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Erster Zyklus

I. Seins- und Könnenskultur

Wer das moderne Japan mit dem alten vergleicht, das sich von Jahr zu Jahr immer mehr in die Abgelegenheit zurückzieht, gelangt unweigerlich zum Urteil, daß dieses jenem überlegen ist. Das Können der Schüler Europas im östlichen Inselreich hat das der Lehrerin vielleicht bereits erreicht; ihr Sein hingegen wirkt desto unzulänglicher, je mehr seine Art sich der unsrigen angeglichen hat; schlechthin oberflächlich wirkt es, verglichen mit dem der Träger altjapanischer Tradition. Der gleiche Eindruck überkommt den Reisenden, verstärkt, in China, dessen verwestlichte Bewohner den Vergleich mit den wurzelechten in keiner Weise aushalten. Und er steigert sich bis zur Schmerzhaftigkeit, wenn der Reisende den anglisierten Hindu, oder gar den Eurasier mit dem Verkörperer der besten indischen Kulturüberlieferung vergleicht. Jener versteht sich in der Regel selbst nicht mehr, sobald er englisch denkt; er urteilt oberflächlicher über die Weisheit seiner Väter, als beschränkte europäische Philologen. Hat er den Briten manche technische Griffe abgelernt, dank welchen er mit ihnen äußerlich in Wettbewerb treten kann, so steht er als Geist, als Seele, als Mensch tief unter denen, welche jener kraft höheren Könnens mühelos beherrscht. So scheint es kein unbedenkliches Unterfangen, eines anderen Wesens Können zu übernehmen; bei solcher Kreuzung wirkt anscheinend ein ähnliches Gesetz, das den Mulatten und Mestizen zum Träger nur der Fehler seiner verschiedenartigen Vorfahren macht. Keinesfalls scheint noch so hohes Können als Beweis wahren Fortschritts gelten zu dürfen, das nicht von entsprechendem Sein getragen wird. Was heißt nun Sein? Sehen wir von allen metaphysischen oder erkenntnistheoretischen Bestimmungen ab: wer Können und Sein an Erlebtem unterscheidet, weiß, was er, und daß er Reales meint. Man suche nie erst durch Definitionen zu erfahren, was sich von selbst versteht. Unter dem Sein eines Menschen verstehen wir alle selbstverständlich sein unmittelbares Wesen, im Körper seiner Gedanken, Gefühle und Wollungen ausgedrückt; diese weisen, wo Sein bestimmt, unmittelbar auf den Kern der Persönlichkeit zurück, in dem sie organisch verankert sind. Demgegenüber ist Können zunächst ein bloß Äußerliches, welches jeder sich, wo die entsprechenden Anlagen nicht fehlen, aneignen mag, ohne daß hierdurch ein Zusammenhang mit seinem Wesen hergestellt wäre. Nun, diese kurze Betrachtung vermittelt bereits das Verständnis des unerfreulichen Eindrucks, den der modernisierte Osten gegenüber dem alten macht: dort besteht kein Zusammenhang zwischen Wesen und Äußerungsart. Da nun das Wesen ein überaus langsam Geformtes und entsprechend Langlebiges ist – von Volk zu Volk verschiedene, besonders eingefahrene Nervenbahnen vererben sich durch die Geschlechter fort –, so folgt praktisch aus der geschilderten Zusammenhanglosigkeit, daß sich das Wesen dort, wo entsprechende Ausdrucksmittel fehlen, nicht manifestieren kann; der anglisierte Hindu gleicht, übertrieben gesprochen, einem Raffael ohne Hände. Hieraus folgt, logisch genug, weiter, daß das Wesen, da es sich nicht ausdrücken und folglich ausbilden kann, allmählich verkümmert, welcher Umstand seinerseits, ganz natürlich, Ressentiment-Gefühle entstehen und wachsen läßt, bis daß zuletzt die schlechtere Seite der Natur das Übergewicht erlangt. Sachlich und nach außen zu folgt aber aus dem gleichen Verhältnis, daß die westlichen Ausdrucksmittel, von Asiaten noch so gewandt verwendet, nicht das sagen, was sie sagen können; noch hat der Orient auf den Gebieten unserer Wissenschaft und Technik nur ausnahmsweise Gleichwertiges geleistet, obgleich es sich hier um ein Äußerliches handelt, welches grundsätzlich zu jedem »Wesen« in Beziehung zu setzen ist; und er hat vollkommen versagt überall, wo er sich mit dem Westen entlehnten Ausdrucksmitteln geistig-schöpferisch versuchte. Aus diesen Erwägungen ergibt sich nun ein Grundsätzliches, dessen Bedeutung über die betrachteten Beispiele weit hinausreicht: nämlich die Unzulänglichkeit des üblichen Fortschrittsbegriffs. Fortschritt wird gewöhnlich in Funktion des Könnens definiert. Daß dies nicht angeht, beweist eben das Beispiel des modernisierten Ostens.

Gleiches beweist aber auch, und vielleicht noch schlagender, das des jüngsten Westens. Hier hätte es zu keiner Diskrepanz zwischen Sein und Können zu kommen gebraucht, denn schließlich ist dieses ursprünglich aus jenem hervorgewachsen. Aber nachdem einmal der rein das Können betreffende Fortschrittsbegriff die bewußte Entwickelung bestimmte, wurde dieses zum so ausschließlichen Ziel, daß jeder Sinn sogar für Seinswerte immer mehr entschwand; so sehr kommt es auf die Gedanken des Menschen an. Nachdem bloßes Wissen lange genug als Ideal gegolten, nachdem man es lange genug gewohnt ward, die Persönlichkeit an ihrer Tüchtigkeit, die Gesinnung an der Parteizugehörigkeit oder dem Programm zu messen, kurz den Menschen als Sache zu beurteilen, erfolgte im Westen eine recht eigentlich künstliche Aufhebung des Zusammenhangs zwischen Sein und Können, und zwar mit genau dem gleichen Erfolg, welchen die Übernahme unverstandener Ausdrucksmittel den Asiaten eintrug. So konvergieren Ost und West im schlechthin-Schlechten. Im vorgeschrittensten Westen gibt es nur mehr Könnenskultur: dies ist der wahre Sinn der modernen Seelenlosigkeit, welche gesteigert auf den sich mechanisierenden Osten übergreift. – Wohl leben auch unter uns noch Verkörperer echter Seins-Kultur; aber diese gehören dem Geist der Vergangenheit an und vermögen das moderne Leben nicht mehr zu bestimmen. Ihre Ausdrucksmittel sind den Jungen unverständlich geworden, die überdies den neuen Aufgaben tatsächlich nicht mehr gewachsen erscheinen. Ein Ritter, ein Katholik des Mittelalters, ein Protestant der Reformationszeit, ein Zeitgenosse Goethes – sie alle kommen noch vor, denn Kulturtypen sterben so schnell nicht aus und die Geschichte besteht aus so reinlichen Ablösungen nicht, wie die Historiker dies gern konstruieren – kann seiner Mentalität nach, wie er sich auch stelle, heute nicht mehr Gutes wirken, denn ihm fehlt der innere Kontakt mit den Kräften der veränderten Wirklichkeit. Dank diesem Umstand befinden sich auch die tiefgebliebenen Alten, sozial und historisch betrachtet, in einer ähnlichen Lage, wie verwestlichte Asiaten und mechanisierte Europäer.

Bedarf es eines weiteren, um den bolschewistischen Zug dieser Zeit auf der ganzen Erde zu erklären? – Die Unzeitgemäßen verzweifeln, verfallen entweder in Passivität oder sie verschreiben sich reaktionärer Katastrophenpolitik. Unter den Zeitgemäßen aber wird immer mehr Einzelnen, Gruppen und Völkern die traurige Wahrheit bewußt, daß die moderne Kultur zu einer solchen des reinen Könnens geworden ist, in welcher das lebendige Wesen, anstatt sich auszuleben, erstickt. Dies führt denn naturgemäß zu einem krampfhaften Befreiungsdrang, welcher sich deshalb so radikal und rücksichtslos äußert, wie keiner zuvor, weil tatsächlich der ganze Kulturkörper zur Äußerlichkeit geworden ist. Der ganze Osten steht im Zeichen der Erhebung gegen die Errungenschaften des Westens, die dort als Weg zur eignen Seele zurück erscheint. Die auf Innerliches bedachte Jugend Europas urteilt ähnlich: fort mit allem, was unsere Entwicklung hemmt! Hier fassen wir den eigentlichen Sinn jener Konvergenz mit Rußland, die sich zuerst in der Tolstoi- und Dostojewski-Verehrung manifestierte und seither in der unaufhaltsamen geistigen Bolschewisierung der begabtesten Jugend aller Länder äußert Die Bedeutung Rußlands in diesem Zusammenhang beleuchtet am besten Hermann Hesses kleine Schrift Blick ins Chaos, Bern 1920, Verlag Seldwyla.. An und für sich sind die Probleme Rußlands und des Westens grundverschieden; als dort der Nihilismus aufkam, bedeutete er für den Westen nichts und konnte es nicht tun. In Rußland hingegen hatte er seinen guten Sinn. Mittelalter, Renaissance und Aufklärung hat dieses nie erlebt; gewaltsam wurde einer Masse, welche geistig und seelisch dem 9. Jahrhundert angehörte, einer Oberschicht, deren Charakter über den des 15. und 16. Jahrhunderts im allgemeinen nicht hinausentwickelt war, die Moderne äußerlich oktroyiert. Da nun das russische Volk ein innerlich gesinntes ist, so merkte es früh den Widerspruch zwischen Sein und Können, gelangte es früh zur Einsicht, daß es das, was es auf westlich ausdrückte, so nicht meine. Und so begann, aus den gleichen Beweggründen wie die Bewegung Gandhis im heutigen Indien, der Wille zum Abbau des Übernommenen geschichtlich zu bestimmen, ein Wille, der unter der ehernen Führung der Bolschewisten sein Ziel seither nahezu erreicht hat. An und für sich ist der Nihilismus demnach ein ausschließlich russisches Phänomen. Aber sein Geist ist zu dem der übrigen Welt geworden, weil die Hypertrophie des Könnens und seiner Gestaltungen in allen Weltteilen einen ähnlichen Zustand herbeigeführt hat. Die begabtesten Jungen fühlen gar keinen Zusammenhang mehr zwischen ihrem Wesen und den überkommenen Formen. So streben sie zunächst nach dem Naturzustande zurück: Wissen und Können hätten sich ad absurdum geführt.

Haben sie das wirklich? – Nun, daß Können und Wissen genügten, um ein hohes Kulturniveau zu beweisen, dieses Mißverständnis hat das Schauerbild des Weltkriegs widerlegt. Dieses hat über allen Zweifel hinaus erwiesen, daß der moderne Mensch viel hemmungsloser dasteht – und dies im üblen Sinn – als alle seine Vorfahren; heute kennzeichnet die Völker Europas als politische Wesen das, was man bei Individuen moral insanity heißt. Nichts illustriert dies deutlicher, als die jüngste Neigung der Völkerrechtsgelehrten, den Krieg als Rechtsbruch schlechthin zu definieren, weshalb alle Friedensbindungen, so lange er währe, ipso facto als aufgehoben zu denken wären. Anders dürfte der moderne Ausrottungskrieg, der nun einmal Tatsache ist, allerdings nicht zu rechtfertigen sein ... Zweitens hat der Weltkrieg mit seinen Folgen erwiesen, daß das Können den Menschen nicht mächtiger, sondern ohnmächtiger gemacht hat, als er's früher war. Noch nie, seit Menschengedenken, war der Gegensatz zwischen der Größe der Ereignisse und der Kleinheit der Menschen, die sie zu lenken suchten, auch nur annähernd so groß. Wohl waren die materiellen Mächte, welche in Wahrheit den Weltkrieg führten, von den Sprengstoffen bis zu den Massenaufgeboten und den erdballumspannenden Interesseverknüpfungen, von Menschen in die Welt gesetzt. Aber einmal erschaffen, erwiesen sie sich dem Schöpfer als überlegener noch, als gleiches von den Geistern des Goethe'schen Zauberlehrlings galt. Der Mensch war reiner Sklave seiner Sachen geworden. Deren Zusammenhang ballte sich zu so ungeheuerlicher Macht zusammen, daß man der Wiederauferstehung des antiken Schicksals beizuwohnen glaubte, jenes schlechthin irrationalen, übermächtigen Schicksals, welchem sich Götter wie Menschen gleichmäßig beugen mußten. Der Fortschritt des Könnens hatte es also zunächst dahin gebracht, daß das Leblose über das Leben schier unbeschränkte Macht gewann; wenn auf Grund einer Rechnung Millionen sinnlos sterben können, so bedeutet dies, daß der Geist von den Zahlen beherrscht wird und nicht umgekehrt. – Drittens aber beweisen die geistigen Hintergründe des gleichen Weltkriegs, daß überall ein offenbarer Gegensatz zwischen innerem Wollen und äußerem Tun besteht. Dieser Krieg sollte den Krieg als solchen beenden, eine bessere Welt begründen, den Völkern Freiheit bringen – und was geschah? Was geschieht weiter? Was wird aller Voraussicht nach noch jahrzehntelang unabwendbar weitergeschehen? Das genaue Gegenteil. Das Können an sich ist offenbar völlig ohnmächtig; es folgt mechanischen, ungeistigen Gesetzen, welche den tragisch schuldigen Menschen zu dem zwingen, was er am wenigsten will. So liegt es freilich nahe, dem modernen Können als solchen den Krieg zu erklären, und sich aufs Urtümliche, das man sich irgendwie auch unschuldig denkt, zurückzuziehen.

 

Allein das Nächstliegende ist nicht notwendig das Weiseste. Wenn eine Aufgabe einem scheinbar über den Kopf wächst, so stellt sich, bevor man jene selbst verwirft oder die Arbeit niederlegt, doch wohl die Frage, ob man ihr nicht gewachsen werden kann. Vergleichen wir nun, dieses gedenkend, das Bild unserer Untergangszeit, in welcher die Sachen über die Personen bestimmen, mit beliebigen großen Zeiten der Geschichte, so finden wir, daß solche allemal dadurch ausgezeichnet waren, daß, umgekehrt, Persönlichkeiten die Dinge beherrschten. Dies gilt ohne Ausnahme. Daraus den Schluß zu ziehen, daß es heute einfach an entsprechend begabten Menschen fehlt, liegt nahe. Doch der Schluß trifft nicht zu: nie waren, im Gegenteil, Begabungen vielfältiger am Werk; sollten größte Persönlichkeiten fehlen, so zwingt die Gerechtigkeit doch in Erwägung zu ziehen, daß solche auch zu den größten Zeiten keine Dutzendware darstellten. Nein, die Dinge müssen anders liegen. Zunächst: ist es buchstäblich wahr, daß heute Sachen herrschen, nicht Personen? Das können sie gar nicht. Sprengstoffladungen explodieren nie ganz von selbst, Kalkulationen muß doch irgend jemand anstellen. Auch keine Institution fungiert selbsttätig; persönliche Freiheit hält sie überall im Gange. Wenn diese nur der Routine zugutekommt, wenn der Einzelne nur Vorgegebenes willenlos vollbringt, so handelt er auch hier, metaphysisch beurteilt, aus freier Wahl, denn er hätte sich zu einer selbständigeren Persönlichkeit entwickeln können. So ist es überall. Jeder Richter darf nicht allein, er muß das Gesetz interpretieren, um es auf den konkreten Sonderfall anzuwenden, und tut er dies scheinbar nur auf Präzedenzfälle hin, so hat doch eben er unter diesen die Auswahl getroffen. Es verantwortet also letztlich überall, unter allen Umständen, der freie Mensch (vgl. S. 93). Und dies ist nicht weniger, sondern desto mehr der Fall, je mehr die Masse – ob lebendig oder tot – zu bestimmen scheint. Wer ein modernes Explosiv zur Entladung bringen kann, dessen Wahlfreiheit bedeutet mehr als die des schwertschwingenden Wilden. In Zeiten vermeintlicher Volksherrschaft hat der gerade Führende, und sei er an sich noch so klein, viel mehr Möglichkeit, seine persönlichen Neigungen auszuleben, als der als solcher anerkannte Autokrat. Da zwischen seiner Verantwortung und seiner Macht kein Verhältnis besteht, so fühlt er gar leicht nur diese; sie wird zum Werkzeug seines empirischen Ich, das folglich viel mehr mitentscheidet als dort, wo der Mensch bewußt einem großen Ganzen dient und sich durch dessen Gesetze innerlich gebunden fühlt. Doch auch ganz abgesehen vom möglichen Mißbrauch: es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß der moderne Massenführer, scheinbar beschränkt, tatsächlich über viel mehr Macht verfügt als je ein antiker Heros. Unter diesen Umständen stellt sich das Problem, die Moira der Zivilisation zu überwinden, doch offenbar anders, als man gemeiniglich meint und auch unsere ersten Feststellungen erwarten ließen. Es ist gar nicht wahr, daß die Sachen an sich entschieden – Personen tun es heute mehr denn je. Nur sind diese jenen nicht gewachsen.

Denken wir von hier aus an die Betrachtungen in Worauf es ankommt und Erscheinungswelt und Geistesmacht zurück, so liegt die Lösung des Problems dicht vor uns. Nicht allein, was draußen in seiner Umwelt wird, auch seine persönliche Einstellung hängt letztlich vom Menschen ab. Wenn der Moderne, grundsätzlich Herr aller Dinge, in jedem Einzelfall persönlich letztentscheidend, dennoch ohnmächtig dasteht, dann hat er sich selbst wohl falsch zu den Dingen und zu sich selbst gestellt; dann ist es wohl seine eigene Schuld, nicht die des erschaffenen Apparats, wenn er so ohnmächtig und schlecht geworden ist. So muß es wohl sein. Die Person ist, auf Grund falsch angewandten und schiefen Denkens, der Sache geopfert worden – nur deshalb hat das, was ihn hätte mächtig machen können und sollen, den Menschen ohnmächtig gemacht. Dank falscher Einstellung blieben seine lebendigsten Kräfte außer Spiel. Diese wurden nicht ausgenutzt, auch von den Begabtesten, den Besten nicht. Die herausgestellte Erkenntnis entschied, das Sein, das Wesen sprach nicht mit, und dementsprechend oberflächlich wurde der jeweilige Sinn erfaßt, dementsprechend unzulänglich verwirklicht. Auch unter den heutigen komplizierten Verhältnissen wäre der wesenhafte Mensch bei entsprechendem Verantwortungsbewußtsein führend geblieben. So wird es ganz sicher sein. Ist dem nun aber so, dann erhält die Forderung, die sich vorhin als notwendig ergab, daß das Können von entsprechendem Sein getragen werde, einen ethischen Hintergrund, der sie als grundsätzlich erfüllbar erweist. Es kann und muß deshalb gelingen, unsere mechanische Könnenskultur zum Ausdrucksmittel entsprechender Seinskultur zu erheben; es kann und muß folglich gelingen, uns als bestimmende Persönlichkeiten über die hoch aufgetürmten Sachlichkeiten zu erheben, und das, was der vergangenen Jahrzehnte letzte Instanz war, zu Ausdrucksmitteln zu erobern. Eben solche Eroberung war es ja, welche frühere große Zeiten groß machte. Auch in jedem jener Fälle war es ein in irgendeiner Hinsicht überlegenes Können, welches den äußeren Aufstieg eines Volks oder einer Kultur veranlaßte – man denke an die Fertigkeiten der Ägypter, die griechische Geistigkeit, die römische Kriegs- und Verwaltungstechnik bis zu Napoleons Kriegskunst und zur englischen politischen Routine; – aber dieses Können diente in jenen Fällen überlegenem Geist. Heute verfügen wir über reichere Ausdrucksmittel als irgendeine Zeit, nur wissen wir gleichsam nichts mit ihnen zu sagen. Grundsätzlich ist unser heutiges Problem, so neu und einzig es scheine, kein anderes, als welches Antike und Mittelalter, das noch das 18. Jahrhundert gelöst hat. Es ist nur praktisch deshalb schwieriger zu lösen, weil sich das Können dieses Mal in einem bisher unerhörten Grade verselbständigt hat. Zu lösen ist das Problem trotzdem, und zwar in eben dem Sinn, daß beim Innerlichen, beim Menschen angesetzt werden muß. Soviel können wir schon jetzt mit Sicherheit behaupten.

Leider sehen aber noch sehr wenige die Aufgabe so, wie sie gesehen werden muß. Die meisten Denkenden sind sich darüber wohl klar, daß die Weltlage, verfahren wie sie ist, sich immer weiter verschlechtern muß. Aber noch wähnen viele, durch äußere Reformen sozialer oder wirtschaftlicher Art, oder durch eine neue Gewaltorganisation, wie die des heutigen Völkerbunds, oder endlich durch einen neuen Glauben inhaltlicher Art dem Verhängnis steuern zu können. Bestand denn das Verhängnis der Moderne, das seine Entladung in der Weltkatastrophe fand, nicht eben darin, daß die Menschen unter ihren Organisationen und Geistesinhalten standen? daß sie viel kleiner als ihre Ideale waren nicht allein, daß sie zu den Idealen, die sie bekannten, kein inneres Recht hatten? Und wenn nun im Sinn der höchsten reformiert wird – was ergibt sich daraus? Nur eine Vergrößerung der Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit. Solange es keine echten Sozialisten, d. h. Menschen gibt, deren Gemeinschaftssinn die Selbstsucht überwiegt, wird keine Sozialisierung einen Fortschritt einleiten; solange die Menschenherzen von Waffen starren, bleibt es sich gleich, ob die Mächte ihre Rüstungen einschränken oder nicht. Solange ein besserer Glaube nicht von tieferen Menschen bekannt wird, bedeutet er nichts. Äußere Reformen als solche nützen wenig. Täuschen sie gar einen zu hohen sittlichen Zustand äußerlich vor, so erzielen sie lediglich Unverantwortlichkeitsgefühl beim einzelnen – dieser wird bewußt unwahrhaftig und tut, unter konventioneller Maske, desto mehr, was ihm persönlich Vorteil bringt. Zu weit ausgreifende äußere Reformen vergrößern also nur den Abstand zwischen Wirklichkeit und Ideal. Statt dessen sollte sich diese – alias die zwischen Sein und Können, zwischen Sinn und Ausdruck – fortschreitend bis zur Kongruenz verringern. Dies kann nur gelingen, wenn beim Menschen angesetzt wird. Also ist die Zeitaufgabe, auch von hier aus betrachtet, eine der Verinnerlichung.

 

Zum Zweck der praktischen Lösung der genannten Aufgabe erscheint es angebracht, sie zunächst ein wenig anders zu stellen, und zwar in den Zusammenhang unserer Betrachtungen über den Sinn hinein. Das Leben, im Unterschied von seinen Ausdrucksmitteln körperlicher, seelischer und geistiger Art, läßt sich als Sinneszusammenhang und so allein, soweit solches überhaupt möglich ist, mit dem Verstande begreifen. Nur die Tatsachen, welche gleichzeitig Sinnbilder sind, erscheinen belebt; nur das dem Lebendigen Eingegliederte gehört innerlich zu ihm; nur der Mensch erfüllt seine von ihm persönlich als solche gefühlte Bestimmung, der seinem Leben einen Sinn gibt. Aus diesem Gesichtswinkel betrachtet, besagt nun das Fehlen eines Zusammenhangs zwischen Sein und Können nichts anderes, als daß das moderne Leben sinnlos geworden ist. Wenn Machtentfaltung, Kapitalverwertung, Reichtumszuwachs, Tüchtigkeit, Wissen, Können, Betriebe als Selbstzwecke gelten können, wenn das persönliche Leben ihnen dient, anstatt sie zu beherrschen, dann fehlt diesem anerkanntermaßen der eigene Sinn. Der »freie« moderne Mensch beurteilt sich selbst wenig anders, wie der Sklave im Altertum vom Herrn beurteilt wurde, und übt seine Macht über andere nicht allein, sondern auch über sich selbst entsprechend aus. Mögen nun einzelne mit Begeisterung Arbeitstiere sein – dies gilt von vielen modernen Führern, von denen ein Reinkarnationsgläubiger annehmen möchte, daß sie in ihrem letzten Leben Galeerensklaven waren und sich die Routine noch nicht abzugewöhnen Zeit fanden Theologen werfen mir neuerdings häufig vor, ich hätte keinen Sinn für den Segen und die Heiligkeit der Arbeit. Wie ich über diesen Punkt denke, habe ich in meinen Aufsätzen Vom Beruf und Arbeit im 1. und 2. Heft des Wegs zur Vollendung genauer dargelegt; eine tiefere Fassung meiner Auffassung bringt der letzte Zyklus in diesem Buch, welcher das Mißverständnis hoffentlich aus der Welt schaffen wird. Insoweit aber haben meine Gegner von ihrem Standpunkt recht: ich bin tatsächlich gegen das überbetonte Arbeits-Ethos, durch das der Geist der Juden – sie allein verherrlichten im Altertum die Arbeit – mehr als durch alles andere seinen Stempel dem Westen aufgedrückt hat. Freilich muß jeder arbeiten, denn sonst verkümmert er. Freilich ist Trägheit Sünde, muß jeder sein Bestes leisten. Aber der Mensch darf niemals Knecht seines Werkes sein, das aber ist es, was zunächst allgemein unter dem Segen der Arbeit verstanden wird, besonders unter Lutheranern, als bei welchen der Begriff des Segens der Arbeit nur zu oft aus der fortschrittsfeindlichen Gesinnung der unbedingten Bescheidung bei der gegebenen Lebenslage heraus geboren ist.: kein Wunder, daß ganze Völker Selbstmordwille überkommt, zum mindesten unbändige Lust, was nur irgendwie Kette sein könnte, zu erschlagen. Der Mensch verträgt alles, nur nicht das Bewußtsein der Sinnlosigkeit seiner Existenz, denn Sinn und Leben sind eins. – Unter dieser Beleuchtung spitzt sich das Problem, dessen Lösung wir zuerst in der Zusammenstimmung von Sein und Können sahen, zu der praktischen Alternative zu, entweder wirklich, dem Bolschewistengeist gemäß, das sinnlos Gewordene abzustoßen und neu anzufangen, oder aber das, was bisher sinnlos war, sinnvoll werden zu lassen. Die erste braucht überhaupt nicht erwogen zu werden, solange die andere sich stellt, denn aller historische Fortschritt führt ideell, wenn nicht praktisch, von Höhepunkt zu Höhepunkt fort (S. 40). Kann nun bisher Sinnloses sinnvoll werden? Freilich. Nur setzt die Beantwortung dieser Frage eine tiefere Fassung des Sinnesproblems voraus, als wir sie bis hierher besitzen.

