Egon Erwin Kisch
Soldat im Prager Korps
Egon Erwin Kisch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Auf der Paraschnica

 

Dienstag, den 15. September 1914.

Es wird fortgekoffert. Seit 4 Uhr marschieren wir in der Savenähe kreuz und quer, bald hierhin, bald dorthin beordert. Um 8 Uhr früh gehen wir im Verbande mit der 13. Kompagnie (Popelak) über die Savebrücke zur Verstärkung der Landwehrschwarmlinie ab. So überschreiten wir nun wieder die serbische Grenze, zum dritten- und hoffentlich zum letztenmal! Es ist der von der Saveschleife nördlich der Drinamündung gebildete sackartige Zipfel, die Halbinsel Paraschnica, auf der wir vorrücken; sie ist vom Ufer bis zu der angeblich betonierten und zementierten Chaussee, die bei Cernabara den Abschluß des Zipfels bildet, fünf Kilometer lang. Gegen diese hochaufgedämmte Chaussee, welche von Mitrowitza über Ravnje nach Cernabara führt, sollen wir vorrücken. Unsere Kompagnie wird an den linken Flügel gesendet und dem Regimentskommandanten von 7er Landwehr, Oberst Zappe, unterstellt. Die Vorrückung in dem dichten Walde, dem Račanski ključ, ist gefährlich, es haben sich Züge und Teile der Schwarmlinie losgebröckelt, und immerfort geht es an Leichen vorbei, die erst drei Tage hier liegen und doch schon durch trockene Verbrennung im Gesichte ganz schwarz geworden sind, so daß unsere Soldaten und die serbischen, sowie die vielen Komitatschis als Tote mit den von der schwarzen Gesichtsfarbe grell abstechenden weißen Gebissen aussehen wie Orang-Utans. Und der Verwesungsgeruch bringt die Lebenden vollends der Ohnmacht nahe. Überall, hinter allen Sträuchern stecken Landwehrleute, die nicht vorgehen wollen, und unsere Offiziere und Soldaten beschimpfen nicht nur die sich Verbergenden, sondern auch generalisierend alle »Landwehraken«.

Wir waren wiederholt beim Vorgehen von Landwehrgruppen zurückgerissen worden, welche aus der Schwarmlinie flüchteten. Man sammelte sich immer wieder und ging von neuem vor. Nachmittags wurde ein Kadett und 20 Mann zum Patronenfassen beordert, ich – als ein Kenner des Weges – mit ihnen. Unterwegs holten uns wieder flüchtende Landwehrplänkler ein. Im Nu war unser Fassungs-Detachement zerstoben, aber bald auf 120 Mann wieder angewachsen: jeder motivierte seinen Rückzug damit, daß er Patronenfassen gehe. Natürlich wurde niemand über die Brücke gelassen. Vor der Brücke war der Hilfsplatz der Sanität etabliert. Hier lagen viele im Sterben, und der Geistliche gab ihnen die letzte Ölung. Ein Kadett schlug im Todeskampfe mit den Füßen um sich und fiel dann leblos von der Tragbahre. – Unauslöschlich schreckliche Bilder. – Der Hilfsplatz wurde gegen 6 Uhr abends von Schrapnellen beschossen und wurde über die Brücke verlegt. Unsere Leute, die die Patronen nach vorn tragen sollten, stoben auseinander, und erst, als wir einige Verschläge auf die Fahrküchen aufladen konnten, gelangten wir vorwärts. Hundert Landwehrsoldaten humpelten vorüber, welche Schüsse in den Fuß und in der linken Hand haben – fast durchweg Selbstverstümmelungen. Meistens sind sie in den Zeigefinger der linken Hand, einige der rechten Hand oder in den Fuß getroffen, und am Pulverrauch an den Wundrändern erkennt man das eigene Fabrikat. Aufsehen erregt eine unter Kommando von Feldgendarmen mindestens kompagniestarke Abteilung von solchen anscheinend selbstverletzten Soldaten. Sie ziehen von der Divisionssanitätsanstalt wieder in die Schwarmlinie. Gewiß sind nicht alle von ihnen Selbstverstümmler und müssen doch dafür büßen, daß die anderen sich durch ein Blutsopfer am eigenen Leibe dem Kampfe zu entziehen versucht haben. Es ist in der menschlichen Natur tief begründet, daß man sich lieber eine schwere Wunde selbst zufügt, als sich der entfernten Möglichkeit selbst auszusetzen, zufällig vielleicht eine leichtere zu erhalten. Gibt es doch auch einen Selbstmord aus Angst vor dem Tode.

Wir kamen an der Save vorüber. Überall am Ufer liegen Leichen unserer Soldaten, die genau vor einer Woche in der Drina den Tod gefunden haben und nun von der Save an ihren seichten Stellen angeschwemmt wurden. An manchen Stellen liegen mehrere nebeneinander, an einer Sandbank ihrer sechs. Alle haben die gleiche Lage: nur der Rücken und der Hinterkopf ist sichtbar; es sieht aus, als ob sie im Wasser niedergekniet wären, um sich zu waschen und nur den Kopf untertauchen würden. Die Uniformen glänzen infolge der Nässe und sind vom Wasser geglättet, so daß es den Anschein erweckt, als ob es lauter Offiziere in Extrauniformen wären. Neben der Totenreihe trinken die Soldaten gierig das gute, kühle Wasser.

 

Mittwoch, den 16. September 1914.

Die ganze Nacht im Gefecht. 30 Schritte vor uns liegen die Serben in den Bäumen, im Mondschein sieht man, wenn einer aufsteht und läuft und meist getroffen wird. Gegen 1 Uhr nachts bekam der Oberleutnant eine verschlossene Meldung. Ich wußte sofort, was sie enthielt, denn er reichte seinem Burschen die Uhr, seine Brieftasche, sein Portemonnaie und gab ihm Verhaltungsmaßregeln. Ich kenne die Zeichen: Das ist Sturm. Knapp vor 4 Uhr ein Aviso von Mann zu Mann: »Obacht geben und lebhaft schießen«, und dann punkt 4 Uhr: »Feuer einstellen, Aufsatz normal, Bajonett auf«. Der Bataillonshornist von der Landwehr stieß in die Trompete. Sturmsignal! »Vorwärts, hurra!« Wir laufen vorwärts. Nach 5 Schritten ist unsere Schwarmlinie schon ganz gelockert. Nach 10 Schritten beträgt der Plänklerabstand schon über 15 Schritte, soviele sind gefallen. An ein Weiterstürmen ist nicht zu denken. Rechts und links flutet alles in die Deckung zurück. Wir natürlich auch. Der Sturm ist abgeschlagen. Wir verbinden Kameraden und sehen Kameraden sterben! Um 5 Uhr kommt der Befehl zu neuerlichem Sturm, da er am rechten Flügel geglückt ist und Anschluß hergestellt werden muß.

Wieder: »Hurra!« Diesmal geht's schneller. Wir sehen, der Tod ist uns sicher, es gibt keine Rettung mehr, und deshalb will man's lieber rasch abtun. Nur nicht denken. Schon sind wir 20 Schritte vorgekommen, schon sehen wir, daß wir im nächsten Augenblicke in der feindlichen Stellung sein werden, daß das Handgemenge unvermeidlich ist. Die meisten der Serben drehen sich um und jagen davon. Nur wenige bleiben liegen und repetieren wie wahnsinnig. Ich renne schräg gegen einen zu. Ich bin einen Schritt von ihm entfernt, als er mich sieht. Noch will er schießen, aber ich trete auf sein Gewehr. Er springt auf und krallt mir in die Augen, dann läßt er mit einem Aufschrei los. Infanterist Patocka von meinem Schwarm hat ihn in die Hüfte gestochen. Mit vertierten Augen dreht sich der Serbe gegen den neuen Angreifer. Aber da hat er schon den zweiten Bajonettstich vom Infanteristen Dejmka im Unterleib. Er sinkt zusammen. Links einige Kolbenkämpfe, aber kein Zweifel, die Deckung ist genommen. Wir müssen uns aber schnell wieder eingraben, denn 30 Schritte vor uns liegen die Serben in neuen Deckungen. Unser Atem geht keuchend.

Wir haben keinen Zugkommandanten mehr. Kadett Benesch verletzt, Kadett Lenz verletzt, ihre Stellvertreter, die Zugführer Brettl, Krebs, Patleich und Raba, verletzt, elf Infanteristen tot, davon vier aus meinem Schwarm.

 

Freitag, den 18. September 1914.

Sechs Kompagnien unseres Regiments haben die Landwehr abgelöst. Neben unserem Loch hat die 16. Kompagnie Deckungen ausgehoben. Ich unterhielt mich mit dem Kadetten Kraus, als es hieß, daß die 16. Kompagnie als Nachrichtendetachement vorwärtszugehen habe. »Laß mir die Zeitung hier«, schrie ich dem Kadetten zu, der an der Spitze seines Zuges marschierte. – »Warte, bis ich sie ausgelesen habe, ich schicke sie dir vielleicht zurück.« Jetzt sind wir wieder allein. Der Hauptmann schickt mich zum Adjutanten des 1. Bataillons; ich gehe zum linken Abschnitt, wo ich die Order notiere. Plötzlich bekommen wir mörderisches Feuer, alles läuft in die Deckungen. Ich ziehe es vor, rasch zu meiner Kompagnie zurückzukehren, bevor sie fortmarschiert. Ich laufe schnell über die Wiese und freue mich, daß ich schon etwa einen Kilometer zurückgelegt habe, also mehr als die Hälfte des Weges, und außerhalb des Feuerbereiches hin. Ob nur das Regiment nicht bereits abgegangen ist? Ich habe meine Ausrüstung dort gelassen, nur das Gewehr hatte ich umgehängt . . . Herrgott, das Gewehr! Das habe ich richtig im linken Abschnitt vergessen, als ich die Meldung abschrieb. So unmilitärisch bin ich in den zwei Tagen schon geworden. Nun muß ich wieder den gefährlichen Weg zurück, den ich schon glücklich überstanden glaubte. Aber ich komme unversehrt zum Kompagniekommando zurück, wo ich den Feuerangriff melde.

Wenige Minuten später sprengen die ersten Leute der 16. Kompagnie ohne Rüstzeug, ohne Gewehre heran. Sie sind ganz unvermutet an die serbische Position auf zehn Schritte angerannt, haben überdies Flankenfeuer bekommen und wurden auseinandergesprengt. Nach und nach kehrt die ganze Kompagnie in ungeordnet heranlaufenden Trupps zurück, viele verwundet. Es dauert über eine Stunde, bevor sich alle sammeln. Ich sehne mich nach der Zeitung und frage nach dem Kadetten Kraus: »Der hat einen Bauchschuß und wurde zum Hilfsplatz getragen – hoffnungslos.«

Abends grauenhafter Regen, ich muß mir in einer Pfütze mein Lager zurechtmachen. Der Oberstleutnant ißt zwei Sardinen aus einer Büchse. Wie gut hat es doch solch ein Regimentskommandant! Auch der Adjutant bekommt eine Sardine. Wenn mir doch jemand wenigstens ein Stückchen Brot schenken würde!

 

Samstag, den 19. September 1914.

Früh Marodenvisit. Die 16. Kompagnie hat etwa 140 Leute, die zur Untersuchung kommen. (Der ganze Stand beträgt 200.) Sie haben Rheumatismus, Ruhr, Kolik, schwere Verstauchungen usw. Nur ein Drittel wird anerkannt und darf zurückbleiben, trotzdem von den übrigen die meisten nach Ansicht der Ärzte gleichfalls keine Simulanten sind. Aber was tun? Man hat keine Medikamente, nicht einmal Opium, sehr wenig Watte, fast kein Verbandzeug, keine Möglichkeiten einer Verpflegung.

Ich lasse von einem Freunde, dem Mediziner Ninger, meine Bajonettwunde von Rača untersuchen, die übel aussieht, umsomehr, als meine Hand seit sechs Tagen nicht gewaschen worden ist (und vorher kaum gewaschen). Der Medikus machte ein bedenkliches Gesicht, die Wunde sei schon ganz eitrig, und die Gefahr, daß Phlegmone und Blutvergiftung zutreten können, sehr groß. Er desinfiziert sie so gut es geht und sagt mir, ich möge ihr mehr Sorgfalt zuwenden.

Nachmittags um 3 Uhr gehen wir vor. Nach 200 Schritten kommen wir zur ersten serbischen Deckung. Überall stinkt es von serbischen Leichen, und auch unsere Landwehrsoldaten sehen wir tot und unbegraben auf dem Feld. Einem von diesen nehme ich einen Löffel aus dem Brotsack. Es geht mir zwar etwas gegen das Herz, aber zulange habe ich ohne Löffel gegessen.

