpsartillerie vormarschiert waren, im Laufschritte die Höhe Rasuljaca, dann wurden wir hinauf- und hinabdirigiert, bis den Leuten, die seit drei Tagen nur einmal (und sehr schlecht) menagiert hatten, kein Stückchen Brot, kein Streichholz, keinen Tabak, keinen Tropfen Wasser (einer gurgelte, um den Mund zu nässen, mit Wasser, das er in seine Eßschale uriniert hatte) gesehen hatten, die Geduld riß. Sie begannen furchtbar über die Führung und über die Wirtschaft zu knurren, ohne sich vor dem Feldwebel und den Offizieren irgendwie zu genieren. Ja, im Gegenteil, sie verstärkten vor ihnen die Äußerungen des Unmutes noch, als ob die Offiziere an allem schuld wären. Andere Regimenter hatten Fahrküchen bis auf den steilsten Hügeln mit sich, die unserigen waren durch die Artillerie aufgehalten worden, andere Regimenter hatten Wasserfässer, wir hatten nichts. Um 5 Uhr ging (infolge Lufterschütterung durch die schießende Artillerie?) ein Gewitter nieder. Wir hatten eine Höhe der Cer Planina, etwa eine Stunde von Milina entfernt, besetzt und standen unter dem Kommando eines 73er Oberstleutnants (IV. Bataillon) nordwestlich von Valjevo. Der Hügel hieß Rojin Grob. Wir hackten uns Schanzgräben, maskierten sie mit Kukuruzstauden und erwarteten als rechte Flügeldeckung der Division den Angriff.

Wir lagen hier friedlich in einem ununterbrochenen Lärm von Geschützen und Gewehren, hatten uns schön eingegraben und nicht geschossen, als vom Oberst Wokaun der Befehl kam, man möge einen Unteroffizier samt Schwarm zu ihm entsenden. Der Befehl des Kompagniekommandanten lautete: »Schwarm Kisch zum Regimentskommando.« Schon bevor ich mich auf den Feldherrenhügel zu unserem Obersten zurechtfragen konnte, der in der vordersten Linie, auf der dem Feinde abgekehrten Lehne des Hügels Velka Glava unter einem aufgespannten Zeltdach neben der Telephonstation saß, erlebte ich grauenhafte Bilder des Krieges. Zahllose Verletzte wurden an uns vorbeigetragen, auf Tragbahren, auf dem Rücken oder von je zwei Leuten bloß mit den Händen, Stöhnende, Wimmernde, Schreiende, Zugedeckte, Blutende, Verbundene und Unverbundene, Leute, denen die Wange weggerissen war oder die Nase, Soldaten, die hinkten, und solche, die sich selbst den blutenden Kopf mit ihrem Verbandszeug zurechtpacken wollten, und solche, deren Arm nur an einem Knochen und an Hautfetzen hing. Am furchtbarsten wirkte auf uns ein Kadettaspirant unseres Regiments, der tobsüchtig geworden war. Vier Infanteristen führten ihn und hielten mit Mühe seine Arme fest, einer trug seinen Säbel, der Kadett aber schrie wie gespießt, der Schaum stand vor seinem Munde, vom Augapfel war nur das Weiße sichtbar. Als er unserer ansichtig wurde, brüllte er: »Da sind die Serbenhunde«, riß sich los und wollte die Scheide emporziehen, in der Meinung, daß es der Säbel sei. Wir packten ihn, und auch seine Begleiter hielten ihn schon wieder fest und führten ihn weiter. Die Stimmung meiner Leute war von diesem Vorfall so gedrückt, daß es beim Infanteristen N. zu Verzweiflungsausbrüchen und hochverräterischen Äußerungen kam. Übrigens war der Kadett nicht der einzige psychisch Verletzte, den wir trafen. Ein Kanonier riß sich die Montur unter grauslichem Schreien vom Leibe.

Beim Regimentskommando erhielten wir den Auftrag, mit den Munitionstragtieren nach Milina abzugehen, dort beim Trainpark Brot zu fassen, es den Pferden aufzupacken und wieder in die Schwarmlinie den Leuten zu bringen, die seit zwei Tagen nichts gegessen hatten. Das war leicht gesagt. Schon unbeladen konnten sich die Pferde auf den steilen Seitenwegen kaum vorwärtsbewegen. Jeden Augenblick kam uns ein Verwundeten-Transport entgegen, der sich zum Regimentshilfsplatz bewegte und dem wir Platz machen mußten, obwohl eigentlich unsere Aufgabe im Interesse des Gefechtes die dringendere war. Waren wir uns doch alle bewußt, daß unsere in der Schwarmlinie bedrohten Kameraden vor Erschöpfung, hauptsächlich aber vor Hunger und Durst, halbtot sein mußten. Endlich kamen wir beim Fouragetrain an, der Trainkommandant Hauptmann Oberdanner war nie Proviantoffizier gewesen und bewies das, indem er völlig den Kopf verlor. Seine Tätigkeit begleitete er mit wüstem Schimpfen. Er hatte keinen einzigen Wecken Brot und wollte mich veranlassen, daß ich mit Hafer und Kukuruz, also mit Pferdefutter, wieder in die Schwarmlinie gehe, hinter der sich allerdings auch die Pferde der Offiziere und der Maschinengewehrabteilung hungrig befanden. Ich erklärte, daß dies meinem Befehl zuwiderlaufe, worauf er mich einen Obertrottel schimpfte. Ich tat so, als ob ich mich über diese Charakteristik vor Lachen böge, worauf er schwieg. Schließlich erhielt ich auf mein Drängen zwei Kisten mit Zwieback und eine Kiste Kaffeekonserven. Auf meine Anregung machten wir aus einem Faß Essig in zwei Fässel je eine Mischung von ¾ Wasser und ¼ Essig, worauf wir nicht ohne Schwierigkeiten die beiden Fässer auf die kleinen Tragtiere verluden. Die beschwerliche Karawane ging nun aufwärts. Wiederholt scheuten unsere Pferde, weil sie die Last nicht zu schleppen vermochten oder weil ein totes Pferd im Wege lag. Wir waren nicht so empfindlich. Überall sahen wir Leichen unserer Kameraden, aber wir gingen stumm und ruhig und eilig aufwärts.

