Egon Erwin Kisch
Soldat im Prager Korps
Egon Erwin Kisch

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Ausmarsch und Aufmarsch

 

Freitag, den 31. Juli 1914.

Als zehnjähriger Junge habe ich ein Tagebuch zu führen begonnen. Wenn ich heute, da ich 20 Jahre älter bin und andere Möglichkeiten einer Emanation besitze, wieder die Führung eines Tagebuches aufnehme, so bestimmen mich dazu mehrere Gründe: das Gefühl, eine historische Zeit zu erleben, die Unmöglichkeit, die wichtigsten meiner Erlebnisse derzeit publizistisch preiszugeben, die persönlichen Ereignisse, die, im Zusammenhang mit der politischen Lage, in den letzten Tagen mich getroffen haben, und die in mir die Erwartung wecken, daß ihnen weitere folgen werden.

Allerdings sind die Erlebnisse dieser letzten Tage größtenteils nur von schmerzhaft erotischer Natur, wodurch die Einleitung meiner Kriegsnotizen sozusagen den Memoiren eines Casanova von trauriger Gestalt ähneln wird.

Ich bin auf Grund der alarmierenden Nachrichten aus Binz auf Rügen am Dienstag, den 28. d. M. nach Berlin abgereist. Am Mittwoch bekam ich einen Expreßbrief meines Bruders, daß ich sofort zum Regimente abzugehen habe. Ich holte mir im k. k. Konsulate meine Beglaubigung für die Freifahrt und eine Wegzehrung von 1 M. 55 Pf. Meine Freundin Trude sagte mir zum Abschied, sie habe mir noch etwas zu beichten, sie möchte nicht, daß zwischen uns eine Lüge sei, wenn ich in den Krieg ziehe. Sie wollte lange nicht mit der Sprache heraus, dann gestand sie mir, sie habe einmal einen Eingriff an sich vollziehen lassen.

Um 11 Uhr 13 Minuten abends fuhr ich vom Anhalter Bahnhof gegen Prag. Auf dem Bahnhofe Tausende von Menschen, die Deutschen sangen die Wacht am Rhein. Nach vielen Irrwegen, Stockungen und Verschiebungen kam der Zug endlich am Donnerstag um 11 Uhr vormittag in Prag an. Schon in Bodenbach hatte ich die gelben Plakate gelesen, worin stand, daß sich jeder zum 8. Korps gehörige Reservist von selbst bei seinem Truppenkörper zu melden habe. Bis jetzt hatte ich geglaubt, daß man auf die Einberufung warten müsse; auch im Konsulate von Berlin war mir das gesagt worden. Nun brachten mir die Plakate doppelte Post: Ich werde also jedenfalls in den Krieg ziehen, möglicherweise aber noch bestraft werden, weil ich nicht schon am Sonntag bei meinem Truppenkörper, dem k. u. k. Infanterieregiment Nr. 11 in Pisek, bei welchem ich Reservekorporal bin, eingetroffen war.

Vom Bahnhof fuhr ich sofort nach Hause und packte meine Sachen. Soviel, daß sie ein winziges Handtäschchen füllten, das ich nur auf eintägige Ausflüge mitzunehmen pflege. Zahnbürstchen, Kamm, Seife, vier Taschentücher, drei Hemden, zwei Unterhosen. Meine Mutter wollte mir noch eine dritte Unterhose und ein Nachthemd einpacken, aber ich lehnte ab: »Du glaubst wohl, daß ich in den Dreißigjährigen Krieg ziehe?!«

Dann fuhr ich in die Vorstadt Smichow zu Klara. Ich hatte sie schon sechs Monate nicht mehr gesehen, aber statt freudig aufzuspringen, als ich eintrat, wurde sie kreidebleich. »Warum bist du so erschrocken?« fragte ich sie. Sie war kaum imstande, mir eine Antwort zu geben, so mußte ich von neuem fragen: »Warst du mir nicht treu?« Sie zeigte mir, ohne mich anzusehen, einen Brillantring, den sie an der linken Hand trug. »Du bist also verlobt?« Sie nickte. Nach einer Weile erst begann sie zu sprechen: ich hätte ihr so selten geschrieben, ihr in meinen spärlichen Briefen immer nur zugeredet, daß sie tanzen, sich unterhalten gehen, Ausflüge machen solle, so daß sie längst den Eindruck gewonnen habe, ich möge sie nicht mehr. Das war nun wahr und nicht wahr. Ich hatte ihr allerdings absichtlich so wenig geschrieben, damit sie sich nicht an mich gebunden fühle, damit sie ihre Freiheit habe, wenn ich mich in Berlin unterhalte. Aber insgeheim hatte ich doch geglaubt, sie würde mir auch treu bleiben, wenn sie andere Leute kennenlernen und an verschiedenen Vergnügungen teilnehmen werde.

Um 6 Uhr 20 Minuten abends ging mein Zug nach Pisek. Zu Hause aß ich zu Mittag und sprach mit meinen Brüdern, die nicht einrücken, da sie zu jenen Korps gehören, die nicht mobilisiert sind. Wir machten Witze, um Besorgnisse der Mutter zu zerstreuen, und dann fuhr ich zur Bahn. Dort drängten sich Hunderte von Reservisten um die Kasse, in ihrer Mitte ein hübsches Mädel.