Das Problem des Sinnes ist, wir sahen es, mit dem des Lebens grundsätzlich eins (S. 60). Was ist nun Leben, technisch betrachtet? Ein Be—leben des Toten. Der physische Organismus erhält und entwickelt sich dadurch, daß er sonst Lebloses in seinen Zusammenhang hineinbezieht; dies gilt von der einzelnen Stoffpartikel bis zum Meer, das dem physiologisch offenen Seestern zur Lymphe dient, bis zur Luft, welche wir Menschen ein- und ausatmen, bis zum Weltall zuletzt, das dank unserem Dasein auf einen besonderen Koordinaten-Schnittpunkt bezogen erscheint. Überall, wo Leben herrscht, gliedert sich das Äußerliche Zusammenhängen ein, in welche es von sich aus nicht hineingehört; da diese Zusammenhänge eben lebendige sind, so trifft unsere Bestimmung ohne Zweifel das technisch Wesentliche. Das Beleben erweist sich nun desto deutlicher als das eigentliche Charakteristikum des Lebens, je geistiger dieses sich darstellt. Alles Auffassen, Aufnehmen ist schon ein Beleben; allein Verstehen ist Gleiches in höherem Grad. Nicht nur deshalb, weil nur Verstandenes als assimiliert gelten darf, sondern weil das Verstehen über das Verstandene Macht gibt und die Außenwelt überall den Stempel des Geistes trägt und die von ihm gewollte Gestalt annimmt, wo dieser sie begriff. Hier gilt nun ein weiterer Satz: je tiefer Geist verstehend vordrang, desto mehr hat das Gegenständliche am Leben teil. Die Tiefe der Sinneserfassung scheint dabei der Weite des also durchdrungenen Gebiets geradezu proportional zu sein, so schwer sich dies nachweisen läßt: wie die mathematische Formel, je allgemeiner sie ist, desto mehr Sonderfälle zu beherrschen gestattet, so bedingt jede tiefere Stufe der Einsicht Überlegenheit über entsprechend mehr Kräfte und Situationen. Von hier aus gelingt nun besser zu verstehen, was wir schon bei anderer Gelegenheit feststellten, daß Verankerung des eigenen Lebens in tieferem Sinn allein den bewußten Lebensprozeß im Gang erhält. Sobald einer sein Dasein als sinnlos empfindet, hört sein Streben auf; als je sinnvoller er es ansieht, desto größere Kräfte wirken sich in ihm aus. Sinn und Leben bedeuten nicht allein Gleiches – der Grad der Belebtheit ist offenbar der Tiefe der Verwurzelung im Sinn proportional. Dies erklärt vollends die Selbstmordstimmung der mechanisierten Menschheit. Dies erklärt gleichzeitig, weshalb religiöse Zeiten – was außer Frage steht – von allen die gewaltigste Lebens- und Schaffenskraft beweisen: Gott bedeutet dem Menschen das Bild des letzten und tiefsten Sinns. Jetzt aber müssen wir eine weitere Frage stellen: Was ist Belebung und deren geistiges Äquivalent, die Sinneserfassung, ihrerseits technisch bewertet? Sie ist ein aktiver, ein schöpferischer Vorgang. Beleben geschieht immer nur von innen nach außen zu. Nie liegt das Leben im Stoff beschlossen, noch ist es aus diesem herauszuholen: es kann diesem nur eingebildet werden. Geist und Leben bedeuten, wo vorhanden, immer das Primäre, weshalb es unbedingt der vorhandenen Zelle bedarf, damit eine gegebene Lebensform sich fortpflanze, der Tradition, damit ein Geist sich im Verstehen perpetuiere, der persönlichen Schöpferkraft von innen heraus, auf daß der Buchstabe neuen Sinn oder Sinn überhaupt offenbare. Niemals liegt dieser in den Erscheinungen als solchen beschlossen: er muß allemal in sie hineingelegt werden. Dieser Umstand ist nun für unser heutiges Problem von entscheidender Wichtigkeit. Allerdings hängt der Sinn in seinem An-sich-sein, in seinem geistigen Gelten – gleichviel, wie dieser Ausdruck zu verstehen sei – nicht von empirischen Bedingungen ab. Aber empirisch verwirklicht erscheint er allemal nur dort, wo er jeweilig hineingelegt wird. So entsteht der Sinn eines Buchs tatsächlich jedesmal neu, wo es verstanden wird, so bleibt er ungeboren, wo das Verständnis ausbleibt. Objektiv, ohne Belebung durch den Geist, gibt es immer nur Druckerschwärze plus Papier. Dies ist genau im gleichen Verstand der Fall, wie es »objektiv« am Körper nur materielle Stoffe und Kräfte gibt; wird dieser nicht belebt, so stellt er das dar, was man eine Leiche heißt: sein Zusammenhang ist ohne Sinn geworden, weshalb er auch bald zerfällt. Was vom Buch und vom physischen Organismus gilt, trifft nun bei allen Sinneszusammenhängen zu, den letztdenkbaren, welche die Totalität umspannt, mit einbegriffen. Es bedeutet ein Mißverständnis, nach einem »Sinn der Welt« zu fragen, welcher ohne uns da wäre: die Welt hat faktisch (nicht ideell) genau nur insoweit Sinn, als dieser realisiert wird. Hier faßt man die wahre Bedeutung der Christuslehre, daß das Himmelreich auf Erden verwirklicht werden soll: nur in dieser Verwirklichung wird der Himmel für uns wirklich. Hieraus erklärt sich, weshalb Gott zu aller Zeit der Mitarbeit des Menschen bedurft hat, um seinen Willen durchzusetzen, hieraus die Erfahrungstatsache, daß das Leben ohne weiteres sinnlos wird, wenn die Menschen aufhören, seine Prozesse initiatorisch auf Bedeutungszusammenhänge zurückzubeziehen, weshalb Kulturen mit unheimlicher Leichtigkeit vergehen und das Menschenleben wieder und wieder in der Geschichte von einem geistbestimmten zu einem tierhaften zurücksank. Dies ist nicht etwa darauf zurückzuführen, daß der Geist oder Sinn ein bloß Subjektives, d. h. Empirisch-Menschenbedingtes wäre, sondern daß die Dimension des Sinnes von innen nach außen zu liegt, bildlich gesprochen, senkrecht zur horizontal zu beschreibenden Naturgegebenheit. Was deshalb von der Naturebene aus, deren Normen gemäß beurteilt, subjektiv erscheint, bedeutet gerade die Eigenart des Geistig-Wirklichen, sofern es wirklich ist. Sinn kann nur von innen nach außen zu nicht allein gegeben, sondern auch verstanden werden. Deshalb verwirklicht er sich ausschließlich durch das persönliche Wirken von Subjekten hindurch. Hier hielten wir denn die metaphysische Bedeutung der vorhergehenden Feststellung, daß auch in scheinbar rein sachlichen Zusammenhängen der persönliche Mensch letztendlich entscheidet. Das lebendige Prinzip ist unter allen Umständen ein Subjekt, kein Objekt, deshalb fehlt Leben dort, wo die lebendig-sein-sollende Erscheinung kein Subjekt zur Seele hat, was die Erfahrung jedesmal erweist. Sinnesverwirklichung bedeutet eben Beleben, Belebung ist nur denkbar von innen nach außen zu, belebt kann alles werden, was das Leben in sich hineinzubeziehen vermag, aber nichts Erscheinendes ist an sich und von sich aus lebendig. Jetzt können wir die Frage, ob Sinnloses sinnvoll zu machen sei, endgültig beantworten: nichts an der toten Natur ist von Hause aus sinnvoll, aber alles kann es werden, wenn es auf lebendigen Geist bezogen wird. Dies gilt natürlich erst recht von menschenbedingten Gestaltungen, welche sinnlos wurden: grundsätzlich ist es jedesmal möglich, sie in den Zusammenhang des Lebens zurückzubeziehen. Deshalb ist es nicht notwendig, den rein mechanisch gewordenen Zivilisationsapparat des Westens abzutragen. Was sinnlos geworden war, kann tatsächlich wieder sinnvoll werden.

 

Aber wie soll dies praktisch geschehen? Auf welche Weise kann es gelingen, emanzipiertes Können auf Sein zurückzubeziehen und dieses entsprechend höher auszubilden? Damit ist ein weiteres Grundproblem ausdrücklich gestellt, das uns zu Anfang dieser Betrachtung schon im Negativ entgegentrat: das Problem des wahren Fortschritts. Bloßer Könnens-Fortschritt, so fanden wir, bedeutet keinen wahren, weil solcher nur die Äußerungsmöglichkeit des Lebens betrifft, nicht dieses selbst. Gibt es im Falle dieses überhaupt Fortschritts-Möglichkeit? Hat sein Begriff in wesentlichem Zusammenhang noch Sinn?

Daß es höhere und niedere Stufen des Lebens gibt, bezweifelt niemand. Es gibt große und kleine, tiefe und flache, überlegene und subalterne Menschen im Rahmen des gleichen Volks, der gleichen Zeit, der gleichen Kultur. Die jeweilige Größe, Tiefe und Überlegenheit ist auch unzweifelhaft in jedem Fall eine Frage nicht des Könnens, sondern des Seins. Des letzteren Begriff bestimmten wir zu Anfang: eines Menschen Sein bedeutet seinen persönlichen Kern, der allen Äußerungen zum lebendigen Hintergrunde dient, durch diese hindurchspricht. Worin besteht nun, falls solche besteht, Höherwertigkeit, d. h. Überlegenheit im Sein? Sie besteht darin, daß die Kräfte des Geistes und der Seele in einen tieferen Sinneszusammenhang hineinbezogen erscheinen, als sonst der Fall ist. Die gleichen Dinge bedeuten dem Überlegenen anderes als dem Subalternen. Auf jede tiefere Stufe bezogen, erhalten die gleichen Phänomene einen anderen Sinn und werden folglich zu Sinnbildern von anderem. Bringen wir diesen lebendigen Tatbestand nun auf einen abstrakten Ausdruck, so finden wir, daß der Begriff eines wesentlichen Fortschritts allerdings einen Inhalt hat – nur bezieht dieser sich auf eine andere Dimension als alle nur mögliche Naturveränderung. Stellen wir diese als in der Horizontale belegen dar, so verläuft jener senkrecht zu ihr. Er verläuft also in eben der Dimension, in welcher Sinneserfassung und -verwirklichung sich bewegen. Von hier aus wird nun verständlich, inwiefern äußerer Fortschritt über den inneren nichts besagt und Tiefe, Größe und Überlegenheit sich auf jeder Stufe jenes feststellen lassen (vgl. S. 151). Damit ein innerer Fortschritt stattfinde, braucht sich am Rohmaterial des Ausdrucks grundsätzlich nichts zu ändern. Das Alphabet der Natur (im weitesten Verstand) bleibt im Großen unabänderlich das gleiche; d. h. das Neuhinzukommende bedeutet nichts im Vergleich zur Übermacht des immerdar Fortbestehenden. Aber wie unsere 25 Buchstaben, von Goethe gehandhabt, anderes sagen und bewirken als unter den Händen eines Durchschnittsmenschen, so schafft verschiedene Zentrierung eines gleichen Sinnes-Zusammenhangs jedesmal einen neuen lebendigen Tatbestand. Vom Standpunkt des Geistes kommt es deshalb überhaupt nicht auf den mehr oder weniger großen Reichtum an Buchstaben an, sondern einzig auf das, was sich durch diese ausdrückt. Unter diesen Umständen ist das Äußerliche, in welchem das 19. Jahrhundert allein den Fortschritt suchte, vom Standpunkt wesentlichen Fortschritts aus betrachtet, gleichgültig. Hier handelt es sich nur um eine Verbesserung und Vervollkommnung der Ausdrucksmittel, durch die sich freilich mehr sagen läßt, wofern man mehr zu sagen hat, aber auch nur dann.

So lautet denn die Antwort auf die Frage, wie es gelingen kann, emanzipiertes Können auf Sein zurückzubeziehen, welche Frage die nach der Möglichkeit eines wahren Fortschritts einschließt, grundsätzlich folgendermaßen: Können wird zum Seinsausdruck, wenn das Äußerliche auf einen inneren Sinn zurückbezogen wird; das Sein ist aber ein höherwertiges, je nachdem, wie tieferfaßter Sinn sich in ihm konkretisiert. Wessen persönliches Leben Gott zum lebendigen Hintergrunde hat, steht höher als der, dem sein empirisches Ich letzte Instanz ist, welches Höherstehen sich in größerer Belebtheit und Bedeutsamkeit dessen, was er leistet, unzweideutig erweist. Nun noch einen Schritt weiter. Sinn verwirklicht sich so allein, daß er sich ausdrückt; dies muß er entsprechend tun, um voll zu wirken. Deshalb verlangt jeder neue Sinn einen neuen Ausdruck; deshalb beschwört jeder neue Ausdruck einen neuen Sinn. Insofern hat die Vertiefung doch, entgegen dem zuerst Gesagten, an der veränderten Erscheinung einen Exponenten – nur ist es nicht die Veränderung an sich, welche den Fortschritt macht, sondern das, was durch sie zum Ausdruck kommt. Hier läßt sich nun ein grundsätzlicher Zusammenhang feststellen, der für die Lösung unseres heutigen Problems von ausschlaggebender Bedeutung ist. Wenn Sinn, konkret verstanden, Leben ist und Leben grundsätzlich gleich Beleben, dann bedarf es offenbar desto überlegenerer Kraft, je reicher der zu beseelende Körper ist; dann bedarf es, das gleiche Verhältnis auf den Sinn zurückgedeutet, desto tieferer Sinneserfassung. Überlegenheit beruht allemal darauf, daß das Bewußtseinszentrum dem Schnittpunkt der geistigen Koordinaten näher liegt als beim Subalternen, genau so wie auf abstraktem Gebiet die grundlegende mathematische Formel, einmal gefunden, die Lösung aller ihr subordinierten Sonderprobleme vorwegnimmt. Sofern also unser Leben deshalb äußerlich geworden ist, weil seine Außenseite sich zu reich entwickelt hat, so kann der bloß technische Fortschritt nur dadurch in einen wesentlichen hinübergeleitet werden, daß der Reichtum auf größere Tiefe zurückbezogen wird. So läßt sich das Verhängnis dieser Zeit am folgenden Bilde sinngemäß verdeutlichen. Kulturen gleichen Bäumen; wie bei diesen die Wurzeln desto tiefer ins Erdreich dringen müssen, je höher die Kronen gen Himmel ragen, so verlangt jede reicher werdende Kultur desto tiefere Verwurzelung im Geist. Die unsrige gleicht heute einem Baum, dessen Wurzeln nicht korrelativ zum hohen Wachstum tiefer eindrangen; dem« entsprechend ist die Krone verdorrt. Sobald nun jene aber ihr Wachstum neu beginnen, könnte auch diese wieder neu ausschlagen. Das Problem der Neuverknüpfung von Seele und Geist, der Kongruierung von Sinn und Ausdruck, der gegenseitigen Angleichung von Sein und Können läßt sich in diesem Zusammenhang auch dergestalt fassen, daß es einer neuen Synthese von Reichtum und Tiefe bedarf.

 

Hiermit wäre die theoretische Grundlegung dessen, worauf die heutige Betrachtung hinzielt, fertigskizziert. Mehr ist im Rahmen eines kurzen Vortrags nicht zu erreichen, wo dieser eine besondere Art, das Lebensproblem zu sehen, zum erstenmal als solche veranschaulichen soll. Nunmehr können wir uns, ohne weitere Seitenblicke, noch kurz dem Problem der unmittelbar praktischen Verwirklichung des als notwendig Erkannten zuwenden. Die nächste Frage ist, ob und wie sich tieferes Sein heranbilden läßt. Daß es heranzubilden sein muß, ergaben bereits die Betrachtungen von S. 180. Hier kann ich mich mit dem Wie auch nicht weiter befassen; nur soviel will ich sagen, wie zur Vollendung einer Skizze erforderlich erscheint. – Sein, im Gegensatz zum Können, bedeutet Beseeltheit des äußeren Lebensausdrucks vom Wesenszentrum her oder Zurückgeführtheit aller Phänomene auf dieses; dies besagt, daß im Fall des »Seienden« alle Äußerungen persönlich durchdrungen sind, daß also die Persönlichkeit überall hindurchspricht und letztlich verantwortet. Solche Durchdringung ist nun tatsächlich, wo sie nicht vorliegt, zu bewirken. Dies kann dank dem gelingen, daß der Mensch als geistig-seelisches Wesen ein Sinneszusammenhang ist, innerhalb dessen sein Bewußtsein sich frei bewegt. Es steht ihm frei, den Nachdruck dorthin zu verlegen, wohin er nur will; je nachdem, welcher »Ort« auf diese Weise betont wird, zentriert sich der psychische Organismus tatsächlich um, hat dieser tatsächlich einen anderen Mittelpunkt. Deshalb ist es, wenn theoretische Einsicht erweist, daß es von der Zentrierung des Bewußtseins abhängt, ob der Mensch seinen Mittelpunkt in seinem Wesen oder an der Oberfläche hat, grundsätzlich auch praktisch möglich, die erforderliche Umzentrierung einzuleiten. Deshalb kann es grundsätzlich jedem gelingen, seinen Ausdruck, aus dem zuerst nur Können sprach, zum Seinsausdruck zu erheben: dazu braucht er nur den Akzent in sich dauernd aufs Sein zu legen, nur dauernd von sich zu verlangen, daß nichts von ihm ausgehe, was ihm nicht durchaus entspricht. Gewiß ist die Aufgabe schwierig. Ihre Lösung geht nicht allein sehr langsam vor sich, sie bedarf einer besonderen Erziehungstechnik, über die ich mich heute nicht näher verbreiten kann, ganz abgesehen davon, daß sie noch in den Kinderschuhen steckt. Aber ihr Grundsätzliches leuchtet ohne weiteres ein, und nur darauf kommt es für heute an. Es ist völlig gewiß, daß der Mensch sich selbst verändern kann, daß Oberflächlichkeit z. B. niemals Schicksal ist, womit die Realisierbarkeit dessen, was die bisherigen Betrachtungen uns als Forderung hinterließen, bereits erwiesen ist: auf so Geringfügiges kommt es bei der Lösung der größten Probleme an. Die technische Seite der Frage kann ich, noch einmal, heute nicht behandeln, doch will ich ein Beispiel, und zwar ein ausgesucht banales Beispiel für die Wahrheit, die ich hier kurz als Behauptung aufstelle, aber in meiner Studie Erscheinungswelt und Geistesmacht genauer begründet habe, anführen, weil dieses ihre Gültigkeit besonders einleuchtend erweist. Ich behaupte: es brauchte niemand »Ansichten« zuhaben; daß jemand sich solche gestattet, beweist jedesmal Mangel an Verantwortungsgefühl. Nur Einsichten darf sich der Mensch erlauben. Deshalb soll er mit seinem Urteil aussetzen, bis daß er weiß. – Daß es sich hier wirklich um eine praktische Alternative handelt, beweist eindeutig die bewährte Wirkung der Verantwortung. Keiner bleibt dort bei Ansichten stehen, wo er im Fall von Versagen schwerster Folgen gewärtig sein muß; in solchen kritischen Fällen urteilt jeder nur einsichtsgemäß. Nun beweist aber die gleiche Erfahrung weiter, daß solch einsichtsgemäß verantwortungsvolles Handeln jeden innerlich wachsen läßt; Verantwortung verinnerlicht. Hiermit wäre erwiesen, daß entsprechende Erziehung den »Könner« zum »Seienden« umbilden kann. Daß Schicksalsschläge und Leiden Gleiches bewirken, ist allbekannt. Nun ist doch klar, daß, was äußere Umstände auslösen, auch durch freie Initiative geschehen können muß. Grundsätzlich bedeutet es nur einen Umweg, wenn die Seele äußeren Zwangs oder gar äußerer Katastrophen bedarf, um zu sich selbst zu kommen; die Wandlung bewirkt sie auch hier schließlich selbst, da nichts Äußerliches zum Subjekte Zugang hat. Hier nun beweist vieltausendjährige Erfahrung wiederum, daß Einsicht oder Verstehen, wo sie stark genug vitalisiert sind und lange genug das Bewußtsein beschäftigen, unweigerlich eine ihnen entsprechende Wirklichkeit schaffen. Hier liegt der Seinsgrund aller höheren Erziehung, aller Asketik, aller Exerzitien, aller Yoga. Selbstverständlich gelingt Wirklichkeitsschöpfung auch aus geistigem Mutterschoße nicht von heute auf morgen. Auch hier handelt es sich um einen organischen Wachstumsvorgang, eine lebendige Einbeziehung des Äußerlichen ins Innere, und solche braucht Zeit. Aber grundsätzlich möglich ist sie immer. Folglich muß Seinskultur grundsätzlich ebenso züchtbar sein wie Könnenskultur, nur freilich auf anderen Wegen; folglich ist Überlegenheit grundsätzlich kein Natur-, sondern ein Kulturprodukt. Zwar tritt sie im Fall ihrer größten Verkörperer meist als jenes in die Erscheinung, weil sie sich hier an supreme Begabung gebunden offenbart, als welche ein höchstes Niveau auch unabhängig von aller Tradition erreicht. Aber solches gilt immer nur von den Genies. Die Kulturhöhe einer Zeit und eines Volks besteht unabhängig von diesen, wo sie überhaupt besteht, weil begnadete Geister gar zu selten sind. Sie bemißt sich am Niveau des Typus, der ihre Erscheinung bestimmt. Beharrliche Typen sind aber immer Züchtungsergebnisse.

Dies wäre denn das entscheidend Wichtige, welches die praktische Lösbarkeit unserer Aufgabe endgültig erweist: Überlegenheit ist grundsätzlich ein Kulturprodukt. Weil dem so ist, nur deshalb können Herrenvölker, Herrenkästen bestehen. Solche erhalten sich in hohem Grade unabhängig von der individuellen Talentiertheit ihrer Glieder. Dies liegt daran, daß ein Überindividuelles in ihnen fortlebt, dessen Vorzüge durch persönliche Unzulänglichkeit nicht aufgehoben werden, daß ihr Wesentliches ein Typisches ist. Sie sind eben Züchtungsergebnisse, und alle Züchtung beruht auf Kulturwollen. Die Arten und Gattungen der Natur sind gewiß unwillkürlich, nicht anders wie die Sprachen, aber andererseits kam keine Veredelung je ungewollt zustande. Auch physische Typen sind überall, wo sie dem normalen Naturbestand gegenüber ein Mehr darstellen, geistgeboren – mag auch der Geist jeweilig unbewußt, durch instinktmäßig richtige Gattenwahl, gewirkt haben. Doch die physische Vererbung bedingt nur zu einem geringen Teil, was sich als jeweiliger historischer Typus durch die Jahrhunderte fortsetzt: geistige und seelische Vater- und Mutterschaft bedeutet hier viel mehr als physische, weil die physische Vererbung nur bestimmte Grundeigenschaften fortpflanzt und es sich bei historischen Typen um überaus komplexe Gebilde handelt. Daß sich diese als solche nicht vererben, beweist jede Verpflanzung einer gleichen Rasse auf fremden Boden, in ein neues Milieu, sowie die Wirkung jedes Umsturzes, welcher die psychische Atmosphäre verändert. Insofern beruht sogar die Überlegenheit des Adels mehr noch auf Stellung und Tradition als auf dem Blut, so wichtig dieses sei – deshalb allein hat Bastardierung ihm nie viel angehabt, solange seine Aufgabe seinen Typus als Ideal lebendig erhielt. Die Erziehung auf traditionellem Hintergrund schafft eben den Geistestypus, der unter allen Umständen das Auschlaggebende ist, und zu dem der physische nur die günstige Grundlage liefert. So war der Civis Romanus ein geistgeborener Typus, gleiches gilt vom englischen Gentleman. Man kann sagen: je geistiger ein Typus, desto weniger bedeutet das Blut. Der hellenische lebt noch heute fort, obschon die Blutsbasis sich seit dem Altertum vollständig verändert hat. In Frankreich wird aus dem gleichen Grund viel weniger nach der Abstammung gefragt als irgendwo sonst im modernen Europa. (Daß die so ausgesprochenen Berufstypen des Geistlichen, Richters, Professors, Advokaten, Heerführers, Kellners usw. Geistesprodukte sind, liegt vollends auf der Hand.) Am eindrucksvollsten erweist sich die Geistbedingtheit der Überlegenheit in China: dort ist sie nachweislich das Produkt eines bestimmten Erziehungssystems, wovon die nächste Betrachtung ausführlicher handeln wird. Nun, was von chinesischer Vergangenheit gilt, gilt auch von unserer Zukunft. Wenn wir vorhin erkannten, daß das Fiasko der mechanisierten Welt darauf beruht, daß die Sache den Menschen beherrschte; wenn wir weiter erkannten, daß nur das Erstehen anderer tieferer Menschen Rettung bringen kann; wenn es sich jetzt herausstellte, daß Kulturtypen unter allen Umständen Kulturprodukte, d. h. züchtbar sind, dann dürfen wir nunmehr sagen: die erforderliche Seinskultur, die in entsprechenden Persönlichkeiten zutage träte, ist grundsätzlich zu begründen. Sie ist desto sicherer zu begründen, weil die entsprechende Typisierung dieses Mal, wie schon in Was uns nottut gezeigt wurde, durchaus von der Erkenntnis her geschehen muß, denn deren Prozeß hat der Mensch in ganz anderem Grade in der Hand als den der alogischen Mächte. Gedenken wir von hier aus nun der Gedankengänge von Worauf es ankommt. Das jeweilige Sosein der historischen Welt, so erkannten wir dort, ist letztlich menschenbedingt. Dies gilt aber nicht bloß in dem äußerlichen Verstand, daß ihre Erscheinung mehr oder weniger erfreulich ist – sie gilt vor allem in dem tieferen, daß die Welt, je nachdem, wie die Menschen sich schöpferisch zu ihr stellten, mehr oder weniger, so oder anders gearteten Sinn verkörpert. Insofern schuf jede neue Kultur die Welt buchstäblich um; die besondere Seele, die jene dieser jeweilig gab, ließ das Weltalphabet jedesmal Besonderes aussprechen. Nun kann dieses Besondere, abgesehen von seiner Eigenart, oberflächlicheren oder tieferen Sinn verkörpern. Gedenken wir von hier aus des Korrelationsverhältnisses von Reichtum und Tiefe, so können wir weiter sagen: wird jetzt die Welt aus tieferem Verstehen heraus aufs neue erschaffen, als je vorher geschah, dann ist nicht allein eine unsere vorgeschrittene Könnenskultur zu beseelen fähige Seinskultur überhaupt zu begründen, sondern eine schlechthin höhere Kultur, als solche je vorher die Erde geziert hat.