Wir kamen an einem Oberst von 73 vorbei, dem eben von einem Zugsführer fünf Tschužen vorgeführt wurden. Der Adjutant des Obersten, der merkwürdigerweise schwarze Aufschläge hatte, fragte den Führer: »Wer hat gesehen, daß sie geschossen haben?« – »Der Herr Hauptmann und zehn Leute.« – »Sie haben es bestimmt gesehen?« – »Ja.« Schon mußten die fünf Bauern hinter einer Böschung niederknien, und die Schüsse eines Schwarmes krachten gegen sie. Der Jüngste mochte 15 Jahre alt sein.

Links von uns fiel alle zwei Minuten Schrapnellhagel in das Gehölz und auf die Wiese, und wir betrachteten dies sozusagen mit dem Interesse des Outsiders. Wir waren so müde, daß ich glaubte, auch wenn uns hier der Tod gewiß gewesen wäre, würden wir unser Tempo nicht beschleunigt haben. Plötzlich erwachten wir doch aus unserer Apathie, denn über unseren Köpfen blitzte ein Schrapnell, und 15 Schritte vor uns sahen wir die Füllsel auf die Erde fallen, ein schreckliches Wimmern und Stöhnen erhob sich, ein Verwundetentransport, Blessierte und Blessiertenträger waren getroffen, von neuem verwundet oder getötet worden. Meine Leute wollten auseinanderstieben, und es war immerhin ein Kunststück, sie zusammenzuhalten und ihnen in aller Eile auseinanderzusetzen, daß eine Flucht ja Blödsinn sei, da Artilleriegeschosse überall niederfallen. Schließlich kamen wir wieder vor dem Feldherrenhügel an, und der Regimentskommandant ordnete an, daß wir die mitgebrachten Lasten von den Tragtieren binden sollten. Wir schwärmten nun aus und rückten in Schwarmlinie bis zu unserer Schützenreihe vor, die auf 120 Schritte auf der Kammhöhe vom Feinde entfernt war. Hinter ihnen stellten wir die Kisten nieder, beluden unsere Taschen und Mützen mit Zwieback und Kaffeekonserven und liefen nun die Schwarmlinie entlang, den Leuten die Nahrungsmittel zuwerfend. Sobald unsere Hände und Taschen leer waren, mußten wir um neuen Vorrat zu den Kisten zurück. Daß sich das ganze Feuer des Gegners nun gegen uns, die größten Ziele, konzentrierte – überflüssig zu sagen. Zwei Infanteristen, Burda und Novak, wurden getroffen und verletzt, die übrigen Schüsse, die fast jeden von uns trafen, bohrten sich nur in die Eßschalen oder in die Feldflaschen. Das Essigwasser konnten wir den Leuten in der Schwarmlinie nicht zubringen, so liefen sie – Durst ist stärker als Angst – selbst zu den Fässern zurück und tranken aus der hohlen Hand . . . Nach fünf Minuten brachen wir auf, auf die Rast verzichtend, denn wir alle wollten trinken, und es gab hier nirgends Wasser. Also führte ich den Schwarm nach Milina hinunter.

Wir kamen an einer ländlichen Ziegelei vorüber, die zu einem Spital umgewandelt worden war, Divisionssanitätsanstalt, Regimentshilfsplatz und Bataillonsverbandplatz zugleich. Ein Rummel ohnegleichen herrschte in dem langgestreckten, aber doch hundertfach zu kleinen Lokal. Soldaten der Sanitätsgruppe, Bandagenträger der Infanterie, Mediziner von vier Regimentern, Assistenzärzte, Oberärzte, Regimentsärzte, Stabsärzte – alles wimmelte durcheinander, es gab keinen Überblick, Einjährig-Freiwillige-Mediziner des 2. Semesters knüpften die Enden zerrissener Stirnadern aneinander, vernähten die gefährlichsten Wunden, der Oberstabsarzt verband Streifschüsse, die Doktoren hatten nicht einmal Schürzen über ihrer Uniform, nur einer oder zwei hatten die Bluse ausgezogen und arbeiteten mit aufgeschlagenen Hemdärmeln. Es gab kein Stroh in dem Ziegelschuppen, der Kranke, der nicht aus Barmherzigkeit von den Blessiertenträgern mitsamt der Bahre niedergestellt worden war, mußte auf dem nackten Tennenboden liegen, in den schmalen Gängen zwischen den Mauersteinregalen hatte nur ein liegender Mensch Platz, und der konnte sich nicht einmal ausstrecken. Und doch kauerten zu Füßen der Liegenden Verletzte, die ihre noch unverbundene, zerschmetterte Hand betrachteten oder zerrissen aufschrien, wenn jemand auf ihren von Maschinengewehrfeuer durchlöcherten Fuß trat.

Man hatte einen Tisch und einen Schrank aus irgendeiner Hütte requiriert, und auf diesen Möbelstücken nahm man die schweren Operationen vor. Den Schrank hatte man umgelegt im Mittelraum untergebracht, ein narkotisierter Infanterist unseres Regiments, der vollkommen angekleidet war, und dem man nur die Hose bis zur Hüfte aufgeschnitten hatte, lag darauf, und ein Regimentsarzt amputierte sein Bein oberhalb des Kniegelenkes. Auf dem kleinen Tisch, der draußen stand, wühlte ein Stabsarzt in den Eingeweiden eines gleichfalls narkotisierten Soldaten, der einen Bauchschuß erhalten hatte.