Ich bot mich an, ihr die Fahrkarte zu lösen, was sie gerne annahm. Wir kamen ins Gespräch, und während wir im zusammengepferchten Eisenbahnzug nebeneinander saßen, erzählte sie, daß sie nach Pisek fahre, wo morgen ihre Kriegstrauung mit einem ins Feld abgehenden Reserveoffizier stattfinde. Sie hegte nur die Befürchtung, daß ihr Bräutigam sie nicht auf dem Bahnhofe erwarten werde, da man auf dem Postamte die Absendung ihres Telegrammes abgelehnt hatte, und die Züge unregelmäßig verkehren. Ihre Befürchtung steigerte sich, als sie von den Mitpassagieren erfuhr, daß in Pisek die Züge in zwei Stationen halten, in »Pisek Haltestelle« und in »Pisek Stadt«, und daß es ganz ausgeschlossen sei, daß sie dort irgendwo im Hotel ein Zimmer bekomme, da die Stadt voll von Offizieren und jedes Zimmer mit sieben bis acht Personen belegt sei. Nun war sie verzweifelt, so spät abends dort einzutreffen und vielleicht allein in der Stadt die ganze Nacht umherirren zu müssen, da sie doch das Haus Pisek 217 nicht finden und – fände sie es auch – ein fremdes Haus nicht alarmieren könne. Die Passagiere rieten ihr, in Přibram die Fahrt zu unterbrechen, dort zu übernachten und früh um 6 Uhr weiterzufahren. Ich nahm diese Anregung auch für mich auf und erklärte, es ebenso machen zu wollen, da ich nicht die Absicht habe, die Nacht in den Straßen Piseks zuzubringen. In Přibram sprang ich dann mit ihr aus dem Waggon. Wir gingen in das nächste Hotel und aßen das Abendbrot. Sie gewann Vertrauen zu mir, erzählte mir ihre langjährige Beziehung zu ihrem Bräutigam, dem sie ziemlich kritisch gegenüberstand, und den sie hauptsächlich deshalb heiraten wolle, weil er pensionsberechtigt sei. Im übrigen gewann ich aus dem Gespräche, vor allem aus ihrer Schilderung der Eifersuchtsszenen und der Vorwürfe, die ihr der Bräutigam gemacht habe, die Überzeugung, daß sie selbst nicht allzu einwandfrei sei. Ich verschob nun das Gespräch auf lustigere Basis und bestach draußen den Kellner, daß er erkläre, nur ein einziges Zimmer mit zwei Betten zur Verfügung zu haben, aber kein einziges Zimmer mit einem Bett.

Früh um 6 Uhr fuhren wir nach Pisek. Ich begab mich sofort in die Kaserne. Hunderte von Reservisten standen im Hofe, teils eingekleidet, teils noch nicht. Unendlich viele alte Bekannte. Doch wie hatten sich die meisten seit unserer gemeinsamen Dienstzeit verändert! Solche, die ohne parfümierte Schützenschnur damals die Kaserne nicht verlassen hätten und sogar in der Anordnung der Distinktionssterne Koketterie bewiesen hatten, hielten es jetzt nicht mehr der Mühe wert, sich einen herabhängenden Knopf festzunähen oder die allzulangen Ärmel einzusäumen. Sie sahen verwahrlost aus; das Zivilleben, das sie damals so ersehnt hatten, hatte ihnen übler mitgespielt, als der Feldwebel. Sie waren gealtert, trugen Vollbärte und waren Familienväter geworden, und es berührte mich seltsam, als ein einstiger Kompagniekollege, der ein Riesenlausbub gewesen und mit mir monatelang im Arrest gesessen war, erzählte, daß er Vater von fünf Kindern sei.

Die Leute sprachen über Serbien, über den Selbstmord des Magazinoffiziers Hauptmann Thoma, von dem das Gerücht verbreitet ist, daß er wegen Unterschleifen sich bei der Nachricht der Mobilisierung getötet habe. In Wirklichkeit soll das Magazin in Ordnung sein und Thoma die Tat nur aus Nervosität und Angst vor dem Rummel begangen haben. Am Nachmittag wurde plakatiert, daß der Kaiser die allgemeine Mobilisierung angeordnet habe. Sofort fiel mir die Mutter ein: Alle meine vier Brüder werden wohl jetzt einrücken müssen; mein Herzschlag stockte, als ich mir vergegenwärtigte, wie jetzt zu Hause alles in der gräßlichsten Aufregung der Abreise in einen großen Krieg sei. Die Leute lasen das unheilverkündende Plakat ohne Verständnis: »Es ist gut, daß auch die anderen Länder darankommen.« – »Das bedeutet, daß auch die Jägerbataillone einrücken müssen.« usw. – Abends hatte ich meinen Tornister zu packen und den Mantel daraufzuschnüren. Pfui, war das eine Arbeit! Ich glaube, ich würde in Rußland lieber erfrieren, als den Mantel anzuziehen. Müßte ich ihn doch wieder einrollen.

 

Samstag, den 1. August 1914.

Ich habe den Abend bei einem Kaufmann verbracht, den ich aus der Zeit kenne, da er in Prag Funktionär der sozialdemokratischen Partei war. Er bewirtete mich und prahlte vor seiner Frau mit seinen Beziehungen zur Literatur, wozu er mich als Zeugen anrief. Er erzählte, daß er vor drei oder vier Jahren jede Nacht mit Hugo Salus durchbummelt und ihm in einem Bordell 20 Kronen geborgt habe; Salus habe das Geld versoffen, aber nicht zurückbezahlt. Guter Salus! Du hast wohl in deinem ganzen Leben noch nie 20 Kronen versoffen, am allerwenigsten aber ausgeliehene! – Die Frau des Kaufmanns ängstigte sich, daß ihr Mann als Landsturmmann in den Krieg ziehen werde. Er selbst bestärkte sie, sich brüstend, durch absichtlich ungeschickte Tröstungen in ihrer Besorgnis, um sich als Krieger großzutun und ihre Liebe durch Befürchtung zu stärken. So hatte ich die mißliche Aufgabe, bei den Gesprächen die Frau trösten und um des Mannes willen gleichzeitig hervorheben zu müssen, daß ihm Gefahr drohe. Des Morgens faßte ich in der Kompagnie mein Gewehr und die Patronentaschen. Ich hängte nun den Tornister und die übrige Rüstung um und wankte unter der Last. Dabei sind die scharfen Patronen noch gar nicht verpackt! Auch eine Legitimationskapsel, sowie das Verbandpäckchen und ein Säckchen mit Salz erhielten wir.

