Alexander Lange Kielland
Schnee
Alexander Lange Kielland

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel.

Daniel Jürges litt aber mehr durch diesen Schuppen und diese Kränkung, als irgend jemand ahnte.

Es widerstrebte seiner ganzen Natur, das Häßliche vor Augen zu haben. Seine Lebensanschauung war ideal, und die klassischen Studien hatten seinen Geist für alles Schöne und Gute empfänglich gemacht. Als Student war er der erste Lateiner gewesen und später im Studentenverein ein großer Redner und Gelegenheitsdichter. Er gehörte zu den wenigen Theologen, die an mancherlei Dingen teilnehmen können, ohne sich etwas zu vergeben und ohne Spaßverderber zu sein.

Die Familie Jürges war eine jener alten Beamtenfamilien, die seit Generationen das Land durchzogen von einem Amt zum andern, das Gesicht stets nach einem Ministerium gerichtet.

Ursprünglich war ihr Blut dänisch oder deutsch gewesen: und obgleich es so oft vermischt worden war, ruhte doch über einer Familie wie dieser ein Hauch jenes Fremdartigen, das einst als vornehm galt.

Dies Wanderleben voller Sehnsucht nach bessern Aemtern konnte den aufwachsenden Kindern keine Liebe zu ihrem derweiligen Heim einflößen, und das ganze Land erschien ihnen daher wie ein großes Ministerium im Freien, wo man allmählich mit wenig Mühe und vieler Geduld avancierte.

Durch die steten Umzüge und das Wechseln der Aemter, welche man in der Zeitung der Hauptstadt und im Staatskalender verfolgen mußte, entwickelte sich in den Beamtenfamilien eine ganz außerordentliche Personalkenntnis.

Die juridischen Beamten mußten auch die Beförderungen der Geistlichen und der Aerzte verfolgen: denn durch Heiraten und allerlei Beziehungen hingen sie alle zusammen bis zu den Bischöfen und Ministern, welche die Fäden hielten. Das Interesse für dies ganze Netz von Beamtentum nahm ihre meisten Gedanken in Anspruch, so daß sie weniger den Unterschied oder die Veränderung verspürten, welche mit dem Volke vorging, über welches es gesponnen war.

Etwas Spannendes hatte ein neues Amt auf dem Lande: man konnte den angenehmsten Verkehr finden sowohl für den Kartentisch wie für Ausflüge – ja gar Partieen für die Kinder; aber auch eine Gegend, wo man ganz auf sich angewiesen war. Die Bauern waren überall ungefähr dieselben.

Den Bauern kannten sie aber gründlich seit alter Zeit, sowohl seine Schlauheit vor Gericht, wie seine unglaubliche Unsauberkeit von Krankenbesuchen her; sie kannten ihn in seiner Unwissenheit und seinem Aberglauben wie in seinen Sonntagskleidern von Tidemands Gemälden. Er war eine Gattung für sich, keineswegs uninteressant – es verlohnte sich schon, den Bauern zu studieren. Aber dies durften nur diejenigen thun, die ihn kannten, die mit ihm »zusammen gelebt hatten«.

Als daher die Gedanken und die Wißbegierde der Zeit von Göttern und erhabenen Menschen sich wegwandten, um die Kleinen und Einfachen zu umfassen, und alle Welt den Bauern zu vergöttern begann – da erweckte dies gerechte Entrüstung bei den alten erfahrenen Beamtenfamilien. Diese Entrüstung teilte sich den Söhnen und Neffen, den Tanten und Wirtschafterinnen der Vettern mit, erfaßte alles, was auf Geschmack und Intelligenz Anspruch machte – bis auf die Zeitung der Hauptstadt.

Daniel Jürges ließ sich aber nicht mit fortreißen. Ein freimütiger Zug in seinem Charakter regte ihn dazu an, gegen die alt festgewurzelten Ansichten zu opponieren. Ihm gefiel die neue Auffassung des Volkes gut, und als Jüngling hieß auch er den Bauern in der Litteratur und der Gesellschaft willkommen.

