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Anhang

Die Schule der Weisheit in Darmstadt

Wer das Buch, dem dieser Anhang zugehört, aufmerksam durchlas, wird wissen, was die Schule der Weisheit bedeutet und will; wer es nicht durchlas, wird aus der vorliegenden Darstellung, die nur das im Buche nicht Gesagte kurz zusammenfassen und über das Äußerliche der Gründung das Notwendigste mitteilen soll, kein Bild gewinnen: dies erkläre ich von vornherein, um Enttäuschungen vorzubeugen. Es lasse den Anhang jeder ungelesen, der nicht wenigstens die Grundsätzlichen Betrachtungen sowie den letzten Zyklus vorher zur Kenntnis nahm. Die Schule der Weisheit als Tatsache stellt nur den äußerlichen Übertragungsmechanismus dar für den Impuls, dessen Sinn die Seele des Buchs bedeutet und dessen Wirkung allein an der Wandlung der lebendigen Menschen, welche sie besuchen, ermessen werden kann. Dementsprechend ist das Tatsächliche nichts, mit dem sich Eindruck machen ließe: auch der Marconi-Apparat ist eine Kleinigkeit, verglichen mit den kosmischen Kräften und den geistigen Werten, die er ineinander umsetzt, vom Menschenhirn zu Schweigen. Die Schule der Weisheit hat kein festbestimmtes Programm, einen beinahe geringfügig zu nennenden Betrieb; die Organisation, welche sie trägt, ist von äußerster Einfachheit. Das wenige Äußerliche, was sich über sie sagen läßt, ist indessen von ausschlaggebender Bedeutung für die Wirkung ihres Impulses. Wie in Was uns nottut genauer ausgeführt wurde: nur das sicht- und greifbare Geisteszentrum stellt die, für die es geschaffen wurde, von vornherein so ein, daß sie das geben und empfangen können, was sie geben und empfangen sollen; nur ein solches gibt einer besonderen Einstellung als solcher (vgl. Was wir wollen) den erforderlichen Körper. Die Erfahrung hat auch schon bewiesen, daß diese Auffassung zutrifft und der Übertragungsmechanismus sinngemäß arbeitet. Deshalb schulde ich dem Großherzog Ernst Ludwig von Hessen, der die Initiative zu seiner Gründung ergriff, der mich zur Niederlassung in Darmstadt veranlaßte und der Schule die nötigen Räumlichkeiten zur Verfügung stellte, nicht nur um meiner Person, sondern um einer großen Sache willen, nieversiegende Dankbarkeit. Desgleichen dessen erstem Berater, dem Grafen Kuno von Hardenberg, und, nur äußerlich an letzter Stelle, Herrn Otto Reichl, auf dessen Drängen hin ich die Verwirklichung der Idee überhaupt ins Auge faßte und der seither den tatkräftigsten und opferfreudigsten Förderer der Sache darstellt. – Da die Gründung zur Zeit, da ich dieses schreibe (Mai 1922) erst gerade anderthalb Jahre alt geworden ist, so kann von einer endgültigen Gestalt bei ihr noch keine Rede sein. Bis heute hat sie sich, gemäß den Gesetzen normalen Wachstums, fortlaufend verändert, und dies wird so weitergehen, bis daß sich ein dauerndes Gleichgewichtsverhältnis zwischen dem Leben, das sie beseelt, und ihrer Umwelt hergestellt hat. Deshalb kann und will ich nichts Bindendes darüber sagen, was die Schule der Weisheit schließlich äußerlich werden soll. Nur von den jetzt verfügbaren und für die nächsten Jahre in Aussicht genommenen Mitteln, um ihr geistig-seelisches Ziel zu realisieren, will ich hier Mitteilung machen.