Die serbischen Deckungen sind nicht so erstaunlich gut, wie jene am Ufer, die seit drei Jahren (von Berufsarbeitern wohl) im Frieden sorgsam hergestellt wurden. Aber für Gefechtsdeckungen sind auch diese hier ganz vorzüglich, und wie verzweifelt man sie verteidigt hat, ist daraus zu sehen, daß die Toten auf Plänklerdistanz, ja in Abständen von zwei Schritten, nebeneinanderliegen. Und inmitten dieses Leichenfeldes muß man lächeln, wenn ein aus dem Pensionsverhältnis ausgegrabener Major mit einem Wink auf die infolge Verwesung ganz schwarzen und weithin riechenden Leichen, vor deren Mund und Nase das Blut in Patzen erstarrt ist, vorsichtig bemerkt: »Achtgeben, ob die auch wirklich tot sind!«

Ich suche Charakteristika in der Deckung. Meistens Spielkarten, Flaschen, keine Bücher mehr, nur eine Schulfibel mit ungelenken Schreibversuchen: einer lernte da Lesen und Schreiben. Weiter liegen hier die seltsamen Flaschen der Italiener und Balkanier auf: ein doppelt ausgebauchter Kürbis, der trocken und hohl ist, und in dem der Bauer und der Krieger seinen Schnaps und sein Trinkwasser aufbewahrt. Auf den Patronenkartons ist verzeichnet, daß es österreichische Projektile waren, die gegen uns hier verschossen wurden. Österreichische und deutsche Firmen: »Hirtenberger Patronen-, Zündhütchen- und Metallwarenfabrik vorm. Keller & Co.«, »Manfred Weiß in Budapest« und die vielen türkischen Kugeln stammten von der »Deutschen Metallpatronenfabrik in Karlsruhe«; die russischen Gewehre tragen den Firmenaufdruck: »Niematschke Fabrike oruschia e munizie, Berlin«. Die anderen Kartons stammen aus Paris oder aus Lüttich, oder sie haben wohlweislich überhaupt keinen Firmaaufdruck. Serbische Patronenverschläge liegen in Massen herum. Sie sind viel handlicher, transportabler, kleiner und praktischer als die unseren, sie enthalten je zwei Zinnblechhülsen (weil das Pulver wohl nicht feuchtigkeitsfest ist) für 30 Kartons à 15 Patronen, d. i. 450, während jeder unserer riesigen Verschläge 1350 Patronen enthält und von zwei Leuten kaum zu schleppen ist. Die Sandsäcke, die ich vor zwei Jahren im Balkankrieg überall in den Gefechtspositionen gesehen hatte, sind hier nirgends vorhanden. Dagegen haben die Serben in die Zinkblechfüllungen der Patronenverschläge Erde gefüllt und diese ziegelartig vor ihrer Deckung aufgeschichtet. Mit Latrinenbau haben sie sich nicht befaßt – eine Unterlassungssünde, die zum Himmel stinkt.

Wir graben Deckungen für die Nacht aus. Neben mir kratzen alle fieberhaft, um bald – gegen die wild umhersausenden Kugeln geschützt – schlafen zu können. Ein Gefreiter ist besonders eifrig. Aber er arbeitet liegend, damit ihn keine Kugel erreicht. Da schreit er auf, und durch den Rock unterhalb der linken Achsel sickert schon Blut. Die Sanität wird herbeigerufen, sie macht die Bahre zurecht, wir versuchen seine Kleider vom Leibe zu reißen, um ihn zu verbinden, aber inzwischen ist er gestorben. Ein Offizier und ein Unteroffizier bezeugen auf dem Legitimationsblatt seinen Tod, und man trägt ihn beiseite. Die Regimentspioniere haben jetzt Arbeit.

Wir graben weiter Deckungen. Ich beteilige mich an der Arbeit eifrig, als wäre ich ein gelernter Erdarbeiter. Aber meine Tätigkeit erstreckt sich mehr darauf, die Deckung zu verbreitern, als zu vertiefen, mir kommt es mehr darauf an, daß ich ein bequemes Lager habe, in dem ich meine Füße ausstrecken kann, als ein tiefes, in dem nicht leicht eine Kugel treffen könnte. Während die anderen sich bemühen, den Brustwall möglichst hoch aufzuschütten und den Kopf dann möglichst flach auf die Erde pressen, lege ich mir unter diesen noch meinen Brotsack. Ich bin keineswegs mutig, etwa im Sinne der böhmerwäldlerischen Burschen, die schnell wieder in die Schwarmlinie eilen, wenn sie zum Beispiel einen Verletzten zurückgeführt hatten, geschweige denn im Sinne der Komitatschis, die den Tod unvermeidlich wissen und doch freudig ausharren, um die Chance zu haben, bis dahin einen österreichischen Offizier zu erschießen. Ich gehe mit dem größten Unbehagen in das Feuer vor und würde mich gewiß noch vorsichtiger benehmen, wenn ich weniger beachtet wäre. Aber beinahe ebenso ungerne, wie ich vorgehe, gehe ich aus dem Kampfe fort. Es ist eben ein anderes Gefühl stärker bei mir, als das der Todesangst: das Gefühl des Beharrens und der Bequemlichkeit.

Es ist schon oft die Philosophie und die Definition der Tapferkeit gegeben worden, und man glaubt gleichzeitig damit die Philosophie der gegenteiligen Eigenschaft gegeben zu haben. Aber weder Tapferkeit, noch Feigheit, noch die als Superlativ hingestellte Todesangst sind entscheidend wichtige Komponenten des menschlichen Seins. So wie ich vielleicht manchmal aus Faulheit am liebsten liegen bleiben möchte, auch wenn ich in Lebensgefahr schwebe, so wagen sich die ängstlichsten Leute aus der Deckung in das Netz der feindlichen Schüsse, wenn es Menage zu holen gibt. Ich habe bei dem Rückzug aus Milina vor einem Hause, das von der serbischen Artillerie geradezu überschüttet wurde, viele Leute Feldflaschen aus dem Rakjafasse vorsichtig anfüllen sehen, nachdem sie ein- oder zweimal die Flasche auf einen Zug geleert hatten, sie schätzten den Tod geringer als den Trunk. »Alkoholiker« könnte man sie nennen. Aber wir haben die Geschichte vor Slatina an einem Bache erlebt, wo die Leute an einer von Gewehrfeuer bestrichenen Stelle eifrig tranken, außerdem an Brunnen, die als vergiftet bezeichnet waren. Das sind eben Menschen, bei denen wieder der Durst stärker ist, als die Todesangst.

 

Sonntag, den 20. September 1914.

Die ganze Nacht goß es in Strömen in unsere Deckung und zwei Salven von Gewehrprojektilen schlugen in den Bretterschutz und in die Erde unseres Brustwalles ein. Die Zahl der Maroden ist auf Kriegsstärke erhöht: Brechreiz und Diarrhoe mit Blut. Seit zwei Tagen nichts als kleine Stücke Brot gegessen, die mir Feldwebel Roba Löwy geschenkt hat. Die Fahrküchen kommen aber überhaupt nicht herauf. Mir knurrt der Magen, – die Begleitung zum Gesang der Patronen, der heute den ganzen Tag nicht verstummt. Was gäbe ich für eine Zigarette!

Unsere Schüsse klingen wie das Klatschen des Regens in Pfützen, wie das Plätschern eines Wasserfalles, oder wie die Schläge von Holzfällern, wie das Rattern irgendeiner Maschine. Niemand würde glauben, daß es zitternde Finger sind, die das Züngel abziehen. Übrigens sind wir im Allgemeinen nicht allzu schlecht gedeckt in unseren Schützengräben, und ist auch der Feind ganz nahe vor uns, – er kann die kleinen, unbeweglichen Ziele nicht treffen. Die Verletzten sind Patronenzuträger, und jene, die Brot und Menage in die Plänklerlinie vortragen, vor allem aber die Ordonnanzen, die vom Regimentskommando jeden Augenblick mit Befehlen und Weisungen nach vorwärts zu laufen haben. Eben wurde einem unserer Beliebtesten, dem Korporal Turek, bei einem solchen Gange Kinnbacke und Zunge durchschossen.

Die Artilleriegeschosse schlagen so nahe unserer Deckung ein, daß die Gewehrpyramiden vom Luftdruck umstürzen und uns die Erdschollen in Mund und Gesicht fliegen. Aber wir schlafen ein, ohne zu achten, daß auf uns der Regen und die Geschosse fallen.

 

Montag, den 21. September 1914.

Wir sitzen in unserer dumpfigen und niedrigen Deckung mit hinaufgezogenen Füßen, bis uns Kopf und Gliedmaßen schmerzen. Sobald wir den Kopf herausstecken, preschen Schüsse gegen uns, von Komitatschis, die sich durch unsere Linie geschlichen haben müssen, und von allen Patrouillen trotz größter Mühe nicht aufzustöbern sind. Trotzdem gehen wir später doch vor den Deckungen spazieren und nehmen den Genuß, für einige Minuten aufrechtgehen und weniger stickige Luft atmen zu können, gerne gegen die Todesgefahr in Kauf.

 

Dienstag, den 22. September 1914.

Vor uns auf 100 Schritten liegt die Schwarmlinie und noch immer wütet die Schlacht, die vor neun Tagen von der Landwehrdivision begonnen wurde. Jetzt steht unser Regiment nur im Anschlusse an Reste der Landwehr (an deren rechter Seite) und an das 73. Regiment, das sich rechts von uns befindet. Wir sind bereits weit im Südosten der Paraschnica-Halbinsel ungefähr bei Vasiljeviča koleba und kaum zwei Kilometer von dem Dammweg, der die Halbinsel vom serbischen Festlande trennt. Wenn wir diesen Dammweg hätten, dann wäre wohl die Vorrückung durch die Mačva, den nordwestlichen fruchtbaren Bezirk Serbiens leicht. Der Gegner sammelt seine Kräfte in und um Valjevo, weil sowohl von der Drina als auch von der Save her österreichische Truppen vorgedrungen sind und er deshalb in eine umfaßte Stellung kommt; dieser Umklammerung auszuweichen, zieht er sich unter Zurücklassung von Teilen, die sich opfern und den Dammweg vor uns verteidigen, in die wahrscheinlich bereits vorbereitete Stellung bei Valjevo zurück. Die den Dammweg verteidigenden Kräfte sind anscheinend stärker als die unseren, durch Artillerie, Maschinengewehre und Stacheldrahthindernisse glänzend geschützt, und auch ihre Deckungen scheinen wieder Meisterwerke heimischer Baukunst zu sein. Sicher ist auch der Dammweg selbst, der von Ravnje nach Cernabara führt, gut befestigt.

 

Mittwoch, den 23. September 1914.

Um die Gleichförmigkeit der Nächte zu unterbrechen, mischte sich heute nacht in den Regen aus Wolken, Flinten, Kanonen und Haubitzen und in den landesüblichen Frost ein grausamer Wind, der uns in den Deckungen umherwarf. In der Zeitung steht über unseren famosen Drinaübergang vom 8. d. M.: »Unsere Offensive hat wieder begonnen. Seit gestern kommen Verwundetentransporte vom südlichen Kriegsschauplatze in Agram an. Die Verwundeten erzählen, daß wir am 8. und 9. September die Drina überschritten haben und wieder in Serbien eingedrungen sind. Die Serben leisteten verzweifelten Widerstand. Sie mußten aber vor unseren ausgezeichneten Truppen überall weichen.« Bis auf den Schlußsatz ist das ja schließlich auch richtig.

 

Donnerstag, den 24. September 1914.

Heute war keine Zeit zum Schreiben. Man bereitete einen Sturm auf die nur 150 Schritt entfernte feindliche Stellung vor; wie wir am Telephon erlauschten, stritten sich Division und Brigade darüber, ob ein Sturm möglich sei, es regnete Meldungen und Befehle. Ich bekam endlich einen Brief von zu Hause und Zeitungen, aber ich konnte nur immer ein Stückchen lesen, denn sofort wurde ich mit irgendeinem Rekognoszierungsauftrag, mit einem Generalstäbler, oder mit einem Offizier in die Schwarmlinie vorgeschickt und schrecklich mischten sich mir die kleinen Belanglosigkeiten, von denen ich las, mit den nervenzerrenden Ereignissen meiner Umwelt.

»Der Emil Lehmann, der aus der Länderbank, der mit Arnold ins Gymnasium gegangen ist, hat sich mit der Käthe Kalivoda aus Weinberge verlobt.«

Kadett Frank wird auf einer Bahre vorbeigetragen, Schrapnellschuß, über und über mit Blut bedeckt. Er winkt mir mit der Hand zu, ich trete zu ihm: »Grüß' mir Prag«. »Ich komm' nicht mehr bis Prag«, stöhnt er traurig.