 

Ziehen wir die weit ausgesponnenen Geistesfäden nunmehr auf die gegebene praktische Zeitaufgabe hin zusammen. Die Welt, die uns gebar, ist im Untergang begriffen; es stellt sich die Alternative, ob sie ganz abgetragen werden soll oder aber versucht werden, sie langsam in eine neue, bessere zu verwandeln. Die zweite allein kommt in Frage. Daß die Aufgabe grundsätzlich erfüllbar ist sowie im Falle jedes einzelnen Menschen, sahen wir. Wie steht es nun aber mit ihrer Durchführung im großen? Hier liegen die Dinge freilich weniger einfach, als die Übersichtlichkeit des logischen Zusammenhangs erwarten läßt. Schnell ist nichts zu erreichen, und im großen kann das, was nottut, bestenfalls erst spät zur bestimmenden Wirklichkeit werden. Ein so ungeheures Karma schlimmster Art hat das vergangene Jahrhundert ins Rollen gebracht, dieses verjüngt und vervielfältigt sich seinerseits, seit dem Weltkrieg, in so schauerlicher Generation, daß der Abbauprozeß im großen überhaupt nicht aufzuhalten ist. Das Ungemach, das bisher einzelne Völker und Klassen befiel, wird zunächst langsam auf ganz Europa übergreifen. Das ist unabwendbares Schicksal im Sinne dessen, was ich in Worauf es ankommt ausführte: wofür sie sich einmal entschieden, dessen Folgen müssen Völker wie Menschen tragen, bis daß diese durch inzwischen Neuentstandenes und Neueingreifendes durchkreuzt und aufgehoben wurden; letzteres aber kann gerade in unserem Fall unmöglich bald geschehen. Was heute im Tageskampfe steht, wird sich unausweichlich gegenseitig aufreiben. Der übernommene, in Leidenschaften verkörperte, aus der Furcht vor dem Scheitern immer neue persönliche Kräfte saugende Impuls ist da so mächtig, und deren Summierung, in Völkern, Parteien, Interessegruppen verleibt, wirkt ihrerseits so stark auf jeden einzelnen zurück, daß Nichterfüllung des Schicksals im großen leider nicht in Frage steht. Diese Erfüllung kann aber nur im Untergang bestehen. Eine andere ist deswegen ganz undenkbar, weil kein Tageskämpfer um das mögliche Ziel kämpft. In der Politik wie im Geschäft muß zwischen solchen Zielsetzungen, welche den Umsatz, und solchen, welche den möglichen Reingewinn betreffen, wohl unterschieden werden: nur wer unmittelbar unter richtiger Unkostenberechnung auf diesen hinarbeitet, kann gedeihen. Nun gehören die derzeit sichtbar bestimmenden historischen Kräfte ausschließlich dem Umsatz an. Nicht allein sind alle Gefühle wesentlich endlich, so daß sich das Haßgeborene bald überlebt haben wird – die Ideale, um welche bewußt gekämpft wird, sind als solche sämtlich unverwirklichbar. Weder wird die Welt von übermorgen bolschewistisch noch sozialdemokratisch noch wilsonistisch sein, von den verjährten Hoffnungen der Nationalisten und Imperialisten ganz zu schweigen. Der mögliche Reingewinn dieser Zeit wird völlig anderen Charakter tragen, als ihn die Umsatz-Zielsetzungen erwarten lassen. Gemäß dem Gesetz des historischen Kontrapunkts läßt jener sich einigermaßen konstruieren: der extreme Demokratismus dieser Zeit leitet ohne Zweifel eine neue aristokratische Geschichtsära ein; der zeitweilige Sieg der blinden Masse bereitet eine Hochkonjunktur für Bildung vor, Quantitätsvergötterung wird in Ehrfurcht vor Qualität ausklingen; die Rivalität der Nationen in eine paneuropäische oder gar allgemein-westländische Solidarität, wie es solche seit dem Mittelalter nicht mehr gab Vgl. hierzu, alles Nähere betreffend, mein Buch Politik, Wirtschaft, Weisheit. Darmstadt 1922, und die Studie Deutschlands Beruf in der veränderten Welt in Philosophie als Kunst.. Was Radikale erstrebten, wird, soweit es erstrebenswert war und zu realisieren ist, von Konservativen verwirklicht werden. Die Ideale, um welche heute seitens der Massen gekämpft wird, bedeuten eben bestenfalls vorläufige Verkörperungen des Erneuerungsstrebens, welches als solches noch blind ist. Erklärlich genug: so oft die Menschheit in Konvulsionen gerät, wird die Geschichte zum blinden Naturprozeß. Wie die Natur Millionen von Keimen hinaussät, auf daß einige wenige Tausende zur Reife gelangen, so geraten dort unzählige Denk- und Willensrichtungen in Konflikt, von denen die meisten aus leidenschaftlicher Übereiltheit, aus kurzsichtigem Entscheid heraus geboren sind, von welchen deshalb nur ganz wenige und auch diese nur, soweit sie sich gründlich zu wandeln wissen, die Revolutionszeit überdauern. Da nun jeder Mensch nur ein Leben zu leben hat und sich in Zeiten herrschender Leidenschaft besonders schnell verzehrt, so folgt schon hieraus allein, daß dieselben Menschen, welche dem Umsatz leben, für den Reingewinn nur in Ausnahmefällen in Betracht kommen. Deswegen stellt sich die Frage, wie das, was nottut, jetzt gleich im großen zu verwirklichen sei, vernünftigerweise überhaupt nicht; sie stellt sich ebensowenig, wie die mit ihr zusammenhängende, wie die heute maßgebenden schon festgelegten Menschen dem Sinn dieser Ausführungen entsprechend verwandelt werden könnten: für den Neuaufbau der Welt kommen offenbar andere Menschen in Betracht als die, welche sich am Umsatz erschöpfen. Jener hat unabhängig vom Abbau zu erfolgen. Insofern gilt es, trotz unserer früheren Erkenntnis, daß der Abbau grundsätzlich nicht notwendig ist, um zu Höherem zu gelangen, praktisch nicht einmal, jenen aufzuhalten (vgl. S. 88); viel eher könnte seine Beschleunigung erwogen werden. Doch wie langsam oder schnell der Prozeß verlaufe: in wenigen Jahrzehnten werden die Kämpfe dieser Zeit erledigt, deren Ziele ad absurdum geführt, deren Vorkämpfer verstorben sein. Dann müßte ein Vakuum nachbleiben, wenn indessen nicht, unberührt vom Tageskampf, das Neue erwachsen wäre, welches einmal an die Stelle des amortisierten Alten treten wird. So allein erwächst Neues überhaupt. Nie verjüngen sich schon Altgewordene; auch die Reifen verwandeln sich nicht mehr. Aber als die Alten noch in der Vollkraft standen, setzten sie selbst die Generation in die Welt, welche ihr später feindlich entgegentreten und sie schließlich ablösen wird, eben deshalb dazu geschickt, weil die Alten sie vom vorzeitigen Tageskampfe fernhielten. Deshalb beginnt das Neue gemäß der chinesischen Staatsweisheit nicht erst beim Tode des Alten zu wirken, sondern grundsätzlich um zwei Drittel einer Menschenlebenszeit vorher: seine Reife allein fällt mit der sichtbaren Erscheinung zusammen. Abseits vom Tageskampf allein kann nun gerade das heute Erforderliche werden. Gerade heute kommt es, historisch betrachtet, auf die Wandlung der beherrschenden Mehrheiten besonders wenig an, weil diese sich besonders schnell erledigen werden. Bevor seine Stunde kam, vermag kein Neues sich durchzusetzen. Ist diese aber für das nunmehr Erforderliche gekommen, dann wird es besonders freie Bahn vorfinden, wenn es nur da ist und die Zwischenzeit benutzt hat, sich für seine historische Aufgabe vorzubereiten. Da es sich hier um das Entstehen von nichts Geringerem als einem neuen tieferen Menschentypus handelt und folglich nicht allein eines »Gewächses«, im Gegensatz zum »Gemächte« überhaupt, sondern einer Gestaltung, deren Entstehen eine außerordentliche Wandlung des Bestehenden von innen heraus voraussetzt, so kann der neue Typus auf lange Zeit hinaus nur in besonders wenigen Exemplaren da sein. Aber das schadet nichts. Bis die Streiter dieser Übergangsepoche alle gefallen sind, wird seine Zahl groß genug sein, um historisch zu bestimmen. Selbst wenn es auch dann erst wenige sein sollten, wird es genügen: man wird die suchen, welche den neuen, jetzt endlich erkannten Erfordernissen entsprechen. Die Führer werden da sein, und auf sie allein kommt es zu aller Zeit an. Es wird genau so kommen, wie es schon einmal kam. Wie entstand das Mittelalter? Niemand vermag es zu sagen Auf eine sehr interessante, gerade für uns bedeutsame Einzelheit dieses Werdeprozesses habe ich auf S. 162 von Politik, Wirtschaft, Weisheit hingewiesen.. Das Chaos der Völkerwanderung befand sich nach gebührender Zeit, sonst aber wie plötzlich durch sein genaues Gegenteil abgelöst: den schönsten Kosmos, welcher je Europa geziert; auf die Äußerlichkeit des Hunnen-Bolschewismus folgte nach Jahr und Tag eine früher nie geahnte, bestimmende Innerlichkeit. Dies wurde dadurch möglich, daß während des Chaos Zellen von Menschen anderen Geistes, als solche sich in jenem austobten, erwuchsen, Zellen, die sich im Stillen mehrten, verzweigten, ein zunächst unsichtbares Netzwerk schufen – bis daß ihre Nachkommen zuletzt, in Form einer neuen, allesbedeckenden Flora, die auf der Asche restlos verzehrter Vergangenheit besonders üppig aufblühte, allen sichtbar wurden.

 

Die praktische Zeitaufgabe bezieht sich sonach auf die wenigen, nicht auf die vielen. Nur auf die Führer kommt es für die nächste Zukunft an, auf die Masse nicht früher, als bis diese innerlich bereit scheint, den rechten zu folgen. Diese Bereitschaft dürfte aber noch lange auf sich warten lassen, weil nicht allein die Alten und die Reifen im Umsatzkampfe wandlungsunfähig geworden sind, sondern leider auch die allermeisten Jungen. Deshalb kommt praktisch zunächst nur eins als Aufgabe in Betracht: die Vorbilder der neuen Seinskultur heranzuzüchten. Damit wären wir denn ganz von selbst bei der besonderen Aufgabe angelangt, welche sich die Schule der Weisheit gestellt hat.

In Worauf es ankommt wurde gezeigt, daß die eigentliche Kulturaufgabe aller Wendezeiten darin besteht, das Erforderliche unter dem vielen Möglichen, in Gestalt einer Stillstandsgebärde gleichsam inmitten des Werdensflusses in Form des Lebens wirklich werden zu lassen; in Was uns nottut des genaueren begründet, inwiefern Entscheidendes nur auf der Höhe geschieht. Es gibt nichts Wichtigeres deshalb, als den Schnittpunkt des Winkels, welcher die Aufgabe einschließt, genau zu bestimmen. Diesen bestimmten wir im Verlauf unserer Untersuchungen von den verschiedensten Seiten her. Dementsprechend gelangten wir zu den verschiedensten, aber den gleichen Grundzusammenhang betreffenden Formeln, daß Geist und Seele neuverknüpft, Sinn und Ausdruck zur Kongruenz gebracht, daß das Können auf das Sein zurückbezogen werden muß. Inwiefern dies praktisch überhaupt zu bewerkstelligen ist, haben die heutigen Betrachtungen gelehrt. Es kann das Sein vertieft, das Können auf dieses zurückbezogen, das Sinnlose sinnvoll gemacht werden. Es ist möglich von der Erkenntnis her, aber auch nur von ihr. Folglich ist die Aufgabe eine solche der Erziehung. Erziehung verlangt ihrerseits entsprechende Anstalten. Da es sich bei der erforderlichen Erziehung um eine solche zu erkenntnisbedingtem Leben handelt, deren Höchstausdruck Weisentum ist, so ist damit allein schon die Notwendigkeit der neuen Gründung, welche dieser Vortrag eröffnet, erwiesen. Auf diese selbst kann ich heute nicht mehr eingehen. Aber wenn Sie selbst nun die Einsichten, welche Sie heute gewannen, in den Rahmen, den Was uns nottut und Worauf es ankommt absteckten, hineinbeziehen, so werden Sie die wichtigsten Ausblicke in eine bessere Zukunft, die unsere Gründung öffnet, selbst entdecken. Der ganze heutige Vortrag war nichts anderes, als eine implizite Einführung in das Streben der Schule der Weisheit. In dieser wird eben der Geist, die Willens- und Tatrichtung zu konkret-erzieherischem Ausdruck kommen, die in unseren heutigen Gedankengängen einen philosophisch-abstrakten fand. Für heute will ich Ihnen nur noch die folgenden Leitsätze zur Orientierung mit auf den Weg geben. Der ideelle Ort der Schule der Weisheit liegt genau im Schnittpunkt des Winkels, welcher das Problem dieser Zeit einschließt. Geistig soll sie in das vierte Stockwerk der Geistessprache (S. 31) einführen, den Sinn unabhängig vom Buchstaben oder durch diesen hindurch zu fassen lehren; ethisch die Selbsteroberung durch bewußt gelenkten Willen einleiten, deren es bedarf, um das Verstandene dem Leben einzubilden. Menschenbildung vom Geist her im umfassendsten Verstand ist ihr letztes Ziel. Ihr Weg wird aber offenbar, dem Sinn des heute Vorgetragenen gemäß, mehr in ethischer Erziehung als in intellektueller Schulung bestehen – dies sage ich vorläufig, um einem ersten möglichen Mißverständnis vorzubeugen, obgleich es nicht ganz richtig ist, denn der bekannte Begriff umschließt einen neuen Inhalt. Wir sahen, daß beim wesentlichen Fortschreiten alles auf den freien Entschluß des Einzelnen ankommt; ob einer den Bedeutungsakzent in seiner Seele so oder anders setzt – der also freigewählte Ort bestimmt über Tiefe oder Oberflächlichkeit. Wir sahen weiter, daß persönliches Verstehen allein das sonst Äußerliche ins Innere hineinbezieht, das alles Leben ein Beleben ist und folglich ein schöpferisches Tun. Wir sahen endlich, daß Sinneserfassung überall Sinngebung ist, daß also die Welt genau nur so viel Sinn hat, wie wir selbst in sie hineinlegen. Folglich kommt bei dem Ziele, welches wir hier verfolgen, auf persönliche Initiative alles an. Damit ist der Schule der Weisheit nicht nur grundsätzlich, sondern auch schon praktisch ein anderer ideeller Ort gesichert, als alle sonst vorhandenen Anstalten ihn einnehmen. Unsere Schüler werden nicht nur grundsätzlich, sondern auch praktisch anderes lernen, als sie irgendwo anders lernen könnten. Nun aber taucht ein Einwand aus anderer Richtung auf – schon auf Was uns nottut hin habe ich ihn oft gehört, lange bevor die Darmstädter Gründung überhaupt gesichert war: steht die praktische Aufgabe, welche die Schule der Weisheit günstigsten Falles lösen wird, in irgendeinem Verhältnis zur Größe der Probleme, welche der Lösung harren, deren ganze überwältigende Größe Ihnen vielleicht heute besonders bewußt geworden ist? Darauf antworte ich: sie steht genau im gleichen Verhältnis dazu, wie alles Einzelwollen zum Weltenschicksal steht. Was immer dieses sei – keiner vermag doch mehr als sein Leben zu leben, seine Bestimmung zu erfüllen. Das Große als solches läßt sich freilich schauen – was der Einzelne tut, erscheint unter allen Umständen, auf der Ebene der Tatsachen betrachtet, klein. Nur vermag solch kleines Tun gegebenenfalls einen Sinn zum Ausdruck zu bringen, der einer tieferen Wesensschicht angehört als alle sonst wirksamen. In dem Fall kann Kleines Riesengroßes bewirken. Nämlich als Sinnbild. Um dazusein, muß Sinn einen Körper tragen. Der Schnittpunkt des Winkels, der das Problem dieser Zeit einschließt, muß eine konkretere Fassung finden, als der abstrakte Erkenntnisausdruck ihn bietet, um vom verstehenden Bewußtsein der Mehrzahl aufgenommen zu werden. Deshalb besteht auf der Ebene des Sinnes kein so großes Mißverhältnis zwischen dem Zeitproblem und der Aufgabe der Schule der Weisheit, als die Tatsachen vortäuschen. Doch auch auf deren Ebene liegen die Dinge anders, als die Zweifler meinen. Vorhin sagte ich: zunächst käme es nur auf Bildung von Zellen des Neuen an, deren Nachkommenschaft erst geschichtsbestimmend werden kann. Nun, die Schule der Weisheit soll zu einer Keimzelle werden Genau umreißt den Aufgabenkreis der Schule der Weisheit erst der letzte Zyklus. Ihren praktischen Plan legt der Aufsatz entsprechenden Titels im Anhang dar..

II. Indische und Chinesische Weisheit

Zu einer Schule der Weisheit, wie sie hier werden soll, gibt es im Westen kein Vorbild. Wohl gibt es religiöse Gemeinschaften, Orden, esoterische Vereinigungen verschiedensten geistig-seelischen Geblüts, welche sich Seinsbildung zum Ziel setzen (von sonstigen Bildungsanstalten, gleichviel, welches dieser Programm sei, sehe ich vollständig ab, weil sie keinesfalls zum Vergleich in Betracht kommen). Aber entweder wird dieses religiös gefaßt, oder aber der Weg ist ausdrücklich für geschlossene Kreise monopolisiert. Diese Umstände schaffen einen grundsätzlichen Unterschied zwischen den gemeinten Bestrebungen und den unseren. In Was uns not tut wurde schon gezeigt, inwiefern alles auf die Einstellung ankommt. Die Schule der Weisheit, welche vom Sinn her das Leben neu aufbauen will und folglich vom persönlichen Verstehen, ist eben deshalb ganz anders eingestellt als die Pflegestätte auch der erkenntnistiefsten konfessionell bestimmten Religion, denn keine kann, ihrem Wesen nach, auf das Verstehen den Nachdruck legen; jede nur denkbare ist auf die Schöpfung oder Erhaltung einer bestimmten Modalität unmittelbaren Lebens aus, weshalb die Norm (das Dogma) als solche ihre letzte Instanz sein muß, nicht der jene tragende Sinn. Was aber den anderen berührten Unterschied mit den an sich gleichsinnigen Bestrebungen geschlossener Kreise betrifft, so beruht dieser eben darauf, daß die Geschlossenheit des Kreises zu deren Wesen gehört, zu dem der Schule der Weisheit hingegen das, was man die Offenheit des Winkels heißen mag. Hier soll tiefere Sinneserfassung und Neuenergisierung des Lebens von dieser her gelehrt werden; solche kommt aber für jedermann in Frage, für das Ordensmitglied, das gerade diese in seinem Kreis nicht lernt, genau so wie für den unabhängigen Freigeist. Deshalb widerstreitet Geschlossenheit des Kreises und Mysterienwesen der Schule der Weisheit eigenstem Begriff. Es ist schlechterdings keine Lehre denkbar, zu deren Sinn ihr geheimer oder nur wenigen zugänglicher Charakter gehört. So sind alle christlichen Orden nachträglich auf Jesu für alle Menschen bestimmte Weisheit hin entstanden, gleiches gilt von den buddhistischen und nicht minder von den antiken Mysterienbünden. Geschlossene Kreise haben freilich ihre Berechtigung; nur liegt diese nicht auf der Ebene des Sinns, sondern der der Erscheinung Genau ausgeführt findet sich dieser Gedankengang im letzten Zyklus.. Jene beziehen sich schon auf Gestaltungen des Sinns, welche diesen beschränken; ihr Dasein setzt Festlegungen voraus, welche der Sinn an sich nicht verträgt. Der ideelle Ort der Schule der Weisheit liegt nun in dessen Reich; hierauf beruht ihre ganze Originalität, hierauf allein ihre ganze mögliche Bedeutung. Ihr ideeller Ort ruht in einer tieferen Wesenschicht als der aller nur möglichen esoterischen Organisationen. Deshalb, noch einmal, bedeutet sie ein von diesen grundsätzlich Verschiedenes. Der Impuls, welchen sie vertritt und vermittelt, gilt grundsätzlich allen; daß praktisch vielleicht nicht viele für sie geeignet sein werden, daß die Lehrtechnik intimen Charakter tragen muß, ändert nichts am grundsätzlichen Verhältnis. Es handelt sich doch offenbar um ein anderes, ob Geschlossenheit eines gegebenen Kreises zum Wesen oder nur zur Technik gehört. – Es gibt also im Westen keine Vorbilder für das, was wir hier anstreben. Aber im Osten gibt es sie noch heute; dort wird das Sein grundsätzlich über das Können gestellt, das Verstehen vom Wissen wohl unterschieden. Wohl sind die Ziele der östlichen Weisheitsschulen nicht unsere Ziele; die westliche und die östliche Lebensmodalität unterscheiden sich voneinander so sehr, daß nichts Konkretes, hier und dort, eine In-Gleichung-Setzung verträgt. Unsere künftige Seinskultur wird, entsprechend unserer Energie, Bewegtheit und Aktivität, ganz anderen Charakter tragen als nur irgendeine östliche Vgl. hierzu die Rede Ost und West auf der Suche nach der gemeinsamen Wahrheit in Philosophie als Kunst, und dies sei schon heute ein für alle Male gesagt: die Schule der Weisheit hat es nicht mit der Verpflanzung östlichen Wesens nach dem Westen zu tun; dafür steht schon meine Persönlichkeit Gewähr, deren extremwestlichen, allzu westlichen Charakter wohl keiner anzweifelt, der mich auch nur oberflächlich kennt. Allerdings aber kann der Osten, und nur er, uns heute ein konkretes Sinnbild dafür bieten, wohin wir zielen, denn nur seine Erscheinung, so fremdartig sie sei, hat das zum geistigen Hintergrund, was auch wir anstreben; dem Sinne nach ist, oder war, der Osten schon so weit, wie wir auf unserem Wege einmal zu kommen hoffen. Deshalb will ich heute einige Punkte der Weisheit des Orients durchsprechen. Ich wähle solche allein heraus, die zur Erläuterung unseres eigenen Strebens dienen.