Sein Vater erreichte es, Stiftspropst in Christiania zu werden, und Daniel hatte daher seine Studienzeit dort als ein Einheimischer verbracht. Als Sohn eines hochstehenden Geistlichen standen ihm alle Kreise offen, und er hatte die Wahl, sobald er heiraten wollte.

Die gefeiertste Schönheit des Winters wurde denn auch seine Braut.

Und jetzt stand er am Eingang zu einer ehrenvollen, gesegneten Laufbahn.

Er brauchte nur auf ein Anfängeramt in der Hauptstadt oder Umgegend zu zeigen, um von da, sobald es mit Anstand geschehen konnte, in die guten Stellungen hinaufzusteigen, wo das Leben nicht allein das brachte, was die kleine Gesellschaft überhaupt den am meisten Bevorzugten bringen konnte – sondern wo die Würde des heiligen Amtes auch etwas von dem Frieden hineinlegt, der höher ist als alle Vernunft.

Er war wie zum Prediger in der Hauptstadt geschaffen, und das hatte er stets von sich sagen hören. Sein Aeußeres war schön und würde mit der Zeit stattlich werden, sein Organ wohlklingend und kräftig; und in seinem ganzen Wesen lag eine kleidsame Mischung vom gewandten Weltmann und jener abgerundeten Hoheit, die einem Diener des Herrn so wohl ansteht.

Kandidat Jürges war aber nicht der Mann, welcher träge sein Leben im Sonnenschein vom Strome dahintreiben lassen wollte. Es widerstrebte ihm, zu hören, er müsse für die feingebildeten Leute Prediger sein. Er wollte gerade zeigen, daß sich der schwere Ernst des Lebens sehr gut mit der geselligen Gewandtheit vereinigen ließe; und es ward ihm ein Bedürfnis, durch sein Leben davon Zeugnis abzulegen, wie gerade ihm, von dem es niemand glauben sollte, ein Herz und ein Verständnis für das in der Welt Geringe und Verachtete gegeben war.

Daher nahm er seine zarte junge Frau geradenweges aus dem Ballsaal und führte sie in Pelz wohlverpackt zu einer kleinen Pfarre im hohen Norden.

Er lachte, und sie lachten beide, wenn sie der Enttäuschung und Entrüstung gedachten, welche sie hinterließen. Er gehörte zu den interessantesten Erscheinungen in dem geselligen Leben, und sie hatte die besten Elemente der Stadt durch ihre Musik, ihre frohe Liebenswürdigkeit um sich versammelt.

Lasen sie zusammen die Briefe während der ersten Zeit ihres jungen Glücks in dem kleinen lächerlich unbequemen Pfarrhaus, da wuchs ihm das Herz in der Brust bei dem Gedanken an das, was er gethan hatte.

Und seine kleine Frau blickte zu ihm auf – suchte nach den Worten, wurde gleichsam von Bewunderung überwältigt und konnte nur sagen: »Mein Gott, wie groß du bist – Daniel!«

Er begann zu arbeiten und predigte mit Eifer und Beredsamkeit; und als es ihm allmählich klar wurde, daß sie nicht das Geringste verstanden – weder von dem, was er sagte, noch von dem, was er mit seiner Thätigkeit wollte, da kam er zu der Ueberzeugung, er habe sich doch geirrt – nicht hinsichtlich seines Berufes, sondern hinsichtlich dieses Wirkungskreises. So hoch im Norden waren die Leute noch nicht über den ersten harten Kampf ums Dasein hinaus, dieser nahm ihre ganzen Fähigkeiten in Anspruch. Selbst die einfachsten religiösen Begriffe waren unklar und stumpf, Kenntnisse gab es überhaupt nicht.

Daniel Jürges verlor aber nicht den Mut und bog nicht ab. Sie sollten doch unrecht bekommen, jene Leute in der Hauptstadt, welche ihm prophezeit hatten, er würde nicht ausharren; er wollte ihnen das Gegenteil beweisen.

