Rudyard Kipling
Indische Erzählungen
Rudyard Kipling

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Die beiden Uhren.

Die Sache begann wie ein lustiger Spaß, doch sie ist weit genug gegangen und wird jetzt ernsthaft.

Der Subalternoffizier Platte besaß, da er arm war, nur eine Waterbury-Uhr, die an einem dünnen Lederriemen befestigt war.

Der Oberst besaß auch eine Waterbury-Uhr und als Schnur eine Kinnkette. Solche Lederstreifen sind die besten Uhrketten, denn sie sind stark und kurz. Zwischen einem Kinnkettenriemen und einem gewöhnlichen Lederriemen besteht kein großer Unterschied; zwischen einer Waterbury-Uhr und einer andern gar keiner. Jedermann in der Station kannte den Lederstreifen des Obersten. Er war kein besonderer Reitersmann, redete den Leuten aber gern ein, er wäre einmal einer gewesen, und gab phantastische Geschichten von dem Zaumzeug zum Besten, zu dem dieses Lederstreifchen gehört hatte. Außerdem war er ungeheuer fromm.

Platte und der Oberst zogen sich im Club an, beide sehr spät für ihre Absichten, und beide sehr eilig. Das war »Kismet«. Die beiden Uhren lagen auf einem Sims unter dem Spiegel, und zwar mit herunterhängenden Ketten. Das war eine Unvorsichtigkeit. Platte, der sich zuerst umgezogen hatte, ergriff eine Uhr, sah sich in den Spiegel, legte seine Kravatte um und rannte fort. Vierzig Sekunden später that der Oberst genau dasselbe; jeder nahm des andern Uhr. Der Leser hat wohl schon beachtet, daß viele religiösen Leute sehr abergläubisch sind. Sie scheinen – natürlich zu rein religiösen Zwecken – von der Sünde mehr zu wissen, als die Nichtfrommen. Vielleicht waren sie auch ganz besonders schlimm, bevor sie sich bekehrten! Jedenfalls darf man annehmen, daß ein gewisser Typus frommer Leute in der Zumutung böser Dinge und in der Auslegung unschuldiger Thatsachen alle andern übertrifft. Zu diesen Leuten gehörte der Oberst und seine Frau. Doch die Frau war noch schlimmer als er. Sie entwickelte den Skandal auf der Station; mehr braucht man nicht zu sagen. Die Frau des Obersten vernichtete das häusliche Glück der Laplace. Die Frau des Obersten machte die Verlobung der Ferris-Haughtrey zu nichte. Die Frau des Obersten veranlaßte den jungen Buxton, seine Gattin im ersten Jahr ihrer Ehe in der Ebene zu lassen, worauf die kleine Mistreß Buxton starb, und das Kind mit ihr. So etwas wird der Frau Oberst zum Vorwurf gemacht werden, so lange ein Regiment im Lande steht.

Doch kommen wir zu dem Obersten und Platte zurück. Ein jeder ging aus dem Toilettenzimmer seines eigenen Weges. Der Oberst speiste mit zwei Kaplanen, während Platte zu einem Junggesellendiner ging, auf welches ein Whist folgen sollte.

Man merke wohl, wie manche Dinge sich ereignen. Hätte Plattes Reitknecht der Stute den neuen Sattelpolster aufgelegt, so hätte der Druck der metallenen Teile nicht durch das abgearbeitete Leder und das alte Polster auf die Weichen der Stute gewirkt, als sie um zwei Uhr morgens nach Hause galoppierte. Sie hätte nicht gebockt, sich nicht gebäumt, wäre nicht in einen Graben gefallen, hätte den Wagen nicht umgeworfen, und Platte wäre nicht über eine Aloehecke auf den wohlgepflegten Rasenplatz der Mistreß Larkyn gefallen; auch diese Geschichte wäre dann ungeschrieben geblieben. Doch die Stute that dies alles, und während Platte wie ein angeschossenes Kaninchen über den Rasenplatz rollte, flog die Uhr und der Riemen aus seiner Weste – wie der Säbel eines Infanteriemajors aus der Scheide fliegt, wenn zum »Salut« geschossen wird –, und rollte im Mondschein dahin, bis sie vor einem Fenster liegen blieb.

Platte stopfte sein Taschentuch unter das Polster, stellte den Wagen auf und fuhr nach Hause:

Nun merke man wieder, wie »Kismet« wirkt. So etwas ereignet sich in 100 Jahren ein einziges Mal! Gegen Ende des Diners mit den beiden Kaplanen knöpfte der Oberst seine Weste auf und lehnte sich über den Tisch, um einige Missionsberichte nachzusehen. Der Haken des Uhrriemens glitt aus dem Knopfloch, und die Uhr – Plattes Uhr – fiel leise auf den Teppich. Dort fand sie am nächsten Morgen der Diener und behielt sie.