 

Der erste Punkt betrifft den Umstand (S. 45), daß die Weisheit des Ostens nie buchstäblich bestimmte Lehre war noch ist; was sie wesentlich vertritt, ist reiner Sinn, der als solcher anerkanntermaßen der verschiedenartigsten Ausprägung in der Erscheinung fähig ist. Dies gilt zumal von Indien. Wohl herrscht dort vielfach böseste Scholastik, wohl hat Buchstabenglaube auch dort ursprüngliche Symbole als Tatsachen mißdeutet. Aber wer in Indien als weise gelten will, der muß, par définition, über Name und Form hinaus sein. Er muß in jenem höheren Stockwerk möglicher Geistessprache (S. 31) sein Bewußtseinszentrum haben, von welchem aus nicht die Gedanken und Bilder als solche, sondern das, was sie bedeuten, Gegebenheit sowohl als Ausgangspunkt darstellen. Von solcher Einstellung aus steht der indische Rishi selbstverständlich oberhalb jeder Ansicht, jedes Dogmas; von ihr aus vermochte es ein Ramakrishna, sich versuchshalber zu verschiedenen Religionen zu bekehren und gleichzeitig der seinen treuzubleiben Eine Auswahl der Aussprüche Ramakrishnas liegt jetzt endlich auch in deutscher Sprache vor. Es ist das im Rahmen der von Gustav Meyrink herausgegebenen »Romane und Bücher der Magie« (München 1921, Rikola-Verlag) erschienene Bändchen Carl Vogls Sri Ramakrishna, der letzte indische Prophet.; von ihr aus wird vom indischen Gelehrten, der ein bestimmtes philosophisches System, welches dem Deutschen letzte Instanz sein müßte, vertritt, verlangt, daß er sich jederzeit auf den Standpunkt der (wenn ich mich recht erinnere) 63 anderen Systeme versetzen könne und von ihnen aus zu denken fähig sei. Nun, in Indien allein beherrscht diese tiefere Einstellung die Theorie. Die geistliche Praxis hat sie im ganzen Orient unbewußt beherrscht, und dies ist die eigentliche Ursache dessen, weshalb alles geistliche Licht, welches die Erde bisher bestrahlt hat, aus dem Osten stammt. Dort nämlich, und dort allein, hat keine Gestaltung des religiösen Geists vom Standpunkt ihres eigenen Schöpfers je ihr eigenes letztes Wort bedeutet. Alle Gestaltungen sind raumzeitlich bedingt und deshalb sterblich; keine bestimmte Doktrin ist auch nur theoretisch auszudenken, die allen Zeiten entspräche, weil Bestimmung nur aus dem Geist der jeweiligen Ausdrucksmittel erfolgen kann, mithin an die Vorstellungen eines gegebenen Kulturkreises gebunden ist und der gleiche Ausdruck nicht mehr Gleiches bedeutet, sobald diese sich gewandelt haben. Nun ist aber die Bedeutung das eigentlich Geistige und Belebende an jeder Geistesgestalt; sobald jene in der Sprache dieser nicht mehr verstanden wird, verkörpert sie auch keine lebendige Wahrheit mehr. So sehen die Dinge vom Buchstaben her betrachtet aus, und da die überwältigende Mehrheit nie mehr Geist erfaßt, als ihr die Ausdrucksmittel zu fassen nahelegen, so folgt aus dieser einen Erwägung die Berechtigung und Notwendigkeit jener Wechsel in den Vorstellungs- und Glaubensformen, von welchem alle Geschichte kündet. Trotzdem gibt es Geister, deren Lehren alle Zeiten als wahr anerkennen. Nun, diese lehrten aus so tiefer Sinneserfassung heraus, daß der Sinn durch den Buchstaben hindurchwirkt und als Sinnbild rechtfertigt, was buchstäblich genommen längst überholt erschiene. Dies gilt von allen Geistern, die wir unsterblich nennen; auch Platos Ideenlehre lebt trotz ihres Buchstabens fort Vgl. hierzu die Vorrede zur ersten Auflage meiner Unsterblichkeit, ferner meine Mitteilung an den 3. Internationalen Philosophenkongreß Die metaphysische Wirklichkeit (Bologna 1911).. Es gilt aber in höchstem Maße von den großen Religionsstiftern. Wenn diese durch die Jahrtausende hindurch die Welt beeinflussen können, durch tausend Ausdeutungen Werner Achelis stellt in seinem sehr lesenswerten Buch Die Deutung Augustins (Verlag Kampmann & Schnabel, Prien 1921) S. 127 eine Blütenlese dessen zusammen, in welchem Verstand an Christus alles geglaubt worden ist. Dieser galt umschichtig als: »Herr und Meister«, Messias (apostolisch); als Kultgottheit thronender »Kyrios« (urchristlich); pneumatischer Christus (paulinisch); Logos und Sohn zugleich (johanneisch); als oberster Äon, gezeugt aus Bythos und Sige, aus Abgrund und Schweigen zur Weltenrettung (gnostisch); Prophet (jüdisch-gnostisch-mohammedanisch); Erscheinung des guten Gottes selbst (marzionistisch); Logos spermatikos (stoisch-apologetisch); göttliche Hypostase (origenistisch-orthodox); als adoptierter und erhöhter Sohn (Paul von Samosata); Erscheinungsweise des Vaters (Sabellius); bambino (ägyptischer Import); Beispiel und Held (Pelagius); Heerführer (urgermanisch, Heliand); Sühnopfer cur deus homo (Anselm von Canterbury); ecce homo (bernhardinisch); armer Bruder (franziskanisch); Seelenbräutigam, Opferlamm (Mystiker, Pietisten) usw. – Diese Tatsache dürfte manchem den Sinn des von mir Gesagten besser zu verstehen helfen.. Mißverständnisse, Konfessionen, Reformen, Wiedergeburten hindurch, so liegt dies eben daran, daß der Sinn, den sie vertraten, ein so tiefer war, daß er an keine sterbliche Gestalt notwendig gebunden erschien. Und dies war von vornherein so – nicht wir konstruieren das Verhältnis erst nachträglich. Sogar Jesus war nicht Christ – von der Konfessionsfreiheit der großen Inder zu schweigen –, obschon er als empirische Person, hierin Mohammed gleich, des jüdischen, heute christlich genannten Buchstabenglaubens nicht ermangelte; und seinem Nichtchristentum verdankt er seine Unerschöpflichkeit. Jesus lebte persönlich, ob noch so unbewußt, im Jenseits der Gestaltung, und wenn auch er, um sich überhaupt auszudrücken, bestimmte Formen hervorbringen mußte, so ist es doch dieses Jenseits, das sein »Licht« bedeutet. Daß nun ein geistliches Licht – wie schließlich alles Leben – nur aus dem Jenseits der Gestaltung kommen kann, ist dem Osten selbstverständlich, im Gegensatz zu uns. Und da es überall von der Bewußtseinslage abhängt, welche Schichten der Wirklichkeit sich durch das Mittel des geistigen Organismus offenbaren, so genügt dieser eine typische Unterschied zwischen östlicher und westlicher Einstellung zur Erklärung dessen, warum, trotz vielleicht gleich verteilter spiritueller Begabung, spirituelles Licht nur vom Osten her bisher die Erde beleuchtet hat. Es kommt eben, noch einmal, darauf an, in welcher Sinnestiefe das Bewußtsein selbstverständlich wurzelt. Weil der Westen typischerweise oberflächlich eingestellt ist, deshalb wird indische Weisheit, von ihm bekannt, so leicht zu Aberglauben. Umgekehrt könnte unser westliches Wissen in seiner Sprache genau so Tiefes sagen wie das des Ostens, wofern wir tiefer würden. Nicht darauf, was die Menschen im tatsächlichen Verstände denken, können, glauben, sondern was dieses Empirische bedeutet, was dahintersteht, aus welcher Erkenntnistiefe sie ihr Leben beseelen, mit einem Worte darauf, wer sie sind, kommt es letztlich an. Diese Wahrheit ist dem gesamten Osten vertraut. Deshalb erscheint er uns so unergründlich tief. Deshalb hat alle Vertiefung bisher von dort ihren Ausgang genommen. Allein schon aus dieser kurzen Betrachtung geht zugleich hervor, daß dieses mit der Eigenart des Orients nicht wesentlich zusammenhängt, sondern nur mit seiner Bewußtseinstiefe, die auch wir, grundsätzlich, erreichen können müßten (S. 30 ff.). Wird der Impuls der Schule der Weisheit zu einem Sauerteig inmitten der westliehen Kultur, er, der eben das Niveau heranzubilden strebt, das den Weisen des Morgenlandes zu ihrer allgemeinmenschlichen Bedeutsamkeit verholfen hat, dann kann noch das Abendland dereinst zum Sinnbild der Tiefe werden.

 

Aber wie ist die Vertiefung, die Verwesentlichung, auf die es ankommt, zu erzielen? Auch hier hat uns Indien vorausgedacht. Seine Schöpfung des Dharmabegriffs halte ich für eine der wichtigsten ethischen Ausdruckstaten der Weltgeschichte. Der (an sich wegen seiner Farbigkeit undefinierbare) Dharmabegriff, der alle nur erdenklichen Beziehungen zwischen Norm und individuellem Gesetz, zwischen Verpflichtetheit sich selbst und anderen gegenüber, zwischen religiöser und sozialer Gebundenheit und persönlicher Selbstbestimmung in einen Sinneszusammenhang hineinbezieht, ist, kurz gesagt, der begriffliche Ausdruck der praktischen Erkenntnis, daß jedem nur sein Weg gangbar ist. Jeder abstrakte Gedanke setzt, so lautet die Dharmalehre dem Sinne nach, zu seinem Verständnis, jedes Programm zu seiner Verwirklichung, jeder Ehrgeiz zu seiner möglichen Befriedigung einen entsprechenden Zustand voraus. Man muß zu dem, was man sich vornimmt, reif sein – was immer dieses sei; man hat letztlich ein Recht nur zu einem der Wirklichkeit korrespondierenden Ideal. – Seinen äußeren Rahmen fand diese Erkenntnis zunächst im Kastensystem, das in Indien noch heute, trotz der wissenschaftlich unhaltbaren Voraussetzungen, denen es entspringt, trotz seines mechanisch-künstlichen Charakters, die Mehrzahl deshalb befriedigt, weil der Glaube eines möglichen Fortschritts von Leben zu Leben, der sich in der Hineingeburt in immer höhere Kasten manifestierte, den ihm sonst innewohnenden Ungerechtigkeitsgehalt annulliert. Gleichsinnig rief auch unsere mittelalterliche Kastenordnung, welche gleicher metaphysischer Ahnung ihren Ursprung dankt, so lange keinen Klassenhaß wach, als die Weltanschauung, nach welcher jeder ein notwendiges Glied im übernatürlichen Zusammenhang darstellte und vor Gott alle gleich seien, unerschüttert dastand. Daß die Tage mechanischer Kastenordnung jetzt überall vorüber sind, versteht sich bei einer allgemeinen Verstandesentwicklung, dank der das Ich persönlich ergriffen haben muß, was zur lebendigen Macht werden soll, von selbst, und dies bedeutet nicht allein angesichts der empirischen Nachteile und Widersinnigkeiten des Kastenglaubens, sondern im absoluten Sinn einen Vorzug. Immer mehr löst sich der frühere Zusammenhang zwischen Materie und Geist. Eine neue Schichtung entsteht, so langsam dies geschähe, auf Grund welcher des Einzelnen persönliche Qualität allein entscheidet. Diese Wandlung führt aber keiner Aufhebung des Dharmagedankens zu, sondern dessen Vertiefung; unvollkommene Sinnesverkörperung macht besserer Platz. Nietzsche hat solche mit seiner Forderung vorbereitet, daß wieder Seinswerte, organisch abgestuft, bestimmen sollen, die Qualität also anstatt der heute herrschenden Quantität; die erste futuristische Skizze der aristokratischen Zukunftsordnung, wie jener sie forderte, stellt die des Bolschewismus dar, welcher Umstand besonders bedeutsam ist deshalb, weil dessen Führer persönlich an Zahl und Masse glauben und sozialistische Ideale verwirklichen wollen. Es ist eben nur Qualitätsherrschaft möglich, wenn die Menschheit fortschreiten will. Qualität ist aber wesentlich Seins-, nicht Könnensausdruck, und als Sein kann man nur geboren werden, nicht gemacht. Da wären wir denn beim alten Dharmagedanken wieder angelangt, demgemäß man zu dem, was man tun darf, geboren sein muß. Hier nun aber führt – dies wäre der dritte zu betrachtende Punkt von des Ostens Vorbildlichkeit – das indische Denken selbst über die Beschränkungen des Geburtsgedankens hinaus: es gibt nicht nur physische, sondern auch geistige Geburt; sie ist das Wesentliche; die physische stellt nur das Mittel zu dieser dar, und das einzig mögliche für die allein, die nicht die Kraft haben, ohne Durchgang durch den Tod zur Wiedergeburt zu gelangen. Grundsätzlich ist es möglich, im Laufe eines Lebens als Sein weiterzukommen, als man war. Über die besonderen Methoden dazu, welche Indien angibt, deren Äquivalente auch das Christentum kennt, und welche, soweit sie bewährt sind, in der Schule der Weisheit ihre individuell bestimmte Anwendung finden sollen, will ich hier nichts weiter sagen Hier verweise ich besonders auf das Buch meines Mitarbeiters Erwin Rousselle Mysterium der Wandlung, Darmstadt 1922; alles nähere die indische Yoga betreffend auf mein Reisetagebuch; ferner auf Annie Besants Einführung in den Yoga, Hannover, Otto Schwartz, Hartmannstraße.. Hier sei nur das Wesentliche noch einmal betont, daß es sich beim Weiterkommen grundsätzlich um Zustandsänderung, um Seinssteigerung handelt, nicht um Mehr- und Besserwissen. Deshalb darf die indische Lehre, daß Erkenntnis Erlösung sei, keinesfalls auf westlich-wissenschaftlich gedeutet werden. Richtig verstanden, ist sie jedoch durchaus wahr. Jede neue Erkenntnis im Sinn lebendigen Verständnisses – nur solche kommt für den Inder in Betracht – setzt einen neuen höheren Zustand voraus; das Sein ist die schlechthin letzte Instanz. Unter diesen Umständen erscheint – dies ist eine weitere Folge der indischen Grunderkenntnis – jeder Gleichheitsglaube grundsätzlich unsinnig. Die Menschen dürfen genau nur insoweit vernünftigerweise gleiche Rechte haben, als tatsächlich Gleichheit besteht, dies aber gilt einzig auf den Unterbau des eigentlich persönlichen Lebens hin. Sobald der Fragenkomplex der täglichen Notdurft und Nahrung, der elementaren politischen Betätigung und der Gelegenheit zur Höherbildung überschritten wird, steht man so großen Qualitäts- und Niveauunterschieden gegenüber, daß, falls die Erscheinung durch den Sinn bestimmt würde, in jeder Gemeinschaft, welche ein Organismus zu sein beanspruchte, kein bloßes Aggregat, mit jeder Generation ein Äquivalent des alten Kastensystemes neu erstehen müßte, denn nur so könnte dauernd Qualität bestimmen. Wie bald sich der politische Organismus Europas dieser Erkenntnis gemäß erneuern wird, ist schwer zu sagen; daß er es tun wird, darüber besteht kein Zweifel. Nietzsche erhoffte, zum Zweck der Begründung der von ihm erträumten neuen Aristokratie, eine Ära sozialistischer Konvulsionen, und die durchleben wir jetzt ... Doch dies nur nebenbei. Bleiben wir beim grundsätzlich Wahren, welches die Weisheit des Ostens enthält, und beleuchten wir von ihm aus unseren eigenen Weg. Unsere letzte Erkenntnis läßt sich auch so fassen: Jeder hat ein Recht nur auf das, wozu er innerlich reif ist; die gleichen Ziele können nur Gleiche verfolgen. Da die Schule der Weisheit ihren ideellen Ort im Reich des reinen Sinnes hat, unabhängig von aller Sondergestalt, so muß der Dharmagedanke in ihrem Erziehungswerk in seiner schärfsten Ausprägung zur Geltung kommen; denn nur so kann sie den Weg zu einem höheren Zustand weisen, als solcher je früher die Geschichte bestimmt hat. Unbarmherzig, ohne jede Rücksicht auf Selbstliebe und Eitelkeit werden alle Ansprüche am Niveau und Wert des jeweiligen Menschen abgewogen werden. Jeder der Schüler wird sich zunächst seinen wahren Zustand rückhaltlos eingestehen müssen, mit allen Folgen, die sich für die mögliche Höherbildung daraus ergeben. Und da werden sie unüberbrückbare Unterschiede untereinander gelten lassen müssen. Ebensowenig wie Ausbildung eines Idioten zum Genie, des Unmusikalischen zum Musiker gelingt, ebenso wenig ist jeder zum religiös oder moralisch Höchsten reif. Auch hier handelt es sich um Anlagen, welche entweder vorhanden sind oder fehlen, nur mit dem Unterschied, daß lebendige Sehnsucht, wo genügend stark, das Nichtvorhandene schafft, was mit dem Satz Pascals zusammenhängt: Tu ne me chercherais pas, si tu ne m'avais déjà trouvé. Die Sehnsucht nach Besserem erwacht nun ihrerseits nur am Eingeständnis des wahren Zustands; nur wer den Mut zu diesem hat und zugleich die Kraft der Sehnsucht, nur der kann weiter kommen, als er sich vorfand. Der Gradmesser eines aufsteigenden Dharmas ist insofern die vorhandene Energie. Diese Bestimmungen schränken nun die Zahl derer, die von der Schule der Weisheit eine Seinssteigerung bis zur hier vertretenen Höhe mit Recht erwarten dürfen, auf einen engen Kreis ein. Er muß besonders eng erscheinen gerade deshalb, weil für die Aufnahme der Schüler keinerlei äußere Schranke besteht. Die überwältigende Mehrheit aller Menschen ist leider von erbärmlichem Kaliber. Je tiefer man sie studiert, desto mehr erweisen sich Feigheit, Mißgunst, Neid, Trägheit, Stumpfheit, persönliche Kleinlichkeit, Unfreiheit und Ungenerosität als typische Eigenschaften, so wenig dies im übrigen in ihrem öffentlich-sozialen Gebaren zutage treten mag. Grundsätzlich liegen die Dinge noch heute kaum besser als zu den Tagen Gomorrhas. Ich wüßte kaum eine groteskere Behauptung als die Rousseaus, daß der Mensch von Natur aus gut sei. Der Mensch erweist sich in der Regel, wenn nicht als gut, so doch als anständig genau nur insoweit, als gute Vorurteile ihn innerlich und heilsame Schranken äußerlich binden. Dies erweist am schlagendsten das Beispiel der Parvenüs im weitesten Verstand: nur ganz wenige vertragen eine günstigere Lebensstellung als die, in welche sie hereingeboren wurden. Nun lebt in jedem freilich der Keim zu Besserem, und die typische Erfahrung, daß Verbrecher sich leichter als Gerechte zu Heiligen entwickeln, beweist, daß es eben das Sicheingestehen der Schlechtigkeit ist, welches jenen zur Entfaltung bringt. Immerhin können nur die wenigen weit kommen, in denen entsprechende Sehnsucht lebt, und hieraus ergibt sich eine Hierarchie der Möglichkeiten (vgl. S. 103), welche nicht minder streng, vielleicht sogar noch strenger ist als die der indischen Kasten. Mit diesem Tatbestand wird sich der Weisheitsschüler als erstem grundsätzlich abfinden müssen. Zuerst muß er so weit kommen, daß er das innerliche Opfer gern bringt, ohne Ressentiment. Bevor er diese erste Stufe nicht erstiegen hat, kann vom Ersteigen höherer keine Rede sein. Die Gesinnung, welche dieses innerliche Opfer ermöglicht, ist das moderne Äquivalent der christlichen Demut. Aber das Opfer wird bald reich belohnt. Bald erntet der, der es im rechten Geiste brachte, den Segen der verstandenen Lehre Krishnas aus der Bhagavat-Gita: »Lieber sein eigenes, noch so niedriges Dharma erfüllen als das noch so erlauchte eines andern.« Mit der Lebenslüge, der Feigheit vor sich selbst, der Illusion, der Mißgunst schwindet nämlich zugleich das Haupthemmnis inneren Fortschritts. Auf einmal befindet der Mensch sich frei. Und da entdeckt er, daß er von innen heraus gar kein konkretes Ideal erstreben kann, welches weit über seine Möglichkeiten hinausliegt, daß Neid und Feigheit allein dazu verführen. Wenn er sich selbst richtig erkannt hat, dann ist der Mensch unbedingt auch mit der Stufe zufrieden, welche im Höchstfall zu ersteigen in ihm liegt. Hiermit zerschmilzt denn die ganze scheinbare Härte der hierarchischen Ordnung. Damit löst sich ihre scheinbare Starrheit zu dem auf, was die Religion als Gnadenordnung im Gegensatz zu der des Verdienstes kennzeichnet. Verbrecher haben sich wieder und wieder zu Heiligen verwandelt; das Christentum rühmt kleinen Leuten den Vorrang im Reich der Gnade ein: dies bedeutet nichts anderes, als daß durch das volle Aufsichnehmen des eigenen Dharmas Kräfte frei werden, die den Prozeß inneren Wachstums bis zum Wunder beschleunigen. Wieder ist es eine indische Legende, die den Erkenntnisgehalt des Tatbestandes aufs schönste versinnbildlicht. Ich gebe sie so wieder, wie sie in meinem Gedächtnis weiterlebt – vielleicht hat mein Geist das vor langer Zeit am Ganges Vernommene im Geheimen umgedichtet. Gott Indra wanderte durch den Wald. Dort begegnete er einem Büßer, der vor Länge der Kasteiung und Meditation schier selbst zum Baumstumpf geworden war. Dieser fragte ihn klagend: wie lange muß ich noch üben, um frei zu werden? – Noch zehn Jahre, erwiderte der Gott – Ganze zehn Jahre? seufzte jener auf. Wie er nun also geklagt hatte, da fuhr er zur Hölle hinab. – Weiterwandernd begegnete Gott Indra einem Büßer geringer Geistigkeit, der sich das Heil dadurch zu erringen hoffte, daß er unaufhörlich um einen Baum herumtanzte. Des Gottes ansichtig werdend, fragte dieser nun: wie lange muß ich wohl noch üben, bis daß ich ins Nirwana eingehe? – Nun, bei dir dürften noch hunderttausend Jahre draufgehen, lächelte der Himmlische. – Nur hunderttausend Jahre?! jauchzte der Büßer auf. – Wie ihm nur aber dieser Freudenruf entwichen war, da fuhr er erlöst zum Himmel auf.

 