Und das that er auch – Jahr um Jahr. Kräftig und gesund hielt er die Reisen zu Wasser und zu Lande aus. Er klagte nie, beschrieb aber gern seine Erlebnisse. Angstvoll lauschten die kleine Frau und die Kinder, als sie größer wurden, seiner Schilderung der gefährlichen Bootfahrten und Gebirgswanderungen, lächelnd schloß er dann: »Ja, gewiß, es war schlimm: aber ich komme doch gut davon – wie ihr seht – mit Gottes Hilfe.«

Allmählich gewöhnte er sich daran, sich selbst in seiner Einsamkeit alles zu erzählen, was er erlebte und was er dachte. Er wähnte dann, seine alten Freunde ständen vor ihm mit einem überlegenen Lächeln, welches allmählich verschwand, als er ihnen sein Leben, seine Prüfungen und Entbehrungen darlegte.

Allmählich bildete diese fingierte Unterhaltung, die stets ohne Antwort blieb, fast seinen ganzen Verkehr mit Verwandten und Freunden; in die tägliche Beschäftigung mit Kindern, Dienstleuten und Landwirtschaft brachten nur die Sonntagspredigt, die Armenverwaltung und Gespräche in der Amtsstube, die er zu kürzen lernte, eine Abwechslung.

Aber weder dies alles noch das Einzelne vermochten es, Daniel Jürges ganz in Anspruch zu nehmen. Sowohl seine Kenntnisse wie sein unternehmender Charakter befähigten ihn, dazu höhere Ziele zu verfolgen als die, welche ihm in dem kleinen Winkel geboten wurden, den er sich zum Wirkungskreise ausgesucht hatte.

Seine Jugend war in ernsten Studien voll lebhaften Interesses für ungefähr alles, was die Zeit bewegte, dahingegangen – nun sollte niemand von ihm sagen, daß sein Geist in der Einsamkeit seine Spannkraft verliere. Noch heute gab es keine brennende Frage, die er nicht kannte und seiner Kritik unterworfen hatte. Wie abgeschieden er auch lebte, so lag doch alles seinem Blicke offen; und oft mußte er lächeln, wenn er sah, wie sich die Menschen beirren ließen – wenn er bedachte, wie sich hier oben in einer Schlucht zwischen den Bergen ein einfacher norwegischer Landprediger fand, nach dessen Ansicht niemand fragte, der aber vielleicht im stande sei, wie kein Zweiter Antwort zu geben.

Anfangs las er ausschließlich die Zeitung der Hauptstadt. Je mehr aber das umfangreiche Blatt mit den vielen Beilagen seine Zeit in Anspruch nahm, desto mehr erwachte wieder die Lust zum Lesen, welche ihm die Examina verleidet hatten. Er begann Studien auf eigene Faust zu treiben mit der Zeitung als Grundlage. Außer der väterlichen Büchersammlung ließ er sich auch durch seinen Kommissionär in Christiania allerlei Werke zustellen, welche in der Zeitung besprochen wurden, und übte in dieser Weise eine Kontrolle, die in hohem Grade sein selbständiges Denken verschärfte.

Konnte er auch nicht in allem den ausgezeichneten Mitarbeitern der Zeitung beipflichten, so erwiesen diese sich doch so wohl unterrichtet, dachten so scharf, daß es für ihn von hohem Interesse war, zu sehen, wie sie zu denselben Resultaten kamen, wie er selbst. Diese Uebereinstimmung erschien ihm immer auffallender, je länger er seinen einsamen Studien oblag; und manchmal erregte es seine Bewunderung, wie jene Männer, in manchem von ihm so weit verschieden, doch zu denselben Gedanken wie er selbst gelangten – wenn auch auf Wegen, die ihm mitunter imponierten, oft aber unleidlich dünkten.

Im Laufe der Jahre merkte er zu seiner großen Freude, daß es ihm durchaus nicht so erging, wie zu erwarten stand und wie seine Freunde in der Stadt sicherlich wähnten: daß sein Geist erlahmen und die Begeisterung schwinden würde, womit er einen Gedanken oder eine Anschauung ergriff und umfaßte.