Dann kehrte der Oberst zu dem »Weibe seines Herzens« heim, doch der Kutscher war betrunken und verlor den Weg. So kam der Oberst zu einer ungewöhnlichen Stunde nach Hause, und seine Entschuldigungen wurden nicht angenommen. Wäre die Frau Oberst ein gewöhnliches »der Zerstörung geweihtes Rachegefäß« gewesen, so hätte sie gewußt, daß, wenn ein Mann absichtlich fortbleibt, seine Entschuldigung stets richtig und originell ist. Die öde Erklärung des Obersten bewies die Wahrheit dieser Behauptung.

Nun sehe man wieder einmal, wie »Kismet« wirkt! Des Obersten Uhr, die mit Platte auf Mistreß Larkyns Rasenplatz gefallen war, blieb gerade unter Mistreß Larkyns Fenster liegen, wo sie sie frühmorgens erblickte, erkannte und aufhob. Sie hatte um zwei Uhr morgens den Krach von Plattes Wagen und seine Stimme gehört, die auf das Pferd schimpfte. Sie kannte Platte und konnte ihn gut leiden. An diesem Tage zeigte sie ihm die Uhr und hörte seine Geschichte an. Er wiegte den Kopf nach einer Seite und sagte augenblinzelnd:

»Wie unangenehm! Ein gräßlicher alter Mann! Und dabei noch sein religiöses Gehabe! Ich sollte die Uhr an die Frau Oberst schicken und Erklärungen verlangen.«

Mistreß Larkyn dachte eine Minute an die Laplaces – die sie gekannt hatte, als Laplace und seine Frau noch im Einverständnis lebten – und erwiderte:

»Ich werde sie abschicken; ich glaube, das wird ihr gut bekommen. Doch vergessen Sie nicht, wir dürfen ihr nie die Wahrheit sagen.«

Platte glaubte, seine eigene Uhr wäre in des Obersten Besitz und dachte, daß die Rückgabe der Waterbury-Uhr mit dem Lederriemchen mit einem freundlichen Billet von Mistreß Larkyn nur für wenige Minuten eine kleine Unannehmlichkeit zur Folge haben würde. Doch Mistreß Larkyn wußte es besser. Sie wußte, daß jeder Tropfen Gift, den man in das Herz der Frau Oberst träufelte, auf guten Grund und Boden fiel.

Das kleine Paket sowie das Billet, das einige Bemerkungen über des Obersten Besuchszeit enthielt, wurden an die Frau Oberst geschickt, die in ihrem Zimmer weinte und mit sich selbst zu Rate ging.

Wenn es eine Frau auf Erden gab, die die Frau Oberst mit Inbrunst haßte, so war es Mistreß Larkyn. Mistreß Larkyn war eine »frivole« Dame, die die Frau Oberst eine »alte Katze« nannte. Die Frau Oberst wieder meinte, Mistreß Larkyn hätte mit jemand aus der Bibel Ähnlichkeit. Sie erwähnte auch noch andere Leute aus der heiligen Schrift, und zwar aus dem alten Testament. (Die Frau Oberst war nämlich die einzige Person, die es wagte, etwas gegen Mistreß Larkyn zu sagen. Jeder andere hielt sie für ein amüsantes, rechtschaffenes kleines Frauchen.) Und nun mußte sie glauben, daß ihr Mann unter dem Fenster »dieser Person« zu einer unglaublichen Tageszeit seine Uhr hatte fallen lassen, wozu sich noch die Thatsache seiner späten Rückkehr in der vorigen Nacht gesellte; das war ja . . .

Bei dieser Stelle stand sie auf und suchte ihren Mann, der bis auf den Besitz der Uhr alles leugnete. Sie beschwor ihn, er solle um seines Seelenheiles willen die Wahrheit sprechen. Er leugnete wieder und gebrauchte dabei zwei häßliche Schimpfworte. Die Frau Oberst bewahrte ein eisiges Schweigen und zwar so lange, daß ein Mann fünfmal Atem holen konnte.

Die Rede, welche folgte, geht weder mich, noch den Leser etwas an. Sie bestand aus weibischer und weiblicher Eifersucht, Erkenntnis des Alters und der eingefallenen Wangen, tiefem Mißtrauen, das aus dem Spruch entstanden war, daß »sogar die Herzen der kleinen Kinder so schlecht sind, wie sie sich selbst machen,« ingrimmigem Haß auf Mistreß Larkyn und den Glaubensgrundsätzen der Frau Oberst.

Immer und immer aber erschien die verdammte »Waterbury« mit dem Lederstreifchen, die in ihrer zitternden Hand tickte. In dieser Stunde, glaube ich, kam der Frau Oberst ein Stückchen des Verdachtes in den Sinn, den sie in des alten Laplaces Gemüt geträufelt, sie dachte an das Elend der armen Miß Hautrey und an den Schmerz, der Buxtons Herz zerriß, als er sein sterbendes Weib vor sich sah.