Es gibt also ein Weiterkommen; es gibt Wege, nicht allein das Können, sondern auch das Sein höher auszubilden, dieses zum Ausdrucksmittel tieferen Sinns zu wandeln. Dem Osten sind solche seit Urzeiten bekannt. Und solche Wege gibt es nicht allein für das Individuum, sondern auch für die Gemeinschaft. Hier nun bietet nicht Indien, sondern China das bisher unerreichte Vorbild. Wie der moderne Westen die bisher höchste Könnenskultur erschaffen hat, so Alt-China die bisher höchste allgemeine Seins-Kultur. Deren Geist bestimmt ja noch heute. Noch immer ergreift er jeden Verstehensfähigen, welcher länger in China weilte. Wer dort urteilend von den freilich sehr unbefriedigend gewordenen äußeren Tatsachen ausgeht, wirkt oberflächlich. Allerdings treten alle Nachteile der Routine im Reich der Mitte besonders kraß zutage, allerdings hat die konservative Grundanlage des Volks zu einer Erstarrung ohnegleichen geführt, die sich jetzt ihrerseits besonders radikal zersetzt – dennoch wirkt das chinesische Leben noch heute tiefer, als irgendein anderes, hat es noch heute einen lebendigen Hintergrund, der dem unsrigen fehlt. Woher diese Vorzugsstellung? – Sie ergibt sich aus der einen Erkenntnis, die dem gesamten chinesischen Gemeinschaftsleben zugrunde liegt, daß, wer die äußeren Zustände bessern will, am Innern des Menschen ansetzen muß. Während der moderne Westen das Leben von außen her bessern zu können wähnt, erkannte China bis zu seiner Revolution als undiskutierbare Wahrheit an, daß die Menschenwelt innerlich bedingt ist, daß schlechthin alle historische Erscheinung vom Sein abhängt. Vollkommene Menschen könnten vermittels der schlechtesten Einrichtungen das Leben schön gestalten, unvollkommene vermittels der besten nicht. Alle Ideale müßten zunächst innerlich verwirklicht werden. Ist es nicht also? Gerade heute führt sich alle bloß abstrakte Ideologie ad absurdum (S. 97). Soll die Welt kommunistisch werden, so müssen die Menschen zuvor zu Engeln geworden sein – andernfalls verschlimmert, wie bittere Erfahrung beweist, die äußere Annäherung an das Ideal die Wirklichkeit, anstatt sie zu verbessern; soll die Welt friedlich werden, so müssen ihre Bewohner zunächst innerlich über den Krieg hinaus gelangt sein – erfolgt Abrüstung aus Feigheit oder Mitleid, so führt sie auch zu deren Vorherrschaft, davon zu schweigen, daß sie die Raublust der gewaffnet Verbliebenen steigert. Wer den Angriff verdammt, muß gleichzeitig die Flucht verdammen, denn diese stählt naturnotwendig dem Feind den Mut, so daß auf anderer Seite in erhöhtem Maße fortwächst, was auf der einen verleugnet wurde. Erst wer für den Frieden zu sterben bereit ist, hat ein Recht, sich als Pazifist besser vorzukommen wie als Militarist. Wie die Menschen sind, so erscheint die Welt. Bloße Theorien ändern nichts an ihr, aber jede Erlebnis-Wirklichkeit schafft auf die Dauer entsprechende äußere. So werden keine Beweise und Erwägungen die psychischen Haßgebilde aus der Welt schaffen, welche der Kriegswahn gebar: bei diesen handelt es sich um nicht minder reale Mächte, wie bei beliebigen sichtbaren Lebewesen; sie werden einmal aussterben, und ihr Aussterben kann auch beschleunigt werden; solange sie leben, werden sie weiterwirken. Wie die Menschen sind, so erscheint die Welt, zwar nicht sofort, desto sicherer aber für die Dauer; die von heute spiegelt in der Regel den Charakter der vorgestern Lebendigen getreulich wider (S. 92). Dank der eigentümlich hierarchischen Anlage der Chinesen und ihrer besonderen Naturphilosophie findet diese tiefe Einsicht im Reich der Mitte für unsere Begriffe oft grotesken Ausdruck. Wenn der Herrscher seine Person in Ordnung gebracht habe, so heißt es dort, dann werde es auch rechtzeitig regnen. Aber auf das uns mehr oder minder Befriedigende des Ausdrucks kommt es nicht an, wenn er Chinesen die Realisierung des Sinns ermöglicht; dies aber hat er getan. Die Grundeinsicht, daß das Sein die Erscheinung bedingt, nicht umgekehrt, ist der Unterbau des grandiosen Konfuzianischen Systems, das seit über zweitausend Jahren die bisher größte Menschenzahl zum bisher harmonischesten Zusammenleben vereinigt hat; sie ist die Seele der äußerlich beanstandbaren Lehre, daß das Moralische die Grundkraft der Welt ist. Denn Moralität wird in China nicht äußerlich als Pflichterfüllung, sondern als Ausdruck vollkommen sinngemäßen Seins verstanden. Sie wird insofern tiefer verstanden, als irgendwo sonst. Das tiefere Verstehen aber hat – entsprechend unserer früheren Erkenntnis, daß Sinn und Ausdruck Korrelate sind – eine bessere Wirklichkeit geschaffen, als wir sie kennen. Während Moralismus und Pflichtkult in Europa mechanisierend gewirkt haben, hat ihr chinesisches Äquivalent, im Gegenteil, allen Regierungsapparat in unerhörtem Grade überflüssig gemacht. Konfuzius lehrte: ohne Heer kann ein Reich bestehen, ohne genügende Nahrung kann ein Reich bestehen: ohne Vertrauen nicht. Er hat damit tiefer geblickt als unsere Staatsphilosophen, und eben deshalb Dauerhafteres begründet. Denn Vertrauen ist tatsächlich das einzige unbedingt reale Band, welches die Menschen, direkt wie indirekt, zusammenhält. Gerade unsere Zeit macht dies besonders deutlich, weil ihr Zersetzungsprozeß die Wurzeln bloßlegt. Überall, wo die Führer das Vertrauen verloren haben, sind sie erledigt, gleichviel welche Maschinerie sie scheinbar trug oder trägt; umgekehrt verfügt Lenin, auf Grund einer Staatsauffassung erwählt, die überhaupt keine echte Herrschermacht anerkennt, de facto über größere Gewalt, als je ein Zar sie besaß. Vertrauen bedeutet im Gemeinschaftsleben das Gleiche, wie die Schwere in der toten Körperwelt: es ist die conditio sine qua non seines Bestehens. So beruhen auch die Wechselkurse, ja die Goldwährung selbst letztlich allein auf ihm Vgl. hierzu meine Schrift Politik, Wirtschaft, Weisheit. Darmstadt 1922.. – Weil China dieses weiß, von dieser Grunderkenntnis aus seit Jahrtausenden sein äußeres Leben gestaltet hat, deshalb bedarf es viel geringerer Maschinerie als wir; von England gilt Gleiches in bezug auf das kontinentale Europa und aus den gleichen Gründen. Eben deshalb erweist sich grundsätzlich nicht-mechanische Beurteilung des Menschen in China als praktisch zweckmäßig. Im modernen Westen fragt niemand nach dem inneren Wert; es entscheiden Reichtum, Zahl, Können, Parteizugehörigkeit, Weltanschauung, Klasse, je nachdem. Demgegenüber lehrte Konfuzius: »Der Edle ist kein Gerät.« Und weiter: »Der vornehme Mensch kann dadurch, daß er ein Leben von schlichter Wahrheit und Ernsthaftigkeit führt, der Welt Frieden bringen.« Es kommt viel weniger auf das Tun eines Menschen an, als auf sein bloßes Dasein; dessen Wert jedoch messe sich am Wert des Seins. Denn das Sein wirke als solches unmittelbar, wie jede Kraft auf ihrer Ebene; es wirke sich von selbst und selbstverständlich aus, ohne daß man etwas dazu tut. So habe der Kaiser Schun nur dagesessen, das Antlitz gen Süden gewandt, und es herrschte vollkommene Harmonie. Man mißverstehe hier den chinesischen Weisen nicht: nicht darauf ruht das Schwergewicht des letzten Satzes, daß Schun nichts tat, sondern daß sein Dasein mehr bedeutete, als all' sein Tun; sein höheres Sein war es, das nicht nur seinem eigenen Tun, sondern auch dem seiner Untertanen Sinn und Richtung gab. Insofern stellt Schun das Ideal auch des größten Könners dar: nur das Können, das durchaus vom Sein beseelt ist, wirkt produktiv. Deshalb entscheidet auch auf technischen Gebieten letztlich die Persönlichkeit des Leiters als solche; je nach deren Qualität erscheint der Betrieb so oder anders beseelt. Ihr bloßer Einfluß ist eben die wichtigste treibende Kraft. Gleichsinnig darf die chinesische Lehre vom Nicht-Handeln nicht mißverstanden werden: gerade sie spitzt die Theorie der Suprematie des Seins auf Produktive zu. Konfuzius lehrte: »Um die Welt zu gewinnen, muß man frei sein von Geschäftigkeit.« Man denke an die ungeheure und dabei gute Arbeit, die vom politischen Deutschland der letzten Jahrzehnte ohne jeden Erfolg geleistet worden ist, und sofort wird klar, wie es der Weise meint: aller Erfolg hängt von sinngemäßer Zielsetzung ab Vgl. hierzu meinen Aufsatz Arbeit im zweiten Heft des Wegs zur Vollendung.. Diese aber entscheidet sich in der stillen Tiefe einer Wesensschicht, innerhalb welcher sich die Frage besonderen Tuns nicht stellt. Wenn der letztentscheidende Mensch das Problem im Schnittpunkt des Winkels (S. 163) erfaßt hat, dann allein funktioniert das Technische mit Erfolg und Sinn. So predigt die chinesische Weisheit, richtig verstanden, nichts anderes, als das Leben von einer tieferen Bewußtseinslage her, als sie der Westen typischerweise innehat; ihre Staatslehren sind vom vierten Stockwerk der Sprache her erlassen. Dementsprechend anders müssen sie lauten, dementsprechend anderes bedeuten die Erscheinungen, welche sie äußerlich bewirken. So bedeutet die chinesische Friedfertigkeit ein völlig anderes, als unser Pazifismus. Ihr wahrer Sinn läßt sich am besten aus den Koordinaten zweier Aussprüche verstehen, von denen der erste von Konfuzius, der zweite von Lao Tse stammt. Jener lehrte: Irrlehren angreifen schadet nur; dieser bekannte den Grundsatz: wirken, ohne zu streiten. Nun, hier handelt es sich um nichts anderes, als die philosophischer und staatsmännischer zugleich gefaßte Lehre Christi, daß man dem Bösen nicht widerstehen soll. Warum nicht? Weil man es durch Widerstand stärkt. Dies ist gewiß nicht auf empirischer Ebene wahr; hier gibt es nur einen Weg, das Böse zu überwinden, nämlich dasselbe zu bekämpfen. Aber wirklich zu überwinden ist es auf dieser Ebene nicht. »Wenn der Haß dem Haß antwortet«, fragte Buddha, »wann soll der Haß enden?« Und das Böse wird nicht allein dadurch gefördert, daß es in der Übertragung weiterlebt, das Gewaltprinzip Vgl. hierzu den Abschnitt Im Yellowstone Park meines Reisetagebuchs. an sich ist böse, woran weder seine Notwendigkeit in der Weltökonomie, noch die Tatsache, daß es dem Höchsten, Besten dienstbar gemacht werden kann, das mindeste ändern. Insofern kann man sagen, daß auf der Ebene des Streits das Schlechte notwendig stärker ist, als das Gute; dies wäre der wahre Sinn der mittelalterlichen Lehre, daß der Teufel der Fürst sei dieser Welt. Hieraus ergibt sich weiter, daß, wer sich überhaupt auf Streit einläßt, das Böse dadurch stärkt; das Gewaltprinzip an sich wird gefördert, gleichviel in wessen Diensten es steht. Der Sieger im Krieg wird militaristisch, der Geschlagene lechzt nach Revanche. Die schlechten angewandten Mittel wirken weiter auf den Anwender zurück. Nicht genug dessen: der Angegriffene findet sich, bis daß er vernichtet ist, durch den Angriff in seiner Kraft gesteigert. Erst strafft er sich in der Abwehr zusammen, dann erwachsen ihm Freunde und Anhänger eben dadurch, deren Gesinnung wird im Kampfe weiter gefestigt, die Massen nehmen Partei, und da es immer vielerlei mögliche Meinung gibt, so ist ein Anhang jedem Mutigen gewiß, mit dem sich die Öffentlichkeit überhaupt befaßt. Deswegen buchen im öffentlichen Leben Stehende jeden Angriff als Aktivum. Wenn dem nun also ist, und es ist so, dann vergrößert Streit unter allen Umständen die Summe des Übels, gleichviel wer siegt. Dann ist Überwindung eines Üblen durch Kampf an sich überhaupt nicht zu erreichen. Nur auf andere Weise gelingt es. Zu deren Erkenntnis nun führt wiederum am schnellsten das Durchdenken praktischer Erfahrungen, von denen hier vornehmlich zwei in Betracht kommen: die erste ist die, daß die einzig bewährte Art, Angriffe zu erledigen, darin besteht, dieselben zu ignorieren; die zweite, daß das, was im Krieg oder Streit den Endsieg bringt (brutal-materielle Überwältigung bedeutet nie einen solchen), ein anderes ist, als die Gewalt an sich: die moralische oder geistige Macht, die sie benutzt. Nun, unter diesen Umständen bedeutet es gewiß das einzig richtige, wo es nur irgend angeht, vom Streiten abzusehen, und jenes »andere« dafür als solches zu pflegen. Eben dies meint Lao Tse mit seinem Grundsatz des Wirkens, ohne zu streiten. Beim konkreten Guten wie beim konkreten Bösen handelt es sich um reale lebendige Mächte, welche als solche behandelt werden müssen. Was gesät, was gepflegt, was vitalisiert wird, wächst: dies gilt zunächst vom Bösen in seiner Ausübung. Ebenso aber gilt es vom Guten; dieses muß ohne Auseinandersetzung mit dem ihm Feindlichen gepflegt werden. Nur dadurch kann es siegen, daß es selbständig zu solcher Macht heranwächst (während gleichzeitig das Böse durch Unterernährung an Kraft so viel verliert), daß das natürliche Übergewicht auf die Seite des Guten kommt; so allein wird, gemäß Jesu gleichsinniger Lehre, das Böse zuletzt durch Gutes überwunden. Aus dieser Überlegung widerrieten alle Heilige ihren Jüngern, sich vorzeitig Versuchungen auszusetzen, werden Kinder vor üblen Einflüssen bewahrt. Ich wiederhole: sind einmal starke böse Mächte am Werk, dann müssen sie im Kampf nach Möglichkeit geschwächt werden. Auf einmal betretener Ebene des Streits bedeutet Nachgiebigkeit nur Schwäche. Aber zu besiegen ist das Böse auf dieser Ebene nicht. Deshalb muß Streit vermieden werden, wo dies nur irgend angeht. Von allen Staaten sind die vor Angriffen grundsätzlich am sichersten, bei denen, bei unbezweifelbarem Willen zur Selbstbehauptung, Angriffsabsicht ausgeschlossen scheint, weil sie nicht mehr rüsten, als die Verteidigung unbedingt verlangt. Rüstungsvergrößerung wirkt immer als Angriffsabsieht, gleichviel, was der Betreffende meine, und wird auf die Dauer auch zu solcher, weil der hervorgerufene Eindruck zurückwirkt, welches irgend einmal zwangsläufig zur Überzeugung führt, daß die beste Verteidigung eben der Angriff sei In seinem ersten, 1914 geschriebenen Kriegsbuch Common sense about the War hat Bertrand Russell diese Wahrheit in umgekehrter Fassung ebenso tiefsinnig wie witzig auf die Spitze getrieben. Er behauptet dort, das Gescheiteste für England im Fall einer deutschen Invasion wäre, garnichts dagegen zu unternehmen, sondern einfach zu tun, als sei nichts vorgefallen: dann würden die Deutschen sich in kürzester Frist als die Dummen erweisen. Er hatte vollständig recht unter der Voraussetzung, daß alle Einwohner der britischen Inseln übermenschlich überlegen wären. Das sind sie leider nicht.. Deshalb führt schon rein-praktische Erwägung, weit genug verfolgt, zur Überzeugung Jesu, daß auf die Dauer den Friedfertigen das Erdreich gehört. Aber dessen eigentlicher Grund liegt tiefer. Nur der ist einer Einstellung, welche Angriffsabsicht ausschließt, dauernd fähig, welcher innerlich über das Streiten hinaus ist. Von wem dieses gilt, der allein ist es auch äußerlich; der ist es dann aber äußerlich nicht in dem Sinn allein, daß er selbst nicht mehr angreift, sondern auch nicht mehr angegriffen wird: sein Dharma ist vom kriegerischen zum brahmanischen geworden. (Daß er von seinen Antipoden verfolgt und dann auch leicht vernichtet wird, hängt mit anderem: dem notwendigen tragischen Gegensatz zwischen Licht und Finsternis und dem natürlichen Übergewicht des Bösen auf Erden zusammen, und ändert nichts an der hier ausgeführten Wahrheit. Jenes tritt nämlich erst ein, wenn der Friedfertige über den Menschenzustand so hoch hinausgewachsen ist, daß sein Dasein eine neue feindliche Spannung schafft.) Nun wirkt er von anderer, tieferer Geistesschicht aus ins Leben ein, und dementsprechend andere Kräfte gehen von ihm aus. Wenn Jesus die linke Backe hinhielt, so gab er nicht etwa feige nach, sondern er führte eine Kraft ins Feld, welche der seiner Gegner überlegen war Diese Frage behandelt Giovanni Papini sehr gut in seiner höchst interessanten, rein dichterisch gestalteten Storia di Gesú, Florenz 1921.. Im gleichen Verstand fühlt jeder, daß, wenn Quäker, diese geistlieh vorgeschrittensten unter den Westländern, den Kriegsdienst ablehnen, dies nicht aus Feigheit geschieht: bei diesen hat das Gute das Böse bereits überwunden, was ihre wunderbar segensreiche Wirkung allein schon beweist. – Wird nun das Gute dauernd bei allen Menschen gepflegt, unter möglichster Nichtbeachtung des Bösen, dann wird böswilliger Streit, wegen des Kräfteverhältnisses in der Seele, zuletzt zur Unmöglichkeit. Wie Ehrenhändel desto seltener vorkommen, je besser die Menschen sich selbstverständlich benehmen, wie keine Beleidigung dort unter normalen Umständen stattfinden könnte, wo der Beleidigende ipso facto ehrlos wurde, so könnte Krieg bei genügender innerer Bildung nahezu ganz verschwinden. Aber freilich nur unter dieser einen Bedingung. Diese nun ist (oder war) bei den Chinesen, unter allen Völkern, der Erfüllung am nächsten. Dies ist der Sinn von deren Friedfertigkeit. Die Chinesen sind (oder waren) innerlich weiter als wir. So ist ethischer Fortschritt überhaupt nur auf die Weise realisierbar, daß das Gute selbständig, ohne Auseinandersetzung mit dem Bösen, wächst. Dies gilt von Völkern wie von Einzelnen. Gewiß erprobt und stählt und entfaltet es sich ganz erst später im Kampf, aber zunächst muß es erwachsen; hier liegt der springende Punkt. Wächst das Gute nun aber also stetig heran, dann ist der Endsieg ihm auch gewiß: hier hätten wir eine tiefere Fassung der gestrigen Erkenntnis gefunden, daß im politischen Leben zwischen Umsatz und Reingewinn zu scheiden ist und die Werkmeister der Zukunft sich auf den heutigen Tageskampf nicht einlassen dürfen. Hier hielten wir das Gegenstück zur Wahrheit, daß der Teufel diese Welt als rechtmäßiger Fürst beherrscht, zugleich den Sinn aller Mythen, die für den jüngsten Tag den Endsieg des Guten verheißen. Ist auf der Ebene des Streits das Schlechte notwendig stärker als das Gute, so gilt das Umgekehrte auf der des Seins. Auf dieser gibt es keinen möglichen Streit, man ist entweder, oder man ist nicht. Das Sein an sich ist ein schlechterdings Positives, Absolutes, in sich Gegründetes. Im Falle guten Seins potenziert sich eben dies Verhältnis, weil auch das Gute ein Unbedingtes, zwecklos Ausströmendes, allem Zwiespalt von Hause aus Überlegenes bedeutet. Unter diesen Umständen muß aber gutes Sein Bösem notwendig überlegen sein, weil das Böse nur vom Streite lebt und auf der Ebene des Seins deshalb nicht selbständig existieren kann. Ihm eignet insofern niemals absolutes Sein. Deshalb steht das Gute, wo kraftvoll vorhanden, letztendlich konkurrenzlos da. Auf der Ebene des Tageskampfes kann sich dieser Umstand, gemäß dem Vorhergehenden, nicht äußern, dort muß, im Gegenteil, das Böse siegen. Jenseits ihrer tritt aber die stärkere Macht des Guten auch historisch zutage, insofern das Böse immer tieferem Sinne dienen muß. So hat sich Christus mächtiger erwiesen als das römische Reich. So sind es fortlaufend höhere Ideale, für die das an sich Böse zu kämpfen gezwungen wird, oder könnten es doch sein. Es sind tatsächlich die Weltschwachen, die auf die Dauer die stärkste Macht verkörpern, vorausgesetzt, daß eine andere, metaphysische Kraft hinter der Schwäche steht. Dies ist der Sinn der seltsam klingenden Lehre Lao Tses, daß die Schwachen stärker seien als die Starken, die Weichen fester als die Harten, die Flüssigen widerstandsfähiger als die Festen. Das Positive muß seinerseits erwachsen, dies aber ist, noch einmal, dann allein möglich, wenn es sich als solches auf Streit nicht einläßt, d. h. sich selbst nicht zur Diskussion stellt, wie immer es sich sonst betätige. Hierher rührt, um schnell ein Streiflicht auf geistige Verhältnisse zu werfen, die Abneigung aller schöpferischen Geister gegen die Diskussion.

 

In China ist das Gute selbständig erwachsen, dank dem wundervoll praktischen Blick der tiefen Geister, die seine Geschichte bestimmt haben. Diese haben das chinesische Leben von vornherein in einer Sinnes-Tiefe verankert, welche kein Volk des Westens bisher gekannt hat. So spricht dort aus den Buchstaben alles Lebens, um auf unser bewährtes Bild zurückzugreifen, tieferer Sinn als in Europa bisher. Deshalb, nicht aus äußeren Gründen, befanden sich gerade die Unterschichten Chinas in einem Zustand höchster Kultur; deshalb ist bei seinen Gebildeten eine Tiefe des Sinnes-Verständnisses Regel, welche nur seltene Genies bei uns besitzen. Ganz China lebt normalerweise im vierten Sprachenstockwerk. Dort wird ohne weiteres verstanden (und entsprechend gehandelt), was Laotse lehrt: »Wer mit klarem Blicke alles durchdringt, der mag wohl ohne Kenntnis bleiben.« Es kommt auf Sinn verstehen, nicht Fachkenntnisse an; die nötigen Fachleute sind überall zu mieten, wo es ihrer bedarf. Wer des Sinnverstehens fähig ist, wird jedesmal intuitiv erkennen, welche Fachleute er und in welcher Richtung er sie verwenden soll. Nur er aber kann solchen das Ziel weisen. Die ganze chinesische Staatsweisheit geht von der Erkenntnis dessen aus, nicht allein, daß Führerschaft das wichtigste ist, sondern was sie bedeutet. Daß wir keine Führer haben, weil wir letzteres nicht wissen, habe ich an anderer Stelle gezeigt Vgl. meinen Aufsatz Von der Selbstführerschaft im 2. Heft des Wegs zur Vollendung.. Wir erkennen Führer außer uns ebensowenig, wie das Führerische in uns. Über diesen Punkt hat ein moderner Chinese, Ku Hung-Ming, Beherzigenswertes gesagt (in Vox Clamantis, Leipzig 1921, S. 24): »Es gibt drei Stadien oder Grade der Anarchie. Ihr erster Grad ist es, wenn in einem Lande kein wirklich fähiger, guter König ist. Der zweite Grad ist es, wenn das Volk in einem Lande offen oder stillschweigend an die königliche Gewalt nicht glaubt. Der dritte und schlimmste Grad ist erreicht, wenn das Volk in einem Lande nicht nur an eine königliche Herrschergewalt nicht glaubt, sondern nicht einmal an Königlichkeit – in der Tat, wenn es unfähig wird, Königlichkeit oder menschlichen Wert im Mann überhaupt zu erkennen. Es scheint mir, daß Europa und Amerika sich diesem letzten und schlimmsten Stadium der Anarchie rasch nähern.« Auch aus diesem Ausspruch klingt das chinesische Grundmotiv heraus, daß auf persönliche Überlegenheit alles ankommt; von ihr aus gelingt alles, ohne sie nichts. Das eine unbedingt zu Überwindende ist die Subalternität. Deshalb konnte schon Laotse wie selbstverständlich die Ergebnisse jüngster Moralkritik vorwegnehmen. Er lehrte: »Der große Sinn ward verlassen, so gab es Sittlichkeit und Pflicht.« Äußerer Bindung bedarf es, in der Tat, nur dort, wo der innere Halt fehlt. Wer den Sinn jeder Zeit vollkommen erfaßte und ihm gemäß lebte, für den stellten sich moralische Fragen nicht mehr, und doch genügte das Bild, das sein Leben darböte, den Ansprüchen höchster Sittlichkeit. Weshalb heißt es denn, das Moralische verstehe sich immer von selbst? Weil es noch halb der Naturordnung angehört, das heißt der Region der Grammatik, nicht des Sinnes. Die moralischen Gesetze grenzen mögliches ersprießliches Zusammenleben überhaupt ab; sie definieren das Minimum Vgl. über Ethik im tieferen Sinn und soziale Moral das Kapitel Mensch und Menschheit meiner Unsterblichkeit, 3. Auflage Darmstadt 1920.. Deshalb ist ihr Befolgen erstens unerläßlich, zweitens selbstverständlich, drittens aber keine letzte Instanz mehr für jeden, welcher den Sinn erfaßte. So darf der große Dichter ausnahmsweise die Sprache vergewaltigen. Es kommt wirklich alles auf Höher-Bildung und Vertiefung des inneren Menschen an. Nur wenn und solange die Höchstwertigen bestimmen, erscheint der Gesamtzustand gehoben. Die Höchstwertigen sind allezeit die, welche den jeweilig höchsten Grad der Sinneserfassung und -verwirklichung darstellen. Dieser Grad erweist sich als äußerst verschieden, je nach den gerade lebenden Persönlichkeiten. Deshalb ist die Welt nicht besser, als sie ist. Deshalb hebt und senkt sich das Menschheitsniveau je nach den Einflüssen, welche die Völker bestimmen.