Vormittags wurden wir rangiert; ich bin Flügelmann des vierten Zuges, zweites Glied und Kommandant des vierten Schwarmes. Zwölf Leute sind meiner Führung unterstellt. Nachmittags erhielt jeder Mann 200 scharfe Patronen, ich als Schwarmführer nur 40. Ich empfinde dies jetzt als Glück, denn ich weiß nicht, wie ich diese bleierne Last zu meinen anderen Lasten getragen hätte. In Pisek starb ein Fähnrich vom Train auf dem Marktplatz an Herzschlag. Ein Soldat von der Landwehr hat sich erschossen, ein Kadett von der Artillerie tödlich angeschossen und liegt im Spital. Die Gattin eines Reservisten in Purkraditz ist wahnsinnig geworden. Trotzdem sich die Soldaten dies alles erzählen, sind sie bester Laune. Es ist weniger Galgenhumor als Leichtsinn und vielleicht Unkenntnis der Sachlage. Auch hier berührt sich die Wirkung der höchsten Dummheit und die der höchsten Klugheit: Was kann man Besseres tun, als sorglos sein? Und es ist ein Glück, daß die gute Stimmung ansteckend wirkt. Die ausgefaßten Kaffeekonserven werden von den Soldaten an die Dorfjugend verteilt. Den steinernen Zwieback und die Fleischkonserven packen wir in die Brotsäcke, mit dem Komißtabak wurde von den Nichtrauchern ein schwunghafter Handel getrieben. Distinktionssterne sind in Pisek nicht erhältlich, die Chargen haben sie sich daher mit Kreide oder Bleistift auf die Egalisierung gemalt. Hotelier Seltmann aus Prag, der eben mit dem Automobil hier angekommen ist, erzählt, daß Jaurès wegen seiner Kriegsgegnerschaft ermordet und daß der Lovcen von den Österreichern im dritten Sturme genommen worden sei. Ich kann diese Nachrichten nicht glauben.

Am Marktplatz war um 7 Uhr Schwur. Der Platz konnte die Menschen nicht fassen; wie in einem Heringsfaß war man gedrängt. Oberstleutnant Haluska umarmte seine alten Kompagniesoldaten, aus den Fenstern des Rathauses wurden Blumen gestreut, die Damen warfen Kußhände, und jeder der armen Reservisten, die gestern verzweifelt von Weib und Kind fortgezogen sind, bezog die Kußhände der eleganten Frauen nur auf sich und erwiderte sie. Als die Regimentsfahne unter den Klängen der Volkshymne auf den Platz getragen wurde, stieg die Erregung, und in der Pause zwischen den beiden Avisi »Zum Gebet« und »Vom Gebet« sandte gewiß fast jeder ein Stoßgebet zum Himmel, obwohl bei den hundertfachen Wiederholungen dieser Übung auf den Exerzierfeldern niemandem jemals gesagt worden war, daß dieser Zeitraum für ein Gebet verwendet werden solle. Nach kurzer Messe las Hauptmann Turner mit Schwung, Pathos und erstaunlichem Organ den Schwur deutsch für die deutsche Mannschaft, die ihn wiederholte; dann kam der tschechische Schwur. Es war falsch organisiert, daß man nicht aus den Deutschen ein Bataillon formiert hatte, das getrennt von den anderen geschworen hätte. So stand bei jedem Schwur die Mannschaft der nichtbeteiligten Nation bedeckten Hauptes in »Ruht«-Stellung dabei. Die Worte der Schwurformel sind überdies in jämmerlichem Stil abgefaßt, die Zäsuren unsinnig, die Sprache ist phrasenhaft und geschwollen. Es folgte eine an Hand des kaiserlichen Manifestes ausgearbeitete Rede des neuen Regimentskommandanten, des Obersten Karl Wokoun, die vom Major Lašek dann ins Tschechische übersetzt wurde. Hierauf brachte der Oberst ein Hurrah auf den Kaiser aus, die Mannschaft schwenkte die Kappen, die Offiziere zückten die Säbel, das Publikum in den Fenstern winkte mit den Hüten und Taschentüchern. Nachdem noch vom Bürgermeister die Fahne mit einem rotweißen Bande geschmückt worden war, begann der Abmarsch, Blumen regnete es aus manchen Fenstern, die Frauen und alte Männer im Publikum weinten, und die Erregung pflanzte sich auf die Mannschaft fort, die sich vergeblich mühte, die Rührung unter Zynismen zu verdecken.

 

Sonntag, den 2. August 1914.

Heute nacht ist ein ehemaliger Freiwilliger des Regiments, ein Serbo-Kroate, der sich freiwillig zur Dienstleistung gemeldet hatte, unter Spionageverdacht festgenommen und verhört worden. Es wurde ihm bis jetzt nichts nachgewiesen. Um 2 Uhr nachts ist die erste Kompagnie mit dem Zuge über Tabor südwärts abgegangen. Wir anderen lungern vor der Kaserne umher. Die einen erzählen, daß es bestimmt gegen Rußland gehe, aber Offiziere und Bahnbeamte glauben aus verschiedenen Anzeichen schließen zu können, daß wir gegen Serbien fahren. Mittags wurde die Löhnung verteilt. Angeblich wurde ein Mann verhaftet, dessen Buckel nicht echt war, sondern ein Paket von Giften; – was die Leute so erzählen! Um halb 6 Uhr abends rallierten wir uns auf der Straße zum Abmarsch. Wir wurden von Mädchen und Frauen mit Blumen beschenkt, eine alte Frau verteilte an die Soldaten broschierte Exemplare des Evangelium Johanni, und die Abschiednehmenden und die Zurückbleibenden bekreuzigten einander. Wir formierten uns in vier Kompagnien (die drei anderen Bataillone sind bereits im Laufe des Tages abgegangen), der Bataillonskommandant ließ die Straße durch Soldaten absperren und von Zivilisten räumen, wobei er laut und erregt anfeuerte, da die Weiber sich nicht vom Anblicke ihrer abziehenden Männer losreißen konnten. Die Maßregel schien mir nicht besonders opportun und nicht unbedingt notwendig; den Reservisten traten die Tränen in die Augen, als sie ihre Frauen davongejagt sahen. Waren nicht auch die drei anderen Bataillone ohne Absperrungsmaßregeln ordnungsgemäß abgereist? Überdies kletterten einige Reservistenfrauen durch die Fenster wieder in den Karreeraum und brachten den Soldaten Wasser, von neuem ihre Männer unter herzzerreißendem Schluchzen umarmend. Bis halb 12 Uhr nachts saßen und standen wir in der Einteilung. Einige Sänger hatten sich zusammengestellt und ließen Choräle und Volkslieder ertönen, mehrere Soldaten spielten auf Pflanzenblättern hübsche Lieder. Manche hatten sich besoffen, die Offiziere ignorierten dies im allgemeinen. Dann marschierten wir, von wenigen Menschen begleitet, durch die sternenlose Nacht an einem Teich vorbei, der matt schimmerte, zum Bahnhof.