Er fühlte im Gegenteil mit einer gewissen Ueberraschung, wie ein reger Eifer für Wahrheit und Recht in ihm wuchs. Las er von den glimmenden Kohlen auf dem großen Herd der Thorheit und Bosheit, von dem Häßlichen, das sich Hand in Hand mit dem Bösen vordrängte, da erhob er sich empört, und der Haß, den dies alles in seinem Herzen hervorrief, ließ ihn die starken Arme gegen das widrige Gezücht drohend schütteln. Wie ein Simson stand er da, zitternd vor Entrüstung – bis er sich darauf besann, daß er allein in seinem Studierzimmer saß, ein stiller Diener Gottes, der seinen Beruf erfüllte, treu im kleinen.

Es kamen aber auch Stunden, wo er daran zweifelte, ob es recht sei, in dieser Weise dazusitzen und stillzuschweigen, während es in ihm so laut aufschrie. Sein Leben lang war er gegen seine Eitelkeit auf dem Posten gewesen. Aus dem Grunde befand er sich auch hier; er war sich dieser Schoßsünde wohl bewußt; sie sollten aber sehen, daß er sich ihr nicht beugte.

Wollte er reden, so wußte er, daß man es über das ganze Land hören würde, daß alle Augen sich auf ihn richten würden; deshalb that er es aber eben nicht. Fand er seine eignen Gedanken in der Zeitung der Hauptstadt wiedergegeben, so lächelte er, in sein Schicksal ergeben, und ließ die andern die Ehre behalten.

Manchmal konnte der Gedanke an seine eigne Persönlichkeit, die sich hier in kleinen verkrüppelten Gedanken verlor, ihn übermannen, wenn er dasaß und dem endlosen Geplapper einer alten armen Kranken lauschte – da bemächtigte sich seiner eine seltsam weiche Regung: sein selbstgewähltes Geschick rührte ihn, und mit seiner sanften Stimme sprach er so einfältige milde Worte, daß er dem Weinen nahe war.

Endlich gab er für einmal nach und besprach ein neues Buch. Die Pflicht, dünkte es ihm, erheischte dies in der dringendsten Weise. Wurde sein Name auch nicht unter den ersten genannt, so hatte er doch einen guten Klang dort, wo man noch die formenschöne reine Dichtkunst zu schätzen wußte. Schwieg er jetzt, dann mochten die litterarischen Begriffe vieler Menschen – vornehmlich unter der Jugend – sich verwirren.

Das neue Buch entbehrte nämlich nicht eines gewissen Schwunges, mußte man es auch als verfehlt bezeichnen. Er fühlte sich peinlich davon berührt, denn es erweckte in ihm die Erinnerung daran, daß auch er dereinst mit teilgenommen hatte, den Bauern zu vergöttern. Noch dringlicher erschien es ihm daher, auseinanderzusetzen, wie viel Gutes und Berechtigtes das »Einfache« in der Litteratur ursprünglich gehabt habe, um dann ein für allemal nachdrücklich dem beklagenswerten Irrtum ein Ende zu machen, aus welchem das neue Buch hervorgegangen war.

Dies that er auch – recht scharf, aber doch mit einem gutmütigen Lächeln anläßlich der falschen Auffassung – und sandte dann das Ganze unter seinem alten wohlbekannten Zeichen D. an die Zeitung der Hauptstadt. Während der Tage, die jetzt vergingen, ehe er die Zeitung zu Gesicht bekam, erlebte er wieder nach so langer Zeit die Freude der Spannung. Er stellte sich's lebhaft vor, welches Aufsehen es erregen würde – ein Wort von seiner Hand – war es auch nur die Besprechung eines Buches. Unten in der Stadt würden sie es fühlen, daß er sie im Auge behielt; über seinen Artikel würde geredet, vielleicht geschrieben werden; Spaß würde es ihm auch machen, zu sehen, wie sich seine Gedanken zwischen denen der andern in der Zeitung der Hauptstadt ausnahmen.

Er lachte doch über sich selbst und bezwang dies unwürdige Gefühl, und als endlich die Post kam, welche die bewußte Zeitung brachte, da machte er erst einen langen Spaziergang, um zu zeigen, wie wenig Gewicht er darauf legte.