 

Zum Sinnverstehen, welches, wie wir früher bereits erkannten, den einzigen weisbaren Weg zur Seinserhöhung darstellt, leitet nun alle Erziehung im Osten unmittelbar an. Hierin ist China nicht einzig. In Indien muß der Weise über Namen und Form stehen. Japans Staatsmänner gehen noch heute mit Vorliebe zu Zen-Mönchen in die Schule. Aus dem Ziel der Sinneserfassung und -einverleibung ins Leben allein versteht man den uns so fremden Traditionalismus des ganzen Ostens, die unerhört lange Schulung seiner Jugend durch die gleichen Bücher; jahrelang werden dort die gleichen Lehren meditiert. Den Sinn dessen erläutert die folgende Erklärung des Konfuzius besonders gut: »Wer nicht strebend sich bemüht, dem helfe ich nicht voran; wer nicht nach dem Ausdruck ringt, dem eröffne ich ihn nicht; wem ich eine Ecke zeige, und er weiß es nicht auf die anderen drei zu übertragen, dem wiederhole ich nicht.« (Noch größeren Mangel an Entgegenkommen bewiesen, laut den Sagen, die indischen Rishis). Er hatte ganz recht; jeder, der es gut mit seinen Schülern meint, sollte es ebenso halten. Es kommt eben nicht auf Wissen, sondern auf Verstehen an, und dieses wird nur durch eigene schöpferische Arbeit erreicht. Hier können wir eine unserer gestrigen Erkenntnisse (auf S. 186) in bezug auf die konkrete Frage, die uns beschäftigt, tiefer fassen. Sinneserfassung ist allezeit Sinn gebung; die Dimension des Sinnes liegt in der Richtung von innen nach außen zu. Deshalb verhalten sich Wissen und Verstehen recht eigentlich so zueinander wie Natur und Geist. Jenes wird von außen nach innen zu gewonnen, dieses vollzieht sich schöpferisch in entgegengesetzter Richtung. Unter diesen Umständen präjudiciert das eine über das andere nichts. Man kann alles wissen, ohne gleichzeitig das mindeste zu verstehen. Eben dahin hat unsere auf Wissensaufspeicherung hinzielende Erziehung die Mehrzahl gebracht. Es hat vielleicht keine Menschheit gegeben, die gleich wenig verstünde, wie die vielwissende von heute. Demgegenüber wird dem Jüngling im Osten nur ganz wenig Wissensstoff beigebracht, aber diesen muß er verstehen, und hat er dergestalt auch nur weniges wirklich verstanden, dann ist er jedem bloßen Vielwisser überlegen. Es kann wohl kein Zweifel darüber bestehen, daß das Ziel des Ostens in diesem Fall das absolut höhere ist. Deshalb sind seine Methoden höchst beherzigenswert. Da Verstehen durch schöpferische Arbeit allein erfolgt, so spielt dabei die Zeit offenbar eine wesentlichere Rolle als bei bloßer Wissensansammlung: hier handelt es sich um organisches Wachstum. Begabung mag dieses beschleunigen, umgekehrt kann die Zeit jene bis zu einem gewissen Grad ersetzen, wie die typische Weisheit des Alters beweist. Deshalb gilt es als Hauptaufgabe des Lehrers im Osten, wie der zitierte Spruch Kungfutses besonders deutlich zeigt, nichts zu sagen noch zu tun, was die persönliche Anstrengung abflauen läßt. Der Förderung persönlichen Verstehens im Gegensatz zum äußerlichen Wissen dient nun weiter der eigentümlich aphoristische Sutrastil der Inder, der Kommentar seitens des Lesers erfordert; ihm dient die unerhörte Kürze der chinesischen Ausdrucksweise. Es wird nicht expliziert, damit verstanden werde. Wir halten es bisher genau umgekehrt. Und doch sollte die immer wieder bewiesene Wirkung des Unverständlichen allgemach auch uns Abendländern den Weg zu besserer Einsicht weisen. Mrs. Baker-Eddys höchst unverdauliches Buch hat zweifelsohne mehr Kräfte ausgelöst als irgendein Gelehrtengeschreibsel. Die Anziehung des Unverständlichen beruht freilich zumeist auf Wunderglauben; dessen starke Wirkung jedoch auf einem anderen: das Unverständliche regt das Verstehenwollen an, und dieses führt auf die Dauer naturnotwendig zum Verstehen. So mag man durch völlig Sinnloses hindurch zum Sinn gelangen; dank diesem Umstand wird einer durch meditative Lektüre eines Kochbuchs mehr lernen als durch die auf die übliche Art betriebene von Goethes Faust. Die Sprache an sich ist dermaßen genial (S. 47), daß das Versenken in bloße Worte zu tiefer Erkenntnis führt, wie dies die (freilich meist mißverständlich, auf Zauberformeln hin gedeutete) Erfahrung aller Religionen beweist. Nur durch persönliche Anstrengung entsteht eben Verstehen. Unter solchen Umständen kommt es letztlich offenbar nicht aufs Beweisen an, denn dieses macht Anstrengung überflüssig. Um einem Beweis zu folgen, bedarf es kaum überhaupt der Konzentration – da überläßt man sich bloß dem logischen Gefälle. Andererseits läßt sich niemals mehr beweisen, als auch ohnedies einzusehen wäre. Kein Beweis führt weiter als bis zur Evidenz, und wenn es freilich stimmt, daß jede Wahrheit, soweit sie logisch ist, beweisbar sein muß, so vermag Intuition sie grundsätzlich jedesmal auch unmittelbar einzusehen. Die Fähigkeit des Zusammenschauens hängt nun vom Vertiefungsgrade ab; je tiefer einer im Geist verwurzelt ist, desto mehr weiß und erkennt er unmittelbar. So gelangen wir zum scheinbar paradoxalen Ergebnis, daß unser westlicher Weg des Alles-Beweisen-Wollens zwar die Wissenschaft fördert, den Menschen jedoch oberflächlich macht; sein mechanischer Charakter läßt tieferes Selbstdenken überflüssig erscheinen. Ebendeshalb ist unsere Kultur zu einer solchen des Sich-Leicht-Machens geworden (S. 79 ff.); sie wird es, unter dem Antrieb der heutigen Massenherrschaft so sehr, daß darüber alle höhere Geistigkeit unterzugehen droht. Es mag zuletzt nur noch Wissen, gar kein Verstehen mehr geben. Dem gilt es entgegenzuarbeiten. Der Kultur des Sich-leicht-Machens muß eine des Sich-desto-schwerer-Machens kontrapunktisch entgegengehalten werden. Nur die, welche sich's extrem sauer werden lassen, werden das Examen rigorosum dieser Untergangszeit bestehen, kommen als Zellen des Neuaufbaus in Betracht. Hier wären wir denn zu unserer persönlichen Aufgabe zurückgelangt. Gerade zu dem, was uns nottut, dem Tieferwerden, dem Durchdringen des Wissens durch Verstehen, kennt der Osten einen vorbildlichen Weg. Deshalb wird die Schule der Weisheit in dieser einen Hinsicht östlichen, nicht westlichen Charakter tragen. Hier müssen, der Natur der Sache nach, unverhältnismäßig höhere Ansprüche gestellt werden als irgendwo sonst. Gerade in den höheren Anforderungen als solchen wird ihre Hauptaufgabe liegen, die ja vielmehr eine ethische als eine intellektuelle ist (S. 205). Allein trotz dieser östlichen Orientierung des Wegs bedeutet ihr Ziel ein schlechthin-westliches; dies wiederhole ich noch einmal, um späteren Mißverständnissen, die gewiß nicht ausbleiben werden, soviel an mir liegt, vorzubeugen. Ihr Ziel ist ein schlechthin westliches gerade und besonders insofern, als der Nachdruck auf das Persönliche gelegt werden wird, weil dies in einem Grad geschehen muß, welchen der Osten nicht kennt. Die freie Persönlichkeit in unserem Sinn kennt dessen Weisheit nicht. Diese fand ihre endgültige Gestalt zu einer Zeit, als der Typus die Person noch ganz beherrschte. Der freie Mensch, den sie ausbildet, ist freilich metaphysisch frei, nicht aber im Verstande einzigen individuellen Ausdrucks. Hieraus ergibt sich denn ein grundlegender Unterschied zwischen den Schulen des Ostens und der unseren nicht allein in bezug auf das Endziel, sondern auch den Weg. Um diesen Unterschied als Schluß dieser Betrachtung an einem Beispiel grundsätzlich deutlich zu machen, will ich die östliche Lernmethode mit der Art vergleichen, auf die ich zu lesen lehre. Der Konfuzianer versenkt sich in die Schriften seines Meisters, bis daß dieser ganz von ihm Besitz ergriffen hat. Freilich muß auch jeder Okzidentale zunächst in diesem Sinne lesen lernen, damit die nötigen Verständnisorgane überhaupt entstehen. Ist aber einer soweit, dann sage ich ihm: Was gehen Sie die Gedanken anderer an? Sie wollen doch Ihre Wahrheit finden. Lesen Sie jene freilich, aber lesen Sie durch dieselben hindurch. Wenn ein Buch Sie interessiert, so stellen Sie sich nicht die Frage, was der Schreiber meint, und ja nicht, wie Sie dazu stehen – durch Stellungnahme legen Sie sich bloß in Ihrer derzeitigen Beschränktheit fest –, sondern deuten Sie die Tatsache Ihres Interesses als Korrespondenz dessen, was Sie im Innersten meinen, aber noch nicht aussprechen können. Damit deuten Sie dieselbe auch zweifelsohne richtig, denn was ein lebendiges Echo in Ihrer Seele findet, muß etwas Persönliches für Sie bedeuten, was immer es sei. Versenken Sie sich nun in die Schrift eines anderen in der Absicht, sich selbst zu finden, dann wird jener Ihnen zum Mittel der Selbstverwirklichung werden. Sie dürfen sich nie bei einer Wahrheit beruhigen, die Ihnen nicht zur persönlichen Einsicht ward. Stellen Sie sich so ein, wie ich's Ihnen hier angebe, so mögen Sie alles lesen, was Sie nur interessiert: alles und jedes wird Sie fördern. Dann dürfen Sie sich getrost der natürlichen Rotation Ihrer Interessen überlassen: deren Kreislauf führt Sie notwendig zu sich selbst. Dann brauchen Sie auch Perioden sogenannter Oberflächlichkeit nicht mehr zu scheuen, denn alle Oberfläche wird Ihnen zum Sinnbild der Tiefe. So mag der eine oder andere unter Umständen an eines Dritten Oberflächlichkeit seine eigene Tiefe ergründen. Eine ähnliche Umdeutung müssen alle östlichen Methoden für uns erfahren. Denn der Osten ist, noch einmal, bei aller wesentlichen Tiefe, im Ausdruck gebunden; dort herrscht noch der Typus, wie bei uns im Mittelalter, nicht die freie Individualität. Wir aber wollen und müssen schlechthin selbständige Persönlichkeiten bilden.

III. Antikes und modernes Weisentum

Die gestrige Betrachtung klang aus in ein Bekenntnis zum Abendländertum. Am Osten als Ganzen besitzen wir ein sinnbildliches Vorbild, wir können und sollen von ihm auch viel Tatsächliches im einzelnen übernehmen – unser eigentlicher Weg kann nur der unserer eigensten Anlage sein Von einem anderen Gesichtspunkte aus genau ausgeführt steht dieser Gedanke in der Studie Ost und West auf der Suche nach der gemeinsamen Wahrheit in Philosophie als Kunst.. Deshalb wäre eine Einführung ins Wollen der Schule der Weisheit nicht abgeschlossen, bevor sie nicht, nach gewiesenem abstrakten Ziel, nach Einordnung desselben in den Zusammenhang des anderweitig Erstrebten, die historischen Wurzeln jenes Wollens aufgedeckt und so das Heutige zum Ursprünglichen in notwendige Beziehung gesetzt hat. Wenn nämlich ein Neues auf Erden sowohl sinngemäß als durchführbar erscheint, dann war es, von uralters her, der konkreten Möglichkeit nach vorausbestimmt. Der Geschichtsprozeß verläuft ganz ungeheuer langsam. Gleiche Fragen stellen sich wieder von Jahrhundert zu Jahrhundert, von Jahrtausend zu Jahrtausend; erst dann stellen sie sich nicht wieder, wenn sie endgültig gelöst wurden – und von wie vielen gilt dies seit den Tagen der Genesis? Wohl bringt jedes Geschlecht, das sie behandelt, sie ihrer Lösung näher, und sei es auch nur im Sinn des Zu-Ende-Gehens von Irrwegen; aber da die Dummheit und Trägheit immerdar die zahlenmäßige Übermacht behält, da sie gerade der zeitgemäßen Neuerung naturnotwendig mit größter Energie widerstrebt und keine geistige Errungenschaft gesichert ist, bevor sie nicht die ihr feindlichen lebenden Vorurteile überwand, so wird erschreckend wenig auf einmal und für viele erreicht. Praktisch siegt eine neue Wahrheit auf geistigem Gebiet nicht schneller als auf dem der Politik, so sehr der Geistesmensch sonst dem Staatsmann gegenüber bevorzugt erscheint, weil die Gedanken, die er bekämpft, ihm nicht als solche widerstehen können; sind sie einmal logisch besiegt, dann sind sie's grundsätzlich überhaupt: die neue Wahrheit muß selbstverständlich geworden sein, und dies geschieht nie früher, als bis sich eine Mehrheit zu ihr durchrang, genügend groß, um die Mehrzahl aus Prestigegründen zu sich herüber zu ziehen. So mußte das Christentum jahrhundertelang gegen die antiken Religionen kämpfen, so ist der Streit zwischen persönlicher und autoritativer Erkenntnis auf katholischem Boden noch heute nicht zugunsten jener ausgetragen, hat der Panlogismus Hegels mehrere Jahrzehnte geherrscht, bis daß er in einen absurden Materialismus umschlug, der noch heute nicht auf allen Gebieten historisch erledigt ist (er ist es auf geistigem, nicht jedoch schon auf politischem). Aber eben wegen dieser Langwierigkeit des geistesgeschichtlichen Werdens bleibt der Zusammenhang mit den historischen Wurzeln so fest; ebendeshalb entwächst man diesen nie, kann man sie nie verleugnen, ohne sich vom geheimnisvollen überindividuellen Organismus loszulösen, und ebendamit vom Leben Vgl. hierzu meine Unsterblichkeit, ab Kap. IV.. Alles nur mögliche Neue setzt sämtliches auf der gleichen Entwicklungsbahn belegenes Altes unbedingt voraus. Wir sahen schon (S. 102), daß ein abstrakter Fortschritt erst dann zu einem wesentlichen wird, wenn er sich in entsprechender Zustandsänderung verleibt hat. Solche, als Wachstumsvorgang, kann unmöglich schnell verlaufen, unmöglich ein organisches Stadium überspringen. Sie ist an vorherbestimmte Phasen und Entwicklungslinien genau so gebunden wie der Embryo. Deshalb wirkt zunächst alle Kreuzung von Unverwandtem auch auf geistigem Gebiet als Bastardierung; deshalb löst jeder genügend starke neue Impuls zunächst chaotische Gärungserscheinungen aus. Nichts verlangsamt Entwicklung, nebenbei bemerkt, insofern mehr als Krieg und Revolution.

Unsere geistigen Wurzeln ruhen in der Antike, nicht im Morgenland. Deshalb ist es durchaus in der Ordnung, daß die abendländische Erziehung zur Humanität mit der Anknüpfung an Hellas und Rom beginnt. So anders die Völker als solche seien, die seither in der Geschichte bestimmend wurden, auf geistigem Gebiet besteht lückenlose Kontinuität. Und diese springt deshalb in die Augen, weil die eigentliche Geistesgeschichte, sobald man die Jahrzehnte und Jahrhunderte abzieht, in denen nichts Neues erfolgte, ganz kurz erscheint: ehe man sich's versieht, ist man, von der Moderne auf ihre Vorgänger zurückschauend, beim klassischen Altertum angelangt. Dies gilt nun besonders in bezug auf unsere Bestrebungen: was wir hier in Darmstadt beginnen, setzt unmittelbar antikes Wollen fort. Deshalb vermöchte ich ins unsrige nicht besser endgültig einzuführen, als indem ich den Impuls, welcher zuerst in Hellas Gestalt ward, in großzügiger Nachskizzierung der Resultanten aller Sonderbewegungen, bis hierher verfolge; von seinem ersten Aufleuchten an im Auge behalten, wird sein mögliches Ziel uns desto bestimmter und deutlicher vor Augen treten.

 

Die griechischen Weisen unterschieden sich, sobald ihr eigentliches Selbstbewußtsein erwachte (was von den frühesten, von Asien und Ägypten sehr abhängigen nur in beschränktem Maße gilt), in einer Hinsicht grundsätzlich von denen des Ostens, die wir gestern betrachteten: sie waren bewußtermaßen nicht Erfüllende, sondern Suchende. Ihr Prototyp und Sinnbild ist deshalb, für die Nachwelt, Sokrates geblieben. Wohl haben die Vorsokratiker dem eigentlichen Begriff eines Weisen besser als er entsprochen; wohl ist das, was er wollte und vertrat, schon vor ihm historisch wirksam geworden; wohl gab es zum mindesten einen größeren nach ihm: den göttlichen Platon. Aber mit Sokrates greift ein neuer Typus in die Geistesgeschichte ein, den es im Osten nie gab, und der so typisch weder früher noch später je in die Erscheinung trat, weshalb alle spätere Vorstellung vom griechischen Philosophen sich unwillkürlich an ihm orientierte: der Weise als bewußt Nichtwissender, nicht als Wissender. Selbstverständlich wußte auch der morgenländische das meiste nicht, aber nicht darauf legte er das Gewicht: ihm war Realisierung des einmal errungenen und besessenen Wahrheitsgutes Ziel Vgl. hierzu Ost und West etc. in Philosophie als Kunst sowie die letzten Benares-Abschnitte des Reisetagebuchs.. Sokrates hingegen wollte unaufhörlich neue Erkenntnisinhalte gewinnen. Indem er nun also den Bedeutungsakzent verschob, veränderte er zugleich das Ziel: bei seiner Fragestellung mußte Wissen, nicht Sein dasjenige sein, worauf es letztlich ankam, und zwar Wissen im Sinn der Theorie. So wurde Sokrates zum Erfinder des Begriffs, zum Entdecker der Methode, der Bedeutung richtiger Fragestellung, zuletzt zum Vater der exakten Wissenschaft. Deshalb hat alle wissenschaftliche Forschung seither mit besserem Gewissen an ihn als an Platon angeknüpft, obgleich als erster Gelehrter im modernen Sinn nicht schon jener, sondern erst Aristoteles gelten darf. Allein Sokrates ist doch nicht nur der Vater der Theorie als Selbstzwecks, mithin der westlichen Unweisheit, wie man seit Nietzsche zu urteilen beginnt, in charakteristischer Wiederumkehrung des Bedeutungsakzents: er war zugleich ein echter Weiser, ein Verkörperer erkenntnisbedingten Lebens. Er kam auf die Wertbetonung der Theorie im wissenschaftlich exakten Sinn nicht aus Neubegier oder selbstgegründetem Erkenntnistrieb, sondern deshalb, weil die unbefangene Lebensganzheit der Väterzeit zersetzt war, mithin aus Weisheitsgründen. Die alten Götter lagen im Sterben, zu Tode verwundet durch den emanzipierten Intellekt. Dieser gebärdete sich nun völlig unverantwortlich. Die Sophisten bewiesen alles, was man nur wollte, widerlegten, was ihnen gerade einfiel, an bindende Wahrheit glaubten sie nicht. Diesem zerstörerischen Treiben ein Ende zu bereiten, sah Sokrates, als gewaltiger Realpolitiker des Geists, nur ein sicheres Mittel: den Intellekt verantwortlich zu machen Diesen Punkt hat vor allem Windelband in seiner schönen Sokratesstudie hervorgehoben. Gute Bemerkungen über Sokrates im Zusammenhange wesentlichen Fortschritts enthält August Horneffers Philosophie-Büchlein, Stuttgart 1922, Franckhsche Verlagshandlung.. Durch die also geschaffenen neuen Bindungen hoffte er, auf erhöhter Erkenntnisebene, die Lebensganzheit neu zu begründen. Dieses sein eigentliches Wollen beweist nichts besser als seine Überzeugung, daß die Tugend, auf dem Weg verstandesgemäßer Einsicht, lehrbar sein müsse. Allein zur Lösung der Aufgabe, die er sich stellte, war seine Zeit nicht reif. Da deren Intellektualität nicht annähernd weit genug entwickelt war, um rein von sich aus aufzubauen, so konnte Sokrates nur den Zersetzungsprozeß beschleunigen, wo er dessen Kräfte in wieder aufbauende umsetzen wollte. So wurde er zuletzt als überführter Zersetzer zum Tode verurteilt, hat er in den ersten Jahrhunderten vornehmlich als Zersetzer oder doch Entzweier der Lebensganzheit fortgewirkt. Es ist höchst merkwürdig und zur Belehrung derer besonders dienlich, welche an schnellen Fortschritt glauben: schon Sokrates eignete der typische Fehler unserer Zeit: der Schwerpunkt seines Lebens ruhte nicht auf dem Sein, sondern der herausgestellten Vorstellungswelt; schon ihm fehlte das selbstverständliche Wissen, die Instinktsicherheit des aus» geglichenen Menschen; schon er hatte zur innerlichen Geisteswelt kein unmittelbares Verhältnis, schon er suchte von außen her zu ihr den Weg. Das Problem des Sokrates war also buchstäblich schon das unsrige. Aber da er es, wie wir heute besser beurteilen können, vom Standpunkt seiner möglichen Lösung nicht um Jahrzehnte oder Jahrhunderte, sondern um Jahrtausende zu früh gestellt hatte, so mußte sein Schicksal ein tragisch-schuldiges werden. Deshalb hat des Sokrates Bild den denkenden Westen wie kein anderes fasziniert. In dessen Geschichte bedeutet es Ähnliches wie das des Prometheus in derjenigen der Menschheitsentwicklung; es ist ein Ursymbol, das in jedem Europäer seither das entsprechende Problem als eigenes bewußt werden läßt. Das meiste, was unsere Geistesgeschichte von der anderer Kulturen unterscheidet, geht auf ihn zurück. Durch seine Hypostasierung der begrifflichen Bestimmungen, vor welcher metaphysische Besonnenheit die Inder stets bewahrte, ward er zum Vater des spezifischen Abendländerglaubens an die absolute Wirklichkeit des Äußerlichen, welcher Materialismus in der Weltanschauung des sterbenden 19. Jahrhunderts erst ihren Höhepunkt erreichte. Er ist der Vater alles abstrakten Idealismus, das historische Urbild der Gesinnung, welcher der logisch einwandfreie Beweis die anerkannte Wirklichkeit schafft, welcher mittelbare Erkenntnis somit vor der unmittelbaren den Vorrang besitzt. Er ist das Urbild zumal des jüngsten Europäers. Aber am meisten vielleicht zeigt sich sein westlicher und als solcher vorbildlicher Charakter in der Art seiner Unsterblichkeit. Die Unsterblichkeit aller großen Erkenner des Westens, im Gegensatz zu der des Ostens, ist eine nicht des Seins, sondern des Werdens; weniger ihre Gestalt als solche lebt fort, sondern die in ihr zuerst verkörperte Bewegung wirkt fort. Die großen Inder und Chinesen haben ewige Grundtöne angeschlagen, auf welche die ganze Menschheit sich abstimmen mag; die Melodiebildung als solche interessierte jene nicht, die kam von der von ihnen erreichten Bewußtseinsstufe aus auch nicht in Frage; ihre Wahrheit ist, soweit solche vorliegt, zeitlos-ewig. Die aller westlichen Großen von Sokrates ab ist unzertrennbar in den Zeitkörper eingefügt und deshalb zunächst vergänglich; ihr Ewigkeitscharakter ergibt sich hier daraus, daß sie zeitlich fortwirkt. Bei keinem Abendländer vielleicht hat nun die Unsterblichkeit so extrem westlichen Charakter gezeigt wie die des Sokrates. Schon in seinem Schüler Plato blieb er nur als Bild bestehen; als Lehre lebte er nicht fort, sondern zeugte er neue Lehren. So ging es seither weiter bis zum heutigen Tag. Auch als Weiser ist Sokrates mehr Ansporn als Vorbild gewesen. Da er sich zeitlich eingefügt darstellte und die Vollendung dieses Weisheitstypus zu seiner Zeit unmöglich war, so konnte er nicht Vorbild im Sinn von Buddha und Konfuzius sein. Er war der Weise des Abendlands als Skizze.

Verfolgen wir die Entwicklung seit Sokrates in ihren allergrößten Zügen weiter bis zum heutigen Tag, dabei nicht die Einsicht der bevorzugten Einzelnen als solchen, sondern deren Bedeutung für den Gesamtzustand ins Auge fassend. Nach der einzigartigen Synthesis Platos, die keine Einreihung verträgt, und deren Tradition von der eigentlich hellenischen Entwicklungslinie insofern ab« wich, als die Platoniker, wie vor ihnen die Pythagoreer, sich fortschreitend immer mehr als Wissende, nicht als Nichtwissende fühlten, weshalb ihre Gemeinschaft immer weniger der persönlichen Erkenntnis, sondern einem vorausgesetzten Glauben lebte, welcher Umstand sie aus dem Rahmen unserer heutigen Betrachtung grundsätzlich ausscheidet, lenkte die Philosophie immer entschiedener in das von Sokrates gewiesene Wissenschaftsfahrwasser ein. Da aber die Grenzen möglicher Wissenschaft damals viel enger noch gesteckt waren, als sie's heute sind, so erreichte sie nicht genügend viel, um das innerste Streben des Geistes zu befriedigen, und die gleiche Reaktion, welche sich heute gegenüber dem bloß Verstandesgemäßen regt, setzte dementsprechend auf einer ganz niedrigen Stufe ein. Ein erklecklicher Teil der griechischen Philosophen entwickelte sich zu reinem Praktikertum, nicht nur im hedonistischen, sondern auch im geschäftlichen Sinn des Worts. Zeitweilig deckte der Mantel des Philosophen typischerweise den Unterhalter, den Schmarotzer, den Schieber. Aus der sokratischen Einstellung des Nichtwissenden zog dies Geschlecht die wiederum sophistische Konsequenz, alles sei gleich richtig, beweis- oder widerlegbar, nichts wahr, alles erlaubt, sofern es nur glücklich macht. Auch die stoische Ataraxie hat hier eine ihrer psychologischen Wurzeln. Des Sokrates Forscherernst schien historisch tot, sein tief verantwortungsvoller Weg von der Mehrzahl verlassen. Wer nicht skeptisch oder agnostisch gesinnt war oder als bloßer Scholastiker, wiewohl die meisten Professoren Athens, ohne Sinnesprobleme zu stellen, Buchstaben klaubte, der überantwortete sich, wie ich's von den Platonikern bereits bemerkte, irgendeinem angesehenen System, welches er ebenso glaubte wie der Katholik die Theodizee seiner Kirche. Als Kirchen in der Tat, weit mehr denn als Stätten der Erkenntnis, müssen die meisten späteren Philosophenschulen angesprochen werden, soweit sie es ernst meinten, wie denn der christliche Seelsorger schließlich ein Amt übernahm, das der Philosoph vor ihm – wenn auch anders – ausgeübt und dessen äußerlichen Rahmen er geschaffen hatte. Ganz spät, gegen Ausgang des Altertums, flammte die antike Weisheit noch einmal zu strahlender Leuchtkraft auf; das größte dieser Abendgestirne hieß Plotin. Vom Standpunkt der Ewigkeit beurteilt, war dieser vielleicht der größte griechische Weise überhaupt, denn das, was Sokrates ersehnte, hat er für seine Person in hohem Grad erfüllt. Es ist nicht wahr, daß der Neuplatonismus Plotins eine Orientalisierung der griechischen Philosophie bedeutet, gerade umgekehrt: der ursprüngliche Platonismus verwestlicht sich endgültig erst in ihm; wäre es anders, nie hätte er zum wahrhaftigen Logos des Christentums werden können, der das Abendland zu dem spezifizierte, was es heute ist. Plotin war wirklich ein vollkommener Weiser, kein Mystagog, kein Kirchenvater, auch kein bloßer Dialektiker oder Moralist, er war eben das, was uns heute als Ideal des Weisen vorschwebt. Deshalb steht die wahre Stunde des Neuplatonismus erst bevor Die erste ihrem Gegenstand ganz gerecht werdende Behandlung Plotins und seiner Lehre bedeutet das Buch R. W. Inges The Philosophy of Plotinus (London 1918, Lergmans, Green & Co.), das schleunigst auch dem deutschen Publikum zugänglich gemacht werden sollte.. Aber ebendeshalb hat dieser zu seiner Zeit die historische Aufgabe nicht erfüllen können, die er sich selber zumaß. Auch durch Plotin und seine Schule vermochte die antike Weisheit das ihr von Sokrates gesteckte richtige Ziel – das Leben vom Geiste her neu aufzubauen – nicht zu erreichen; lebte Sokrates 2500 Jahre zu früh, so gilt Gleiches vom großen Alexandriner um nicht einmal tausend Jahre weniger. Der Neuaufbau geschah schließlich durch ein anderes: eine neue Religion.