 

Montag, den 3. August 1914.

Um Mitternacht stiegen wir in den Militärzug, die Waggons sahen in dieser umwölkten Nacht schwarz aus, und als wir sie bestiegen, erinnerte ich mich, daß ich bisher noch nie im Innern eines Lastwagens gewesen bin. »Für 40 Männer oder 6 Pferde«, stand draußen auf dem Waggon, 33 Mann nahmen darin Platz, und unser Raum war knapp genug bemessen. Durch die Längsmitte liefen zwei Bänke mit gemeinsamer Rückenlehne, an den beiden Längswänden war je eine Bank, nur die Mitte des Waggons war zum Ein- und Aussteigen freigelassen. Wir legten Gewehre, Tornister und Brotsack unter die Bank und schlossen die Augen. Ich saß in einer Ecke, an meinen hilfsbereiten Waffenübungskameraden Wenzel Marek, Kanalarbeiter aus Pisek, gelehnt und versuchte einzuschlafen. Aber wir drückten einander zu sehr, jede Bewegung des einen störte den anderen. Deshalb betteten wir uns auf die Erde zwischen die Mittelwand und die Bank an der Wand. Es war nicht leicht, denn auch die Erde war von Menschen vollkommen belegt. Die Tornister waren durch ihre Schwere wie in die Erde eingerammt und in der Dunkelheit und räumlichen Beschränktheit nicht von der Stelle zu schieben, – so mußte man den Rumpf und die Beine in die vorhandenen Lücken pressen. Aber man schlief in dieser Stellung eines Schlangenmenschen immerhin ein. Durch kleine vergitterte Fenster hoch oben im Waggon, die den Luken eines Polizeiwagens ähneln, schauten einige Piseker in die Lichter, die in einigen Fenstern der Stadt brannten. Sie versuchten sich zu orientieren und fragten einander trübselig, was wohl dieser oder jener Bürger, dieses oder jenes Mädchen eben machen mögen. Früh um 7 Uhr hielt der Zug in Tabor. Dort wurden Reminiszenzen anderer Natur laut. Im Vorjahre hatten wir hier im Kaisermanöver friedlich gekämpft, viele – darunter auch ich – in der Überzeugung, daß sie zum letzten Male Bajonett und Tornister trügen. Und Kommandant war der Erzherzog Franz Ferdinand gewesen. Nun schliefen wir nicht mehr. Wir kamen an Wohnungen vorüber, an Wächterhäuschen und an Dorfbahnhöfen, an Bahnschranken, Feldern; überall standen Leute am Bahndamm und segneten den Zug, Weiber rangen die Hände und schrien vor Leid. An manchen Stellen standen Frauen von Reservisten, sie waren herbeigekommen und hatten stundenlang den Zug erwartet (wann er kommen werde, konnte ja niemand wissen) nur um ihren vorbeifahrenden Männern ein Wort der Liebe zurufen zu können. Um 9 Uhr fand in Wessely-Mezimosti die Kaffeeverteilung statt. Der Kaffee war auf den flachen, ungedeckten Waggons gekocht worden, auf denen je drei Fahrküchen die ganze Nacht hindurch gedampft hatten, – kleine Lokomotiven mitten im Eisenbahnzug. Ich verzichtete auf den elenden Komißkaffee und wollte mir im Bahnhofsrestaurant einen besseren kaufen. Aber der Schanktisch war voll von Soldaten, die Semmeln erstehen wollten, so daß ich nüchternen Magens den Zug wieder besteigen mußte. Doch in Wittingau wurde Station gemacht. Dort erzählten uns die Leute, daß Rußland auf die befristete Anfrage über den Zweck der russischen Rüstungen mit der Kriegserklärung geantwortet habe. Die Soldaten sind sich im allgemeinen der Tragweite dieser Mitteilung nicht bewußt, die nicht viel anderes zu bedeuten scheint, als einen großen europäischen Krieg.

Um halb 10 Uhr waren wir in Chlumetz. Auf dem Bahnhof stand der kleine Herzog Max von Hohenberg mit der jüngsten Schwester seiner Mutter, der Gräfin Henriette Chotek und einem jungen Geistlichen. Der eben doppelt verwaiste Junge trug Trauerkleider, ebenso wie seine Tante. Er sah aus, als ob er seinem Vater, dem Erzherzog Franz Ferdinand, aus dem Gesicht geschnitten wäre. Der Prinz war aus dem Schlosse Chlumetz herbeigekommen, um den Generalmajor Prziborski, einen Freund des erzherzoglichen Hauses bei der erwarteten Durchfahrt der 21. Landwehrdivision zu begrüßen. Da diese nicht kam, betrachtete er mit Interesse die aussteigenden Truppen unseres Regiments und freute sich, daß man ihn umstand. Dann bestieg er das Auto, das – man kann dies als symbolisch bezeichnen – der Geistliche lenkte. Die Offiziere und einige Soldaten riefen Hoch, und der Bub dankte den Truppen, die auszogen, um den Mord an seinen Eltern zu rächen, im Wegfahren in begeistertem Schwenken seiner Matrosenmütze.

Bei der Station Erdweiß verließen wir auch Böhmen und waren um halb 12 Uhr in Gmünd. Da nur den Offizieren der Besuch des Bahnhofsrestaurants gestattet war, versuchte ich zum ersten Male die Menage zu essen – ohne Erfolg. In Sigmundherberg hörten wir von der Ermordung Poincarés und von den ersten Kämpfen an der russischen Grenze.