 

Die Schule der Weisheit kann und soll, wie aus dem Inhalte des Buchs in dessen Gesamtheit hervorgeht, nur ein Mittelpunkt persönlichen Einflusses sein. Hieraus ergibt sich, daß aller Nachdruck in Darmstadt nicht auf der Sache, sondern den Personen liegt. Jene kann genau nur solange und nur insoweit bestehen, als Persönlichkeiten entsprechender Einstellung, Fähigkeit und Sehnsucht sie als Ausdrucks- und Selbstverwirklichungsmittel nutzen. Dies besagt keineswegs, daß die Sache sterblich wäre: wenn sie zunächst nur dank mir und meinem Mitarbeiter Erwin Rousselle bestehen kann, so werden sich, je weiter die Zeit fortschreitet, desto häufiger weitere Persönlichkeiten gleicher Einstellung finden, welche als Lehrende in Frage kämen, denn eine solche ist niemals ein Individuelles, sondern ein Typisches. Wohl aber besagt es, daß die Sache eben nur als Ausdrucksmittel von jeweilig lebenden Menschen, als Tatsache, wie als Wert, betrachtet und behandelt werden darf, unter welchen Menschen Lehrer und Schüler zusammen zu verstehen sind. Deshalb muß sich aller äußere Betrieb an der Schule der Weisheit aus dem inneren Bedürfnis und der lebendigen Notwendigkeit ergeben. Deshalb kann nichts Besonderes daran in abstracto festgelegt werden. Im allgemeinen kennt die Schule der Weisheit bisher drei Auswirkungsarten. Deren erste stellen die je eine Woche ungefähr dauernden Tagungen der Gesellschaft für freie Philosophie dar. Die auf diesen gehaltenen Vorträge haben ein gemeinsames Grundthema, das von verschiedenen Rednern, entsprechend deren Persönlichkeit und Weltanschauung, dabei aber von einer vorgegebenen Einstellung abgewandelt wird, so daß die verschiedenen Vorträge unwillkürlich als Koordinaten wirken, die auf einen tieferen Sinnesmittelpunkt hinweisen, als solcher sich aus einem Einzelvortrag erschließen ließe. So war das Grundthema der Herbsttagung 1921 das Problem des Verhältnisses vom Ewigen Sinn zur notwendigen räumlich-zeitlich bedingten Wandlung seiner Äußerungsarten, das ich zunächst grundsätzlich, entsprechend dem letzten Zyklus dieses Buchs, Erwin Rousselle darauf durch das Medium der allgemeinen Religionsgeschichte hindurch, Professor Dibelius am Beispiel des Verhältnisses vom geschichtlichen zum übergeschichtlichen Christentum behandelte und zuletzt Richard Wilhelm aus dem Geist der chinesischen Urweisheit heraus. Der Erfolg war der, daß den meisten Hörern eine Ahnung dessen aufging, daß es ein Tieferes gibt, als bestimmte Weltanschauung, und die besondere Einstellung der Schule der Weisheit einer großen Zahl so deutlich wurde, wie dies wahrscheinlich durch kein Studium meiner bisherigen Schriften der Fall gewesen wäre. Gleichsinnig war zum Grundthema der Herbsttagung 1922 das der Spannung erwählt – das Ideal liegt nicht in der Ausgelöstheit der Gegensätze, sondern deren richtiger Kontrapunktierung –, welches Thema in seiner neunfachen Abwandlung durch das Medium gleich vieler selbständiger Persönlichkeiten hindurch geeignet schien, der Mehrzahl den Sinn alles westlichen Idealismus und Heroismus, durch alle Vielfalt seiner Sondergestaltungen hindurch, zum erstenmal ganz deutlich zu machen. Doch die Vorträge erschöpfen den Sinn der Tagungen nicht: vor allem findet auf diesen auch persönliche Fühlungnahme zwischen den Vortragenden und den Besuchern statt, und zwar in der lebendigen Atmosphäre der Schule der Weisheit, die der besondere Stil der Veranstaltung (Diskussionsverbot, allgemeine Einstellung auf Qualität, Niveau und Persönlichkeit, gegenseitiges Sich-Aufschließen; vergl. S. 464 dieses Buchs und die Angaben in den verschiedenen Heften des Wegs zur Vollendung) zu einem mächtigen Kraftfelde steigert. Daß die Tagungen die beabsichtigte Wirkung tatsächlich erzielen, kann auf Grund der bisherigen Erfahrungen mit Bestimmtheit versichert werden: über Erwarten viel vom Geist des Darmstädter Zentrums ist durch diese bereits in die Welt hinausgeflogen und wirkt dort weiter. – Aber selbstverständlich kann die beste Massenveranstaltung ihren Teilnehmern nur ein Bruchteil des Geistes mitteilen, der in der Schule der Weisheit am Werke ist. Wohl ruft gerade solche, richtig eingestellt