»Sparen mit dem Verbandszeug«, schrie der Arzt, die Verletzten und die Soldaten, die diese einbrachten, wurden beschimpft, wenn sie erklärten, keine Verbandpäckchen bei sich zu haben. Aber immerfort kamen neue Verwundete auf Gewehren, auf Feldtragen oder huckepack herbeigetragen oder schleppten sich selbst herbei, die Ärzte um Hilfe anflehend. Bäche von Blut flossen durch die engen Gänge, die zwischen den Ziegelstellagen führten, durch den betäubenden, stickigen Staub der Ziegel, durch den Geruch von Lehm und Blut und Schweiß und bloßgelegten Eingeweiden stöhnten die Schmerzensschreie und Hilferufe, das Röcheln von Sterbenden und der Streit von Verwundeten, die sich um ihre Plätze rauften. Ich hatte den Leutnant Bergstein sprechen wollen, der – wie mir die Mediziner sagten – schwerverwundet war. Aber es war nicht daran zu denken, in diesem Tohuwabohu allen erdenklichen menschlichen Jammers einen Schritt vorwärts zu tun. Meine Kameraden waren draußen beschäftigt, in dem Abraumplatze des Lazaretts nach Schätzen zu suchen, nach einem Stückchen Brot und einer Konserve. Draußen lagen nämlich hunderte von Brotsäcken, Tornistern, Rucksäcken, Gewehren, Patronentaschen, Feldflaschen, Mänteln, Feldspaten, Beilpicken, Säbeln, Zeltblättern, Mützen und Blusen, die man den Kranken abgenommen hatte. Ein Kamerad fand in einem Brotsack außer einem Spiel Karten eine Tafel Schokolade, die er mit seinem Nachbar, der ihn bei dem Fund gesehen, teilte. Zwei andere aßen kalt eine Fleischkonserve, die sie in einem Patronentornister entdeckt hatten. Sanitätssoldaten saßen draußen auf einem Berg von Tornistern und notierten nach den Legitimationskapseln die Namen der Verwundeten und der Toten in eine große, rubrizierte Liste. Hinter der Ziegelei lagen nebeneinandergeschichtet etwa 100 Menschen – tot. Es waren die, welche erst hier oder beim Transporte hierher gestorben waren. Immerfort schob man in die zwei Stockwerke der Ambulanzwagen Tragbahren mit Schwerverwundeten, die Kutscher hieben in die Pferde ein, und die traurige Fahrt ging grenzwärts, in das mobile Feldspital.

Dieweil schlugen 100 bis 150 Schritte in der Nähe feindliche Artilleriegeschosse in Massen ein. Wie konnte man auch hier, kaum einen Kilometer Luftlinie von der vordersten Front, direkt an der Landstraße, von der die Serben genau wissen, daß sie unsere einzige Kommunikation bildet, das Lazarett etablieren! Aus dem Bach, dessen Wasser durch das ununterbrochene Schöpfen breiig und schokoladenbraun geworden war, tranken wir, indem wir uns auf die Erde legten und den Mund ins Wasser steckten. Dann füllten wir unsere Feldflaschen und zogen wieder aufwärts.

Meine Leute wollten in dem kleinen Walde vor Milina bleiben, damit sie nicht in das Feuer eingesetzt würden. Wußten sie doch, daß jetzt unsere Kompagnie in die Schwarmlinie gesandt werden würde. Selbst das Bedenken, daß sich der Kompagniekommandant beim Regimentskommando nach unserem Verbleib erkundigen könne und dabei zutage käme, daß wir nicht mehr dort seien, fruchtete nichts, denn die Leute waren äußerst übermüdet und der ungeheuersten Gefahr ausgesetzt gewesen, während die übrige Kompagnie ruhig und kampflos als Flankenschutz in ihrer Stellung gelegen war. »Soll man glauben, daß wir desertiert seien! Ob wir vom Feinde erschossen werden oder von den Herren mit dem Goldkragen, ist egal.« Bei den Fahrküchen aber erfuhren wir, daß unsere Menage auf den Hügel geschafft worden sei, und nun waren alle die hungrigen Burschen gerne bereit, hinaufzuklimmen. Unterwegs hörten wir die Granaten sausen, und über den Wald, in dem wir hatten rasten wollen, fünfzig Schritte vom Trainplatz und 70 Schritte vom großen Lazarett, spien hunderte von Sprengstücken nieder, und hunderte von Soldaten stürzten verletzt, aufgeschreckt und panikartig aus dem Wäldchen, der Train jagte davon, scheue Pferde rannten umher. Wir schauten einander an: Wie gut, daß wir nicht unten geblieben waren. Oben angekommen, hatten wir uns wieder neue Verschanzungen zu graben, denn im Laufe des Tages war das IV. Bataillon von 73, unter dessen Kommando wir gestanden waren, wegdirigiert worden, so daß nur wir als äußerste rechte Flankendeckung und links von uns die 16. Kompagnie und die Maschinengewehrabteilung IV./11. den Rajin-Grob besetzt hielten. Die 16. Kompagnie wurde abends gleichfalls abberufen, so daß wir nun allein den Hügel besetzt hielten. Aber nur unsere Vedetten gaben Feuer, und verjagten den Gegner, der wohl hier eine starke Besetzung vermutete. Durch die sternenhelle Nacht flogen irdische Meteore aus den Leuchtpistolen, der Kanonendonner verhallte langsam, am Horizonte gab es Wetterleuchten, Lichtsignale wurden gegeben, die Schwarmpfeifen der Grillen verstummten für einen Augenblick, Sternschnuppen und vereinzeltes Aufblitzen der Gewehrmündungen, Morgennebel und Kanonenruhe – man wußte nicht, wo der Friede der Natur begann und der Krieg der Menschen aufhörte. – Mein Schreibtisch ist die Brustwehr der Schützendeckung.

 

Dienstag, den 18. August 1914.

Die Serben hatten uns umfaßt, unsere Schwarmlinien bekamen Flankenfeuer, wir mußten unsere Flügel nach rückwärts einbiegen, Stellungen zurücknehmen, Verletzte kamen zu Hunderten vorbei, die Artillerie der Serben war glänzend eingeschossen. Wir seien unglücklicherweise in den Artillerieschießplatz der serbischen Armee geraten, erzählten sogar hohe Offiziere. Lächerlich! Es wäre unbegreiflich, wenn die Serben, die seit sechs Jahren nur gegen Österreich zu rüsten hatten, nicht auf der Hauptzugangsstraße aus Bosnien nach Serbien (Janja-Lešnica-Valjevo) jeden Richtpunkt, jede Distanz, jede Ortschaft, jede Straße und jeden Hügel so genau kennen würden und so genau abgesteckt und eingezeichnet hätten, wie auf ihrem Schießplatz. Sie sind doch hier zuhause, und dort, wo ihr Artilleriestab die günstigste Stellung bei einem Einmarsch der Österreicher ausgemittelt hatte, waren ihre Geschütze gewiß am Mobilisierungstage aufgefahren. Natürlich haben auch hier Manöver und Scharfschießübungen stattgefunden. Aber: Wo hätten sie denn stattfinden sollen? Damit mußte man rechnen, und von einem zufälligen Malheur kann keine Rede sein.