Langsam setzte er sich in seinem Arbeitsstuhl zurecht, öffnete die Posttasche und ordnete die Zeitungen. Als er aber wie gewöhnlich die Briefe nehmen wollte, erblickte er auf der dritten Spalte den Titel des neuen Buches, und er begann zu lesen – nicht aus Mangel an Selbstbeherrschung, sondern weil ihm die ersten Worte der Kritik fremd vorkamen.

Es waren auch nicht seine Worte. Die Augen glitten schnell die Spalte hinunter – es war gar nicht sein Aufsatz. Schnell drehte er das Blatt um: K. stand da, es war der bekannte K., dessen Urteil er schätzte – aber doch!

Seine Arbeit mußte zu spät gekommen sein – das hoffte er wenigstens; sonst wäre es zu ärgerlich. Nun mochte er K. nicht lesen und ergriff die Briefe – zuerst einen Geldbrief.

Sein ganzes Interesse wurde aber wieder erregt. Es waren Dank und Honorar von der Zeitung der Hauptstadt. Die Besprechung war so spät gekommen, daß der hochgeschätzte K. nur Zeit gehabt hatte, einige Gedanken des geehrten Kritikers in seinen bereits fertigen Aufsatz einzuflechten; deshalb sandte man das Honorar, indem die Redaktion in der liebenswürdigsten Weise die Hoffnung ausdrückte, bei gegebener Gelegenheit – eine so vorzügliche Feder – das wohlbekannte Zeichen – und so weiter.

Daniel Jürges fühlte sich dennoch unangenehm berührt– zumal beim Anblick dieses Honorars, für welches er nach seiner Ansicht nicht Genügendes geleistet hatte.

Was ihn aber vollends verdroß, war diese Bemerkung im Briefe: »Die Redaktion erlaubt sich den geehrten Einsender darauf aufmerksam zu machen, daß unser geschätzter Mitarbeiter K. in der gestrigen Nummer des Blattes sich zwar im selben Geist und in derselben Richtung des geehrten Kritikers ausspricht, aber doch mit größerer Schärfe in mehreren wesentlichen Punkten. Es kann auch nicht anders sein, als daß derjenige, welcher in unmittelbarer Nähe die litterarischen Exzesse zu beobachten Gelegenheit hat, sein Urteil in strengere Worte kleidet, als ein Mann, der von der Welt zurückgezogen lebt und in seinem stilleren Wirkungskreise den Lärm der Zeit gleichsam gedämpft und durch die Entfernung gemildert vernimmt. Obgleich die Redaktion in vollem Maße dem humanen und liebenswürdigen Geiste, welcher Ihre vorzügliche Besprechung kennzeichnet, seine Anerkennung zollt, ja demselben gar unter andren Umständen Beifall spenden würde, so muß doch heute auf eins hingewiesen werden: so wie die litterarischen Verhältnisse sich jetzt stellen, sowohl im Ausland wie auch in den letzten Jahren in der Heimat – würde es mehr übereinstimmend mit den Forderungen des guten Geschmackes wie auch mit denen der Moral und der Sittlichkeit sein, wenn diesem sich eindrängenden Unwesen sofort mit einem scharfen und energischen Protest begegnet würde.«

Dies traf Daniel Jürges mitten ins Herz.

Er befand sich zu abseits vom Leben, um hören und verstehen zu können! Er wußte nicht genau Bescheid, stand nicht auf der Höhe in seiner Beurteilung eines Zeichens der Zeit – und nun gar in der Litteratur mußte ihm solches passieren – war es möglich?

Nun warf er sich über den hochgeschätzten K. und las die Kritik im Fluge.

Darauf sank er in den Stuhl zurück und starrte lange unsicher und unglücklich vor sich hin. Es wurde ihm bald klar, daß es nur eine höfliche Phrase sei, wenn die Redaktion schrieb, K. habe aus seinen Gedanken geschöpft – ach! – sie waren wie Milchsuppe gegen dies.

Verhielt es sich aber auch so – versteckte sich wirklich so viel Böses und Gemeingefährliches in dieser einfachen Erzählung, welche ihn nur durch ihren Mangel an Poesie und wahrem Gefühl empört hatte?