und geleitet, wie jeder Gottesdienst beweist, einen magischen Strom ins Leben, welcher viele ergreift, die auf andere Weise unergriffen blieben. Aber sobald große Zahlen überhaupt in Frage kommen, tritt unabwendbar die Psychologie der Massen mit ins Spiel, weshalb die geistigsten Einflüsse vielfach unwirksam bleiben (S. 454). Deshalb legen wir auf die Tagungen den geringsten Nachdruck und den größten auf die Individualbehandlung der Schüler. Zu dieser leiten die Exerzitienkurse (die zweite Auswirkungsart der Schule der Weisheit) über. Was diese bedeuten, steht auf S. 437 ff auseinandergesetzt, ausführlicher ferner in Rousselles Mysterium der Wandlung. Hier nur so viel: sie finden dreimal jährlich statt, für höchstens 35 Personen auf einmal, und dauern ihrerseits ungefähr eine Woche. Ich führe sie durch zwei Vorträge und ein Colloquium über Meditationstechnik ein, wie ich denn auch das den Sinn zusammenfassende Schlußwort spreche. Die Exerzitien selbst leitet Dr. Rousselle. Dieser hält sich dabei, was die Symbole und deren Zusammenhang betrifft, an uralte Menschheitstradition, der geistige Urquell ist aber auch bei diesen Übungen der besondere Impuls der Schule der Weisheit, wie er sich durch dieselben denn auch erfahrungsgemäß den meisten Seelen unwillkürlich mitteilt. – Nun zur Individualbehandlung. Über dieses Wichtigste läßt sich in abstracto eigentlich gar nichts sagen, da ihre Art ganz und gar von derjenigen der jeweiligen Schüler abhängt. Da diesen eine tiefere Einstellung und ein neuer Lebensrhythmus vermittelt werden soll, die sie zu einem höheren Seinsniveau hinaufheben, und solches nur auf suggestivem Weg gelingt (S. 448), so ist das, was jeweilig »geschieht«, das Unwesentlichste, keinesfalls mehr wie ein Übertragungsmittel. Die Hauptsache ist, daß der Schüler sich in richtiger Einstellung in das Kraftfeld eines begibt, der in der fraglichen Richtung weiter ist als er. Dann mag äußerlich über beinahe Beliebiges geredet werden: der Einfluß wirkt sich aus, denn der Lehrende verharrt bei der Behandlung aller Fragen in der besonderen Weisheitseinstellung, und der Schüler will diese vor allem empfangen. Im ganzen Weltall wirkt Gleiches auf Gleiches ein, hängt alles, was einer gleichen Daseinsebene angehört, innigst zusammen. Wie der Einfluß jedes physischen Vorgangs in seinen Nachwirkungen die Erde umspannt, wie alles Tun und Können durch Nachahmung schließlich allgemein wird, wie Gedanken und Gefühle unmittelbar anstecken, genau so unmittelbar wirkt Sein auf Sein. Dementsprechend wirkt ein Höhergeartetes unmittelbar erhebend, gleichwie umgekehrt ein Niederes unmittelbar herabziehend. Die einzige Bedingung zur Beeinflussung durch den Geist der Schule der Weisheit ist die, daß der Schüler die entsprechende Haltung einnimmt, d. h. sich beeinflussen lassen will. Er muß sich ebenso vollkommen dem Lehrer hingeben, wie der Patient dem Arzt. Fehlt ihm das Vertrauen dazu, dann bleibe er fort, denn ohne solches ist nichts zu erreichen. Er muß jede Anregung rückhaltslos hinnehmen, sich vollkommen öffnen, gleich vollkommene Offenheit vertragen. Von aller Auseinandersetzung über Ansichten muß er grundsätzlich absehen, nichts anderes von uns verlangen, als was wir geben wollen, denn jeder falsche Gedanke, jede schiefe Stellungnahme, ja jede Stellungnahme überhaupt verbaut den Weg zum Wesen Vgl. meinen Aufsatz Von der einzig förderlichen Art des Aufnehmens im 3. Heft des Wegs zur Vollendung.. Überdies muß er die natürliche Trägheit überwinden, mit seinem ganzen Wesen mitarbeiten. Tut er dieses alles, dann bleibt die Wirkung niemals aus. Hier walten ebenso gewisse psychologische Gesetze, wie solche für Lernen im sachlichen Verstände gelten. Die besondere Seinsqualität des Weisheitslehrers wirkt, richtig ausgestrahlt und empfangen, im gleichen Sinn und Maße steigernd auf die des Schülers ein, wie die Könnensqualität des Fachlehrers das Können steigert. Nur spielt bei der Unterweisung, die hier in Frage kommt, da kein Inhaltliches, sondern Leben selbst, als Einstellung und Rhythmus qualifiziert, übertragen werden soll, die Zeit kaum eine Rolle; sie wird geringer proportional der