»Slavia spielt gegen Meteor. Dem sonntägigen Wettspiel der beiden Mannschaften, die in der letzten Saison nach aufregendem, erbittertem Kampfe einander ein unentschiedenes Spiel lieferten, kann mit umso größerer Spannung . . .«

Ich muß wieder in die Feuerlinie. »Wo ist Hauptmann Spudil?« frage ich einen Gewehrmeister von der Maschinengewehrabteilung, der aus seiner Deckung etwas nach rückwärts gegangen ist, um seine Notdurft zu verrichten. Er zeigt mit der Hand die Richtung.

Plötzlich: Wie bei einem Erdbeben bäumt sich die Erde auf. Ich drehe mich um. Der Gewehrmeister liegt mit zerschmettertem Kopf da, das Blut ist bis zu meinen Füßen gespritzt, und hinter ihm liegt, tief eingemauert in der Erde, die Granate. Ein »Blindgänger«. Zum Hauptmann und wieder zurück. Mir zittern noch alle Glieder, schnell die Zeitung, vergessen, nur auf andere Gedanken kommen.

»Pauline Ulrich von der Dresdner Hofbühne ist in den Ruhestand getreten und aus diesem Anlasse zum Ehrenmitglied dieses Institutes ernannt worden.« »Baron Wladimir Schlichtner hinterließ seine wundervolle Antiquitätensammlung, in der sich eine von Fragonard mit einer gewagten Skizze geschmückte Tabatiere . . .«

In einem Zeltblatt bringen Soldaten einen verwundeten Kameraden. Sie legen ihn vor uns nieder, um in unserer Deckung einen Augenblick zu rasten. Wir schauen ihm ins Gesicht. Er ist tot. Wir berühren seine Hand: er ist kalt. »Kisch, nehmen Sie ihm die Legitimationskapsel ab und die Habseligkeiten und lassen Sie ihn hinter dem Baum begraben.«

Ein Feuilleton: »Um die Kuppeln und Spitzen wob das Mondlicht einen bläulichen, zittrigen Schimmer und verwandelte die Landschaft in ein abenteuerliches Sehnsuchtsbild, wie es in heißen Träumen vor die Seele gaukelt.« Der Berliner sagt: »Z. K.« und meint »Zum Kotzen«.

Meldung der 12. Kompagnie: 15 Tote, 85 Verletzte. Möglichst viele Blessiertenträger und Soldaten zum Fortschaffen der Verwundeten erbeten, da die Schwarmlinie allzusehr geschwächt ist.

»Sechster Ziehungstag der 2. österreichischen Klassenlotterie. Je 200 Kronen gewannen folgende Lose . . .«

»Wasser, um Gotteswillen, Wasser!« Zum Glück ist noch in einer Feldflasche bißchen kalter Kaffee. Der Mann mit dem Brustschuß wankt weiter.

»Javazucker fest 23.6 bezahlt, Silber 24.62, Liverpool (Baumwolle) Umsatz 6500.« – »Gerichtssaal – Das Muster einer braven Tochter scheint die 24 Jahre alte Mathilde Plasche aus Dux . . .« »Theater: In Fräulein Winterfeld scheinen wir nun endlich die Altistin gefunden zu haben, die in unserer Oper seit dem Abgange der Frau Berril brennend fehlte.« »Morgen wird die mit so großem Beifall aufgenommene Operette ›Das Musikantenmädel‹ . . .«

Gehen Sie zur Pionierabteilung, Sie sollen 20 Leichen im Abschnitte Bischitzky begraben.

»Kreuzherrenplatz. Die blonde Dame im grauen Tailor made wird von sie verfolgendem nicht unbemerkt gebliebenen Herrn dringendst . . .«

Das Gewehr fester, dort kriecht ein Mann aus den Strünken des niedergemähten Kukuruzfeldes. Es ist ein Unsriger. Kuchler, Stabshornist des 3. Bataillons. Er kann nicht sprechen, seine Bluse ist voll Blut. Verwundet? Er nickt. Ein bißchen kalter Kaffee labt ihn wieder. Er ist früh verletzt worden, Schuß von rückwärts durch die Brust, blieb bewußtlos liegen, erwachte erst nachmittag, schleppte sich mehrere Stunden hierher, kriechend, teils weil er nicht die Kraft hatte, aufzustehen, teils weil ihm die Kugeln um die Ohren pfiffen. Ungeschickt hat er sich die Wunde selbst verbunden, wir erneuern ihm den Verband und schaffen ihn zu den Blessiertenträgern. Der arme Kerl weint herzzerbrechend: »So allein bin ich gelegen, niemand hat mich gesehen, niemand hat mich gehört.«

Uns friert und einer sagt: »Schade, daß ich nicht einen Mantel erwischt habe.« Alle schauen den Sprecher an, alle fühlen sich ertappt bei einem gräßlichen Gedanken: alle hatten wir gewünscht, es mögen mehr Tote dort sein, damit wir bei Nacht schlafen können. Niemand hatte den Wunsch sich selbst zu formulieren, niemand hat ihn sich selbst einzugestehen gewagt, jeder hat ihn fest im Unterbewußtsein festgehalten, und nun spricht einer aus, was alle roh und egoistisch empfanden und sich dessen schämten. Noch mehr gefallener Freunde drüben, als die vielen sind, deren toter Atem vom Wind herübergeweht wird!

»Heiratsantrag, 35jähriger Privatbeamter von elegantem Äußern . . .«

 

Freitag, den 25. September 1914.

Mir fehlt das Talent, zu erzählen, was uns der heutige Freitag gebracht hat. Der Nacht vom 18. auf den 19. August, vom 8. auf den 9. September reiht sich die heutige an. Wir hatten gegen ½8 Uhr Sturm gemacht. Wenn man den Erzählungen einzelner glauben darf, hatten die Serben versucht, Reißaus zu nehmen, als wir vorwärtsstürmten, sind aber schleunigst in ihre Deckungen zurückgekehrt, als sie die Kläglichkeit unseres Angriffes erkannten. Daß aber der Angriff kläglich war, steht außer Frage. Die meisten schrien ihr »Hurra« in den Erdboden, und auch die Hornisten bliesen das Feldsignal gegen den Brustwall ihrer Deckung. Kaum ein Drittel unserer Soldaten stürmte vorwärts. So kamen die wenigsten über ein paar Schritte hinaus, sie wurden entweder zusammengeschossen, als sie den Serben ihre ganze Figur zum Ziel boten, oder aber sie liefen selbst zu ihrem Ausgangspunkte zurück, als sie sich vereinsamt und ihre Aktion aussichtslos sahen.

Man darf aber den Soldaten keineswegs die Schuld geben, daß dieser Sturm mißglückt ist. Die Distanz zwischen ihnen und dem Feind war für einen Sturm zu groß, das Vorterrain war offen, so daß bei kaltem Blute eine Kompagnie ein anrennendes Regiment über den Haufen schießen konnte. Und die Serben sind mindestens so stark, wie man aus der Zahl ihrer Maschinengewehre, aus der ungeheueren Menge ihrer Gewehrschüsse und aus der Stärke ihrer Batterien schließen kann, während wir als Offensivkräfte bedeutend überlegen sein sollten. Über die Möglichkeit dieses Angriffes waren ja selbst unsere vorgesetzten Kommanden verschiedener Meinung gewesen und hatten – wie wir am Telephon erhorcht haben – mehrere Tage hindurch darüber debattiert.

Das Resultat des gescheiterten Sturmes war ein Heer von Jammergestalten, das sich gegen den Hilfsplatz bewegte. Die acht oder zwölf Tage, die sie im Erdreich vergraben zugebracht hatten (natürlich ohne sich auch nur im mindesten waschen zu können), gaben ihren Gesichtern und ihren Kleidern ein schreckliches Aussehen, das durch die Verzerrungen, Verkrümmungen, Blutungen und Wunden selbst für uns abgestumpfte Gemüter grauenhaft wirkte.

Natürlich wurde der Rückzug mit Feuer verfolgt, daß die Kugeln rechts und links von uns den Erdboden aufwühlten.

Über unsere Deckung haben wir ein Zeltblatt gespannt, damit es nicht hineinregne. Dieser Baldachin ist von serbischen Projektilen derart durchlöchert, daß der Himmel durch unzählige Löcher zu sehen ist. Wenn man ausgestreckt am Rücken liegt, kann man glauben, ein dunkelgraues, nächtliches Firmament über sich zu haben, durch das die Sterne freundlich scheinen.

 

Samstag, den 26. September 1914.

Heute traf das 2. Marschbataillon unseres Regimentes ein und löste einige Kompagnien aus der Feuerlinie ab. Die Leute dienen zur Komplettierung unserer Stände, denn trotzdem wir schon einmal einen Nachschub von etwa 1400 Mann erhalten haben, ist unser Regiment zusammengeschrumpft. Auch Rekruten sind unter den Ankömmlingen. Arme Burschen! Bevor sie noch mit dem Gewehr Bescheid wissen, müssen sie als Kugelfang dienen. Die Jungen, die sich jetzt dem Feinde stellen müssen, tun uns allen aus tiefster Seele leid. Schon beim Vormarsche wurden einige von den Neuangekommenen verwundet oder erschossen.

Auch über die Drina ist gegenüber von Syrmisch-Rača eine Brücke geschlagen worden, so daß wir jetzt auf zwei Seiten mit Österreich verbunden sind. Die in der Reserve liegenden Kompagnien hacken, senkrecht zur Front, aber im Zickzack, tiefe Laufgräben von der Schwarmlinie bis zur Drina. Wenn diese fertiggestellt sind, wird der Verkehr auf der Paraschnica weniger gefährlich sein.

 

Sonntag, den 27. September 1914.

Der Feldwebel Menčl, der bei der Fahrküche des Regimentsstabs beschäftigt ist, hat mir heute durch die Köche, die den Offizieren Menage zutragen, einen kleinen Kuchen mit Pflaumenmus in Papier eingewickelt geschickt. Ich war außer mir vor Freude! Ich gebe zwar nichts aufs Essen, aber immerfort der gleiche Fraß von Suppe und Rindfleisch hat mich ganz vernichtet. Und als die Powidlbuchte ankam, berührte es mich so stark, daß mir Tränen in den Augen standen.

Meine gerührte Stimmung schlug übrigens bald in eine exzessive um – – ich betrank mich. Das geschah so: Meine Kompagnie war nach dem Sturm aufgelöst, beziehungsweise mit der 12. Kompagnie vereinigt worden, da von ihr nur 30 Leute übrig geblieben waren. Natürlich sind nicht alle hundert etwa getötet, verletzt oder ertrunken, sondern viele kämpfen zersprengt in anderen Abteilungen. Jeder von uns faßte einen Becher voll Rum, und ich, der ich schon seit Monaten keinen Tropfen Alkohol getrunken und dessen Magen durchs Fasten alle Widerstandskraft verloren hatte, trank ihn auf einen Zug leer. Der Erfolg war ein Mordsrausch. Ich torkelte und begann dumme Reden zu führen. Die Kameraden warfen mich in die Deckung und betteten mich zum Schlafen. Als ich erwachte, hatte ich nur Kopfschmerzen zur Erinnerung an den gehabten Genuß.

Morgen ist Sankt-Wenzelstag, der nationale Feiertag der Tschechen, die sich in ihren Gesprächen lebhaft an die Kirchweih in ihren Heimatsorten, manche aber auch an den Schutzpatron selbst erinnern, und beten.

 

Montag, den 28. September 1914.