Einzeln wurden die Züge unserer Kompagnie ins Gefecht eingesetzt. Unser Zug bekam den Befehl, zur Sicherung des Trains abzugehen. Aha! Ist man schon darauf gekommen, daß es Wahnsinn war, den Train und die Lazarette so weit vorzuschieben? Kaum waren wir aufgebrochen, als ein neuer Befehl kam: Unser Zug hat zur Sicherung der Maschinengewehrabteilung in die Schwarmlinie abzurücken. Und wieder ein neuer Befehl, woraus uns klar war, daß wir die letzte Reserve seien, da sich alle Dispositionen nur auf uns bezogen. Die Ordre lautete: »Dritter und vierter Zug der 15. Kompagnie hat nach Rasuljača abzugehen und sich dem Kommando des Hauptmanns Kňourek zu unterstellen.« Geschieht. Durch Schluchten mit unreifen Brombeeren, die samt Stiel und Stengeln verschlungen werden, geht es auf Rasuljaèa, wo sich eine Art Bataillon formiert: 2./11. Kompagnie, die halbe 15. und die IV./11. Maschinengewehrabteilung. Es geht vorwärts über Trigonometer 426, Biljevina, Trigonometer 589 und Cote 706 Todorow Rt., wo wir gegen eine feindliche Stellung mit Artillerie auf dem Rücken der Ger-planins gegen Lisnija vorrücken sollen. Wir schwärmen aus. Auf Todorow Rt. stößt unser Detachement auf die 5. Kompagnie von 73, die unter Kommando des Hauptmannes Wagner in Schützengräben liegt. In einen Wald auf der rechten Seite werden Nachrichtenpatrouillen ausgesendet, von uns eine und von 73 eine. Die Patrouille des Egerländer Regiments kam mit der Meldung zurück, daß sich auf dem Rücken bei der Ruine Trojan die Stellung der feindlichen Artillerie und eine von Infanterie (wohl eine Kompagnie Geschützbedeckung) schwach besetzte Schanze befinde. Unsere Patrouille war noch nicht zurückgekehrt. Sie hatte Feuer bekommen und wehrte es ab. Um 5 Uhr nachmittags begann für uns die Schlacht. Der Befehl lautete: »5./73. Kompagnie mit Maschinengewehrabteilung und Halbkompagnie 15./11. haben zur Durchstreifung der Rückenlinie in der Richtung gegen die Ruine Trojan und zur Erstürmung der vor der Ruine befindlichen Schanze vorzugehen.«

Wir gingen. Formation: Schwarmlinie. Auf Schritt und Tritt fanden wir blutige Verbände, zerbrochene Feldspaten und andere Spuren eines Kampfes. Auch Patronentaschen, an denen wir erkannten, daß hier Landwehr im Gefecht gestanden war. Also hier mußte es gewesen sein, wo gestern die 21. Landwehrdivision des Generals Prziborsky vernichtet worden ist. Bald sahen wir auch tote Landwehrsoldaten. Nach 200 Schritten bekamen die 73er Feuer aus einem Häuschen, das von ihnen kaum 100 Schritte entfernt war. Wir waren auf gleicher Höhe, aber da wir hinter dem Hang vorrückten, sah man uns noch nicht. Wir überschritten die Höhenlinie, der Schüsse nicht achtend, die jetzt an uns vorüberzuschwirren begannen. Aber nach 15 Schritten ergoß sich urplötzlich eine Höllenflut von Schüssen gegen das welke Laub zu unseren Füßen, gegen die Bäume zu unseren Seiten, klirrend flogen Projektile gegen unsere metallenen Rüstungsteile, Aufschreie in unseren Reihen wurden hörbar – wir sprangen die 15 Schritte zum Rande des Hanges zurück und begannen gegen die Serben zu feuern, von denen wir nichts sahen, als einen kleinen Erdwall und das Mündungsfeuer der Flinten. Dennoch mußten unsere Schüsse drüben fühlbar geworden sein, denn die Serben zogen sich zurück, wobei wir sie eigentlich zum ersten Male zu sehen bekamen: manche krochen auf der Erde zurück, manche rannten gebückt davon, aber sie waren kaum eine halbe Minute in Sicht, und schon verbarg sie eine neue Hügelwelle. Wir glaubten, daß sie sich jedenfalls bis zur Schanze zurückzogen, auf der das feindliche Geschütz war, das sich bis jetzt stumm verhalten hatte. Schnell sprangen wir auf, um sobald als möglich bei ihnen zu sein, bevor sie ihre Rückzugsstellung technisch verstärkt hätten. Wir überschritten ihren Schützengraben, darin zwei Tote, ein Sterbender und ein Serbe mit zerschossenem Bein lagen, der flehend die Hände in die Höhe hob: Wir mögen ihn nicht erschießen. Ein Infanterist blieb bei ihm zurück, bis die Blessiertenträger kämen, wir anderen gingen weiter vor, ohne beschossen zu werden, und hofften schon, daß die Serben geflüchtet seien. Aber das war nur ein Trick. Sie wollten uns anrennen lassen, und wir – wir rannten an. Ganz plötzlich prasselte ein Sturzbach von Schüssen auf uns nieder. Wir sahen im ersten Augenblick keinen Gegner, aber wir wußten sofort, wo er stecke. Hundert Schritte vor uns war eine niedrige Gartenmauer, stark verwittert. Dort lagen sie, hatten sich Löcher in das Mauerwerk gehackt, die sie als Schießscharten benützten, oder ihre Gewehrläufe durch Haufen von Gerölle gesteckt, hinter denen sie versteckt lagen. Jetzt konnte man die Einzelschüsse nicht mehr unterscheiden, durch die ununterbrochene Aufeinanderfolge wurde das Pfeifen der Bleigeschosse zu einer gellenden Einheit. Rechts und links fielen unsere Leute leblos oder schreiend um, aber das allerärgste waren die Handgranaten, die vor uns und neben uns in schrecklicher Detonation explodierten und ihre Splitter weithin auseinanderwarfen. Diese Waffe kannten wir noch nicht, und nun, da wir so jäh ihre Bekanntschaft machten, erfüllte sie uns mit Grausen. Nur eine Sekunde hatten wir gestutzt, nur eine Sekunde überlegt, ob wir flüchten sollten (wir sahen sofort, daß dies der sichere Tod wäre), nur eine Sekunde dauerte es, bevor wir uns hinter Baumstämmen und kleinen Unebenheiten des Bodens niederwarfen – aber in diesen Sekunden waren wir schauderhaft dezimiert worden, von einer geschlossenen Schützenlinie war keine Rede mehr. Was blieb uns übrig als zu schießen, zu schießen, zu schießen?