In Eggenburg wurden wir fabelhaft bewirtet. Das Damenkomitee des Roten Kreuzes brachte Zigaretten, Marillen, Bier, Liköre und verteilten alles an Offiziere und Mannschaften.

Bei Tulln wurde die Donau passiert, und einige Infanteristen beugten sich aus dem Fenster, um zu sehen, wo – Belgrad liege. Mir wurde elendiglich schlecht. Mein zimperlicher Magen, das unregelmäßige Stoßen und Rattern des Lastzuges, eine Erkältung, die ich mir früh beim Waschen des Oberkörpers auf dem morgenkalten Bahnhofe zugezogen hatte, die Unmöglichkeit, die Wäsche zu wechseln und die anderen Unbequemlichkeiten dieser Art waren der Anlaß, daß ich unter furchtbaren Kopfschmerzen erbrach, und meine Kameraden schüttelreimten: »Ihr werdet ihn noch sterben sehen, bevor wir vor den Serben stehen.«

 

Dienstag, den 4. August 1914.

Es ist 6 Uhr früh, und wir sind im Wiener Ostbahnhof. Dreißig Stunden haben wir zur Fahrt von Pisek nach Wien gebraucht. Wir fahren durch Floridsdorf, rechts und links lacht auf allen Bäumen die Blütenmenge des August. Kleine Bauernhäuser nehmen sich seltsam aus, angesichts der riesigen Gasanstalten, Schlote, Kuppeln und Türme im Hintergrunde. Wir fahren über Brücken, vor denen graubärtige Landstürmer mit Aufschlägen der Deutschmeister Wache halten. Sie haben Werndlgewehre mit dem langen Bajonett und winken uns mit den Mützen zu. Um halb 10 Uhr waren wir in Preßburg, wo Menage eingenommen wurde. Im Schaufenster der Bahnhofsbuchhandlung, in der wir ein serbisch-deutsches Konversationsbüchlein kauften, sahen wir den »Mädchenhirt«. Auch Zeitungen wurden gekauft, in denen wir den Beginn des deutsch-französischen Krieges und von der Besetzung Czenstochaus und Kalisch's durch die Deutschen lasen. Vielzuschöne Mädels schenkten uns in allen Stationen Zigaretten und Schnaps, brachten uns Feldpostkarten in die Bahn. In Nagy Maros brachten uns schöne Jüdinnen (Sommerfrischlerinnen) Blumen, Zigaretten und Obst auf die Bahn und sandten uns Küsse nach, in Waizen besorgten Boy-Scouts unsere Bewirtung, kurz die Fahrt durch Ungarn glich einer via triumphalis. Diese Pränumerandozahlung stimmte mich trüber als die Tränen der Zurückbleibenden in Böhmen. Wird man uns verhöhnen, umjubeln oder bedauern, wenn wir zurückfahren, oder werden wir nicht mehr zurückkehren? Um 9 Uhr waren wir in Budapest, kauften dort etwas Salami und tranken Bier. Gegen halb 11 Uhr fuhren wir weiter.

 

Mittwoch, den 5. August 1914.

In der Nacht fuhren wir an Moorlandschaften, in denen sich der Mond spiegelte, vorüber. Die Bussole belehrte uns, daß unsere Fahrtrichtung die südliche ist. Also, es steht fest: Wir ziehen gegen Serbien. Kukuruzkolben, Tabakstauden und Hopfenranken standen rechts und links von uns. Der ehemalige (degradierte) Korporal Valta, ein Prager Strizzi, sang Bänkel, ein Vorreiter unseres Trains, im Zivilverhältnis Zirkusartist, produzierte sich in unserem Waggon als Feuerfresser und Entfesselungskünstler, aus einem Tränkeimer holte er mit dem Munde einige 20 Hellerstücke hervor. In Tomboracs, irgendeinem Orte in Südungarn, bekamen wir um halb 1 Uhr nachmittags Menage. In Csasvar-Masor trafen wir einen Zug mit Kadettenschülern aus Temesvar, dann Züge mit Eisenmaterial, mit Kanonen, mit Munition. Diese kriegsgemäßen Transporte schoben sich zwischen uns und eine Landschaft von biblischem Frieden und herrlicher Fülle. Die Sonne leuchtete über die sanften Höhen, die Sonne leuchtete über die grünen Rübenblätter und roten Mohnblüten, die Sonne leuchtete über das reife Obst und über die Weinranken an den Bäumen, die Sonne leuchtete. Wird die Sonne jedoch so leuchten, wenn wir marschieren werden, so trifft uns alle der Hitzschlag. Man fühlt nicht mehr, daß man schon drei Tage im Zuge ist, man ist schon immunisiert gegen das Rattern, die Leute haben die Zeltblätter von Fenster zu Fenster gespannt und liegen darin, wie in Hängematten, die Taschentücher müssen den Dienst von Moskitonetzen versehen, denn die Gelsen haben keinen von uns mit ihren Stichen verschont. Niemand denkt mehr an die Wollust des Bettes daheim. In Hidas-Bonyhad wurden wir zu unserer Überraschung von Deutschen mit Wein bewirtet. Es waren Bewohner der deutschen Sprachinsel »Dolnaer Hütte«. Ein Riesentunnel folgte mit Lärm und Rauch, und Ruß flog den Leuten in die Augen. In den Stationen überall deutsche Bauern und Bäuerinnen. Sie sprechen bayerische Mundart und haben schwäbische Namen, tragen schwarze Stickereien von kostbarer Schönheit. Keine von den Frauen, die auf Hunderten von Meilen in Häuschen in den Bergen verstreut wohnen, spricht ein Wort ungarisch. In Moragy erzählte man uns von Spionage- und Vergiftungsversuchen. Auf allen Waggons der Truppentransporte sind gekritzelte Aufschriften zu lesen: »Es lebe das 28. Landwehrregiment«, »Hoch die Prager Sanitätssoldaten«, »Drum san mer Landsleut, Leitmeritzer Buben« usw. In Bahaszuk menagierten wir und hörten vom Stationsvorstand, daß ein russisches Luftschiff mit zwei Offizieren gestern heruntergeschossen und die Piloten gefangengenommen worden seien. In Baja (dem alten Bajae) trafen wir mit unserem dritten Bataillon zusammen.