Am Abend zeigte es sich jedoch, daß der heutige Festtag für uns keiner ist. Wir saßen auf der Erde und wuschen uns in den Zinnblechverschlägen, die als Lavoire vorzüglich sind. Da plötzlich schreckte uns eine Alarmnachricht aus unserer Ruhe. Ein Telephonist kam hereingelaufen und teilte uns mit, daß Marschbereitschaft angeordnet sei. Also es geht fort! Seit neun Tagen lagen wir hier hinter den gleichen Erdschollen, hatten uns schon häuslich eingerichtet, Nischen für das Eßzeug in die Wand gehackt, Stroh unter uns gebreitet und darüber ein serbisches Zeltblatt, und über unserem Kopfe schützte uns ein niedergebrochener Gartenzaun, über dem unsere eigenen Zeltblätter lagen. (Jetzt, da wir uns reisefertig machen und die Zelttücher wegen des ungeheueren Kugelregens nicht von unserem Dache herunterholen können, ohne mit durchlöchertem Kopfe unten anzukommen, überlegen wir, daß es besser gewesen wäre, unsere eigenen Zeltblätter auf die Erde, die serbischen auf das Dach zu legen.) Wohin es geht, wissen wir nicht. Ein Telephonist erzählt, daß ein Vorstoß gemacht werden soll, Ordonnanzen sind zur Brigade mit der Meldung geeilt, daß sich die Serben gegen unseren rechten Flügel (73. I.R.) verschieben, anderen Gerüchten zufolge ist unser Rückzug anbefohlen. Wir hatten zweimal den Rückzug erlebt, und es war begreiflich, daß wir an eine Reprise willig glaubten. Diese Möglichkeit erfüllt uns jetzt mit Entsetzen, zu schrecklich lebt in uns noch die Erinnerung an die Flucht aus Milina und an die Flucht durch die Drina, und jetzt sind die Drina und die Save mächtig aus ihren Ufern getreten, das Hochwasser hat die ganzen serbischen Uferdeckungen unter Wasser gesetzt, unsere Kriegsbrücke mußte bereits zweimal verlängert und erhöht werden, und es scheint uns nicht ausgeschlossen, daß die Flut sie wegreißen könne. In diesem Falle käme bei einem Rückzuge niemand lebend davon, der durch das Wasser flüchten muß.

Während wir unsere Seitengewehre umschnallten, unsere Brotbeutel und Tornister vollpackten und unsere Gewehre zu unseren Füßen aufstellten, spiegelte sich unsere trübselige Abschiedsstimmung bei den verschiedenen Leuten verschiedenartig wieder. »Wenn einer von uns verwundet werden sollte, so müssen ihn zwei andere zum Hilfsplatz tragen«, ängstigte sich der eine, der andere traf letztwillige Verfügungen: er gab uns die Adresse seiner Braut, die wir von seinem Tode benachrichtigen sollten und vermachte für diesen Fall seinem Nachbarn zwei Fleischkonserven, seine Zwiebackportion und seinen Feldspaten – sein ganzes Hab und Gut. (Feldspaten sind jetzt der gefragteste Artikel; jeder gäbe gern sein ganzes Vermögen darum.)

Was mich anbelangt, kränkte mich vor allem, daß ich in der Nacht wieder aufstehen und ins Ungewisse ziehen müsse und womöglich irgendwo an einer neuen Deckung arbeiten, während ich schon hier eingewöhnt war und eben unsagbar schläfrig bin. Die Anderen setzen sich mit umgeschnallter Rüstung nieder, ich aber legte mich auf meinen Arm und erklärte, schlafen zu wollen. »Das lohnt sich nicht«, rieten mir alle. Ach was! Ich blieb liegen. Ich wäre auch wirklich eingeschlafen, wenn nicht das allabendliche Konzert der Gewehre und Geschütze Dimensionen angenommen hätte, die selbst uns ungewöhnlich schienen. Der Sturm fegte mir die aufgeschüttete Erde ins Gesicht, rüttelte an dem Holzzaun, den wir über die Böschung gelegt hatten, so daß er jeden Augenblick auf uns hinunterzustürzen drohte, es regnete in Strömen auf uns nieder, die wir das schützende Obdach aus Zeltleinen eben fortgenommen hatten. Es war eine wüste Nacht, und wir sind froh, daß der Befehl zum Abmarsch noch nicht gekommen ist. Immerhin: so heimisch fühlen wir uns nicht mehr in unserer kleinen Festung und sind uns dessen doppelt bewußt, daß wir jeden Augenblick dem stillen Hause Lebewohl sagen können.

Nachmittags hatte ich zum Divisionskommando eine Meldung zu überbringen. Das Divisionskommando befindet sich in Salaš, und da der Weg dorthin von der Velka brana, wo wir uns befinden, weit ist, eilte ich, um nicht wieder in Nacht und Kugelregen nach Hause tappen zu müssen. Das heißt: ich wollte eilen, es ging aber nicht. Der Weg längs der Drina, den ich zu gehen hatte, war ohnedies nur eine via via facti, nicht gebaut, sondern einfach von unseren Soldaten ausgetreten. Und wie sah dieser Weg aus! Stellenweise hatte ich bis zu den Knien zu waten, und meine ungenagelten Kommodschuhe rutschten auf dem weichen Grund aus, stellenweise plumpste ich von Pfütze zu Pfütze, stellenweise glitschte ich vorwärts wie ein Seiltänzer, mein Gewehr war meine Balancierstange. Die Save und die Drina haben sich erschreckend verändert, sie sind weit aus den Ufern getreten, das Wasser jagt im Galopp seinen Weg. Die Weiden, die wohl die Grenzwacht an beiden Flüssen bilden, wenn diese auf Friedensstärke sind, stehen jetzt bis an die Kronen im Wasser. An ihren Blättern zupfen die Wellen und reißen sie so weit mit sich, als sich die Zweige nach rückwärts biegen können. An den Bäumen nächst des Ufers haben die Wogen das Zerstörungswerk vollendet, das unsere Granaten und Schrapnells begonnen hatten: die Geschosse hatten sie geknickt, das Hochwasser hat die gebrochenen Teile abgerissen und mit sich fortgenommen. Nur Baumstrunke lugen aus dem Wasser hervor. Mein Weg längs des Flußrandes ist natürlich nur von einem Gedanken beherrscht: nur jetzt nicht wieder durch den Fluß schwimmen zu müssen! Jetzt würden nicht Hunderte ersaufen, sondern Tausende. Genau an der Drinamündung liegt die Brücke, über die ich gehen muß. Drüben die Festung Syrmisch-Rača, in der unsere 13. und 14. Kompagnie vor drei Wochen gelegen war. Nur die Trümmer stehen noch. Der Ort Rača, der uns lang beherbergt hat, ist durch die Geschosse fast vernichtet. Nur meine kleine Wassermühle schaukelt fröhlich und still auf ihren Wasserkothurnen. Neben der Pontonbrücke wird an einer neuen Pfeilerbrücke gebaut.

Bei der Division erhielt ich zwei Flaschen Maschinenöl und hastete, bald zurückzukommen. Trotzdem war der Abend bereits angebrochen, bevor ich vom Saveufer in die Laufgräben einbog, und das übliche Abendkonzert hatte bereits laut eingesetzt.

Ich ging nicht in den Laufgräben, denn erstens kommt man in ihnen nur sehr langsam vorwärts, weil sie schmal sind und Leute darin arbeiten, so daß man sich kaum durchschlängeln kann, zweitens weil sie im Zickzack verlaufen, drittens weil sie noch so niedrig sind, so daß man gar nicht gedeckt ist und jede Weile darin jemand verletzt wird, und viertens sind ganze Strecken noch überhaupt nicht ausgegraben. So scherte ich mich keineswegs um die Kugeln, die die Reste der niedergemähten Kukuruzstauden streiften, oder sich in der Erde stäubend einbohrten. Ich sah schon unsere Deckung in der Ferne, als ich plötzlich einen Schlag über die rechte Hand erhielt, zwischen Daumen und Zeigefinger. Das könnte nur ein Schuß sein, dachte ich mir und schaute, ob ich meine Hand noch besitze, aber nicht einmal ein Blutfleck war zu sehen. Da mich jedoch der Schlag schmerzte und sein Spender unsichtbar war, schaute ich mißtrauisch längere Zeit auf die Hand und wirklich begann nun die berührte Stelle zu bluten. Also doch ein Schuß. Nichts Gefährliches. Ich sah sofort, daß es nur ein Streifschuß war, und da ich nun einen Winkel des Laufgrabens vor mir sah, strebte ich ihm zu. Gleich nachdem ich den Schlag erhalten hatte, hatte ich nach der Ölflasche in meiner rechten Tasche gegriffen. Das war durchaus keine heroische Geste. Daß ich nicht besonders getroffen sei, hatte ich ja schon im ersten Momente verspürt, und während meines ganzen Balancierens und Hastens auf den kotigen, unwegsamen Wegen war mir die Besorgnis nicht aus dem Kopfe gekommen, daß ich hinfallen und die Flaschen zerschlagen könne, was nach dem langen Wege unter Intervention des Regimentes bei einem so hohen Kommando sehr mißlich gewesen wäre. Begreiflich, daß ich mich sofort der Flasche erinnerte. Hätte mir der Oberstleutnant geglaubt, daß ausgerechnet ein Schuß die Flasche zertrümmert habe? Zum Glück war sie unversehrt, nur der Korkstöpsel war herausgesprungen.

Beim Regimentskommando übergab ich die Empfangsbestätigungen über die beiden abgegebenen Meldungen und die zwei Flaschen, zu deren Kustos ich taxfrei ernannt wurde. Dann ging ich zur 5. Kompagnie, welche jetzt in Reserve neben uns liegt, und ließ mich von der Sanitätspatrouille trocken verbinden. Ich habe jetzt an beiden Händen Verletzungen, rechts und links, nahezu an der gleichen Stelle.

Liebste Mutter!

Herr Dr. Malec, der zur Promotion nach Prag fährt, ist so liebenswürdig diese zwei weiteren Bändchen meines Tagebuches abzugeben. Bin pumperlgesund, sehr lustig und habe eben Dein Paket erhalten.

29. September 1914.

Dein Egon Erwin.

 

Velka brana,
Mittwoch, den 30. September 1914.

Heute ist Versöhnungstag der Juden. Genau nach dem Ritus faste ich notgedrungen, überdies schon den zweiten Tag, denn wir haben keine Menage bekommen und kein Brot gefaßt. Ich wünschte, es wäre Versöhnungstag der Welt, kein religiöser, sondern ein wirklicher.

 

Donnerstag, den 1. Oktober 1914.

Heute schreiben wir schon Oktober, und es war im Juli, als ich diese Kluft anzog, die seither nicht mehr von meinem Körper gekommen ist. Was wird der Monat bringen? Wie oft werde ich noch hier unten eine Monatswende zu registrieren haben? Ich hatte heute beim Train genächtigt und marschierte früh wieder nach Hause. Bei der Fahrküche der 15. Kompagnie hatte ich ein an mich eingelangtes Paket vorgefunden und behoben, das wer weiß wie lange dort gelegen war. Auf meinem Wege, der an einem mobilen Feldspital, bestehend aus zusammengestellten Baracken, vorbeiführte, kam mir ein Mann entgegen, der mir nach Haltung, Gang und Mütze bekannt vorkam. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen, denn es war von einer blutüberströmten Binde, die die Hälfte seiner Augen, die Oberlippe und die Ohren bedeckte. Es tropfte auch Blut auf die Erde. »Halloh, was ist mit dir?« »Ach, Herr Korporal Kisch, entschuldigen Sie, daß ich Sie nicht erkannt habe, die Binde reicht mir bis über die Augen.« Jetzt erkannte auch ich den Verwundeten. Es war der Ersatzreservist Karl Sperl, der schon am 18. August auf Todorow rt durch einen Schrapnellschuß in die Schläfengegend verwundet, aber in der Front geblieben war. Als er 14 Tage später bei der Rettung der verlaufenen Patrouille von der 16. Kompagnie mit durchschossenem Arm wieder glücklich über den Strom gekommen war, hatte er trotz seiner neuerlichen Weigerung ins Spital müssen. Dort hatte man konstatiert, daß ein Schrapnellsplitter noch oberhalb seines Ohres stecke und hatte diesen extrahiert. Ein paar Tage später war er wiedergekommen – gerade zur rechten Zeit, um noch die Sintflut vom 8. September zu erleben. Und nun ist er wieder verletzt bei einem Sturm, den die Unsrigen heute gemacht haben. »Na, jetzt bleibst du wohl länger weg?« meinte ich, aber er protestierte: »Nein, nein, ich gehe mich nur ordentlich verbinden lassen, mein Verband taugt nichts. Mittags bin ich aber wieder oben.« Das ist natürlich unmöglich, und der arme Kerl wird wohl jetzt längere Zeit fortbleiben.

Am Hilfsplatz hatten die Ärzte viel mit neuen Verwundeten zu tun. Man sprach allgemein davon, daß der Chefarzt, Doktor Maschek, der einzige aktive Arzt des ganzen Regimentes, sich marode gemeldet habe und abgereist ist. Gegen Mittag traf ich wieder aus Stara brana ein und erfuhr wieder von neuen Verlusten guter Freunde. Wie ich auch beim Train über Freunde bei anderen Teilen unseres Regimentes Hiobsbotschaften genug gehört hatte, von denen jede einzelne in anderen Zeiten einen niederschmetternden Eindruck hervorgerufen und in einer ganzen Stadt das Taggespräch für Monate gebildet hätte. Man ist aber hier von all dem Gräßlichen schon abgestumpft. Es kamen heute neue Ausrüstungssorten an, und ich bekam endlich einen Tornister. Er ist neu, und sein Riemenzeug strahlt wie Juchtenleder. Jetzt sehe ich wie ein Rekrut aus. Auch Winterwäsche war in meinem Paket. Es war höchste Zeit.