Der Oberst stotterte und versuchte, eine Erklärung zu geben. Dann erinnerte er sich, daß seine Uhr verschwunden war, und das Geheimnis wurde immer größer. Die Frau Oberst schwatzte und betete abwechselnd, bis sie endlich müde wurde und fortging, um nach Mitteln zu suchen, das »verstockte Herz ihres Gatten zu züchtigen,« was in unsere gewöhnliche Sprache übertragen soviel heißt, als: »Die Peitsche zu flechten.«

Man sieht, da sie sich zu sehr mit der Lehre der Erbsünde beschäftigt hatte, so konnte sie nach dem Schein nicht anders urteilen. Sie wußte zuviel und zog daraus die wildesten Schlüsse.

Doch das war gut für sie; es richtete ihr Leben zu Grunde, wie sie das Leben der Laplaces zu Grunde gerichtet hatte. Sie hatte ihr Vertrauen zu dem Obersten verloren und – hier trat ihr Frömmlermißtrauen in Thätigkeit – vermutete, er habe schon so manches Mal gefehlt, bevor eine »gütige Vorsehung« durch ein so unwürdiges Instrument wie Mistreß Larkyn seine Schuld enthüllt hatte. Er war ein »schlimmer, ruchloser, grauhaariger Wüstling«. Für eine lange Zeit verheiratete Frau mag dieser Umschwung etwas plötzlich erscheinen; doch es ist eine feststehende Thatsache: wenn ein Mann oder eine Frau Vergnügen daran findet, von Leuten, die ihm oder ihr gleichgiltig sind, böses zu glauben oder über sie zu verbreiten, sie schließlich auch von Leuten schlimmes glauben würden, die ihm oder ihr nahe stehen und teuer sind. Man mag vielleicht auch denken, daß der winzige Vorfall mit der Uhr doch zu klein und trivial war, um ein derartiges Mißverständnis entstehen zu lassen. Es ist eine andere uralte Thatsache, daß im Leben sowohl wie beim Pferderennen die schlimmsten Unfälle bei kleinen Gräben und niedrigen Hürden passieren. In derselben Weise kann man manchmal sehen, wie eine Frau, die zu einer andern Zeit und unter einem andern Klima eine Jeanne d'Arc geworden wäre, sich mit den alltäglichen Arbeiten des Hausstandes quält und plackt. Doch das ist eine andere Geschichte.

Ihr Glaube machte die Frau Oberst nur noch verzweifelter, weil er gar so stark an der Schurkerei der Männer festhielt. Mit Rücksicht auf das, was sie selbst gethan hatte, war es amüsant, ihr Unglück zu beobachten, sowie die unnützen Bemühungen, es vor der Station geheim zu halten. Doch die Station wußte es und lachte herzlich darüber; denn sie hatte die Geschichte der Uhr mit höchst dramatischen Gesten von Mistreß Larkyns eigenen Lippen gehört.

Ein- oder zweimal sagte Platte zu Mistreß Larkyn, als er sah, daß der Oberst die Sache nicht aufgeklärt hatte:

»Die Sache ist weit genug gegangen; ich bin dafür, wir sagen der Frau Oberst, wie alles zugegangen ist.«

Doch Mistreß Larkyn biß sich auf die Lippen, schüttelte den Kopf und erklärte, die Frau Oberst müsse ihre Strafe tragen, so gut sie es eben vermochte. Dabei war Mistreß Larkyn eine übermütige Frau, bei der niemand einen so tiefen Haß vermutet hätte. So that Platte denn nichts, und nach und nach schloß er aus des Obersten Stillschweigen, derselbe müßte doch wohl in jener Nacht vom rechten Wege abgewichen sein und ziehe es deshalb vor, die Strafe wegen des geringen Vergehens, zu ungehöriger Zeit andere Leute mit seinem Besuch überfallen zu haben, auf sich zu nehmen.

Nach einer Weile vergaß Platte die Uhrgeschichte vollständig und zog mit seinem Regiment in eine andere Garnison. Miß Larkyn aber kehrte nach England zurück, als ihres Mannes Dienstzeit in Indien beendet war. Sie aber vergaß nie.

Platte aber hatte ganz recht, als er sagte, der Spaß wäre zu weit gegangen. Das Mißtrauen und der tragische Konflikt – das wir Fernstehende nicht entdecken können, und an das wir nicht glauben – töten die Frau Oberst und bringen den Oberst zur Verzweiflung. Wenn einer der beiden diese Geschichte liest, so können sie dieselbe als einen wahrheitsgetreuen Bericht des Falles betrachten, sich einen »Kuß geben, und sich wieder versöhnen.«

 


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