 

Donnerstag, den 6. August 1914.

An einem Zaun, an dem sich die Ranken des Lebensbaumes emporstreckten, sah ich, als der Zug abends im Freien hielt, einen Jungen, mit dem ich mich in ein Gespräch einließ. Er stand schon die zweite Nacht draußen und sah den Militärzügen nach. Er hieß Volkmann Josef, sprach nicht ungarisch, aber versteht es und kann es lesen, denn er hat es in der Schule gelernt. Aber deutsch kann er nicht lesen, obwohl er ein Deutscher ist, denn er hat es in der Schule nicht gelernt.

Um 8 Uhr früh fuhren wir über die stark bewachte Donaubrücke. Im Wasser standen bizarre Bäume und seltsame Inselformationen. Alles ist hier Inundationsgebiet. Die Leute am Ufer trugen serbische Trachten und riefen uns in serbischer Sprache Segenswünsche auf den Weg nach. Die Brücke mündet in Erdut, alles ist bereits doppelsprachig: ungarisch und kroatisch. In Dalj ließen sich alle Soldaten auf der automatischen Wage, die am Perron stand, wiegen. Ich wog 74 kg ohne Rüstung. Die Leute schrieben hier Ansichtskarten. Man darf nicht schreiben, wo man ist und wohin man fährt. Man darf nur schreiben: »Mir geht es gut, was macht Mariechen?« Und auch das nur auf offenen Karten. Aber alle Infanteristen hielten die Hände über ihr Gekritzel, damit niemand erfahre, was sie ihrem Mädel für wichtige Geheimnisse mitteilen. England soll an Deutschland den Krieg erklärt haben, Japan an Rußland – wer weiß, ob's wahr ist. In Neu-Dalj, einer Militärstation 2 km von uns entfernt, sind gestern um 6 Uhr früh durch einen Zugszusammenstoß zwei Militärzüge entgleist. 16 Tote und 47 furchtbar Verletzte vom 62. Infanterieregiment aus Ungarn. Wir sahen auf der Weiterfahrt die Unglücksstätte, schrecklich zertrümmerte Waggons, die Puffer verbogen wie altes Blech, die Räder aufwärtsgestreckt wie die Beine eines verreckten Hundes, die Wände sind Spähne geworden. Durch diese Katastrophe wird sich unser Aufmarsch um mindestens zwei Tage verzögern. Bajaer deutsche Schnitter, die auf der Puszta Slavoniens Erntedienste verrichtet hatten, sahen wir auf dem Bahnhofe und bosnische Reservisten, manche mit österreichischen Militärmedaillen, die Landsturmpflichtigen sahen wie Greise aus, obwohl sie höchstens 40 Jahre alt waren. Die Hitze ist so stark, während unserer Fahrt durch die unendlichen Maisfelder Slavoniens, daß einige Ohnmachtsanfälle vorkamen und schwere Befürchtungen laut werden. Um halb 7 Uhr fallen – ein einstimmiges Gottseidank begrüßt sie – große Regentropfen in die Waggons. Aber in Borovo an der Donau hört es leider wieder zu regnen auf. Um 7 Uhr abends stiegen wir in Vinkovce mit umgehängter Rüstung aus. Dann wurden wir wieder einwaggoniert und fuhren bis Zupanye, wo wir um 10 Uhr abend ankamen. Nach einigen Kontrollen u. drgl. marschierten wir 6 km bis zum Ufer der Save, wo wir uns bei Orasze niederlegten. Der Durst klebte unsere Zunge an den Gaumen, wir wankten auf dem Marsche unter der Tornisterlast, da wir nichts gegessen hatten und vier Tage durchgeschüttelt worden waren. Am Ufer rollten wir uns in unsere Zeltblätter ein und legten uns auf den feuchten Wiesen schlafen. Gegen 2 Uhr wurden wir geweckt und froren wie die Spatzen. Alle zogen sich Westen an und Leibbinden. Wir bestiegen drei Lastschiffe der Donau-Dampfschiffahrtsgesellschaft, in denen – wie Heringe eingepfercht – zweitausend Mann Unterkunft fanden. Die drei Schiffe wurden von einem Remorqueur ins Schlepptau genommen und die Save aufwärtsgezogen. An Bord wurde ein Soldat ohnmächtig, ein anderer von religiösem Wahnsinn befallen.

 

Freitag, den 7. August 1914.

Gegen halb 11 Uhr früh wurden wir voll Kohlenstaub und Dreck in Jamena ausgeschifft. Wir marschierten. Die Sonne brannte wie irrsinnig, von unseren Gesichtern floß es in Bächen, unsere Hosenträger waren naß zum Auswinden, meine Unterhosen hatten sich schon vorher in der Hitze an die Haut geklebt und waren so beim Aufsteigen und Aussteigen während der Eisenbahnfahrt zerrissen worden, so daß jetzt meine Haut an der Tuchhose klebte, was zum Schreien wehtat, die Strümpfe drückten, und ich spürte blutige Fußblasen. Halbtot machten wir im Dorfe Oberska nach 8 km Rast, wo es wenigstens Wasser gab. Um dreiviertel 8 Uhr abends kamen wir, an einem seltsamen, orthodoxen Kirchhofe vorbei, dessen Kreuze wie Scheiben zum Vogelschießen aussahen, nach Bjelina. Wir hatten ein Nest erwartet und fanden eine Stadt mit allen Merkmalen des Orientalischen und doch auch mit vielen modernen Bauten; und inmitten der Menge verschleierter Frauen und der kleinen Mädchen in Pluderhosen und der weißbärtigen Türken, inmitten des Blumengarten von roten, grünen, weißen und blauen Fezen und Turbanen sah man elegante Dragoneroffiziere, Automobile, Generäle usw. Ein bißchen ähnlich ist es voriges Jahr im albanischen Skutari bei der Übergabe an die Mächte zugegangen, aber diese ungeheueren Massen von Militär, von solchem Militär, das mit der orientalischen Umgebung durchaus kontrastierte, hatte es dort nicht gegeben. Wir wurden in eine Scheuer einquartiert und durften dann durch die Stadt schlendern. Das Rathaus ist jetzt vom Kommando des 8. Korps okkupiert. Bei einem Kaufmann trank ich um einen Kreuzer Kukuruzbier und aß Sultansbrot, – bisher hatte ich geglaubt, daß diesen Schmarren der Gauner Duko Petkovic eigens für die Märkte der Großstädte erfunden habe. Auf dem Marktplatz steht ein Galgen, ein Pflock mit einem Nagel oben. Heute sind ein Pope und ein Student gehängt worden. In der Nacht hörten wir Schießen, es gibt schon Vorpostengeplänkel.