 

Freitag, den 2. Oktober 1914.

Wieder hat die Nacht Verluste gebracht. Der Kadett Rudolf Rößler aus Niedereinsiedel war von dem Tage, da wir im selben Eisenbahnzug aus Pisek abreisten, stets mit mir beisammen gewesen, da die 15. und 16. Kompagnie immer als Halbbataillon nebeneinander lagen. Vorgestern war die 16. Kompagnie aus der Reserve in die Schwarmlinie beordert worden und Rößler hatte sich von mir verabschiedet, »als ob es in den Tod gehe«, und mir die Adresse seines Vaters gegeben. Heute früh erfuhr ich, daß er mit einem schweren Bauchschuß bewußtlos zum Hilfsplatze getragen worden ist. Gegen 11 Uhr kam der Blessiertenträger mit der Meldung, daß Rößler dort seiner Wunde erlegen sei.

Sein Kompagniekommandant war Hauptmann Mikulasch. Er war vor drei Wochen dem Divisionskommando zugeteilt worden, mußte aber gestern abends zu uns zurück, da beim Regiment kein Hauptmann in der Front ist. Früh trug man ihn vorbei. Fußschuß.

Mittags kamen die Menageträger. Unter ihnen war – Sperl. Er hatte auf keinen Fall im Spital bleiben wollen. »Von morgen ab bin ich wieder in der Schwarmlinie«, versicherte er mir.

 

Samstag, den 3. Oktober 1914.

Früh kam der Offiziersdiener des Kadetten Kraus zurück, von dem hier wiederholt die Rede war. Ich hatte auch in Brodac in seinem Zelte Gastfreundschaft genossen. Wie der Offiziersdiener erzählte, ist Kraus im Spital gestorben. Es sind schon alle, alle tot, die mir im Regiment lieb und wert waren. Beinahe alle Offiziere gefallen, die einzige gute Nachricht, Dr. Stransky betreffend, der an unserem linken Flügel eingeteilt ist, stammt aus Prag, kann also auch schon verspätet sein. Es ist grauenhaft. Wollen wir kämpfen, bis der letzte Mann gefallen ist? Soviel Prozent von Toten und Gefallenen hat wohl noch nie ein Feldzug der Weltgeschichte aufzuweisen. Unter den Toten, von denen ich beim Train erfuhr, befindet sich Oberleutnant X. Ich hatte ihn in diesen Blättern namentlich angegriffen, weil er in Jania einen alten Reservisten ohrfeigte, der unerlaubt eine Konserve verzehrt hatte. Nun ist die Schuld tragisch gebüßt, und ich wünsche, daß jene Stelle in meinem Tagebuche unkenntlich gemacht werde. Ich leide seit gestern unter einer besonderen Depression. Ich hatte dem Rudi Rößler vor seiner Verletzung versprochen, von seinem allfälligen Tode seinen Vater zu benachrichtigen. Nun machte ich vor mir selbst allerhand Ausflüchte, um mich dieser schmerzlichen Pflicht nicht unterziehen zu müssen. Vor allem stützte ich mich darauf, daß ich die Adresse seiner Angehörigen, die er mir gab, vorgestern mit meinem Notizbuche durch den Mediziner Malec nach Prag geschickt hatte. Weiter redete ich mir ein, daß er vielleicht auch Andere um den Vollzug dieses letzten Liebesdienstes ersucht habe, und verschob den Brief. Da kam der Infanterist Vanicek, der Rößler Offiziersdienerdienste geleistet hatte, und ich fragte ihn nach der Adresse und danach, ob jemand die Angehörigen des Gefallenen von der Katastrophe verständigt habe. Vanicek verneinte und erwähnte, er habe geglaubt, daß Rößler mich selbst mit der Verständigung beauftragt habe. Nun mußte ich den Brief an den Vater schreiben. Die Worte der anerkennenden Charakteristik und des Trostes, die ich versuchte, und der Gedanke an die Wirkung, die mein Brief auf die des einzigen Sohnes beraubten Eltern ausüben müsse, erschütterten mich dermaßen, daß ich während des ganzen Tages keiner anderen Gedanken fähig war.

 

Sonntag, den 4. Oktober 1914.

Heute, an des Kaisers Namenstag, erhielten wir Pakete, die von der Bevölkerung Piseks dem Hausregimente gesandt worden sind, warme Wäsche, Tücher, Schokolade; einige Kinder hatten Zuckerln eingepackt und dergleichen. Wir beteilten die Ärmsten, d. h. die noch keine Pakete von daheim erhalten hatten. Ich behielt ein Abziehbild, womit ich ein Holz auf meiner Kugeldeckung schmückte.

Im Armeebefehl steht heute, daß der Krieg längere Zeit in Anspruch nehmen wird. Herr des Himmels!

 

Montag, den 5. Oktober 1914.

Tagesgespräch: Gestern abend hat in Salaš in den Garten, wo sich das Offizierskorps des Artillerieregimentes zum Nachtmahl (nach einer Version: zur Abfertigung) versammelt hatte, eine serbische Granate eingeschlagen, den Oberst-Regimentskommandanten schwer verletzt, einen Major und einen Fähnrich (Fürth aus Budweis) getötet, sowie andere Offiziere verwundet. Einige Leute reden von Verrat, andere wieder wollen darin eine Meisterleistung der serbischen Artillerie sehen. In Wirklichkeit handelt es sich nur um ein Glück, das die Serben mit diesem Volltreffer hatten, denn wenn auch zehnmal die Stellung der Artillerie verraten worden wäre, und wenn sie noch so brillant gearbeitet hätten, daß die Granate gerade den Oberst und das Offizierkorps treffen werde, konnte selbst der kühnste serbische Optimist nicht ahnen.

 

Dienstag, den 6. Oktober 1914.

Von dem ganz nahe (etwa 80 Schritt) gelegenen Feinde sieht man nur für wenige Sekunden die Köpfe. Man kann nur auf die Löcher der Schießscharten zielen, wenn diese verdunkelt werden – ein Beweis, daß gerade jemand herauslugt. Mein Bruder hat mir heute zwei Bände der Rousseauschen »Confessions« geschickt. Ich freute mich über die Sendung außerordentlich, aber eines befürchte ich: vor diesem bedeutenden Memoirenwerk wird mir mein eigenes Geschreibsel so albern vorkommen, daß ich dieses Tagebuch vernachlässigen werde, um so mehr, als mich das Lesen ohnedies leicht vom Schreiben abhält.

 

Donnerstag, den 8. Oktober 1914.

Ich hatte vom Hilfsplatz weiße Fahnen mit dem roten Kreuz zu holen und zum Major Laschek zu bringen. Als ich mit meinen beiden Fähnchen herankam, war Major Laschek gerade mit dem Generalstabshauptmann Graf Erwin Nostitz und Oberleutnant v. Nastič vom Brigadekommando in ein Gespräch verwickelt, das sich auf die Verhandlungen wegen der Bergung der vor unserer Linie befindlichen Leichen bezog, für die eben die Roten-Kreuz-Fahnen requiriert worden waren. Ich blieb, um das Gespräch nicht zu stören, in Respektdistanz von drei Schritten stehen, als eine Kugel heranpfiff, den Major in das Kinn und die Schulter traf. Der Major begann aus Mund und Kinn zu bluten und mußte sich zu Boden legen, damit ihm der Verband von dem diesmal schnell herbeigelaufenen Sanitätsunteroffizier (handelte es sich doch um einen Major!) angelegt werden konnte.

Man hielt sich übrigens nicht lange mit der Verletzung auf; die Komödie der Unterhandlungen wegen Bergung der vor unserer Schwarmlinie liegenden Leichen begann. Ich hatte mich auf die Böschung zu stellen und die beiden Fahnen, deren Stock etwa zwei Meter hoch war, in die Höhe zu halten. Ein Infanterist von serbo-kroatischer Nationalität trat gleichfalls auf die Böschung und schrie dem auf 80-100 Schritt liegenden Feinde die Worte zu, die ihm der Generalstäbler vorsprach: »Wir – wollen – die Leichen – begraben – schießt nicht, wenn ihr einverstanden seid, steckt eine Fahne heraus.« Der Dolmetscher schrie jeden dieser kleinen Wortkomplexe über den Brustwall und versteckte dann seinen Kopf hinter die Böschung und das mit gutem Grund, denn die serbischen Freibeuter, die dort während des Tages die Funktionen von Soldaten und Plänklern versehen sollen, lassen sich durch die von uns herausgesteckte Fahne keinesfalls im Schießen stören. Auf unsere Aufforderung, die sich nach vorausgegangenem Avertissement des Hornisten vollzog, erfolgte gar keine Antwort, obwohl sie dreimal wiederholt wurde. Während der Generalstabsoffizier die Worte, die er dem Dolmetscher diktierte, mit saftigen Randglossen begleitete: »Von mir persönlich richte den Herren aus, daß sie mir auf den Buckel steigen können« usw. Die Serben erwiderten endlich, daß ein Parlamentär vortreten würde. Das wurde von unserer Seite auf bestehenden Befehl eines höheren Kommandos abgelehnt. Man soll sich mit den Serben nicht in Parlamentarisieren einlassen, damit diese nicht verbreiten können, daß wir um etwas bitten. Vielleicht kam es ihnen nur darauf an, unseren Parlamentär zu brüskieren, denn zur Erfüllung unseres Antrages bedurfte es ja keiner Unterhandlung, sondern bloß des Heraussteckens einer weißen Fahne oder wenigstens der Feuereinstellung. Im übrigen hätten wohl einige Soldaten unseren Parlamentär so beschossen, wie sie es schon allzuoft getan haben, zum Beispiel damals im August den Hauptmann Wagner auf dem Todorow rt. Wir lehnten also ab, und zum Schlusse kam noch eine Antwort von den Serben: »Necemo! – Zurück!« Darauf von unserer Seite das Kommando: »Feindseligkeit wieder eröffnen«, und im Augenblick pfiffen Hunderte von Kugeln über die Schwarmlinie der Leichen, die zwischen uns und dem Feinde lagen. Die Serben hatten wohl die Beerdigung der Leichen deshalb nicht gestattet, weil diese etwa 8-10 Schritt vor ihrer Deckung liegen und wir (selbst unbeabsichtigt) die Dichte der Schwarmlinie, die jetzige Deckung und die Lücken in den Drahthindernissen hätten konstatieren können. So hatten sie unser Ansuchen abgelehnt, trotzdem ihnen der Leichenduft viel ärger in die Nase stinken muß, als uns. Und humanitäre Gründe! Du lieber Himmel! Krieg und Humanität sind ewig etwas Unvereinbares und werden ewig etwas Unvereinbares bleiben, trotz Haag und Bern und Genf. Wenn ich mir's so überlege, so tun mir die toten Plänkler schon bedeutend weniger leid, als die lebenden. Necemo! Zurück!

 

Freitag, den 9. Oktober 1914.

Wir graben weiter Deckungen. Es wurde Stroh für die Lagerstätten gefaßt und Sappeure sind uns behilflich. Auch ich hackte, grub und schaufelte wie ein Wütender, vor allem um mir den Frost zu vertreiben. Beim Schaufeln stieß ich plötzlich auf einen Fremdkörper, und als ich diesen hervorschaufelte, war es ein verwester Soldatenarm. Ich war nun nicht mehr dazu zu bewegen, auch einen Spatenstich zu tun. Ärger ist es noch dem Oberleutnant Rebensteiger ergangen: er war bei seiner Grabearbeit auf die bereits gänzlich wässrige Leiche eines Komitatschi gestoßen. Die Menage, die immer ganz sauer aus Österreich zu uns heraufkommt, wollte ich natürlich heute noch weniger essen, als sonst, und benützte daher die Mittagspause, um den Kommandanten unseres Gebirgstrains Perten in die erste Schwarmlinie vorzuführen und ihm die gegnerischen Stellungen zu zeigen. Als ich zurückkam, erwartete mich die Botschaft, daß der allerhöchste Kriegsherr der Paraschnica, Brigadier Kornberger, von der Existenz meiner Wenigkeit Kenntnis genommen habe. Er hatte mir nämlich sagen lassen, er habe erfahren, daß ich im Besitze von Büchern sei, ich möge ihm daher einige senden. Ich packte also meine zwei Bände Rousseau, die Tolstojschen »Soldatengeschichten aus dem Kaukasus« und einige Detektivromane, in deren Besitz ich im Felde gelangt war, zusammen und trug sie zur Brigade. Die Herren hielten ihr Mittagsschläfchen ab, und ich mußte alles dort lassen, was mich kränkte, da ich mitten in meinen Rousseau vertieft war und gehofft hatte, daß mir die Herren dieses sie nicht interessierende Buch zurückgeben würden. Ich hoffte, daß ich es wenigstens am Nachmittag zurückerhalten würde. Dies war nicht der Fall, weshalb ich mir von einem Reserveoffizier noch ein ganz albernes Kriminal-Büchlein ausborgte, um es zur Brigade hinzutragen und dort den Rousseau anzusprechen. Ich kam hin und trug dem Oberleutnant v. Nastič, den ich dort traf, mein Anliegen vor, und er gab mir den Rousseau, und zwar – zu meinem Erstaunen mit dem Hinweis, daß er das Buch zu genau kenne. Er ließ sich auch mit mir darüber in eine Debatte ein, und auch unser Gespräch über Rousseaus Feinde von der Encyklopaedie zeigte mir den Offizier als einen fabelhaft belesenen Mann. Mein Spaziergang mit dem Generalstäbler, der als Lenker der Schlachten in Serbien gilt und von allen Offizieren mit größter Antipathie beurteilt, aber ins Gesicht mit besonderem Respekt behandelt wird, hatte nicht wenig Aufsehen erregt, und ein Offizier unseres Regimentes beeilte sich, mich einzuladen, bei ihm in seiner warmen Deckung zu schlafen. Er versprach sich gelegentlichen Vorteil davon, – ich aber hatte einen solchen gleich, indem ich die Einladung annahm.