Dann kam die kühlere Erwägung: Sich selbst zu schützen. Hinter den Bäumen hoben meine Kumpane kleine Brustwehren aus. Ich hatte natürlich – was habe ich denn überhaupt? – keinen Feldspaten. Mit dem Bajonett stieß ich in den Boden, um ihn zu lockern, und dann das Erdreich auszuheben und mit den Händen vor mich hinzuwerfen.

Bald sah ich, daß ich mit dieser Kratzerei nicht vorwärtskomme. Fünf Schritte neben mir lag ein Toter in einer Blutlache auf dem Bauch. An der Montur erkannte ich, daß es der Infanterist Roubal war – er pflegte immer seine Hosen so kokett und sorgfältig aus den Hosenspangen hervorzuziehen, daß sie wie Pumphosen aussahen. Ich kroch zu der Leiche und schob sie, ohne sie anzusehen, wieder kriechend zu dem dünnen Baumstämmchen, das mir bisher als Deckung gedient hatte. Der Tote lag nun quer vor dem Baumstamm, unter seinen Körper hatte ich mein Gewehr geschoben, zuerst mit der Breitseite. Als ich es umdrehte, daß das Korn nach oben lag, bäumte sich der tote Roubal ein wenig auf, und ich sah sein Gesicht: Wangen, Stirne, Augenhöhlen waren grünlich, Nase, Mund und Kinn rot von vorgequollenem Blute. Ich begann meine Gefühle der Angst und des Grauens und der Verzweiflung dergestalt zu betäuben, daß ich immerfort lud, repetierte und feuerte. Diese Bewegungen folgten einander in immer größerer Hast, bis ich mich auf einmal dabei überraschte, daß ich nur repetiere (ich beschoß die Geröllhaufen, hinter denen serbische Schützen steckten) und abziehe, aber zu laden vergessen habe. Nun sah ich meinen Munitionsvorrat an. Ich hatte nur noch zwei Magazine zu je fünf Patronen, mit dem einen lud ich das Gewehr und überlegte, ob ich weiterschießen oder ob ich mir beide Patronenrahmen für einen Notfall aufheben solle. Ich entschloß mich zum Sparen und legte das Gewehr auf die Breitseite um. Im selben Momente fiel natürlich mein toter Beschützer Roubal flach auf den Boden, und schon fiel mir ein: Der muß doch Patronen haben. Er lag auf dem Bauche, so bequem für mich, daß ich nur die Hand auszustrecken brauchte, um den Patronentornister auf seinem Rücken aufzuklappen. Sechs volle Kartons hatte ich darin.

Plötzlich ertönte ein serbisches Hornsignal, wir hielten erschreckt einen Augenblick im Schießen inne und erkannten, daß auch drüben das Feuer eingestellt worden sei. Über der Mauer erhob sich ein weißes Tuch, auf einer Gewehrmündung baumelnd. Von drüben wurde in deutscher Sprache unser Kommandoruf geschrien: »Feuer einstellen!« Wir schossen nicht. Aus einer Mauerluke trat ein junger serbischer Offizier heraus, ein weißes Tuch in der Hand schwingend. Er rief: »Offiziere vor.«

Hauptmann Wagner sprang auf und wollte (mir nicht sichtbar) dem feindlichen Offizier entgegengehen. Er war aber kaum zwei Schritte gekommen, als er mit Maschinengewehrfeuer überschüttet wurde und getroffen zusammenbrach. Ich sah wie der serbische Leutnant wieder hinter seine Deckung zurücksprang. Die Serben schienen nur darauf gewartet zu haben, denn jetzt ging ein Taifun von Handgranaten und Flintenkugeln über uns nieder, die Mauer war zu einem Vulkan geworden, und nun begann das feindliche Geschütz, das wohl nur auf dieses Signal gelauert hatte, uns mit Kartätschenfeuer zu bespeien. Die Äste der Bäume zerbrachen, und wir glaubten, der Wald stürze ein.

Unsere Panik war ungeheuer, der Kommandant der Maschinengewehrabteilung ließ, da seine ganze Bedienungsmannschaft verloren war, das Gewehr zurückschaffen, und das war das Signal zur allgemeinen Flucht; wir rannten wie von Furien gehetzt davon und machten erst auf dem dem Feinde abgekehrten Hange des Todorow Halt. – Die 73er liefen dem Hauptmann v. Löw in die Arme, der gerade an der Spitze unserer 14. Kompagnie zur Verstärkung heranrückte. »Halt, Kehrt Euch,« schrie er sie an, »das ist das Reklameregiment! Großsprecher seid Ihr, Maulhelden! Ihr singt, daß Ihr Euch nicht fürchten würdet, wenn die Welt voll Teufel wär', und vor ein paar Serben lauft Ihr bis Afrika!« Als einige 73er dennoch weiterliefen, zog er den Revolver und drohte, jeden Flüchtenden zu erschießen.

Es begann zu regnen und Dunkelheit brach herein. Hauptmann v. Löw trat mit seiner Kompagnie und unserer Maschinengewehrabteilung IV den Vormarsch von Neuem an. Er ging in den Tod. Die 2. Kompagnie bildete Reserve, die sehr dezimierte Kompagnie von 73 begab sich nach Biljevina zurück, woher sie gekommen war. Zugsführer Krebs rangierte den Rest unserer Halbkompagnie, zweiundzwanzig Mann; von meinem Schwarm waren nur Infanterist Sperl, der ein wenig aus der Schläfe blutete und Marek, dessen Kopf von einem auf ihn gefallenen Ast geschwollen war, in der Einteilung. Die anderen fehlten. Die zurückgekehrten Verwundeten wurden auf wirkliche oder improvisierte Tragbahren aufgeladen, und mit diesen schweren Lasten versuchten wir bergab zu schreiten, die letzten Gothen. Ach, was war das für ein Weg! Aufwärts waren wir ihn schon bei Tageshelle mit Mühe erklommen, jetzt in gräßlichster Finsternis bergab zu gehen, war fast unmöglich. Vom Weg abzuweichen und ein steiles Stück des Abhanges hinunterzurutschen, gehörte zum Programm jeder Minute. Welch ein Gewitter, welch ein Sturm, welch ein Hagel, welch ein Kot auf den Wegen! Wir warfen die Tornister weg, die Gewehre der Bahrenträger nahm immer abwechselnd Einer, der gerade nicht Hand anlegte, auf die Schulter. Die Eßschalen trugen wir so, damit etwas Wasser hineinregnete, denn wir hatten Durst. Aber die Hagelkörner schlugen uns die Näpfe fast aus der Hand. Korporal Hanf, ein ehemaliger Freiwilliger, lag auf der Bahre; Bauchschuß. Er fröstelte und war nicht zugedeckt. »Gib mir deinen Mantel.« Nun fror ich noch ärger.