Er ergriff das unselige Buch, welches noch auf seinem Arbeitstische lag, und schlug Seite 73 auf, welche von dem geschätzten K. besonders hervorgehoben ward; und als er ein wenig gelesen hatte, stieg ihm die Röte ins Gesicht.

Es verhielt sich wirklich so. Ihm war die große Schande passiert, nicht mit der Zeit vorgeschritten zu sein.

Es mußten dennoch die einfachen groben Menschen sein, unter welchen er lebte, die trotz allem die Luft dick und unklar machten, so daß er es nicht vermochte, die Zeichen der Zeit scharf genug aufzufassen, obgleich er im Besitz dieses Ueberblickes war und in allem wohl bewandert. Nachdem K. ihm die Augen geöffnet hatte, sah er ein, daß, was er überlegen für eine Übertreibung gehalten hatte, für einen Auswuchs an einem an und für sich berechtigten Zweige der Litteratur, nur der Haß der unteren Stände gegen die höheren und gegen den Höchsten war.

Und nun Seite 73, welche er allerdings mit Mißfallen gelesen hatte, weil er fühlte, wie sehr dem Verfasser die Fähigkeit, die ideale Liebe zu schildern, abging – jetzt sah er; und er schämte sich beinahe, als hätte er selbst an etwas Unanständigem teilgenommen.

Während er immer tiefer im eignen Bewußtsein sank, trat ihm die Frage mit wachsender Deutlichkeit entgegen: wie konnte er es verantworten, in dieser Weise sich gehen zu lassen, bis er so tief sank?

Wenn er auf dem Gebiete der Litteratur, wo er ohne Eitelkeit von sich sagen durfte, daß er einst zu den ersten gehört hatte, so aus allem herausgekommen war, wie konnte er dann wissen, ob er nicht in andern Dingen – ja vielleicht in allen – stehen geblieben war. Ja, der Schluß lag nahe: aus ihm war am Ende doch geworden, was man ihm mit solchem Bedauern prophezeit hatte, als er die Hauptstadt verließ, ein vertrockneter bäurischer Pfarrer in einem entlegnen Winkel der Erde. Sein ganzes Leben hatte dann keinen Sinn. Es sollte ja gerade bewiesen werden, daß er sich auf der Höhe hielt – trotz der Einsamkeit, trotz der Entfernung – und jetzt?

Er las K. noch einmal, und der Abstand wurde stets überwältigender; und doch war nie davon die Rede gewesen, daß dieser K., den er zwar schätzte, in irgend einer Weise sich mit ihm messen konnte.

Die Wahrheit war die, daß er thöricht sein Pfund vergraben hatte; und in seiner tiefen Mutlosigkeit erkannte er, daß er aus Furcht vor seiner Schoßsünde, der Eitelkeit, in eine andre hineingetrieben worden war, welche vielleicht noch schlimmer war.

Diese schmerzliche Entdeckung wurde ihm eine Mahnung zur Umkehr, die er hinnahm und ertrug; und allmählich riß sie ihn aus seiner Verzagtheit heraus, so daß er in gehobener Stimmung Gott dankte, daß er ihm die Augen geöffnet habe, während noch Zeit war. Und er ergriff die Feder und meldete sich zu der großen Pfarre weit südlich, welche zu suchen ihm der Bischof neulich angeraten hatte. Als der Brief versiegelt war, erhob er sich wie ein Mensch, der über sich selbst einen Sieg errungen hat.

Es war, als ob er in wunderbarer Weise durch diesen Entschluß über manches Klarheit gewonnen. Mischte sich nicht ein Zug von Eitelkeit in die hartnäckige Festigkeit, mit welcher er in diesem elenden Amte ausharrte, während seine Frau kränkelte und so viele Kinder verlor? Als sie ihn daher mit dankbaren Thränen bat, nicht ihretwegen ein Haar breit zu weichen, erwiderte er offen, daß es nicht ausschließlich ihretwegen geschehe; auch er trug ein Verlangen, andre Gegenden zu schauen.

Die Pfarre erhielt er gleich, und er trat sein neues Amt voll Zuversicht und frischer Thatkraft an. Dann kam aber dieser unglückliche Anfang mit dem alten Gebäude und dem Bauholz.


 << zurück weiter >>