Begabung und Empfänglichkeit des Schülers. Bei den wertvollsten genügt oft ein einziges Gespräch, sogar ein kurzes Zusammensein, während dessen nichts Bestimmtes verhandelt wurde. Länger wie acht Tage hintereinander ist kaum einer der für die Schülerstellung erforderlichen Anspannung, länger kaum je der Aufnahme fähig. Den wenigsten hat es gefrommt, wenn ich mich mehr als drei Tage hintereinander intensiv mit ihnen beschäftigte; die gewonnene Förderung hat sich erfahrungsgemäß am größten dann erwiesen, wenn einer nach ganz kurzem, aber desto voller ausgenütztem Aufenthalt in Darmstadt heimreiste, den empfangenen Impuls, ohne zuviel in abstracto nachzudenken, in sich nachwirken ließ, und dann erst wiederkam, wenn er sich soweit vorgeschritten fühlte, daß sich ihm von neuer Basis her neue Probleme stellten. Doch die Beschränkungen für die Dauer eines Aufenthalts in Darmstadt, die ich hier angebe, gelten selbstverständlich nur unter Voraussetzung des heutigen Darmstädter Zustands, wo der Besucher der Schule der Weisheit außerhalb der Sprech-, Vortrags- und Exerzitienstunden ganz auf sich selbst angewiesen ist. Sind wir einmal so weit, über eigene Wohn- und Gasträume, vor allem einen Park oder Garten zu verfügen, so daß es möglich wird, ihre Besucher ganz in ihrer Atmosphäre leben zu lassen, dann werden zweifelsohne gerade längere Aufenthalte in Darmstadt empfehlenswert werden. Schon jetzt tragen solche den allgemeinen Charakter einer Retraite. Wer immer nach Darmstadt pilgert, tritt insofern aus seinem gewohnten Kreise heraus, lebt eine Weile ganz sich selbst, hält innere Einkehr. Der friedliche Charakter der Stadt, ihre schöne, waldige Umgebung begünstigen die entsprechende Stimmung in ungewöhnlichem Maß. Aber einmal muß die Schule der Weisheit als solche der inneren Einkehr den erforderlichen äußeren Rahmen bieten können. Ihr eigenster Rhythmus verlangt die Abwechslung von Spannung und Entspannung. Die Tagungen, Exerzitien und Sprechstunden erzeugen einen Zustand höchster Gespanntheit oder setzen solchen voraus. Dieser Systole muß die Diastole der Ruhe und des Schweigens in angemessener Atmosphäre folgen. Alles Meditieren erfolgt ja im Zustande der Entspanntheit; dessen Erfolg hängt in hohem Grad von der angemessenen Umgebung ab: deshalb wird die Schule der Weisheit, noch einmal, auf die Dauer unbedingt ihre eigene, eigens dazu eingerichtete Retraite besitzen müssen. Aber dabei wird es sich eben um eine Retraite im eigensten Wortsinne handeln, kein Gemeinschaftszentrum im üblichen Verstand. Die Weisheit verlangt außerhalb der Stunden der Anspannung an erster Stelle Schweigen. Schweigen als solches macht weiser als das klügste Reden, es macht auch stärker und gesünder, denn ihm wohnt eine geheimnisvolle Tugend inne. Deshalb wird das Diskussionsverbot in Darmstadt für alle Zeit bestehen bleiben, und ein Bekanntwerden seiner Besucher untereinander, und möchten später noch so viele gleichzeitig hier weilen, niemals begünstigt werden. Wer herkommt, soll im Sinn der Weisheit weiterkommen. Dies gelingt nur, wenn der Rhythmus zwischen Hochspannung und Entspannung, welche letztere das Schweigen zur Grundstimmung hat, streng eingehalten wird.

 

Nie soll in Darmstadt eine Lebensgemeinschaft im üblichen äußerlichen Verstand entstehen. Inwiefern von diesem den Heutigen nächstliegenden Ziel just zu dem Ende abgesehen wird, damit auf die Dauer eine echte Gemeinschaft entstehe, habe ich im Aufsatz über die Grenze der Gemeinschaft ( Weg zur Vollendung III) ausführlich auseinandergesetzt Und will ich hier nicht wiederholen. Solche echte kann nicht von außen her »gemacht« werden, sie kann nur von innen her erwachsen; der Weg zu ihr führt nicht über den Zusammenschluß, sondern im Gegenteil die letzte Vereinsamung. Deshalb wird die Schule der Weisheit für alle Zeit ein Mittelpunkt für einsame Einzelne sein, wie solchen im Westen manche Klöster darstellen, d. h. nicht auf das Zusammenleben wird, wo es stattfindet, der Nachdruck gelegt werden, sondern dieses soll vielmehr dazu dienen, den Einzelnen zu sich selbst zu führen. Unter diesen Vorbehalten stellt die Schule aber gerade eine Lebensgemeinschaft