 

Ins Christentum mündete tatsächlich alles noch Lebendige aus der Antike ein. Die christliche Kirche bedeutet tatsächlich die rechtmäßige Erbin der antiken Philosophie, so fremden Geists sie dieser gegenüber erscheint. Denn Kulturen pflanzen sich nicht anders wie Organismen fort: jeder ausgewachsene Körper muß sterben, denn als solcher kann er sich über einen bestimmten Zustand hinaus nicht fortentwickeln; nur sein Keimplasma ist potentiell unsterblich, aus diesem aber entfaltet sich jedesmal eine völlig neue Gestalt, die ihren Eltern gegenüber eine selbständige Monade darstellt. Hier liegt die metaphysische Rechtfertigung des Todes. »Sinn« verwirklicht sich hienieden nur, indem er sich ausdrückt; dieses Ausdrücken besteht zunächst in erstmaliger Schöpfung, sodann in fortwährender Neubelebung des sich äußerlich Wiederholenden. Solche Belebung geht aber nur so lange fort, als der »Sinn« seine Möglichkeiten in der spezifischen Gestalt noch nicht erschöpft hat. Sobald letzteres der Fall ist, dann ist er auch am Ziel, der Buchstabe erstarrt zur toten Natur, und nun folgt das Geschehen mechanischen Gesetzen. Sobald eine Entscheidung endgültig getroffen ist, ist es aus mit Freiheit der Wahl. Also ist tote Natur das unentrinnbare Schicksal alles verwirklichten Geistes. Das Griechentum als solches war fertig; mochte Plotin ihm neue Impulse einzuflößen versuchen – gerade im Medium der griechischen Weisheit konnten sie nicht fortwirken, weil dieses endgültig ausgestaltet war und deshalb unfähig, sich auf neue Einflüsse hin noch weiter zu verändern. Jede bestimmte Geistesrichtung als solche ist eben von innen her begrenzt, nicht unbegrenzt Genau ausgeführt steht dieser Gedankengang im ersten Teil der Studie Für und wider die Theosophie in Philosophie als Kunst. Über Natur und Geist vergleiche man auch, an der Hand des Registers, das Reisetagebuch.; es ist nicht möglich, dieselbe über einen bestimmten Punkt hinaus auch nur theoretisch weiterzuführen. Wiederholt wird die griechische Gestaltung noch am heutigen Tag, aber schon zu Römerzeiten steckte kein Leben mehr hinter ihr, weil das, was sie belebte, schon damals ausgedrückt war und dieser Ausdruck keine Weiterentwicklung mehr zuließ. Diese Wahrheit mag jeder im Geiste nachprüfen. Fortleben konnte vom hellenischen Kulturkörper nur das Zeitlose, das Unfertige und das Unausgedrückte. Gerade so ist es geschehen. Das Zeitlose des hellenischen Geistes ist heute Hauptpfeiler der Menschheitskultur, das Unfertige entwickelt sich in der fortschreitenden Wissenschaft und neuentstehenden Weisheit weiter, das Unausgedrückte aber bestimmte naturgemäß den Charakter der ersten Nachkommenschaft – ich sage naturgemäß, weil das gleiche Gesetz in aller physischen Vererbung zutage tritt. Das Alogische war in der griechischen Weisheit verdrängt geblieben, das Reinmenschliche im Sinn des allen Gemeinsamen ungewürdigt und unbetont; in der Römerzeit spitzte sich letzterer Umstand zu herrschender Roheit und Gewaltsamkeit zu; als physische Degeneration das psychische Gefälle verstärkte, artete die antike Lebensbejahung in wilde Sinnlichkeit aus: nun, das während jener Jahrhunderte Unausgedrückte bestimmte den Charakter der nächsten Kulturgeneration. Die christliche Kirche ward zum Körper des Alogischen, Demokratischen, Gewalt- und Sinnenfeindlichen, das in allen Seelen unter anderem existiert, nun aber, durch die jahrhundertelange historische Verdrängung, eine unerhörte Lebenskraft erstaut hatte. Dieses, persönlich betrachtet, Fremde ward hinfort zum Träger der Familientradition, und die Familienähnlichkeit, hier also die Bedingtheit des Neuen durch griechisch-römischen Geist, welche im Fall des Christentums desto größer erscheint, je tiefer man in dessen Geschichte eindringt, trat hinfort nicht mehr in der äußeren Gestalt und der bewußten Vorstellung zutage, sondern unterbewußt, als uneingestandene Voraussetzung; oder, um im physischen Bilde zu bleiben: es äußerte sich fortan unsichtbar, in der Qualität des Bluts, in der Art der Verknüpfung der Nervenbahnen. Und das war nicht allein so – es konnte nur so sein. Nachdem die antike Kultur sich erschöpft hatte, konnte unter allen Umständen nur eine solche auf sie folgen, welche der christlichen im Typus ähnlich war; deshalb siegte deren Lebensstimmung zuletzt über alle jahrhundertelang viel stärkeren Mächte; deshalb siegte das Christentum gerade über den Neoplatonismus. Vielleicht stellt dieser wenigstens als Ansatz das Optimum dessen dar, was aus der Vermählung westlicher Klarheit mit östlicher Tiefe werden konnte. Aber ebendeshalb konnte er nicht damals herrschend werden; vorher mußte das in bezug auf die Antike Kompensatorische erst seinerseits der geistigen Erbmasse eingebildet sein. – Ohne Zweifel nun bedeutete die früh- und mittelalterlich-christliche Kultur, gegenüber der antiken, einen ungeheuren Rückschritt auf schlechthin allen Gebieten, außer dem der reinen Innerlichkeit. Aber gerade dieser Rückschritt war notwendig, und zwar aus dem in diesem Zusammenhang entscheidend-wichtigen Grund, daß der Intellekt in der antiken Welt, trotz deren Begabtheit, objektiv noch sehr wenig entwickelt war. Im Körper des griechischen Geists erstrebte er, wie wir vorhin sahen, einerseits zuviel, stieß er andererseits zu früh an seine Grenzen. Da er, noch unerfahren, von sich aus alles zu ergreifen unternahm – nichts sollte dem Logos unergreifbar sein –, so mußte er vorzeitig seinen Bankrott erklären, und die unintellektualen Seelenkräfte übernahmen die ganze Konkursmasse. Diese erklärten darauf, echt bolschewistisch, den größten Teil der Passiva für null und nichtig, dann bauten sie von sich aus einen neuen Kulturorganismus aus. Diesem gliederten sich, langsam, immer mehr, die gestürzten alten Mächte ein, wie die russische Intelligenz dem kommunistischen Betrieb. Allein der Bedeutungsakzent blieb ein für allemal verschoben. Die Philosophie galt als Magd der Religion, die Wissenschaft erschöpfte sich im Kommentieren der Bibel. Dieser Zustand dauerte an bis zur Aufklärungszeit. Erst nachdem das Alogische sich seinerseits erschöpft hatte, hub eine neue Epoche bestimmenden Geistes an, konnte eine solche anheben. Hier kann ich auf das Organisch-Notwendige aller Kulturschicksale nicht näher eingehen. Daß indessen eine Notwendigkeit tiefster Art besteht, dürfte schon aus diesen allzu kurzen Betrachtungen einleuchten.

 

Sie wissen – nicht ich allein habe es ausgesprochen und nachgewiesen –, daß unsere historische Lage in wichtigsten Hinsichten derjenigen der Spätantike gleicht (S. 137). Nur stellen sich uns die Probleme des Sokrates und des Plotin mit einem Mal, im analogischen Rahmen von Urchristentum und Völkerwanderung. Die alten Glaubens- und Seelenmächte sind zersetzt, neue, andersgeartete im Entstehen und unterwegs zum Sieg. Die vorgeschrittenste Kultur trägt alexandrinische Züge, die ikonoklastischen Geister Jung-Rußlands und Jung-Deutschlands beseelt barbarische Kraft. Das Vertrauen in die Wissenschaft ist erschüttert, die alogischen Urmächte brechen wieder hervor. Auf dem ganzen Erdball werden die alten Lebensformen eingeschmolzen. Inmitten des also Verfließenden ragt, gleich seinerzeit Julianus Apostata, unter Völkern das französische, unter Einzelgeistern Stefan George empor. Zugleich aber überwiegt bei allen im Gleichgewicht gebliebenen und dabei vorwärtsblickenden Geistern immer mehr und immer bewußter die ursprünglich sokratische Tendenz, welche sich heute vorzüglich an Goethe orientiert. Die auf den ersten Blick erstaunliche gleichzeitige Wiedergeburt von Problemen, die sich zuletzt auf den Zeitraum eines Jahrtausends verteilt hatten, welche wir heute erleben, bedeutet ein Beispiel mehr jenes stetigen Anwachsens der Schicht der Wirklichkeit, die uns als Erinnerung am leichtesten faßbar ist, aus welchem Anwachsen sich notwendig das Simultanwerden von immer mehr ursprünglich Sukzessivem ergibt Über das Dasein einer objektiv existierenden Erinnerungswelt lese man die wohl erschöpfenden Analysen in Bergsons Materie und Gedächtnis (deutsch bei Diederichs in Jena) nach.. Aber neben der Analogie zwischen unserem Zustand und dem der Spätantike bestehen natürlich unüberbrückbare Unterschiede, und einer von diesen ist so entscheidend, daß er unserem ganzen Zeitalter die Signatur verleiht: Was damals Schicksal war, ist heute nicht Schicksal mehr. Damals versagte das Wissen wirklich; heute brauchte es dies nicht zu tun. Damals lag wirklich ein schicksalsmäßiges allseitiges Absterben des Alten vor, und das Neue kam von außen, im Spenglerschen Sinn; heute haben alle Barbaren an der alten Kultur schon so viel teil, daß keine Ablösung zu erfolgen brauchte. Damals mußte das Alogische aus psychologischen Gründen über das Logische zeitweilig siegen; heute könnte, unmittelbar anschließend an die überwundene Einseitigkeit, ein reicheres und vollkommeneres Gleichgewichtsverhältnis als je vorher zwischen den verschiedenen Schichten des geistig-seelischen Menschenwesens erschaffen werden. Die Primitivierung, welche wir durchleben, brauchte nicht mehr als ein kurzes, überdies lokalisiertes Durchgangsstadium zu sein. Es ist eben heute das möglich und historisch fällig, was die antike Weisheit vergebens anstrebte: das Leben vom Geist her neu zu formen. Heute ist die Menschheit so weit, das Problem zu lösen, das Prometheus-Sokrates als erster stellte, und dessen Unlösbarkeit für die antike Weisheit deren Tragödie bedeutet. Aber erst heute ist sie's: so langsam schreitet die Geschichte fort.

 

Ist ein wesentlicher Fortschritt vom Geist her zu realisieren? – Sämtliche Erfüllungen unserer Geschichte tun es dar. Die grundsätzliche Erkenntnis der ersten Betrachtung dieses Zyklus (S. 180) soll heute ihren historischen Erweis und zugleich eine genauere Bestimmung finden. Alle geistige Entwickelung bedeutet Klärung und geht auf vollkommene Klarheit aus. Klarheit ist nun tatsächlich das Ziel auch im Zusammenhange wesentlichen Fortschreitens; bei allem Dunklen handelt es sich um Vorläufiges; die übliche Geschichtskonstruktion, sogar in ihrer Hegelschen Zuspitzung, ist insoweit richtig. Das Klare ist mehr als das Dunkele, wie das Artikulierte mehr ist als das Inartikulierte, das Gemälde mehr als die Skizze, weil eben der Weg aufsteigender Entwicklung einsinnig verläuft und der vom Sinn zum vollendeten Ausdruck in der Explizierung des Impliziten besteht. Zu allen Übergangszeiten mit den ihnen entsprechenden schwülen Stimmungen traten dunkle Exzentriker, Wunderwirker, Mystagogen, Magier auf, die von geheimem Wissen oder überschwenglichen Gefühlen her die Welt erneuern wollten und vor Klärung und Verdeutlichung als vor Entweihung warnten. Aber nie noch haben solche Entscheidendes bewirkt, nie noch hat die Geschichte an ihnen angeknüpft; groß gesehen, hätten sie ungeboren bleiben können. In Indien bedeutet Buddha die größte historische geistig-seelische Macht; neben ihm zählt kein Yogi und kein Siddha; Buddha, der erbarmungslos Klare, Positive, beinahe modern wissenschaftlich Exakte, allem Dunklen und Schwülen Feindliche, welchem Erwachen aus allen Träumen das Endziel war. Alles historisch Nachweisbare in Indiens Geistesleben seither geht tatsächlich auf ihn zurück, gleichviel, ob es ihm freund war oder feind; denn Buddhas Einfluß, nichts anderes, hat den Brahmanismus regeneriert, genau wie Luther, jener zweite große schwärmereifeindliche Positivist, zweitausend Jahre später, durch die Reaktion, die er hervorrief, den ohne ihn sicher endgültig verdorbenen Katholizismus erneuert hat. Nicht Empedokles, sondern Sokrates ward zum Vater der westlichen Philosophie, nicht das östliche Mysterienwesen, sondern das schlichte und praktische Weltkind Jesus hat der Geschichte einen neuen entscheidenden Antrieb mitgeteilt. Die Humanisten haben mehr bedeutet wie Paracelsus, Kant mehr als Hamann und Swedenborg, und neben Goethes scheinwerferischer Lichtgestalt werden alle Mysten des 18. und 19. Jahrhunderts bald vergessen sein. Nur von staatsmännisch überlegener Warte aus ist die Geschichte richtig zu beurteilen; nur große Wirkungen zählen. Deshalb ist das Exzentrische kaum beachtenswert. Kein Geheimbund, keine Sekte, kein theosophischer Zirkel als solcher verändert die Welt; solche bereiten bestenfalls die großen Impulse vor, oder aber sie kanalisieren sie. Als wahre Erneuerer läßt die Geschichte erfahrungsgemäß nur solche gelten, welche in keiner Hinsicht unter ihrem Zeitniveau standen, in keiner einen Rückschritt verkörperten, vielmehr von der höchsten bisher erreichten Seinsstufe her den Weg zu höheren wiesen. Hier lasse man sich durch die Welt- oder Kulturfeindlichkeit mancher Größter nicht beirren: diese Feindschaft ging allemal von einem höchsten Standpunkt der Weltüberlegenheit aus, welchen Tatbestand das Beispiel Tolstois, obgleich dieser kein Größter war, modernen Menschen am besten verdeutlichen dürfte. Beim wahren Fortschritt nun, der sich geschichtlich nachweisen läßt, handelt es sich jedesmal um geistig Faßbares, denn Klärung, Erfüllung, Vollendung läßt sich als solche verstehen. Nicht allein was die großen Weisen an neuen Impulsen brachten, auch die der Genies des Gefühls sind, soweit sie einen Fortschritt einleiteten, nur auf geistige Werte hin, so aber vollkommen zu würdigen. Nur deshalb bedeutet Christus das, was er bedeutet hat, weil in seiner Lehre ein tieferes Verstehen des Lebenszusammenhangs verkörpert war. Der Gefühlswert seiner Liebe als solcher hätte nichts bewirkt. Gefühl als solches ist nur in Form von Ansteckung übertragbar, und Ansteckung ist, rein technisch betrachtet, allein zwischen Orts- und Zeitgenossen möglich. Was die christliche Liebe zur Erneuerin machte gegenüber dem Heidentum, war nicht ihre Eigenart als solche, sondern das tiefere Verstehen, das sich in ihr ausdrückte. Wahrscheinlich hat Jesus selbst nicht allzuviel von dem gefühlt, was die Gefühlsmenschen unter seinen großen Nachfolgern ihm andichteten Sehr lesenswert in diesem Zusammenhang ist das Buch Karl Weidels Jesu Persönlichkeit, eine Charakterstudie, 3. Aufl. Halle 1921, Karl Marhold, desgleichen, trotz seiner sachlichen Unrichtigkeit, Hans Blühers Aristie des Jesus von Nazareth, Prien 1922, Kampmann & Schnabel. Vgl. auch meine Besprechung beider Bücher im 4. Heft des Wegs zur Vollendung.; er war wesentlich Willensmensch, hart und menschenverächterisch; letzteres gilt von fast allen großen Wohltätern der Menschheit, und muß es tun, weil nur der anderen zu helfen vermag, der sie erkennt und bei seiner Hilfeleistung vom wahren Sein, nicht von Illusionen ausgeht. Christi »Liebe« war in Wahrheit eine neue Gesamteinstellung zum Leben von tieferem Verstehen her, die unter anderem auch den Gefühlskörper beseelte und in einer vorwiegend emotionalen Zeit, wie solche nach dem Untergang der Antike anbrach, naturgemäß hauptsächlich neue Gefühle erzeugte. Auch Gefühle haben ihr Rationales; die neueste Psychologie rechnet sie geradezu zum vernünftigen Teil des psychischen Organismus Vgl. Jungs Psychologische Typen 1. c., wie denn das weibliche Fühlen zweifelsohne ein nahezu ebenso Logisches darstellt wie das männliche Denken; wirklich alogisch sind Gefühle dort allein, wo sie auch, von ihrem Standpunkt aus betrachtet, blind und unsinnig scheinen. So handelt es sich bei Christus, im Gegensatz zu den vielen Schwarmgeistern, die jene Jahrhunderte hervorbrachten, in erster Linie um einen Impuls der Klarheit. Daß er es selbst so verstand, erhellt schon daraus allein, daß er sich das Licht der Welt nannte. Das Lichtsymbol, das mit allen Bringern neuen Glaubens ohne Ausnahme verknüpft wird, beweist allein, worin die eigentliche Bedeutung auch religiöser Genien besteht. Nur insoweit ein Impuls vom Geist kommt, kann er nämlich eine Veränderung einleiten; hat aber einmal ein solcher eingesetzt, dann vermag keine noch so lange Periode historischen Rückschritts seine Wirkung wirklich aufzuhalten, weil es sich hier um ein Ferment handelt, dessen Reaktion sich, einmal begonnen, nicht rückgängig machen läßt. Im Zusammenhang einer Betrachtung über den Sinn des Weltkriegs schrieb ich seinerzeit On the Meaning of the War. Hibbert Journal (Oxford) vom April 1915 (in englischer Sprache).: »In welchem Sinne wirkte das Auftreten Christi Gutes, oder das Hereinbrechen der französischen Revolution? Zu Anfang gewiß nicht in faktischem Verstand und ebensowenig lange noch nachher; man mag sogar füglich zweifeln, ob der Fortschritt auf der Ebene der Tatsachen, welche beide Ereignisse jeweilig eingeleitet haben, bis heute als beträchtlich gelten darf. Doch sie haben den Geist der Menschen verändert, ihr Bewußtsein von den Dingen; dies aber ist das Allerwichtigste, denn nur ein verändertes Bewußtsein von den Dingen vermag diese selbst schließlich zu verändern. Es ist leider nur zu wahr, daß der Geist die Materie überaus langsam formt; aber nichts anderes formt sie überhaupt. Die Gesetze begannen erst an dem Tage Gerechtigkeit widerzuspiegeln, als den Menschen aufging, was Gerechtigkeit bedeutet. Institutionen als solche sind ein Nichts; die vollkommensten, welche man sich vorstellen mag, bedeuten an sich nicht mehr wie äußere Schalen, welche der erste Ausbruch von Leidenschaft zerstäubt, wofern sie keinen entsprechenden Grad geistiger Einsicht zum Ausdruck bringen. So konnte die vollkommene Zivilisation des alten Roms nicht dauern, weil diese zu beschränktes Verstehen verkörperte. Demgegenüber hat der Keim tiefster Einsicht, welchen Christus Barbarenseelen einpflanzte, diese zu unbegrenztem Fortschreiten fähig gemacht. Im gleichen Verstand ward jede fernere höhere Stufe dank dem erstiegen, daß ein Strahl tieferer Einsicht sich ins Leben ergoß. Als die Menschen ihre geistliche Autonomie erkannten, da reformierten sie die Kirche; als ihnen ihre Bürgerrechte klar wurden, da verbesserten sie ihre Verfassungen. Umgekehrt kam es jedesmal zum Niedergang, wenn das Verstehen hinter den Tatsachen zurückblieb. Noch nie sind spirituelles Verstehen und dessen Ausdruck innerhalb der Erscheinung auf gleicher Höhe gewesen. Zu Beginn unserer Ära war jenes überaus tief, das Niveau der äußeren Kultur jedoch gar niedrig; heute scheint diese jener unermeßlich überlegen. Dies erklärt die beispiellosen Schrecken dieses Kriegs.« Auf Verstehen, freilich kein abstraktes, sondern lebendiges, im ganzen Menschen verkörpertes, kommt eben alles an. Jede erfolgte Klärung schafft eine innere Entscheidung, welche das Lebensproblem neu und besser stellt; denn so und so viel Richtiges und Wahres versteht sich fortan von selbst (vgl. S. 136), wodurch das Niveau des Vorausgesetzten sich erhebt und neue Perspektiven sich eröffnen. Gewiß sind nicht alle Impulse der Klarheit als solche verstanden worden; vom christlichen gilt vielmehr bisher das Gegenteil. Aber insofern haben sie sich auch nicht durchgesetzt. Bisher hat Christus hauptsächlich trotz Religion und Kirche, die seinen Namen tragen, segensreich gewirkt; die große Christus-Periode kann erst kommen, nachdem der Impuls, den er verkörpert, ganz verstanden sein wird. Hier ist der Ort, das uralte Problem des gegenseitigen Verhältnisses von Eros und Logos einmal grundsätzlich zu stellen. Ich verzichte dabei auf jede metaphysische Theorie: auf was diese beiden Symbole letztlich zurückweisen, weiß ich nicht, und unbeantwortbare Fragen zu beantworten, lehne ich ab. Die Menschheit wäre weiter, als sie ist, wenn alle Großen von alters her den gleichen Grundsatz befolgt hätten, wenn Plato und Plotin und im Osten die großen Inder nicht »erklärt« hätten, was verstandesmäßig mit den vorhandenen Begriffsmitteln nicht zu fassen war. So haben sie ihre Intuitionen nur verfälscht oder wenigstens ihre gläubigen Nachfolger dazu verführt, in fragwürdiger Theorie metaphysische Erkenntnis zu sehen. Freilich bedarf es unter allen Umständen des begrifflich klaren Ausdrucks, wenn irgend etwas ganz verstanden werden soll, aber der muß sich eben finden aus dem Sinn der Sache heraus, und gerade dieser wird verfehlt, wenn früher über ihn reflektiert wird, als er sich dem Körper des schon Verstandenen organisch hat einbilden können. Zunächst gilt es, sich still in den Sinn des Gemeinten zu versenken, zu dem sich intuitionsmäßig unabhängig von allen Begriffen das richtige Verhältnis finden läßt: diese Versenkung führt ihrerseits zur richtigen Begriffsbildung, wie Gleiches den bildenden Künstler zur entsprechenden Naturdarstellung führt, wie das Auge seinerzeit am Licht erwuchs. Denn Begriffe sind recht eigentlich Organe. (S. 5). Ich verweile deshalb, noch einmal, nicht dabei, was die Symbole des Logos und des Eros letztlich bedeuten mögen; ich will bloß Gewisses konstatieren. Hier nun läßt sich das Folgende sagen: Zweifelsohne gibt es insofern eine Grundkraft oder ein Grundprinzip, das alle Schöpfung innerlich bedingt, welches irrational ist und in der Liebe, deren Wesen Bejahung abgesehen vom Wert ist, seinen uns geläufigsten und für uns verständlichsten Ausdruck findet Über das Wesen des Eros hat unter Modernen weitaus am bedeutendsten Hans Blüher geschrieben. Dies sage ich trotz der großen Fehler, an denen seine Werke kranken, über welche ich mich in der Bücherschau des 4. Hefts des Wegs zur Vollendung näher ausgelassen habe. Von Blüher stammt die obige Definition des Eros. Die beste bisherige Anwendung der Blüherschen Gedankenrichtung auf geistiges, zumal religiöses Gebiet sehe ich in Werner Achelis Buch Die Deutung Augustins, Prien 1921, Verlag Kampmann & Schnabel., als das, was die Griechen Eros hießen, die in bestimmter Richtung äußerste Grenze möglichen Weltverstehens darstellt. Und ebenso gewiß weist alles Geschehen unser Denken auf ein geistiges Prinzip zurück, welches zwar niemals ohne Eros schöpferisch wird, jedoch diesem allererst sein Ziel weist. Dessen Wesen ist, soweit wir es fassen können, Sinn. Wie Logos und Eros sich letztlich zueinander verhalten, darüber, noch einmal, kann ich nichts Gewisses sagen; ich weiß auch nicht, was diese Symbole letztlich bedeuten. Daß das Göttliche bald als Eros, bald als Logos verstanden wird, je nach dem Temperament, legt die Vermutung gleichtiefer Verwurzelung und letztendlichen Zusammenhangs nahe, wenn nicht gar metaphysischer Identität. Für uns wichtiger ist ein anderes und dafür Gewisses: der Logos, und er allein, bedeutet das Prinzip der Initiative und der Übertragbarkeit auf geistigem Gebiet. Jede Liebe ist ein Neues und doch das Ewig-Gleiche; hier ist kein Fortschritt denkbar. Die Gefühlsmenschen unter den Heiligen haben durch ihr Fühlen als solches die Menschen auch nicht weitergebracht; jeder Bhakta als solcher stellt eine Monade ohne Fenster dar. Keine »Anmutung«, wie die katholische Kirche die künstliche Erweckung von Gefühlen heißt, vermag die leibhaftige Liebe eines Franz von Assisi wiederzuerwecken, denn diese war wesentlich ein Einmalig-Einziges. Deshalb gibt es gar nicht die »tiefere Liebe« als Gefühl, die sich durchs Christentum über die Welt ergossen haben soll. Was an jener Liebe übertragen werden konnte und kann, ist ihr Sinn, ihr Ausdruck und der Weg ihres Entstehens, mithin ihr Logisches. Die »Anmutung« ist als solche kein gefühlsmäßiger, sondern ein geistiger Vorgang. Deshalb stammen sowohl das Fortschrittliche wie das Fortwirkende überall, auch wo es sich um wesentlich Alogisches handelt, vom Logos her. Der Logos allein ist auch der Träger des Prinzips der Freiheit. Eros ist schlechthinnige Verfallenheit, Gebundenheit, Schicksal; vom Logos her gibt es ein freiwilliges Anderswerden. Man lasse sich hier ja nicht durch den Gnadebegriff beirren: soweit es sich um Schicksalhaftes handelt, sind wir natürlich unfrei; überkommt uns einmal die Liebe, dann sind wir ihr verfallen. Aber wir können uns ihr aussetzen, sie pflegen, zum Sterben, zum Entstehen bringen. Wir können uns eine Zustandsänderung vorsetzen, uns selbst und andere entsprechend einstellen und erziehen. Wir können eben damit die Kräfte des Eros lenken. Das Problem des Verhältnisses vom Logos zum Eros ist, noch einmal, theoretisch nicht abschließend mit Gewißheit zu lösen; praktisch löst es sich so, daß wir durch jenen allein bewußt am Schöpferischen des Kosmos teilhaben; für uns, als freie Wesen, ist der Logos die Angel der Welt. Am kosmischen Eros hat nur das Unbewußte teil, und sei dieses noch so übermächtig – es reicht nicht in die Sphäre unseres Selbst- und Identitätsgefühls hinein, und direkt können wir bei ihm nicht ansetzen, auch wo wir von ihm wissen. Umgekehrt können wir's überall vom Logos her. Wo immer wir verstanden haben, verwandeln wir uns von Objekten zu Subjekten des Schicksals, sei dies jeweilig in noch so geringem Grad der Fall, denn freilich reicht auch das tiefste Menschenbewußtsein nicht bis zum Grund der Welt. Insofern kann man nun weiter sagen, daß der Logos oder einfach die Einsicht das eigentlich Schöpferische ist. Freilich erfolgt die Schöpfung jedesmal durch den Eros, aber auslösen tut sie der Logos, und darauf kommt es für uns an. Hier gelangen wir denn, noch einmal, jetzt zum Ende seiner abschließenden Lösung, zum Problem der Übertragbarkeit, die nur dem Logoshaften eignet. Liebe muß jeder selbst erleben, um ihrer teilhaftig zu werden; was andere fühlen, bedeutet nichts für mich. Doch was einer erkannt hat, kann jeder andere sofort verstehen, falls der Sinn nur im Ausdruck realisiert war. Dieser Satz führt uns nun zur Behandlung einer Seite des letzteren Problems, zu welcher wir seinerzeit, weil wir anderswoher kamen, keinen Zugang fanden. Allerdings muß jeder jedesmal den Sinn in den Ausdruck selbst hineinlegen, denn einen anderen Weg der Sinnesverwirklichung, als den von innen nach außen, gibt es nicht (vgl. S. 186). Aber ist ein vorliegender Ausdruck genau angemessen, dann ruft er reflektorisch die entsprechende Sinnesschöpfung aus dem hervor, der des Verstehens fähig und der verwandten Sprache mächtig ist. Also handelt es sich bei objektiv feststehenden neuen Erkenntnissen, bei neuen Formulierungen doch um mehr als an sich leere Hüllen: sie wirken wie Organe, vermittels derer jeder unwillkürlich den ihnen entsprechenden Gegenstand wahrnimmt. Auch das Licht existiert für den Menschen nicht unabhängig von dessen Auge, alle aber, welche gleichgebaute Augen haben, nehmen, auf Gleiches hingewandt, auch Gleiches wahr. Ebendeshalb bedarf es des genau angemessenen Ausdrucks für jede Sinneserkenntnis; nur das richtig organisierte Auge sieht unverfälschtes Licht. Neue objektive Erkenntnisse, neue bessere Formulierungen haben also an sich einen Wert, unabhängig von ihrem Verstandenwerden, wenn auch noch keinen Sinn; denn ihr Dasein schafft in vielen eben die innere Wirklichkeit, die zunächst nur einer erfand. Ebendeshalb ist ihr Wert ein dauernder. Was einmal geschrieben dasteht, bleibt dem Erdinventar so lange eingefügt, als die Schrift besteht. Wird diese dauernd gelesen, so wirkt sie, wie solches Bibel, Koran und die sonstigen Menschheitsbücher beweisen, auch dauernd fort. Wird sie gar endgültig verstanden, so gehört sie fortan zum Organismus der Menschenseele und wird damit vom Verstehensobjekt zum -organ, also der Voraussetzung weiteren Verstehens. Jede neue Erkenntnis schafft aber sofort ein neues Libidogefälle, d. h. die Kräfte des Eros erhalten einen neuen Sinn, finden neue Betätigungsmöglichkeit. Die geistige Energie, bisher in starren Formen festgehalten, sucht einen neuen Weg, und dieser ruft alle Lebensgeister wach. Daher das Befruchtende, das in einem einzigen neuen Gedanken, ja einer einzigen neuen Formel liegen kann. Man gedenke der zahlreichen guten Bücher, die Sigmund Freud angeregt hat, bei welchen es sich z. T. um bessere handelt, als der Begründer der Psychoanalyse selbst sie schrieb: jene verdanken alle dem Umstand ihre Entstehung, daß dieser neue Gedankengänge eröffnet hat. Man gedenke der Tatsache, wie ganze Generationen von Denkern und Erfindern sofort die Bahnen schöpferisch weiterverfolgen, welche ein einzelner Großer zuerst fand und von deren Möglichkeit niemand vorher etwas ahnte. Unbewußt, unterbewußt weiß jeder vielleicht alles: bewußtes Wissen bewirkt nur der entsprechende äußere Ausdruck, und liegt solcher vor, dann strömen alle die geistigen Energien durch ihn aus, die sich vorher nur stauen konnten. Der Logos ist unser Tiefstes, weil wir durch ihn den schöpferischen Kräften des Alls von uns aus die Richtung geben können. Gewiß mag Gott vor allem die Liebe sein, ohne Zweifel ist Realisierung im Gefühl den allermeisten ein gewaltigeres Erleben als geistige Erkenntnis. Allein diese bedeutet mehr. Sie kann den Eros auslösen, fassen und insofern schaffen. Des Weltenschöpfers Macht mag man sich immerhin als Eros deuten, ihr Sinn ist Logos – und was wäre die Schöpfung ohne Sinn? Der Logos ist tatsächlich, vom Bewußtsein aus geurteilt, das Tiefste. Er ist das Prinzip der Freiheit. Gäbe es nur Eros, so gäbe es nur Schicksalsverfallenheit. So liegt im Logos, nicht außer ihm, auch die Überwindung des Rationalismus, welchem vorläufige Einsicht gar zu leicht verfällt. Aus dem Alogischen erklärt sich nichts, es ist bloß da; alles Wirkliche ist freilich nicht logoshaft. Aber vermittels der Ratio läßt sich das Gebiet des Irrationalen feststellen und abgrenzen, so daß dem Logos bleibt, was des Logos ist, und dem Eros, was des Eros. Vielleicht ist der Logos an sich neben dem Eros ein ganz kleines Ding. Dies mag wohl sein. Es ist der Entschluß einer Sekunde, der Millionenheere aufmarschieren läßt; eine neue Gleichung, etwas Tinte auf einem abgerissenen Blatt Papier, hat das Weltbild schon mehrfach verändert. Auf gleicher Kleinigkeit beruht letztlich die Allmacht Gottes, falls es sie gibt, auf ihr jedenfalls unser bißchen Freiheit. Dieses Bißchen macht überdies unser ganzes Menschentum aus, und dieses ist schon Herr der Natur ...