 

Samstag, den 10. Oktober 1914.

In das beinahe eintönige Konzert von Gewehrkugeln, Gellern und Kanonenschüssen kam heute eine Ergänzung durch 24-cm-Geschütze, die jetzt auf unserer Seite verwendet werden. Die Mörser sind weit von uns in die Erde gemauert, in Bossut, ihre Geschosse fahren über uns wie Schiffe durch die Luft.

 

Sonntag, den 11. Oktober 1914.

Kot. Das ist die Devise des Tages. Eines von den ärgsten Schrecknissen des Krieges. Die ganze Nacht hat es gegossen (es muß nicht die Folge der 24-cm-Mörser sein) und durch das Erdreich, das uns notdürftig überdacht, strömten Wassermassen auf uns nieder und bildeten in den Falten des aufgespannten Segeltuches große Lachen. Man sehnt ja ohnedies in jeder der Nächte nichts heißer herbei, als den Morgen, denn um 5 Uhr abends schlafen zu gehen, ist zwar hart, aber unabänderlich, da bei Anbruch der Dunkelheit die Kugeln, aus Angst vor einem gegnerischen Sturm, von beiden Seiten in wahnsinniger Hast aneinander vorbeizujagen beginnen. Man kann auch sonst bei Nacht nicht schlafen und natürlich kein Licht anzünden, so daß die Nächte zu nichts anderem da sind, als zur Erwartung des Tages. Heute im strömenden Regen war naturgemäß der Wunsch, daß es bald tagen möge, noch intensiver. Aber wie arg war es, als er erfüllt wurde! Man konnte nicht einen Schritt aus der Hütte herausgehen, ohne bei der Rückkehr mit den Stiefeln einen Berg von Lehm und Kot in sein eigenes Bett zu tragen und, wenn man weiter gehen wollte, wurde man an den unvergeßlichen Drinaübergang gemahnt, denn in den Laufgräben stand das Wasser bis in Bauchhöhe. So war man verurteilt in der Deckung, die kaum einen Meter hoch und einen Meter breit ist, mit den drei anderen Bewohnern dieser Area den ganzen Tag zu vertrotteln, ohne auch nur für eine Sekunde in eine Nachbarwohnung schlüpfen zu können, da man gewärtig sein mußte, dort wegen des mitgebrachten Lehmes hinausgeworfen zu werden. Lesen konnte man gleichfalls nicht, denn die Zeltblätter waren hermetisch zugezogen, um dem Regen den Eintritt zu verwehren, und sie verwehrten ihn auch dem Licht.

Ich dachte (wer denkt an etwas anderes!) an die Möglichkeit der Rückkehr. Nun ist auch mein jüngster Bruder Soldat geworden. Der Vorjüngste ist gleichfalls dieser Tage als Soldat aus Prag abgegangen. Von meinem eben verheirateten Bruder, der als Fähnrich in Galizien steht, fehlt wieder mehr als eine Woche jede Nachricht. Werden wir uns alle mit der Mutter wieder zusammenfinden? Ich versuchte, die Frage, wer heimkommen werde, zu lösen, indem ich mir die Frage vorlegte, bei wem am wenigsten Verbindungslinien mit dem Leben zu durchschneiden wären. Es gelang mir nicht. Nicht etwa, daß ich glauben würde, daß die Lostrennung vom Leben auch plötzlich erfolgen könne, ohne Rücksicht auf die Zahl und Festigkeit der Bande, die den Betroffenen an das Dasein ketten. Nein, es gibt nichts Plötzliches im Leben und noch weniger im Tod. Aber kann ich heute noch bei Anderen die Festigkeit des Hanges am Leben feststellen, kann ich es selbst bei meinen Brüdern, kann ich es noch bei mir? Vor einem Vierteljahre war es anders. Hundert Beziehungen, Aufträge, Pflichten, Verhältnisse, Zusammenkünfte, Pläne, Absichten und Bestimmungen verknüpften mich, nicht nur an die Gegenwart, sondern auch an die Zukunft. Ich hätte mir nicht denken können, daß ich von einem Tag auf den anderen aus all dieser Fülle des Lebens hätte losgerissen werden können. Das ist jetzt anders. Die Verbindungslinien mit den Freunden und der Welt haben sich gelockert, die mit der Gegenwart und gar der Zukunft gelöst. Der Zustand des Todes ist uns allen so vorbereitet, daß er gegenüber unserem jetzigen Zustande keinen besonderen Wechsel mehr bringen kann. Die Lebenslust ist in uns gestorben, wir sind von Toten und Sterbenden umgeben, unsere Gedanken sind an den Tod viel stärker gewöhnt, als es jemals die eines Zutodekranken, eines Zutodealten, oder eines Zutodeverurteilten sein können, unsere Hoffnungslosigkeit ist vollkommen, und unsere Lebenskraft ist derart zusammengeschrumpft, daß wir den Tod kaum mehr besonders fürchten. In unseren Gewohnheiten sind wir ja schon eher Tote, als Lebendige. Wir haben keine Lebensgefühle mehr, keinen sich auf das Weiterleben streckenden Ehrgeiz, keine äußere Eitelkeit, wir überkleiden uns nicht, wir essen kaum, wir waschen uns nicht, wir putzen uns nicht die Zähne, wir ekeln uns vor nichts, wir schlafen in einem Grabe und wir sind von einer Apathie, die von der Gedankenruhe eines im Grabe Faulenden nicht wesentlich verschieden sein kann.

 

Montag, den 12. Oktober 1914.

Ich brach früh mit allerhand Meldungen zum Train nach Velino-Selo auf. Seitdem der serbische Volltreffer den Artilleriestab in Salas traf, ist das Divisionskommando schleunigst nach Bosnisch-Rača abgegangen. Gegenüber der Divisionssanitätsanstalt ist ein kleiner Friedhof für die Toten der Paraschnica errichtet, dessen Kreuz und hölzerne Grabdenkmäler mit Sorgfalt hergestellt und deren Grabhügel mit Blumen geschmückt sind. Auch Aufschriften sind auf den Denkmälern. Hier liegt auch mein Rößler begraben. Am Rückwege beim Regimentshilfsplatz sah ich fünf Leichen, die man eben aus der wieder unbeschreiblich reißenden Drina gezogen hatte. Sie waren seit mehr denn Monatsfrist im Wasser gelegen und bereits so durchweicht, daß man die Haut von ihren Händen ziehen konnte, wie Handschuhe. Ich hatte von einem der Toten, in dessen Legitimationskapsel die Nummer der Standkompagnie nicht erwähnt war, das Portemonnaie mit Kronen 6.20 zum Regimentskommando mitzunehmen. Trotzdem ich alles gut dreifach in Papier eingewickelt hatte, mußte ich die Hand, in der ich die Börse trug, weit von mir ausstrecken, damit mich der Leichengeruch nicht betäube.

 

Dienstag, den 13. Oktober 1914.

Erwartung, was mir dieser Dreizehnte wieder Unseliges bescheren werde. In der Zeitung las ich von dem Tode lieber Freunde, darunter dem des tschechischen Schriftstellers Doktor Erwin Taussig, mit dem ich in Berlin verkehrte, und den ich trotz unserer grundverschiedenen Lebensauffassung und literarischen Richtung liebgewonnen hatte. Auch die Tatsache, daß Oberleutnant Beyrodt, der letzte von den Offizieren meiner Kompagnie, erkrankt ist und wohl morgen in das Spital abgehen werde, freute mich sehr wenig, aber ich wußte, daß dies noch nicht die ganze Ausbeute eines Dreizehnten sein könne. Erst am Abend brachten die Menagezuträger eine wirkliche Hiobspost: Die neue auf Pfeilern erbaute Drinabrücke, die heute früh dem Verkehr übergeben worden war, worauf man die schwache Pontonbrücke abtrug, ist schon durchgerissen. Zwei große Wassermühlen waren von dem jagenden Strome gegen die Piloten gestoßen und hatten deren Widerstandskraft gebrochen. Überflüssig zu sagen, daß sich im Nu im Regiment die Nachricht verbreitete, die Serben hätten die Wassermühlen absichtlich losgemacht, um sie vom Strom treiben und gegen die Brückenpfeiler anrennen zu lassen. Meine eigene Meinung darüber brauche ich nicht zu sagen. Ich habe schon wiederholt erwähnt, daß mich gerade die unbeabsichtigten Unglücksfälle trübselig stimmen. In diesem Falle ist das Entsetzen allgemein, denn wir sind jetzt von der Heimat abgeschnitten. Im Falle eines serbischen Durchbruches wäre es sicherlich das günstigste, in Gefangenschaft zu geraten, denn daß unsere Divisionen bei dieser Strömung und bei diesem Wasserstand in den kleinen Pontons hinüberkämen, ist ausgeschlossen. Die Menage kann auch nicht mehr herüber, und wir wurden schonend darauf vorbereitet, daß wir sie uns für morgen und vielleicht auch für die nächsten Tage supponieren müssen. Die Savebrücke, über die wir herübergekommen waren, ist gleichfalls arg gefährdet, trotzdem die Sappeure mit Staaken und Boten den flüchtigen Teilen der zertrümmerten Drinabrücke nachfuhren, um einen Anprall gegen die Savebrücke zu vereiteln. Einige der Pioniere haben dabei den Tod gefunden.

Noch ein weiteres unliebsames Ereignis hat mich betroffen, das für mich von schweren Folgen begleitet sein kann und das ich trotzdem nicht so schmerzlich empfinde. Wenn ich später einmal diese Blätter durchlesen sollte, werde ich mich vielleicht bei der Schilderung dieses Mißgeschickes meiner Undankbarkeit schämen, die mich veranlaßt hat, so etwas in mein schriftliches Gedächtnis aufzunehmen. Aber ich glaube mich heute von dem Gefühl der Undankbarkeit frei, und auch die momentane Mißstimmung ist es nicht, die mich veranlaßt, das Nachfolgende niederzuschreiben, sondern ich habe mir gelobt, die hervorstechendsten meiner Gefühle und persönlicher Ereignisse in diesen Blättern niederzulegen, und so darf ich die Schilderung eines Mißbehagens nicht unterdrücken, das während der letzten Tage auf mir lastet.