dar. Daß sie keine Lehranstalt ist und nie zu einer solchen im üblichen westlichen Sinne – im östlichen ist sie freilich eine echte Schule – werden kann, liegt auf der Hand. Man lege Tagungen, Exerzitien, Individualhandlung zusammen und denke sich alle noch so intensiv betrieben: nie wird sich daraus ein Betrieb im üblichen modernen Sinn ergeben. Aller Nachdruck in Darmstadt liegt eben auf dem Leben als solchen; eine höhere Art desselben soll hier vermittelt werden. Zu dem Ende hängt alle Förderung freilich vom Zusammenleben ab – nur muß dieses anders eingestellt werden, als sonst geschieht, entsprechend dem besonderen Ziel. Unter allen Umständen ist das Zusammenleben eine Kunst, die an entsprechende Konventionen gebunden ist (vgl. S. 479). Einen wertvollen Menschen sieht der Einsichtige sehr viel lieber selten, zu besonders empfänglichen Stunden, vielleicht nur einmal im Leben, als häufig inmitten der Banalität des Alltags. Ein cholerakrankes Genie unterscheidet sich kaum vom Idioten in der gleichen Lage. Als ihr Leben im Gang erhaltende Gattungswesen sind alle Menschen ähnlich eingestellt und steigern sich, falls sie als solche miteinander verkehren, höchstens im Trivialen; jedenfalls überwiegt dessen Eindruck, und in Sinneszusammenhängen kommt alles auf den Ort an, auf dem der Nachdruck ruht. Nur Gemeinschaft im Außerordentlichen hat Wert. Solche nun kann so allein begründet und im Gang erhalten werden, daß jener allein oder doch hauptsächlich zur Geltung kommt. Deshalb ist das oberste Gesetz sinnvollen Gemeinschaftslebens nicht die Intimität, sondern die Distanz. Jedes Spannungsverhältnis zwischen Menschen überhaupt setzt einen bestimmten, nicht zu überschreitenden Abstand voraus. Dies gilt schon von Liebe und Ehe; um eine Liebe lebendig zu erhalten, bedarf es einer Kunst der Distanzierung, deren Regeln mindestens so streng sind, wie die der Perspektivewirkung in der Malerei; wer die Ehe als Rahmen zum Sich-gehen-lassen auffaßt, verdirbt die seine unfehlbar. Die Kunst des ehelichen Zusammenlebens ist vielleicht die schwierigste von allen, weil dessen extremer Intimitätscharakter besonders feine Nuancierung erfordert. (Eine solche hat Wilhelm von Humboldt sehr fein mit dem Satz zum Ausdruck gebracht, daß sich nächststehende Menschen Geheimnisse vor einander haben müßten, weil sie sich doch kein Geheimnis sind.) Die Distanz, die ein ersprießliches Zusammenleben fordert, wird nun desto größer, eine je größere Spannung erzeugt und im Gang erhalten werden soll. An Höfen muß desto strengere Etikette herrschen, je mehr der Fürst für die Phantasie bedeuten soll. Der Feldherr, auf dessen Wort hin Hunderttausende ohne weiteres in den Tod gehen sollen, muß freilich dauernd bei seiner Armee sein, doch in solchem persönlichen Abstand von jedem Einzelnen, daß eben die Unbedingtheit seiner Befehlsgewalt den Charakter der Lebensgemeinschaft bestimmt. Im gleichen Sinne ist in der Schule der Weisheit ein sehr großes Distanzverhältnis zwischen Lehrer und Schüler vonnöten. Damit jener das geben kann, was er soll, müssen seine Einstellung und sein Aktionswinkel von allen störenden Interferenzen bewahrt sein. Aus diesem Grunde zeigen wir uns keinem Schüler anders, als eben als Weisheitslehrer, messen wir die Stunden des Zusammenseins genau ab, beantworten wir viele Fragen grundsätzlich nicht. Ich habe sogar gefunden, daß durch wohlabgestuftes Nicht-Antworten mehr Belehrung in unserem Sinn zu übermitteln ist, als durch die erschöpfendsten Erklärungen (vgl. S. 236). Auch die Wirkung des Menschen auf den Menschen ist eben an gesetzmäßige Bedingungen gebunden, nicht anders wieder Ablauf eines physikalischen Experiments. Je nachdem, was erreicht werden soll, kommen andere in Betracht. Jeder Orden hat, entsprechend der Typisierung, die er erstrebt, besondere Klosterregeln. Wenn Johannes Müller auf Schloß Elmau gerade die Gemeinschaft im Alltäglichen z. B. während der Mahlzeiten pflegt, so entspricht dies seinem (echt lutherischen) Ziel, der Norm eine tiefere Einstellung zum Alltäglichen beizubringen – und dieses erreicht er auch, wogegen er ebendeshalb dem Einzelnen keinen besonderen