Der Marsch hinab dauerte Stunden. Manchmal glomm etwas am Wege, und wir sprangen hinzu, in der Hoffnung ein Zigarettenstümpfchen zu finden. Aber es waren Glühwürmchen. Auf dem unteren Teil der Hügelgruppe hatten die Fahrküchen abends zu ihren Abteilungen zu fahren versucht. Sie lagen umgeworfen auf dem Wege, und wir stießen in der Finsternis in sie. Wenn ein Blitz die Nacht aufhob, sahen wir Gewehre, Brotsäcke, Patronentaschen, Helme, Säbel, Mützen und Blutlachen auf dem Pfade und seinem Rand. Beim Lazareth von Milina machten wir halt, unsere Verwundeten abzusetzen und auf den Morgen zu warten. Ich saß draußen auf einem Tornisterberg, drinnen in der Ziegelei gingen die Ärzte mit elektrischen Taschenlampen und mit Instrumenten umher, ohne der Arbeit Herr werden zu können. Über 2000 Verwundete von einer Division binnen drei Tagen. Wie viele sind tot!

 

Mittwoch, den 19. August 1914.

Die Armee ist geschlagen, ist auf einer regellosen, wilden, überstürzten Flucht. Wir waren die Nacht auf dem Gerumpel der Sanitätsanstalt gewesen, dem Gußregen ohne Schild preisgegeben, klappernd und nur von einer Hoffnung aufrechterhalten: Daß es bloß endlich tagen möge. Aber als sich der Gesichtskreis erhellte, war das erste, was wir sahen, die in zügellosem Haufen vom Todorov Rt. laufend ankommenden Soldaten unserer 14. Kompagnie und unserer IV. Maschinengewehrabteilung. Dreißig Offiziere tot oder verwundet, Hunderte von Soldaten tödlich oder schwer getroffen, zwei Maschinengewehre verloren, der Rest der Soldaten waffenlos, rüstungslos wie wir. Auf dem umgelegten Schranke in der Ziegelei und auf dem kleinen Tische vor ihr hantierten die Ärzte, die die ganze Nacht nicht geschlafen hatten, amputierten Beine und Arme, trepanierten Schädeldecken, renkten Kieferbrüche ein, extrahierten Geschosse aus der Schläfe oder aus Eingeweiden. Aber immerfort brachte man neue Verwundete, nicht mehr auf Tragbahren, denn es gab keine mehr. Man trug sie auf Gewehren oder auf Ästen oder in Zeltblättern. Wie eine Hyäne des Schlachtfeldes öffnete ich alle Tornister der Spitalspatienten, nach einem Hemd suchend. Es brauchte nicht sauber zu sein, nur trocken. Endlich fand ich ein vergilbtes Kommißhemd und zog es an. Es war viel zu kurz (wie alle Kommißhemden) und das nasse Tuch der Hose klebte jetzt statt des nassen Linnens an meiner Haut. In der Ziegelei, in der ich meine über und über blutende Hand verbinden lassen wollte, war ein noch beängstigenderes Gedränge als gestern. Dr. Klauber nahm mich bald vor. Ich sah hier auch unseren Regimentskommandanten, er hatte den Fuß verstaucht; der Oberst lag eingepfercht zwischen verwundeten Infanteristen, aber man hatte ihm eine Decke gegeben.

Gegen 5 Uhr früh bekam der Train den Auftrag, sich auf der Straße rückwärts zu verschieben. Auch die Divisionssanitätsanstalt wurde jetzt nach hinten befohlen. Die meisten Krankenwagen waren aber mit Krankenabschub unterwegs, und um einen Platz in den wenigen, die eben vorfuhren, begannen die Patienten die Ärzte herzzerreißend zu betteln. Wer sich halbwegs fortzuschleppen vermochte, schleppte sich fort. Denn alle wußten, daß vorne das Gefecht für uns schlecht stehe, und daß der in Gefangenschaft geraten werde, der sich jetzt nicht davonmache. Die Ärzte blieben bei den nicht transportfähigen Kranken. Die Stabskompagnie des Divisionskommandos marschierte nach hinten. Von dem steilen Hang des Rajin Grob, wo eben Sturmlärm gehört worden war, rannten Soldaten hinab. Die Serben hatten unseren rechten Flügel umfaßt, und daß am linken Flügel, am Todorov Rt. gleichfalls alles verloren war, wußten wir seit heute Nacht besser denn jeder andere. Auch von der Velka Glava fluteten nun die Truppen in Massen hinab, zuerst die Offiziersdiener mit dem Gepäck ihrer Herren, dann alles andere, Kanonen, Generalstäbler, Stabsoffiziere, die Kompagnien.

Die Flucht hatte begonnen und riß uns fort. Eine geschlagene Armee – nein, eine zügellose Horde rannte in sinnloser Angst der Grenze zu. Kutscher peitschten ihre Pferde, Fahrkanoniere spornten und schlugen die ihren, Offiziere und Soldaten drängten sich und schlängelten sich zwischen den Wagenkolonnen durch oder stapften im Straßengraben, Gruppen, in denen Soldaten aller Truppengattungen vertreten waren, solche mit ziegelroten Aufschlägen auf den Blusen, solche mit dunkelgrünen und mit papageigrünen und mit milchgrauen, Landwehrsoldaten, Heeresinfanteristen, Kanoniere, Sanitätssoldaten, Sappeure.