Wie ich erwähnt habe, hat vor vier Tagen ein Offizier unseres Regimentes, nachdem er mich mit dem Generalstabsoffizier der Brigade angeregt sprechen gesehen hatte, sich beeilt, mich einzuladen, in seiner Deckung zu schlafen, und ich hatte zuletzt bei ihm genächtigt. Das war aus vielen Gründen für mich günstig. Während meine bisherigen Schlafgenossen in unserer selbstverfaßten Erdgrube schlafen mußten und sie infolge des Regens und Kots, in dem sie die Nächte zubrachten, von Zahnschmerzen, Diarrhöe und Angina befallen waren, blieb ich davon verschont, da der erwähnte Offizier seine halbe Kompagnie zur Herstellung seiner Wohnung kommandiert hatte, so daß man darin nicht nur gegen den Regen gut geschützt war, sondern abends auch ein Feuer anmachen konnte. Ein noch angenehmerer Vorteil bot sich mir dadurch, daß man in dieser Hütte stehen und sitzen, also bis 8 oder 9 Uhr abends wachbleiben konnte, während man in den Mannschaftsdeckungen genötigt war, immer um 5 Uhr nachmittags schlafen zu gehen. So hatte ich meine Vorteile von der Gastfreundschaft, aber ich konnte mich ihrer nicht freuen. Ich bin wiederholt gezwungen gewesen, mit Leuten beisammen zu sein, die mir im ersten Augenblick unsympathisch waren, und ich habe mich fast immer mit Erfolg bemüht, an ihnen Züge zu entdecken, die meine erste Meinung zu ihren Gunsten richtiggestellt. Bei meinem Gastfreund war dies nicht der Fall. So unsympathisch er mir schon bei oberflächlicher Bekanntschaft gewesen war, so wurde er mir bei näherem Kennenlernen vollends widerwärtig. Er erzählte mir zum Beispiel mit schamlosen Details sein Verhältnis zu einem Mädchen, das er in unfairer Weise verführt hatte, und das ihn noch immer maßlos liebt. Er gab mir die Briefe des Mädchens zu lesen, damit ich sie beantworte. Er hatte sie überhaupt nicht geöffnet, worüber ich um so mehr entrüstet war, als seine Geliebte ihn darin nur um ein einziges Wort bat: Sie habe gehört, daß er sie während ihres Verhältnisses, das sie mit furchtbaren häuslichen Szenen, einer verbotenen Operation und darauffolgender lebensgefährlichen Krankheit bezahlt hatte, mit einer Anderen betrogen habe. Sie bitte ihn nur um ein Wort des Dementis, das sie ihm unbedingt glauben wolle. Der Kerl hatte diesen von heißer Wehmut erfüllten, sehr schön geschriebenen Brief nicht einmal gelesen und überließ es mir, ihn so zu beantworten, wie ich wolle. Die an Exhibitionismus grenzende Art, sich zu benehmen, zu schimpfen und zu sprechen, die Brutalität, mit der er Leute seiner Kompagnie prügelte und mit den Füßen stieß, seine Rücksichtslosigkeit, mit der er seinen Diener aufweckte, damit dieser aufstehe und die Kerze auslösche (trotzdem er selbst dazu nur einer Kopfbewegung oder einer Bewegung der Hand bedurft hätte), brachte mich vollends zur Raserei, und ich mußte mir Zwang antun, um ihm nicht Grobheiten zu sagen, was mir gewiß bei diesem Menschen standrechtliche Bestrafung eingetragen, gewiß als beispiellose Undankbarkeit ausgelegt und als Aufwiegelung aufgefaßt worden wäre. Als er mir einmal sagte, daß ich mit kotigen Stiefeln abends nicht in seine Behausung kommen dürfte, erbat ich mir mein Zeltblatt zurück, das einzige Mobiliar, mit dem ich zu ihm übersiedelt war. Das hieß, ich wolle wieder in mein altes Heim. Er zwang mich, zu bleiben, und ich mußte bleiben. Aber ich empfand es höchst unangenehm. Das Seltsamste jedoch war, daß dieser Mensch einmal im Gespräche über einen Stabsoffizier äußerte, daß dieser ein nobler Charakter sei. Auf meine Frage, wie er dies begründen könne, zählte er mir alle vorteilhaften Eigenschaften auf, die durchwegs den seinigen entgegengesetzt waren, und wußte sie nicht genug zu loben. Ich war so verblüfft, daß er (mein Staunen merkend) mich fragte, ob ich nicht seiner Meinung sei. Ich beeilte mich, zu versichern, daß auch ich die von ihm gerühmten Eigenschaften rühmenswert finde, nur daß sie leider selten zu finden seien.

Ich muß erwähnen, daß dieser mein »Gastfreund« der einzige verabscheuungswürdige Offizier ist, den ich im Regimente während meiner Kriegszeit kennengelernt habe. Übrigens rückte er heute mit seiner Kompagnie in die Schwarmlinie ab, und trotzdem ich wieder in Regen, Wind und Nässe am Nachmittag zur Nachtruhe gehen muß, wird mir nach seiner schönen Wohnung nicht bange sein.

 

Mittwoch, 14. Oktober 1914.

Zu den seltsamsten Aufgaben, mit denen ich beauftragt wurde, gehört die heutige: ich möge einen neuen Brunnen für die Schwarmlinie und die Reserven suchen, da die bei diesen befindlichen Brunnen infolge (von den Serben) hineingeworfenen, verfaulten Kürbissen stinkendes Wasser liefern. Es war eine aussichtslose Aufgabe, denn wenn ein anderer Brunnen vorhanden wäre, so hätten ihn die lückenlos und in langer Front vorrückenden Schwarmlinien finden müssen, beziehungsweise, hätte jeder Schwarm doch wissen müssen, ob hinter ihm Trinkwasser zu holen sei. Obwohl also meine Aufgabe aussichtslos schien, gelang es mir altem Rechercheur durch Umfragen doch einen Brunnen zu finden, allerdings einen »a. D.«. Die Pioniere sind nun beschäftigt, die Verschalung wegzuräumen, und man wird ja sehen, ob er sich als ergiebig erweisen wird.

Auch die Reservebrücke ist von den Trümmern der geborstenen Drinabrücke zerbrochen worden. Wir speisten eine unserer Konserven zu Mittag, da die Menage natürlich verzögert ist. Der Verkehr wird durch eine Überfuhr von kleinen Dampfern aufrechterhalten. Die Serben, die von der Unmöglichkeit unserer Rückkehr nach Österreich jedenfalls Wind bekommen haben, überschütten uns mit einem Meer von Gewehrschüssen und Granaten und Schrapnells und Kartätschen und versuchten einen Vorstoß gegen uns, der ihnen nicht glückte. Ein Krawall, wie er selbst unseren gegen akustische Exzesse tüchtig gewöhnten Ohren unerträglich klingt, erfüllte die Nacht. Den Schlaf konnte er mir allerdings nicht rauben, denn ich hatte keinen. Ich liege wieder in meiner alten Deckung, mein Nachbar zur Rechten hat Dysenterie, mein Nachbar zur Linken hustet gräßlich. Seine Mutter starb 20 Jahre alt an Lungentuberkulose, sein Vater sechs Jahre älter an Säuferwahn.

 

Donnerstag, 15. Oktober 1914.

Oberleutnant Beyrodt und Hauptmann Wieronski sind heute krank in das Spital nach Grk fortgeschickt worden. Sie waren die letzten aktiven Offiziere des Bataillons. Als Bataillonskommandeur kam Major Gärtner zu uns, der vor acht Jahren in Ruhestand gegangen war, bei Kriegsbeginn wieder reaktiviert wurde und bisher das hier selbständig detachierte II. Bataillon des Prager Regiments Nr. 28 kommandiert hatte. Vor zehn Jahren, in den letzten Kaisermanövern, die Kaiser Franz Josef selbst geleitet hat, bin ich in den Gefechten bei Stekna und Pisek Ordonnanzunteroffizier bei Major Gärtner gewesen.

 

Freitag, 16. Oktober 1914.

Früh: Mit Meldungen zur Division nach Bosnisch-Rača. Die Save noch immer wie eine schwangere Frau. Mitten im Flusse war eine Mühle auf eine Sandbank aufgefahren. Die Bretter waren freilich weggeschwemmt, nur das Mühlenrad streckte sich groß und ungefügig wie die Beine eines toten Ungetüms über den Wasserspiegel der Save. Es fiel mir gleich ein, ob es nicht meine Wassermühle aus Syrmisch-Rača sei, die ich mir vor Monatsfrist mit dem Amtmann, der Hebamme und den anderen mystisch-grausamen Gestalten der »Kronbraut« belebt hatte. Ich sah hinüber über den breiten Strom, aber ich konnte nicht sehen, ob meine alte Mühle noch an ihrem Platze verankert oder ob sie es sei, die tot und unbegraben vor mir liegt, wie tausend andere Freunde, die ich hier erworben. Die Laufgräben sind teilweise unter Wasser, so daß man über kleine Brücken aus Brettern steigen muß. Die Serben haben angeblich zwei Flüsse gegen die Drina zu abgeleitet, um uns oder wenigstens die Laufgräben zu überschwemmen.

 

Montag, 19. Oktober 1914.

Antwort von Familie Rößler. Ein Brief voll ungeheurem Schmerze über den Verlust des einzigen Sohnes und vor allem die dringende Bitte, ich möge alles unternehmen, um einzuleiten, daß der Tote in heimatlicher Erde bestattet wird. Ich erhielt die Erlaubnis, mich nach Bosnisch-Rača zur Divisions-Sanitätsanstalt zu begeben, wo Rößler beerdigt ist. Dort wurde mir die Auskunft gegeben, daß ein Ansuchen um Exhumierung bei den gegenwärtigen Transportverhältnissen kaum auf Genehmigung zu rechnen habe. Man zeigte mir das Grab, welches in einem ad hoc hergerichteten, mit einem großen Steinkreuze geschmückten Friedhofe sehr sorgfältig hergestellt ist. Auf die Grabhügel sind Blumen gepflanzt und Holzkreuze befestigt. Ich schrieb der Familie in diesem Sinne und gab eine Schilderung der Grabstätte.

 

Dienstag, 20. Oktober 1914.

Wir haben eine neue Kutja bezogen. Etwa acht Tage hatten wir an dem souterrainen Blockhaus gebaut, das viel geräumiger ist, als unsere bisherige Wohnstätte. Es ist für neun Leute bestimmt, 4 m lang, 2½ m breit und beinahe 2 m hoch. Der Gang vor der Türe ist etwas vertieft, so daß der Raum, auf dem wir schlafen, eine Art Podium bildet. Wir haben diese Villa vom Laufgraben aus geschaufelt, so hoch, daß sich der Plafond etwa 1 m unter der Erdoberfläche befindet. Vor dem Einsturz sollen uns drei Baumstämme schützen, die der Länge nach, sieben, die der Breite nach unter die Zimmerdecke eingerammt sind. Dazwischen ist eine Reihe von Latten eingefügt. In der Mitte des Hauses zeugt eine einzige Säule von Pracht: es ist ein Baumstamm, der dazu bestimmt ist, das Dach zu tragen und mich beim Schlafe zu stören, denn ich liege als Fünfter gerade in der Mitte. Neben mir habe ich ein kleines Brettchen in die Wand gesteckt, auf dem meine Briefschaften, mein Rousseau und meine Eßschale liegen. Bei Nacht brennt auf dieser Konsole ein Kerzenstümpfchen, damit ich lesen kann. Rechts von der Türe in der Mitte der Wand ist ein Ofen, dessen Rauchfang aus serbischen Zinkverschlägen kunstvoll hergestellt ist. Als Rost- und Bratspieß steckt quer eine starke Nadel darin, die zu Friedenszeiten zum Festhalten des Traggerüstes an einem Packtornister diente. Es ist zweifellos viel bequemer, als es in der bisherigen Deckung war, aber ich fühle mich dem Tode näher. Unser bisheriges Heim lag an dem Hauptlaufgraben, der zu unserer Schwarmlinie führt, und da unser Haus keine Mauer hatte, sahen wir jeden, der nach vorne ging. Bald kamen Offiziere des Divisions- oder Brigadekommandos, bald Proviantunteroffiziersgehilfen von unserem Regimentstrain, bald Rechnungsunteroffiziere, bald Marode, bald Geheilte aus den Spitälern, bald Rekruten und Leute der Marschbataillone, die direkt von Prag kamen, bald Ärzte vom Hilfsplatz, bald Köche von den Fahrküchen, bald Artilleriebeobachter vorüber, und viele Bekannte waren darunter. Sie hielten sich bei uns auf und brachten uns Nachrichten über Freunde, die verwundet oder getötet oder beurlaubt oder geheilt worden waren. Hie und da schenkten sie uns eine Zigarette oder zwei Finger voll Tabak, sie borgten uns für einen Augenblick Zeitungen, die sie von einem Offizier zu dem eines anderen Abschnittes zu tragen hatten und dergleichen. Damit ist es nun vorbei. Wir wohnen jetzt in einer Seitensappe des Laufgrabens zwischen Regimentskommando und Offizierslatrine, und unsere Nachbarn sind fünf tote Komitatschis, die neben unserem Dache verscharrt liegen. An uns geht keiner mehr vorüber. Wir liegen jetzt unter der Erde wie im Grab. Nichts kettet uns mehr an die Welt. Wenn das Gebäude zusammenfällt, so merkt es niemand da draußen. Wir lägen da, wie tausend andere tote Kameraden in unserer Nähe und hätten nur den Pionieren Arbeit erspart.