Vertiefungsimpuls mitteilt und vor allem seine eigene, höchst ungewöhnliche Persönlichkeit an der Auswirkung ihres Tiefsten und Einzigsten hindert. Rabindranath Tagore pflegt in seiner Schule zu Shantiniketan (man lese den betreffenden Aufsatz in seinem Buch Persönlichkeit, deutsche Ausgabe, München 1921, Kurt Wolff Verlag) gleichfalls Intimität auf das Alltägliche hin, denn sein echt-indisches Ziel ist, der Jugend das (pantheistische) Bewußtsein des Zusammenhangs mit der Natur einzuflößen, das die mechanisierende moderne Bildung auch in seiner Heimat immer schwerer sich ausbilden läßt. Er will also nicht, gleich uns, über den heutigen Zustand hinaus einen höheren begründen, sondern vielmehr den ursprünglichen wiederherstellen, wo der Mensch über die Natur noch nicht hinausgewachsen war. Es besteht nun kein Zweifel, daß der große Mann durch seinen Einfluß das Ewig-Menschliche, im Rahmen der Naturformen des Menschenlebens, im höchsten Grade fördert. Aber auf Grund seiner Zielsetzung kann er keine Steigerung bewirken, so hoch sein persönliches Niveau immer sei, und es beweist seine Instinktsicherheit, daß er sich am liebsten um Kinder von fünf bis fünfzehn Jahren kümmert. Das Ziel der Schule der Weisheit ist nun, wie jeder aufmerksame Leser des letzten Zyklus weiß, ein grundverschiedenes. Sie will gerade ein höheres Niveau begründen. Sie will ihren Besuchern einen energischen Ruck nach vorwärts geben, ihnen einen Rhythmus mitteilen, der sie über ihren derzeitigen Zustand in seiner Nachwirkung selbsttätig hinausentwickelt. Deshalb kommt gerade der Lebensstil, welchen die Einflußzentren Tagores und Müllers einhalten, für sie nicht in Betracht. Auf das Alltägliche kann in ihr desto weniger ein Nachdruck gelegt werden, als die Neuheit ihres Ziels allein schon eine Schärfe der Frage- und Einstellung erfordert, welche praktisch als Einseitigkeit und Selbstbeschränkung sowie als Strenge der Regel in die Erscheinung treten muß. Die in ihr wirkenden Persönlichkeiten wollen und sollen dementsprechend nicht in ihrer empirischen Ganzheit, mit Haut und Haaren gleichsam bekannt werden, sondern eben nur als Beschleuniger, als Steigerer, als Rhythmusgeber; eben dank dem können sie einen rein wohltätigen Einfluß ausüben, trotz aller persönlichen Unvollkommenheit (vgl. S. 464 ff). Insofern wird jeder von der Schule der Weisheit enttäuscht werden, der unter Lebensgemeinschaft Distanzlosigkeit versteht. Im richtigen Distanzverhältnis indessen besteht zwischen Lehrern und Schülern desto innigere Lebensgemeinschaft. Und dieser Charakter der Weisheitsschule wird gewiß immer mehr in die Erscheinung treten, je mehr Schüler sie auf einmal besuchen und je mehr das Vorhandensein entsprechender Räumlichkeiten und Gärten ein Zusammensein zu vielen möglich macht. Die Individualbehandlung unter vier Augen wird sich ja kaum lange im gleichen Grade wie bisher durchführen lassen – bald wird die alte Peripatetikermethode einsetzen müssen, wo einige reden und die anderen lauschen. Es ist vom Standpunkt der Schule als solcher (nicht der einzelnen sie Besuchenden) auch gar nicht wünschenswert, daß es noch lange bei der völligen Abgeschlossenheit bleibt: je mehr an den Einzelunterweisungen teilnehmen, desto schneller wird der Impuls sich verbreiten. Zusammenkünfte im größeren Kreis, wie solche anschließend an die Exerzitienkurse und die Tagungen stattfanden, haben sich auch für den Einzelnen nicht unfruchtbarer erwiesen, als das Einzelgespräch, und haben sonst den Vorteil, diese davor zu bewahren, mit allzu viel Privatem zu kommen, wozu die Vertraulichkeit besonders Frauen gar zu leicht verleitet: das Private ist nämlich niemals das eigentlich Bedeutsame; was des Einzelnen Tiefstes angeht, müßte er immer auch vor anderen besprechen können. Aber wie dem vom Standpunkt des Einzelnen auch sei: von dem der Schule als solcher ist durchaus zu wünschen, daß die altgriechische und orientalische Methode recht bald zur Regel würde. Was bleibt denn jemals von einem lebendigen Zentrum übrig? Was wirkt am meisten fort? Seine Anekdote und Legende. Wie ich's im zweiten Vortrag des letzten Zyklus ausführte: nichts könnte törichter