Von allen Höhen und durch die Hecken fuhren Geschütze rücksichtslos auf die mit Wagen vollgepfropfte Landstraße ein und drängten sich an ihrer Mündungsstelle mitten in die Wagenkolonnen, des Schimpfens von Kutschern und Unteroffizieren, der Befehle von Offizieren, die naturgemäß immer nur das Interesse ihrer eigenen Geschütze und Wagen vertraten, nicht achtend. Leute vom Fußvolk wurden überfahren, die Räder der Lafetten, der Fahrküchen, der Wagen und Kanonen verfitzten sich ineinander, die Pferde bäumten sich auf und bissen einander, von den Peitschenhieben und den Anfeuerungsschreien halbtoll gemacht, Stockungen entstanden, man konnte weder vorwärts noch rückwärts.

Aber außer diesen Stockungen, welche die eigene Sinnlosigkeit verursachte, gab es andere, für die der Feind sorgte. Er beschüttete den ganzen Weg, auf dem unser Heer von Flüchtlingen davonjagte, mit Artilleriegeschossen. An zweitausend Schrapnellschüsse waren während des Tages gegen uns gerichtet und platzten fast alle genau über der Straße oder wenige Schritte von ihrem Rand entfernt. Manchmal prasselten die Füllkugeln nur auf Bagagewagen nieder und zerschlugen die Fässer, Kisten, Koffer und Verschläge darauf, manchmal schlugen sie klirrend auf die Kessel der Feldküchen oder auf Kanonenrohre und Munitionswagen, fast immer wurden auch einzelne Troßknechte und Bedienungssoldaten getroffen, nicht selten eine ganze Gruppe von Infanteristen, die mit Aufschreien, Stöhnen, Hilferufen oder Resignation in Sümpfen eigenen Blutes liegen blieben. Die nachfolgenden stolperten über sie. Am häufigsten aber wurden Pferde von den Sprengstücken und Zündern erwischt; sie stürzten mit triefendem Hals oder durchbohrtem Rumpf oder gebrochenen Beinen noch lebend in ihrem Zaumzeug zusammen. Wenn es Munitions- oder Wassertragtiere waren, deren Führer gleichzeitig (noch vom Zivil her) ihre Besitzer waren, dann schnallten diese den niederbrechenden Mauleseln oder Pferden die Gurten ab, und man sah darunter uralte Druckwunden voll Eiter und voll von Fliegen und Würmern, denn die faulen Gepäckträger in Slavonien und Bosnien nehmen ihren Tieren zeitlebens die Sättel nicht ab. Waren es aber Zugtiere von Bagage- oder Krankenwagen, die getroffen niedersanken, dann ließen die Kutscher und Wagenlenker die Fahrzeuge im Stich und liefen davon. Wozu sich plagen, die Pferde auszuspannen und den Wagen aus dem Wege zu schleppen? Zu retten war er ja doch nicht! Und fluchend mußten die dahinterfahrenden Kanoniere und Kutscher das Hindernis irgendwie beseitigen oder ausweichen, was ungeheuere Arbeit und neue Stockungen gab. Mehr als zweihundert umgestandene oder erst traurig und langsam ohne Gnadenschuß verendende Pferde umsäumten unseren Weg.

Es war offenes Terrain, durch das wir flohen, und es gab keine Deckung vor den Schrapnells, obwohl wir sie genau heransausen hörten. Wir konnten nichts tun, als – geduckt weiterlaufend – ihre Explosion über unseren Köpfen zu befürchten. Wenn ihr Flug in einem gelben Wölkchen mehr als 30 Schritte von uns entfernt seinen Abschluß fand, wenn plötzlich das Sausen in den Ton des Niederprasselns überging, so strafften wir wieder erleichtert und aufatmend unsere Körper und liefen weiter. Manchmal kamen wir durch Dörfer, und man konnte sich vor dem Regen von Eisenkugeln durch einen Sprung in ein Haus retten. Aber in den Dörfern waren die Augen der Ortsbewohner eine neue Qual: sie blickten, die bei unserem Vormarsche uns so haßerfüllt als den zukünftigen Mördern ihrer Gatten, Söhne und Brüder nachgesehen hatten, uns nun mit nicht versteckter Freude, mit offenem Hohne an, da wir geschlagen mit Mann und Roß und Wagen wieder aus dem Lande zogen. Die Brunnen waren ausgetrocknet, und die Soldaten drangen in die Häuser und schenkten sich aus den Branntweinfässern ein. Rakjaschnaps ist klar wie Wasser, und die Leute tranken ihn wie Wasser. Nach wenigen Schritten begannen sie zu lallen, zu taumeln und fielen hin.

Jede halbe Stunde verstellte irgendein Stabsoffizier den Infanteristen den Weg: man hatte sich auf dem Straßenrand unter Kommando eines Offiziers zu sammeln, in Schwarmlinie zu entwickeln und den Rückzug zu decken. Es kamen bei diesen schlecht organisierten Versuchen höchstens 2–300 Soldaten zusammen, welche natürlich nicht imstande gewesen wären, die Straße vor einem Angriff des feindlichen Heeres auch nur zu schützen. Man lag eine Viertelstunde, sah wütend die Wagen und Artilleristen auf dem Wege weitereilen, um sich in Sicherheit zu bringen, man schimpfte darüber, daß man sinnlos geopfert werde, verzehrte sich in Angst vor einem feindlichen Ansturm fünfzigfach überlegener Kräfte und besonders vor einer Umfassung, die der ganz kurzen Schwarmlinie jeden Augenblick widerfahren konnte. Und wenn wir aus der Sicht eines höheren Kommandos waren und uns die Ausrede vom Mangel an Patronen zurechtgelegt hatten, löste sich die Schwarmlinie ohne Befehl und via facti auf, und man schloß sich wieder der allgemeinen Flucht an. Nur einmal, gegen Abend schon, wurde vom Korpskommando vor Lešnica ein etwas besser organisierter Widerstand angeordnet. Ein dicker Oberstleutnant – Ordonanzoffizier (Zivilberuf: Oberstlandmarschall des Königreichs Böhmen) stand als Sperrbaum auf der Straße, lief jedem Infanteristen nach, der zu entwischen drohte, und packte ihn höchsteigenhändig. Unser Regiment sammelte sich rechts von der Straße. Es waren genug Soldaten, aber fast gar keine Offiziere, da diese zum großen Teil verwundet sind, zum Teil die Flucht auf den Wagen mitmachen, die nicht angehalten wurden. Das Bataillonskommando übernahm Leutnant Basch, die Kompagniekommanden wurden von Unteroffizieren übernommen. Über die 40 bis 50 Leute, die offizierslos von der Fünfzehnten vorhanden waren, nahm Zugsführer Urban das Kommando. Schwarmlinie, Deckungen, wir sehen den Feind etwa 1½ km entfernt über die Höhen hinabschreiten, beginnen mit höchster Aufsatzstellung zu feuern, und einige Geschütze, die hinter uns aufgefahren sind, eröffnen die Kanonade. Das bringt den wohl ohnedies erschöpften Feind zum Stehen, auch drüben fährt Artillerie auf und beginnt statt der flüchtenden Kolonnen uns zu beschießen.