 

Samstag, den 8. August 1914.

Vormittags fand das Begräbnis eines 73ers statt, der gestern nachts auf Feldwache erschossen worden ist. Um 4 Uhr nachmittags hörte ich das Gebet des Muezzins. Im gelben Gebetmantel sang er eine Kol Nidre-Melodie, rings um den Balkon des filigranen Moscheeturmes schreitend. Ich ließ mich von dem Manne auf dem Kampanile nicht zweimal einladen und begab mich sofort zum Gottesdienste in die Moschee. Dort sprach der Hodscha kroatisch darüber, daß die moslemitischen Soldaten im Kriege nicht fasten müssen. Der Raum war ein Quadrat mit Teppichen bedeckt. Die Moslim hielten die Hände zum Gebet ausgebreitet und bewegten rhythmisch ihren Körper. Im Café erfuhren wir von zeitunglesenden Männern, spaniolischen Juden, daß England wirklich den Krieg an Deutschland erklärt habe. Sie teilten uns auch mit, daß die Nachrichten von der Ermordung Poincarés und von der Erstürmung des Lovcen nicht richtig seien. In einem Wagen fuhr eine verwundete Serbin vorüber. Sie hatte angeblich einen Brunnen vergiftet und war dabei ertappt worden; als sie flüchtete, sandte man ihr einen Schuß nach. Ein Serbe wurde mittels Automobil ins Korpskommando eingeliefert. Er hatte die Uniform eines Infanteristen unserer bosnischen Regimenter angelegt. Der Junge – es soll ein serbischer Offizier sein – hatte die Augen verbunden. In seinem Gesichte war kein Fältchen von Besorgnis oder gar Angst zu sehen, obwohl ihm der Tod von Henkershand gewiß ist. Den gleichen entschlossenen, gleichmütigen Eindruck mußte ich von einem Komitatschi gewinnen, der in seiner tiaraartigen, schwarzen Fellmütze mit Handschellen in das Gendarmeriekommando abgeliefert wurde. Leicht wird der Kampf nicht sein gegen diese zum Tode entschlossene Welt!

Man glaubt auf der Prager Grabenpromenade zu sein. Im Korpskommandogebäude und im Hotel sah man fast alle Mitglieder des böhmischen Adels: Lobkowitz, Schönborn, Thun, Windischgrätz, Schwarzenberg, Lažansky, Kolowrat, Ringhoffer.

 

Sonntag, den 9. August 1914.

Das Regiment marschierte etwa 4 km zu einem freien Platze, wo eine Feldmesse abgehalten wurde. Der Divisionspfarrer hielt eine Predigt, in der er mitteilte, daß Papst Pius X. den Soldaten einen Ablaß von allen ihren Sünden gespendet habe. Dann wurde »zum Gebet« geblasen. Unsere Kompagnie bezog mittags den Wachtdienst. Im Militärlager, wohin wir zunächst abmarschierten, erzählten uns die Dragoner und die dort in den Baracken untergebrachten Prager Landsleute des 28. Infanterieregiments von den Verwundeten, die früh von den Feldwachen in das Spital gebracht worden waren, darunter einer unserer Infanteristen, der elf Maschinengewehrschüsse im Leibe hatte und von einem Zugsführer, der zweimal in den Kopf getroffen worden war. Gerade werden fünf Weiber vorbeigeführt, bei denen Anilin vorgefunden wurde. Man beschuldigt sie, daß sie damit Obst vergiften wollten, aber sie erklären, den Farbstoff zum Färben der Wolle zu benötigen. Die Militärbehörden sind unendlich mißtrauisch, denn die ganze Bevölkerung ist hier serbophil gesinnt. Mit Serbien verbindet sie die Sprache und die gemeinsame Religion, der sie fromm angehören, und deren Autonomie Gelegenheit irredentistischer Politik gab, drüben, jenseits von Save und Drina sitzen die Kirchenfürsten, aus Belgrad und Schabatz kommen alle Bücher und alle Zeitungen. Auf der Stationswache sind die Spionageverdächtigen. Ich schaute in die Arreste. In der ersten Zelle stand der junge serbische Offizier in der Bosniakenuniform, den man gestern im Auto ins Korpskommando gebracht hatte. In der nächsten Zelle waren drei zerlumpte Burschen, Ziegenhirten und Spione. Im dritten Raume war ein dunkelfarbiger Mann untergebracht, der die Uniform eines österreichischen Feuerwerkers trug. In der vierten Zelle lag auf einer Pritsche ein Mann mit langem pechschwarzen Prophetenhaar und Christusbart. Seine Augen funkelten auf, als sich der Deckel über dem Guckloch bewegte, und ich sah, daß sie schwarz, feurig und intelligent waren. Es dürfte ein Pope sein. Ich schaute ihn noch in der Nacht an: er ging schlaflos in seiner Zelle auf und ab, während alle anderen schliefen. Der Feuerwerker ist angeblich von der Behörde gesucht worden, da sich bei der Untersuchung des Sarajevoer Doppelmordes herausgestellt haben soll, daß er ein Mitwisser gewesen sei; er war nicht zu finden, erst jetzt habe man ihn bei seinem Artillerieregiment entdeckt, wohin er bei der Mobilisierung als Reservist in der Hoffnung eingerückt war, dort nicht eruiert zu werden. In der letzten Zelle waren etwa zwölf Čužen (so nennen wir die Landleute) darunter ein ganz alter mit weißem Vollbart, schwarzer Lammfellmütze und roten Strümpfen; auch er soll ein Anhänger des Sarajevoer Princips gewesen sein. Im oberen Stockwerke sind die Geiseln. Es sind Honoratioren aus österreichischen Landstrichen, wo Hinterhältigkeiten gegen das Militär vorkamen. Sobald sie sich wiederholen sollten, werden die Geiseln hingerichtet, – die einzigen, die an diesen Feindseligkeiten nicht direkt beteiligt sein können, weil sie eben in Präventivhaft sind. Das riecht noch stark nach Mittelalter. Die zwölf Geiseln sind teils Popen, teils europäisch angezogene und europäisch aussehende Männer, die sich früh wuschen und die Zähne putzten. Aus ihrem Fenster können sie alles beobachten, was im Militärlager vorgeht, und wenn sie wirklich serbische Spione sind, so können sie sich nicht beklagen: man macht ihnen die Recherchen leicht. Am Abend hatte ich vom Lagerkommando die Meldung, daß in der Nacht Bäume im Militärlager gesprengt werden würden, um Plätze zur Landung von Militärballonen zu schaffen, an die Regimentskommanden von 11 und 73 und an den Divisionär Scheuchenstuel zu bringen, damit die Truppen durch die Detonationen nicht alarmiert werden mögen. Der Exzellenzherr trug mir auf, die Meldung auch in seiner Divisionskanzlei auszurichten. Auf dem Korridor hielt mich dort ein Ordonanz an. Was ich wolle? Wir erkannten einander: Es war ein Herr Stohl, dessen Schwestern die Pionierinnen des Hosenrocks und des Tango in Prag gewesen waren. Wir sprachen von besseren Zeiten, dann trat ich in die Divisionskanzlei ein. Der Oberleutnant darin ließ sich im Schreiben nicht stören, dann gab er mir ein Zeichen zu sprechen. Ich begann meine Meldung, als er aufsprang: »Wie heißen Sie?« Nun wiederholte sich die Erkennungsszene, die sich eben vor seiner Tür abgespielt hatte. Es war ein Oberleutnant Dr. von Schönfeld, mit dem ich viel verkehrt hatte. Schönfeld war eben aus der Kriegsschule zum Generalstabe ausgemustert worden. Er erinnerte sich, daß er mich schon einmal vor zwei Jahren in meiner schäbigen Uniform als Komißkorporal mit zwei hocheleganten Damen auf dem Graben gesehen hatte. »Der Bruder der zwei hocheleganten Damen ist Ihre Ordonanz, Herr Oberleutnant.« – »Wer? Der Stohl?« Und schon rief er den Stohl herein, erinnerte sich an ihn aus Prag, und wir unterhielten uns, Generalstäbler, Unteroffizier und Ordonanz in kollegialer Gleichheit.