sein, als die mögliche Wirkung der Schule der Weisheit dahin zu verstehen, daß möglichst alle Menschen durch sie hindurchgingen. Weder ist dies praktisch zu leisten – die Intensität der Behandlung schließt für die Lehrer eine große Zahl besonders zu unterweisender Schüler von vornherein aus –, noch ist es überhaupt zu wünschen, denn da verhältnismäßig wenige im vollen Sinne aufnahmefähig sind, und nur die den Impuls weitergeben können, welche ihn verstanden und lebendig verarbeitet haben, so könnten die Vielen seine Fortwirkung allenfalls beeinträchtigen. Wenige vollkommen Verstehende hingegen genügen, um die erforderliche Legende zu schaffen. Was am Impuls der Schule abstrakt zu fassen ist, steht in Büchern niedergelegt. Der konkrete Körper, welchen er einmal trug, ist aber nur in Form von Bildern und Situationsschilderungen der Nachwelt zu überliefern. Wie wenige solcher schon genügen, um die Oberlieferung lebendig zu erhalten, beweist alle Anekdote und Legende, von Buddha, Konfuzius, Sokrates und Christus über die der Heiligen hinaus bis zu Goethe, in bezug auf dessen fortwirkenden Einfluß der eine Eckermann wahrscheinlich mehr bedeutet, als seine sämtlichen eigenen Schriften zusammen genommen: durch Eckermann erst gelangen diese nämlich für die anderen zur Einfügung in das Leben des Weimarer Weisen. Aber die Legende muß andrerseits entstehen. Und in je reicherer Verzweigung sie dies tut, was von der Verschiedenartigkeit der Schüler abhängt, welche das Darmstädter Zentrum besuchen, desto tiefer und weiter wird sie wirken.

 

Hiermit wäre das Wichtigste dessen wohl gesagt, was über die Schule der Weisheit noch gesagt werden mußte, insofern es im vorliegenden Buch und den besonderen Mitteilungen im Weg zur Vollendung noch keine Behandlung erfuhr. Mir bleibt noch übrig, das rein Äußerliche, welches sie betrifft, zu präzisieren und näher auszuführen. Zur Zeit wirken dauernd an der Schule nur Dr. Rousselle und ich, unterstützt von Georg Seelbach, dem Sekretär, der alle Eingänge, welche keines besonderen Bedenkens bedürfen, von sich aus erledigt. Andere Persönlichkeiten wurden bisher nur zu den Tagungen, als Vortragende, hinzugezogen. Aber dabei soll es nicht bleiben. Hauptziel der Schule der Weisheit ist ja, der Übertragungsmechanismus einer besonderen Einstellung zu sein, und sollte dieser zunächst an wenige Einzelmenschen gebunden erscheinen, so ist die Schule doch grade dazu da, damit dies baldigst anders werde. Es werden sich erstens, so hoffen wir, immer mehr Menschen innerlich so neu einstellen, wie hier gefordert wird, andrerseits immer mehr schon fertige erkennen, daß sie schon ebenso eingestellt sind, wovon sie früher nur kein deutliches Bewußtsein hatten. Von solchen sollen nun fortlaufend immer mehr zur schöpferischen Mitwirkung herangezogen werden. Da die Schule der Weisheit keine »Anstalt« ist, sondern ein Lebenszentrum, und als solches zu keinem Dauerzustand materialisiert, so ist diese Mitwirkung nicht etwa so zu verstehen, daß immer mehr Lehrer festangestellt werden sollen, sondern darin: daß immer mehr Menschen die Möglichkeit geboten werden soll, sich zeitweilig ihres Rahmens als einer Tribüne zu bedienen. Dies geschah erstmalig im Fall Rabindranath Tagores. Es versteht sich von selbst, daß es nur im Falle solcher je geschehen kann, die eben als Weise zu wirken berufen sind. Ob sie im übrigen Professoren, Politiker, Künstler, Bankiers, Industrielle oder Soldaten sind, tut nichts zur Sache: genau wie zeitweiliges Heraustreten aus dem gewohnten Lebensrahmen die richtige Schülereinstellung schafft, so kann sie gegebenenfalls auch die des Lehrers schaffen; sintemalen Weisheit keine Fachfrage, sondern ausschließlich eine solche des Seins und der Einstellung ist, so kann jeder sie gegebenenfalls vertreten. Wir hoffen nun, wie gesagt, auf die Dauer in die Lage zu kommen, die Weisheit nicht nur während der Tagungen, sondern auch sonst möglichst polyphon sich auswirken zu lassen. Dies setzt aber zweierlei voraus: erstens, daß die geistige Einstellung dieses Buchs den Betreffenden selbstverständlicher Ausgangspunkt sei, so daß keinerlei Störung der Atmosphäre der Schule