So bleiben wir bis zur Nacht, richten aus angstvollen Schüssen eine Schutzmauer vor uns auf, nicht zielend, aber den Lauf halblinks haltend, damit wir nicht unsere Leute auf der Landstraße treffen.

 

Donnerstag, den 20. August 1914.

Die ganze Nacht ratterten die Fluchtkolonnen über die Chaussee, vor Tagesanbruch fuhren auch unsere Kanonen von dannen, und wir schlossen uns ihnen an. Bei der Kirche in Lešnica sahen wir neue Gräber, an der Kirchenwand stehen die Namen: Oberstleutnant Haluska, 11. Regiment, gefallen 15. August 1914. – Oberleutnant Ullrich, 11. Regiment, gefallen 15. August 1914. – Weiter die Namen von fünf Infanteristen und darunter: »Zehn Unbekannte des I. R. 11«.

In Lešnica erfuhren wir den Rückzugsbefehl: »Bis über die Drina zurückzugehen und das Ufer bis zum letzten Mann zu halten.« Ich schloß mich zwei Prager Bekannten an, und wir marschierten, Otto Weinberg, Korporal im 91. Regiment, Paul Brandfeld, Korporal im 102. Regiment und ich, Korporal im 11. Regiment zusammen. Weinberg hatte einige Sportzigaretten, mit denen wir uns den Sitz auf einer Kanone erkauften. Da saßen wir oben und fuhren etwa fünf Stunden. Oft stockte die Fahrt, dann zog ich mein Notizbuch hervor und beschrieb den Verlauf des gestrigen Tages. Wenn wir aber fuhren, deklamierte Brandfeld, seines Zeichens Schauspieler, den Lärm der Schrapnells und das Geratter der Räder überschreiend, die Rolle des Zanga aus »Traum ein Leben«:

Jetzt Freunde, jetzt Brüder
Streckt der Mordstrahl nieder;
Empfangen und geben
Den Tod und das Leben
In wechselnden Tausch,
Wildtaumelnd im Rausch,
Die Lüfte erschüttert,
Die Erde erzittert
Von Pferdegestampf.
Laut toset der Kampf.

Schließlich jagte uns ein Artillerieoffizier von unserem Sitz auf der Protze, und wir stapften wieder zu Fuß. Gegen Abend überschreiten wir wieder die Drina auf einer Kriegsbrücke, in deren Pontons schon Pioniere stehen, um sie abzubrechen. Das Ufer ist bereits von einer Schwarmlinie von Honveds besetzt. Wir ziehen weiter nach Janja, wo in einem Pflaumengarten sich das 11. Regiment vergattert, leeren Magens seit zwei Tagen, entnervt, gebrochen von den Gefechten und der Flucht.

Wie die Soldaten erzählen, die gestern serbisches Vieh nach Bjelina getrieben haben, sind die beiden Korps an unserer Seite, das 13. und 16., noch stärker geschlagen worden als wir und auf dem Rückzuge begriffen. Auch andere Soldaten haben Tausende von Angehörigen dieser Korps nach Bosnien zurückfluten gesehen.

Ununterbrochen befreit sich bei den Soldaten die allgemeine Depression in Verwünschungen und Verdächtigungen der Führer. »Lauter unfähige, alte Esel sind unsere Generäle.« – »Wer Protektion hat, dem wird das Schicksal von Hunderttausenden anvertraut.« – »Das sind prachtvolle Kerle, diese Serben, sie wissen ihr Land zu verteidigen. Wenn ein Feind nach Böhmen käme, würden wir ihn auch hinausprügeln.« »Lauter Redls! Einer wie der andere, lauter bestochene Schufte, lauter Spione, lauter Verräter.« Dieser Vorwurf kehrt immerfort wieder, auch von den intelligentesten Burschen ausgestoßen. Das Vertrauen in die Führung ist schon in Friedenszeiten infolge der albernen Behandlung der Affäre des Generalstabschefs Redl erschüttert worden. Wie hat man in Frankreich den kleinen Hauptmann Dreyfuß, der des Verrats eines Bordereau von fünf Stücken verdächtigt war, inquiriert, bestraft, monatelang recherchiert, prozessiert und geschrieben, bis sich eine aufgeregte Volksmenge so heftig gegen den (vermeintlichen und nicht überwiesenen) Verräter richtete und gegen alle seine Stammesgenossen, bis Frankreich eine Revolution drohte, und bis eine Gegenrevolution die Klarstellung der wahren Schuldigen forderte. Beide Parteien waren sich in der Verdammung des Verrates einig, und es war ein reinigendes Gewitter: Nach jener Bewegung gab es keinen Franzosen, der nicht mit Recht davon überzeugt gewesen wäre, daß nach dieser Angelegenheit sich niemand mehr zur Fortsetzung des Verrates oder gar zu einem neuen bereiterklären würde. Österreich aber? Redl, Generalstabschef eines der wichtigsten Korps, Oberst und besonderer Vertrauensmann, wird unzweifelhaft des fortgesetzten Verrates überwiesen, und sofort drückt man ihm den Revolver in die Hand und gewährt ihm einen »ehrenvollen Tod«, nur aus Angst vor der Öffentlichkeit. Nach keinem Komplizen wird er gefragt, nicht jahrelang über seine jahrelangen Beziehungen, nicht über deren Entstehung, nicht über die Mittelsmänner, nicht über die Wege und nicht über die Objekte seines Verrates verhört, und so vervielfältigten die weisen Militaristen diesen Glauben des Volkes, daß die Armee voll solcher Verräter sei. Und es ist selbstverständlich, daß man nach einem geschlagenen Feldzuge diese Vermutung bestätigt glaubt, den Rest von Vertrauen in die Führung verliert und seinen Pauschalverdacht unverblümt ausspricht. Aber die wichtigsten Gründe für die Widerstandsunfähigkeit der Monarchie liegen tiefer.

 


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