In der Nacht konnte ich nicht schlafen. Über unseren Häuptern irrten Mäuse umher, denen wir durch unsere Wühlarbeit die Möglichkeit einer Orientierung in ihrem Heimatland genommen haben. (Ähnlich wird es den Serben gehen, wenn sie je wieder auf die Paraschnica zurückkehren sollten, die wir durch Laufgräben, Sappen, Deckungen und Verschanzungen zu einem Labyrinth umgestaltet haben, in dem sich kein Polizeihund auskennen würde.) Die Mäuse bröckelten Erde auf uns unbefugte Bewohner ihres bisherigen Heimes nieder, und einem meiner Schlafgenossen fiel eine auf den Mund. Das war es nicht, was mich nicht schlafen ließ; ich hatte ein anderes, noch unbehaglicheres Gefühl: mir schien es, als ob ich Läuse habe. Das wäre für mich das Ärgste. Die Furcht vor diesen Viechern war die einzige Furcht gewesen, die mich einst bei journalistischen Streifzügen ins Elendenland bewegt hatte, während Andere diese Gänge aus anderen Gründen als waghalsig beurteilt hatten.

Gegen 4 Uhr früh schlief ich doch ein. Nicht lange darauf weckten mich meine Kameraden. Es war schon Licht. Sie waren aufgesprungen und wiesen auf ein leibhaftiges Menschenbein – Schenkel, Wade, Fuß – das gerade über dem Kopfe meines Nachbarschläfers aus dem Plafond niederhing. Über unserem Haupte war also ein Komitatschi begraben worden, und durch unseren Bau war ihm der Boden unter den Füßen zusammengesunken. Wir hackten die Leiche heraus und gruben sie an einer für uns weniger unangenehmen Stelle wieder ein.

Dann weckte ich den Mediziner einer nahen Kompagnie zur Diagnose, ob ich Läuse habe. Er konnte nur Flohbisse konstatieren. Ich war glücklich, aber es verdroß mich nicht, dreiviertel Stunden zur Drina hinunterzulaufen, um mich in einem Ponton auszuziehen und ins kalte Wasser zu springen. Nach dem Bade kletterte ich wieder über die Pontonwand zu meinen Kleidern und wurde dabei noch schmutziger, als ich vorher gewesen war.

Nachmittags wurde ich zum Bataillon Balzar (6., 7., 13. und 14. Kompagnie) gesandt, um dort eine Meldung abzugeben. Der Weg führte an drei Landwehrregimentern vorbei längs der Front durch Lauf- und Schützengräben, die breit und mit allerhand Nischen und Bequemlichkeiten ausgestattet sind. Durch metallisch-glänzendes Laub, das von den Bäumen und den mit Baumstämmen überdeckten Traversendächern auf den Weg gefallen war, erhielt alles den melancholischen Charakter eines verlassenen Parkes im Herbst. Bei Landwehr 8 erfuhr ich vom Tode eines Bekannten, des Fähnrichs Karl Stein. Vor kurzem war er Brautführer bei der Hochzeit seines Bruders in Komotau gewesen, an der ich als Vertreter der Bohemia-Redaktion teilgenommen hatte. Der junge Bursche hatte damals in seiner Uniform so übermütig ausgesehen, nun liegt er in der Uniform nicht weit von mir in der Erde. Der Weg zum detachierten Bataillon, der vom Saveufer nächst Finanzwachhaus Omerov Čardak gegen unsere Front verläuft, dauerte etwa eine Stunde. Ich übergab meinen Befehl und begrüßte viele Bekannte, die ich seit mehr denn Monatsfrist, seitdem wir dieses verteufelte Halbeiland betreten haben, nicht mehr gesehen hatte. Beim Rückwege am Abend verirrte ich mich in den Laufgräben, die unten nächst der Savebrücke in so kurzen Windungen wie Schlangenlinien verlaufen, daß man beim schnellen Passieren beinahe die Drehkrankheit bekommt. In stockdunkler Nacht, die von serbischen Kugeln schraffiert war, mußte ich von der Landwehrdeckung in die unsere. Der Weg führte über offenes Terrain. Beim Regiment hatte man mich schon tot geglaubt.

Ich wurde früh wieder zum Bataillon Balzar entsandt. Auf dem Hinwege ließ ich mir das Grab des Fähnrichs Stein zeigen. Ich veranlaßte durch Zigaretten und gute Worte einige Soldaten, das Grab herzurichten und auf dem Baume neben der Grabstätte eine Gedenktafel anzubringen, da im Frühjahre die Save wohl das ganze Gebiet überfluten und den Grabhügel davonschwemmen wird.

 

Donnerstag, den 22. Oktober 1914.

In den letzten Tagen war man des Lobes voll über den Infanteristen Sokol von der ersten Kompagnie, welcher als Bombenwerfer in den serbischen Gräben Unheil und Verwirrung anrichtete. Er war zum Gefreiten befördert, zur Dekoration eingegeben worden, und man zeigte ihn als Sehenswürdigkeit. Heute nachmittags hantierte er mit einer Bombe, sie explodierte und zerriß ihn und die beiden anderen Bombenwerfer der Kompagnie in Stücke.

 

Freitag, den 23. Oktober 1914.

Unsere Sappeure arbeiten aus den Schwarmlinien Sappen nach vorne, die Serben desgleichen. So kommt es, daß an einigen Stellen die Grabenden der beiden Parteien nur etwa 15 Schritt voneinander entfernt sind, allerdings ohne einander sehen zu können. Gestern wurden nun unsere Soldaten während der Arbeit von zwei serbischen Leuten angerufen, die ihnen sagten, daß sie an dieser Stelle um 7 Uhr abends herüberkommen werden, man möge nicht auf sie schießen. Die Aufforderung brach jäh ab. Wahrscheinlich war sie gehört und die beiden Überläufer verhaftet worden. Wenigstens kamen sie nicht herüber, trotzdem an dieser Stelle über höheren Befehl nicht geschossen wurde. Am Abend spielte, in der serbischen Schwarmlinie gedeckt aufgestellt, eine Musikkapelle, deren Töne zu uns herüberdrangen. Man feierte den zweiten Jahrestag der für die Serben siegreichen Schlacht von Kumanowa und wollte durch die fröhlichen Klänge gleichzeitig auch uns die Kriegsbegeisterung zeigen und uns locken. Sie spielten auch das tschechische Volkslied »Andulka Šafařová« und das patriotische »O du mein Österreich«. Nach serbischen Liedern schien eine Ansprache zu folgen, und dann brauste ostentativ begeistert ein dreifaches »Živio« zu uns herüber.

 

Samstag, den 24. Oktober 1914.

Das war mein Wunsch gewesen: einen Urlaub nach Prag zu bekommen, anständig zu baden, anständig zu essen, anständig auszurüsten und die Lieben zu sehen. Seit heute ist es nicht mehr mein Wunsch. Das kam so: ein Kamerad kam vom Verwundetenurlaub aus Prag zurück. Ich sagte so, daß er zu beneiden sei. – »Wenn nicht der Abschied wäre,« erwiderte er. Dieser Satz war es, der mich endgültig von meinem Wunsche abgebracht hat. Nein, jetzt noch einen Abschied? Damals war es noch verhältnismäßig gut gegangen. Es war nur ein Krieg Österreichs gegen Serbien, und man mußte annehmen, daß er bald zu Ende sei. Meine Bagage hatte in einem winzigen Handkofferchen bequem Platz, und ich glaubte noch zuviel mitgenommen zu haben. Auch war ich damals der einzige von meinen Brüdern, der eingerückt war. Jetzt sind wir überall in den Militärlagern verstreut und niemand bei Muttern zu Hause. Jetzt ist der Weltkrieg erklärt, kein Ende abzusehen, jeden Tag erscheinen endlose Verlustlisten in der Zeitung, Freunde sind vermißt, Verwundete tot, die Stadt von Krüppeln bevölkert, Witwen und Waisen erfüllen die Heimat mit Weinen, Not und Schmerz, ich weiß jetzt, wie es hier zugeht. – Nein, nur jetzt nicht noch einmal den Abschied!

Die Stimmung in Prag soll kriegsfeindlich sein. Allgemein wisse man, daß den Siegesnachrichten kein Glauben zu schenken sei, und trotzdem die Behörden gegen die Verbreiter pessimistischer Anschauungen und Gerüchte einschreiten, erfüllen nur Nachrichten von verlorenen Schlachten, verlorenen Trainkolonnen und Automobilparks, schweren Verlusten und dergleichen die Bevölkerung, deren Stimmung eigentlich gegen den Krieg gerichtet sei, und die sich in ihren abfälligen Äußerungen gegen die eigenen Führer und Machthaber (wenn auch nur in latenter Weise) wende. Sogar der Volkshumor ist ein schwarzseherischer: »Alle Friseure müßten auf den Kriegsschauplatz abgehen, weil wir bereits eingeseift sind«. »Die neu eingeführten Zweikronen-Banknoten sind weder hochrot noch rosarot, sondern bank-rott.« Die Begeisterung, die am Anfang die ins Feld ziehenden Truppen begleitet hat, sei in Verzweiflung umgewandelt, auch die abmarschierenden Soldaten sollen keine »Zucht« mehr haben. Die »Prager Kinder«, die 28er oder das 8. Landwehrregiment, sollen bei ihrem Abmarsch auf den Bahnhof ein rotes Tuch als Fahne vorangetragen haben, auf dem ein altes tschechisches Volkslied folgendermaßen variiert aufgeschrieben war: »Červený šátečku kolem se toč, já táhnu na Rusko, já nevím proč«, d. h. »Du, rotes Tüchlein, du, dreh' dich herum, ich zieh' jetzt nach Rußland und weiß nicht warum«. Im Spital in Písek seien 2000 Ruhrkranke, in Frankreich sei es nun auch mit den deutschen Siegen zu Ende, in Rußland sei in den Schlachten sogar der österreichische Landsturm vernichtet worden. Gegen die Juden sei die Stimmung in der Bevölkerung erbittert, weil viele Lokalanstellungen mit ihnen besetzt seien. So? Und mir geht wieder vor den vielen Juden hier die Galle heraus.

 

Sonntag, den 25. Oktober 1914.

Der Kommandant der Balkanstreitkräfte F. Z. M. Potiorek fühlt sich bemüßigt, feindliche Jubelmeldungen über Siege von Romanja planja (wie kommen die Montenegriner so nahe an Sarajewo?), von Kurjačiča und vom Gučewo-Rücken auf das »rechte Maß zu reduzieren«. Zur Kennzeichnung dieses »Dementis« nur einen Satz von vielen: »Der angebliche Sieg von Kurjačiča war eine durch das Hochwasser der Drina bedingte, nicht durch einen serbischen Angriff erzwungene Räumung eines überschwemmten, kleinen Brückenkopfes.« In dem Tone geht das »Dementi« weiter. Daß auch nicht ein einziger Zeitungsleser bei Lektüre dieser famosen »Reduktion« von Entrüstung über die serbischen »Lügenmeldungen« gepackt werden wird, ist mir klar. Im Gegenteil, er wird nichts anderes in ihr sehen können, als eine unumwundene Bestätigung der serbischen Nachrichten, ein rückhaltloses Eingeständnis eigener Flucht. Nicht einmal in Friedenszeiten hat man solchen geschrobenen Richtigstellungen geglaubt und gar jetzt, wo jeder Zeitungsleser in der Technik des Zeitunglesens gründlich geschult ist. Weiß er doch, daß alles zensuriert und konfisziert wird, weiß er doch, was offiziell zusammengelogen wird, und gerade in den letzten Tagen ist durch die Publikation diplomatischer Schriftstücke die ganze Sprache der schamlosen Verschleierung deutlich aufgedeckt worden. Es ist z. B. belehrend, wie Edward Grey seinerzeit auf eine Anfrage im Parlament das eben abgeschlossene Marineabkommen mit Rußland in Abrede stellte, ohne zu lügen, aber auch ohne die Wahrheit zu sagen. Auch die englischen, französischen und belgischen Blätterstimmen über die Kriegspräludien waren bei uns zitiert, also weiß jeder, wie man Verschleierungen aufzufassen hat, und jeder halbwegs Gewitzte wird heutzutage zwischen den Zeilen zu lesen wissen. Und nun setzt ein Armeekommandant eines Großstaates unter einen solchen albernen Wisch seinen vollen Namen! Er hätte entweder den Rückzug gleich melden oder aber auch jetzt schweigen müssen. Läßt man sich erst durch serbische Meldungen provozieren? Glaubt Herr Potiorek vielleicht, daß man dem Publikum Meldungen über verlorene Schlachten schmackhafter macht, wenn man sie nicht an sich meldet, sondern nur in Form einer Reduktion fremder Nachrichten? Oder tut man es vielleicht um des Auslandes willen? Es wird im Auslande nur als Dokument der Unfähigkeit erscheinen.

 


 << zurück weiter >>