durch ihre persönliche zu befürchten wäre. Zweitens, daß wir über die entsprechenden reichen Mittel verfügten. Hier befinden wir uns noch ganz im Anfangsstadium. Die materielle Grundlage für die Schule der Weisheit schafft die Gesellschaft für Freie Philosophie in Darmstadt, die zu dem Ende gegründet wurde, um durch ihre Beiträge jene zu erhalten. Sie hieße also richtiger Gesellschaft zur Erhaltung der Schule der Weisheit, ähnlich der, welche die philosophische Akademie zu Amersfort erhält, wenn sie nicht eben mehr wäre als ein bloß ökonomischer Verband: wer ihr beitritt, erwirbt damit das Recht auf Teilnahme an den Tagungen, auf Schülerschaft und freien Bezug des Wegs zur Vollendung. Aus dem gleichen Grunde werden die Beiträge für die geistig Verbundenen oder gewöhnlichen Mitglieder so niedrig als nur irgend möglich erhalten Alle Angaben das Materielle betreffend enthält der Prospekt, der von der Geschäftsstelle der Schule der Weisheit, Darmstadt, Paradeplatz 2, zu erfragen ist.: es sollen möglichst viele in der Lage bleiben, zur Schule der Weisheit in Beziehung zu treten. Aber auf Grund dieses Budgets könnte die Schule der Weisheit sogar ihren bisherigen geringfügigen Betrieb nicht aufrecht erhalten. Dies geht nur dank den Mitgliedern, welche ausdrücklich als Förderer der Sache beigetreten sind und dieser jährlich größere Summen zur Verfügung stellen. Soll das Geisteszentrum nun entsprechend dem vorhergehenden weiter ausgebaut werden, dann muß es richtige Stifter gewinnen. Ich hoffe mit Zuversicht, daß solche sich nunmehr, wo sich jeder von dem, was in Darmstadt gewollt wird, ein Bild machen kann, in genügender Anzahl finden werden. Vom Bau der erforderlichen Retraite ganz abgesehen: es bedarf in erster Linie eines Schülerfonds, um Unbemittelten, welche es wert sind, freien Aufenthalt in Darmstadt zu ermöglichen, dann eines Fonds zum Zweck der Heranziehung solcher, die zeitweilig als Lehrende in der Schule wirken könnten, wie es denn überhaupt im Sinn der Schule der Weisheit läge, jeder echten Qualität, so oder anders, zu entsprechender Wirksamkeit zu verhelfen. Endlich eines Fonds zur Beschaffung einer Bibliothek. Und auch von diesem außerordentlichen abgesehen: der normale Betrieb wird unvermeidlich vergrößert werden müssen. Bisher führen die Darmstädter Herren vom Vorstande der Gesellschaft für Freie Philosophie ehrenamtlich die ganzen Geschäfte und nur zur Vorbereitung der Tagungen wird ein besonderer Geschäftsführer angenommen. Aber das kann nicht immer so bleiben, zumal auch ich bisher mehr Zeit auf rein Technisches aufwenden muß, als sich mit meinem eigentlichen Beruf verträgt. Aus allen diesen Gründen hoffen wir auf Stiftungen. Wir hoffen darauf desto mehr, als wir die ordentlichen Mitgliedsbeiträge der Gesellschaft für Freie Philosophie nach wie vor, wie schon bemerkt, möglichst niedrig halten wollen. Sind wir nun einmal so weit, aus dem Vollen zu schöpfen, dann besteht wohl kein Zweifel, daß die Schule der Weisheit noch ganz anders energisch wird wirken können als bisher. Schon ist sie mit allen Weltteilen in Verbindung. Schon ist eine besonders nahe mit dem Orient im Entstehen. Schon besuchen sie Mitglieder und Schüler aus aller Herren Ländern. Nicht gering ist die Zahl der schöpferischen deutschen Geister auf allen, zumal den praktischen Gebieten, die in lebendiger Verbindung mit dem Darmstädter Zentrum stehen und dessen Impuls auf ihren besonderen Tätigkeitsfeldern fruchtbar zu machen suchen. Für mich persönlich ist dieser allseitige Kontakt vielleicht das Wichtigste: dieser ermöglicht mir, den »Sinn«, den ich zu fassen vermag, nicht nur durch Werdende, sondern durch schon Fertige und Mächtige hindurch der historischen Erscheinung einzubilden. Aber auf mich kommt es nicht an. Worauf es ankommt, ist einzig die Fortleitung und Fruchtbarmachung eines überpersönlichen Impulses, dessen zufälliger Träger ich im Augenblicke bin, und der auf die Dauer zu einer Neu- und Tiefereinstellung aller führen kann. Zu diesem Ende habe ich die Schule der Weisheit gegründet. Zu diesem Ende soll sie wachsen und gedeihen.


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