 

Montag, den 10. August 1914.

Nachts führte ich meinen Schwarm auf Patrouille in die Umgebung des Militärmagazins und besetzte dann die Posten in dessen Innenräumen. Meine Leute hatten Automobile, Benzinlager und Stallungen zu bewachen. Die ganze Nacht war Kanonendonner zu hören, früh ratterten Äroplane durch den Äther und auch einen Meteor sah ich fallen. Eben habe ich die ersten Leichen dieses Krieges gesehen. In der Totenkammer des Militärlagers lagen zwei auf Brettern. Einer in Infanteristenuniform des 73. Regiments, der andere nackt, beide blutüberströmt, von Projektilen durchlöchert, die Hände gefaltet, beide von unheimlichem Gelb und von Myriaden von Fliegen umschwärmt. Ich habe einige Feldpostkarten gelesen, die meine Leute nach Hause schrieben. Mich interessierte es, weil man ja nichts Meritorisches mitteilen darf. Einer schrieb seiner Braut: »Ich ergreife den Bleistift und das Papier, um an Dich einige Zeilen zu richten. Dein inniger Gottlieb.« Ein anderer: »Liebe Eltern! Mir geht es gut, Obst habe ich genug gegessen, besonders Zwetschken, herzliche Grüße von Euerem Franz.« Andere Karten, auf denen die Absender schon von blutigen Gefechten, überstandenen Gefahren und vollbrachten Heldenstückchen faseln, werden wohl nie ihr Ziel erreichen, denn die Zensur ist streng. Ich wollte mir ein Freudenhaus ansehen, in der Erwartung, es werde irgendeinen orientalischen Charakter haben. Statt eines Harems fand ich aber die beiden tolerierten Häuser in der Račanska ulica nur als typische Bordelle von Militärlagern vor. Sie waren darum nicht minder interessant. Der Preis für einen Zimmerbesuch beträgt eine Krone und darf – Anordnung des Militärkommandos! – nicht erhöht werden. Die meisten der Frauen saßen gerade an einer langen Tafel unter einem Taubenschlage im Hofe und stärkten sich mit einem Abendessen. Die Soldaten standen zu Hunderten begierig vor den Zimmern auf den Korridoren und im Flur bis auf die Straße hinaus und unterhielten sich durch entsprechende Gespräche oder versuchten durch die Schlüssellöcher zu sehen. Die Dirnen waren fast durchwegs Magyarinnen, nur wenige hübsche Kroatinnen waren darunter. Der Kuppler saß schwarzbärtig und strenge hinter dem Büffet, um seinen Arm schlang sich die Binde des Roten Kreuzes . . . Einige 73er von der 1. Kompagnie erzählten mir, sie hätten gestern in der Nähe des Franz-Josef-Feldes einen Zehnerjäger gefunden, dessen Kopf abgehackt und 30 Meter fortgeworfen worden war, beide Arme seien abgetrennt und von den Unterschenkeln die Haut abgezogen worden. Es habe den Eindruck gemacht, als sei er bei lebendigem Leibe geschunden worden. Wenn die Geschichte wahr ist, woran ich zweifle, so haben die Serben den armen Kerl nicht aus Lust an der Bestialität geschändet, sondern um unseren Soldaten vor den ersten Gefechten Entsetzen und Angst einzuflößen.

 


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