 

Aller Fortschritt beruht auf Klärung und Tieferverstehen. Deshalb erfolgte Untergang oder Rückschritt jedesmal, wo das Verstehen versagte. Es bedeutet eine völlige Verkennung des wahren Sachverhalts, in der Klärung Sterilisierung zu sehen, weil nur das Dunkle fruchtbar sei. Allerdings ist Verstand in der üblichen Wortbedeutung nie schöpferisch; allerdings erfolgt Geburt nur aus dunklem Mutterschoß heraus; allerdings ist das restlos Ausgesprochene insofern auch verredet Vgl. hierzu Erscheinungswelt und Geistesmacht in Philosophie als Kunst.. Aber solches gilt auf jedem Seinsniveau, und der Weg von einem niederen zu einem höheren führt nur durch Klärung hindurch. Hier liegt der springende Punkt. Mögen gewisse Erlebnisse dank erfolgter Klärung unmöglich werden – dies gilt von allen, die auf seither aufgelösten Sinnbildern beruhen –, sie werden durch ein mögliches höheres Äquivalent ihrer abgelöst; der Ausgangspunkt des Schöpferischen verschiebt sich nach oben zu. Wer nicht weiter kommen will oder kann, hat freilich Ursache, die Klärung zu scheuen; aber ein solcher, sei es ein einzelner, ein Volk oder gar eine Kultur, kommt historisch nicht mehr in Betracht. Die Griechen wurden schließlich unschöpferisch, nicht weil sie zu klar waren, sondern weil das Endlichkeitsschicksal jeder Gestaltung es ihnen verbot, von der erreichten Klarheit her weiterzuschaffen. Die vollendete Eingefahrenheit der organischen Prozesse, die automatisch verlaufen, bedeutet auf ihrer Ebene nichts anderes, wie auf derjenigen des Geists vollkommene Klarheit. So kommt vom Standpunkt des Fortschritts tatsächlich alles auf Verstehen an. Nun aber müssen wir einen weiteren Ton anschlagen in der Melodie: Nicht zu aller Zeit ist gleiches Verstehen möglich. Auf dem Gebiet geistigen Sinnes gilt das gleiche Gesetz der Organisation, wie auf der Ebene der Körper: die Funktion schafft ursprünglich das Organ, aber ohne dieses arbeitet sie nicht. Verstehen gelingt allein durch schon Verstandenes hindurch. Wo der Begriffskörper unausgebildet ist, dort vermag sich der Sinn ebensowenig als Beherrscher der Erscheinung zu behaupten, wie das physische Leben in einem unausgetragenen oder verbildeten Leib. Erahnt, intuiert werden mag er ohne entsprechende Organisation – an tiefen Intuitionen sind alle Zeiten gleich, oder könnten es doch sein –; aber diese bleiben machtlos und als Mächte unübertragbar, solange sie sich nicht die entsprechenden in dieser Welt lebensfähigen Körper schufen. Hieran eben scheiterte das antike Weisentum. Die kristallklare hellenische Philosophie schlug, gemäß dem Gesetz des historischen Kontrapunkts, in asiatischen Aberglauben um, weil sie zu viel gewollt hatte. Die Vernunft sollte alles vermögen. – Nun, hat diesem Irrtum und dessen Schicksalsmäßigen Folgen nicht Kant für immer vorgebeugt? Er hat der Vernunft ihre Grenzen erstmalig abgesteckt, womit er dem Rationalen wie dem Irrationalen den ihm gebührenden ideellen Ort anwies. Deshalb droht seit Kant das Schicksal überhaupt nicht mehr, das die Antike begrub: da wir die Grenzen kennen, so übersehen wir die Lage, brauchen wir keinesfalls ins Urstadium zurückzusinken; wir können gar nicht mehr, so nahe dies vielen liege, als Gesamtkultur aus der errungenen Klarheit köpflings ins Dunkel des Alogon hinabstürzen. Kant freilich fand nur die Grundfragestellung. Sein Ausspruch: ich mußte das Wissen begrenzen, um dem Glauben Platz zu machen, den er als das schlechthin Irrationale auffaßte, deutet an, in welcher Richtung er nicht weit genug voranschritt: der Logos durchdringt alle Gebiete ohne Ausnahme. Wenn exakte Wissenschaft und reine Vernunft vielleicht wirklich dort dauernd Halt machen müssen, wo Kant sie stehenbleiben hieß, so reicht das Prinzip des Logos über diese eben hinaus. Hinter jeder bestimmten Religion – um nur dies eine Beispiel anzuführen – steckt deren Sinn, der als solcher erfaßt und ausgebaut werden kann. Kant freilich konnte unmöglich mehr erkennen, als er erkannt hat. So tiefe Einsicht die in ihm lebenden Verstehensorgane zu vermitteln fähig waren, so tiefe haben sie ihm zugeführt; von allen Geistern der Geschichte hat Kant sein mögliches vielleicht am vollständigsten verwirklicht. Denn noch einmal: wenn es im Bereich des Eros dessen Wesen nach keinen Fortschritt gibt, so greift der Logos mehr oder weniger tief ins Leben ein, je mehr er sich verkörpert. Um auf unsere übliche Ausdrucksweise zurückzugreifen: immer tieferer Sinn, und dies potenziell bis zur Unendlichkeit, vermag sich der Erscheinung einzubilden, nur setzt dies sich proportional entwickelnde entsprechend reichere Ausdrucksmittel voraus. Wie alle »Sinne« innerlich zusammenhängen, wie jeder erfaßte Sondersinn seinerseits zum Organ der Erfassung oder zum Sinnbild eines noch tieferen wird, ebenso stellen deren korrespondierende Ausdrücke einen Organismus dar. Wo Organe und Funktionen fehlen, fehlt jede Äußerungsmöglichkeit; je mehr jene sich ausbilden und vervollkommnen, desto mehr Sinn kann sich in der Erscheinung manifestieren. Dies ist die eigentliche Bedeutung des unbezweifelbaren Fortschritts der wissenschaftlichen Erkenntnis, die völlig unabhängig von der Verständnistiefe der sie nutzenden Geister besteht: bestimmte Einsichten, für ein Zeitalter verstiegenste Ziele werden zum allgemeinen Ausgangspunkt eines späteren, weil der vertraut gewordene objektivierte Ausdruck es auch dem Flachen ermöglicht, von der Tiefe seines Inhalts auszugehen, gleichwie der dümmste Junge ein Streichholz anzuzünden weiß, das zu erfinden Prometheus' Kraft überstiegen hätte. Auf dieser Unabhängigkeit einer Wahrheit von ihrem Verstandenwerden, wenn sie nur objektiv verständlich ausgedrückt ist, beruht die Möglichkeit eines objektiven Fortschritts überhaupt. Notwendig ist solcher freilich nicht; werden die Träger einer geistigen Tradition ausgerottet oder bricht diese sonstwie ab, dann erfolgt automatisch Rückfall bis zum Naturzustand hinab. So ist es Ägyptern, Arabern, Hellenen ergangen, so kann es jedem Volk ergehen. Dieser Sachverhalt ist ebenso selbstverständlich wie der ihm analoge, daß der Fortbestand jedes physischen Organisationstypus ans Vorhandensein seiner Träger gebunden ist. Sind aber die notwendigen Voraussetzungen vorhanden, dann besteht, wie gesagt, objektiv ein höheres Verstehensniveau. Es besteht objektiv, trotzdem es sich jeden Augenblick aktualisieren muß, um innerhalb der Erscheinung wirklich zu werden, weil der vorhandene Erkenntnisausdruck und das Vorhandensein von Organen, welche ihn fassen können, dessen Realisierung jederzeit ermöglichen, welche Realisierung in einer mehr oder weniger großen Anzahl von Fällen auch immer geschieht. Auf die Zahl kommt es in geistigen Zusammenhängen nicht an; dies gilt sogar auf politischem Gebiet, wie denn zur Beschämung der Heutigen gerade Rousseau, der Erzvater des modernen Demokratismus, zwischen der volonté générale und der volonté de tous ganz richtig unterschied: jene könnte auch durch wenige ausgedrückt werden. Der ganze Mensch denkt mit einem Kopf, atmet mit zwei Lungen usf. Ist der Ausdruck eines Sinns einmal in die Welt gesetzt, entspricht er den Verstehensmöglichkeiten, dann kann man sagen: die Erfassung dieses Sinnes stellt fortan eine historische Voraussetzung dar. Dabei hat jede Zeit (vgl. S. 105) ihre besonderen Möglichkeiten, die historisch wirksam nicht zu überschreiten sind. Man mag Zeitloses ahnen, seiner Zeit voraus sein – wirksam wird ein Geist immer erst dann, »wenn seine Stunde gekommen ist«. So erhält die Zeit gewaltige Bedeutung gerade aus dem Blickpunkt des zeitlosen Sinnes heraus. Wir verstehen jetzt, warum alle Heiligen und Weisen die Überzeugung vertraten, daß das allein der Mehrheit gesagt werden darf, dessen Stunde gekommen ist; der metaphysische Moment entscheidet in der Geistesgeschichte genau so über die mögliche Wirkung einer Tat, wie der psychologische in der Politik. Der metaphysische Moment wird definiert durch das jeweilige Verhältnis von Verstehensorganen, objektiviertem Sinn und vorhandener Sehnsucht. Letztere ist ihrerseits eine Funktion des erstgenannten Faktors. In den beiden ersten Hinsichten ist unsere Zeit der griechischen so weit voraus, daß sich eben daraus die Sehnsucht ergibt, die der Erfüllung Gewähr bedeutet. Bis zu Kant zeigte ich bereits in großen Zügen, inwiefern wir objektiv dem Griechenfatum entwachsen sind. Uns droht kein Schicksal des Rückfalls ins Alogon, wie solches die Antike begrub, weil Kant die Menschheit für immer vor der Überschätzung und falschen Einschätzung der Vernunft bewahrt hat. Seither nun hat sich die Erkenntnis allseitig in positivem Sinne fortentwickelt. Bergson hat die Kritik des Intellekts bereits so weit geführt, daß sich aus dem Negativ ganz klar das Positiv ergab: die wesenhafte lebendige Wirklichkeit, welche alle Erscheinung trägt. Den Weg der Sinnesverwirklichung, den Hegel zuerst intuierte, aber nicht auf die richtigen Begriffe abzuziehen verstand, hat Husserls Logik wohl grundsätzlich abgesteckt. Analoge Verdienste kommen den Logistikern zu, soweit sie Leibniz' Richtung weiterverfolgen. Innerhalb jedoch des also feststehenden erkenntniskritischen Rahmens hat die Naturwissenschaft so ungeheure Fortschritte gemacht, daß nicht bloß die Moira der äußeren Natur als endgültig überwunden gelten darf – Gleiches gilt grundsätzlich auch von der des Menschen. Hier gebührt der analytischen Psychologie ein Verdienst, welches die Nachwelt den größten aller Zeiten zuzählen wird. Wir wissen heute, daß die Natur des Menschen nach dem Kausalgesetz genau ebenso begriffen und gemeistert werden kann wie die der Elektrizität, nur freilich gemäß ihren eigenen Kategorien; die Seele ist weder ein Mechanismus noch auch ein physischer Körper. Dadurch erhalten Asketik und Yoga einen neuen Sinn, eröffnet deren Ausgestaltung neue Möglichkeiten. Fassen wir nun alle diese Fortschritte zusammen – was bedeuten sie? – Es erscheint durch das Vorhandensein entsprechender Verstehensorgane eine neue Sinneserfassungsstufe objektiv erstiegen, die eine vollkommene Meisterung des Lebens aus dem Prinzip des Logos heraus grundsätzlich möglich macht. Dieser Sachverhalt braucht jetzt nur allgemein bewußt zu werden, um das gesamte Weltbild der westlichen Menschheit zu verändern. Das Prinzip des Logos verkörpert unsere Handhabe am kosmischen Schicksal. Göttliche Allwissenheit bedingte folgerichtig Allmacht, denn entsprechend tiefes Verstehen vermag jedes Geschehen zu lenken. Die luziferische Verheißung: Eritis sicut Deus wird freilich weder für irgendeinen einzelnen Menschen noch auch für das Menschengeschlecht als Ganzes je zur Wahrheit werden. Mag der Geist sich noch so sehr vertiefen, unmittelbare Herrschaft über die unermeßlichen Mächte des Kosmos wird er nie gewinnen. Wir sind und bleiben winzige Teile von diesem; die möglichen Zentren des kosmischen Sinneszusammenhangs, die dessen vollendete Meisterung bedingen, werden wir nie erreichen. Jeder Luzifer aller Zeiten wird letzten Endes abstürzen, weil eben die Endlichkeit zum Menschenwesen gehört und die Endlichkeit unüberschreitbare Grenzen setzt. Deshalb ist eine Überwindung des Schicksals nur innerhalb der Grenzen möglich, die eben den Menschen machen. Aber eine weitergehende ist Menschen auch unwünschbar und unvorstellbar. Wer sich selbst richtig versteht und im Weltzusammenhang richtig einstellt, der will gar nicht über einen bestimmten Punkt hinaus souverän bestimmen, da er die Lage als Mensch nicht weiter übersehen kann. Insofern wird Goethes Ehrfurcht vor dem Geheimnis der Menschheit letztes Wort bleiben. Doch diese kann verstehende Ehrfurcht werden, und darauf kommt alles an. Verstehen ist allemal ein schöpferischer Akt; verstehend erobert man sich das, vor dem man Ehrfurcht spürt. Verstehend gewinnt man aktiv Teil an dem, was über einem steht. Verstehend erzeugt man es von sich aus neu. Hat Gott den Menschen erschaffen, so muß der Mensch wiederum verstehend Gott erschaffen: so allein gewinnt dieser auf Erden Macht. So wird die Welt durch tieferes Verstehen auf ein neues Koordinatensystem bezogen, dessen Zentralpunkt im freien Menscheninnern ruht.

 

Ich sagte: Der metaphysische Moment wird durch das jeweilige Verhältnis von Verstehensorganen, objektiviertem Sinn und vorhandener Sehnsucht definiert. Aus dem Hinzutreten des letzteren zu den ersten Faktoren ergibt sich für gerade heute die Wiedergeburt der Aufgabe des Sokrates. Nur ist diese heute zu lösen. Heute vermag der Geist von sich aus das Leben neu aufzubauen. Heute ist der Logos der Erscheinung so tief schon eingebildet, daß vom Menschen her bestimmt werden kann, was früher nur durch Fügung geschah. Wir kennen die Grenzen der Vernunft, verstehen den Sinn unseres Strebens, beherrschen die Natur. Außen- und Innenwelt übersehen wir auf einmal. Da wir wissenschaftlich feststellen können, was wir wirklich wollen, so brauchen wir keiner Selbsttäuschung anheimzufallen; wir sind von aller Moira grundsätzlich unabhängig geworden. Jetzt muß diese Möglichkeit zum bewußten Lebensmotiv werden. Das war sie bisher noch nicht. Darauf aber kommt alles an, denn das Bewußtseins-Zentrum bestimmt den Ausgangspunkt des Menschen. Wohin er den Akzent in sich verlegt, dort ruht es tatsächlich; dementsprechend organisiert sich nachher das ganze Menschenwesen um Vgl. Erscheinungswelt und Geistesmacht in Philosophie als Kunst.. Deshalb bedarf es neben der theoretischen Belehrung, neben der praktischen Ausbildung, oder vielmehr nicht neben sondern über beiden, der Erziehung zur Synthesis von Verstehen und Tat, zu erkenntnisbedingtem Leben. Dies ist eben das Ziel der Schule der Weisheit.

Da diese durch diesen Zyklus allererst eröffnet wird und noch keinerlei Erfahrung hinter sich hat, so will ich über das, was sie erzielen soll, zunächst nicht mehr sagen, als ich im Laufe dieses Zyklus und den die Gründung vorbereitenden grundsätzlichen Betrachtungen gesagt habe. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Nur noch soviel, zu engerer Verknüpfung der heutigen allgemeinen Betrachtung mit unserem besonderen Ziel. Wer dieser aufmerksam gefolgt ist, der muß wohl zugeben, was ihm nach Kenntnisnahme von Was uns nottut vielleicht noch Zweifel hinterließ, daß ein wesentlicher Fortschritt heute nur aus dem Geist des Logos heraus erfolgen kann. Aber sehr viele behindert im eigentlichen Überzeugtwerden das alte Vorurteil, daß es sich beim Logos um Verstand und Vernunft im üblichen Sinne handeln muß, welchen Schöpferkraft rechtmäßig abgestritten wird; deshalb könne, so urteilen die Betreffenden, eine Schule der Weisheit das unmöglich leisten, was ein neuer Glaube vermöchte; deshalb könnten lebendige Impulse unmöglich von ihr ausgehen, sie müsse ihrem Wesen nach eine die Tatkraft lähmende Objektivität erzeugen. – Zunächst sei noch einmal das Mißverständnis zurückgewiesen, als mache errungene Klarheit unfruchtbar: diese erledigt jeweilig nur bestimmte Probleme, schafft dafür aber neuen und höheren freie Bahn. Dann aber stellt sich die Frage überhaupt nicht, den Eros durch Logos zu ersetzen, denn das ist nicht möglich; das Schöpferische an sich wird immer die Sache des Eros, also jeweilig des Glaubens, der Liebe, der Tatkraft bleiben. Nur kann das Schöpferische eben durch den Logos einen tieferen Sinn erhalten, und da es unter allen Umständen der Sinn ist, von dem die Leistung jenes abhängt, so geht das, was die Schule der Weisheit anstrebt, grundsätzlich und tatsächlich als Ziel jedem Werk des Glaubens und der Liebe vor, denn nur, wenn ein tieferer Logos diese beseelt, können sie Besseres wirken als bisher. Der häufigste Einwurf gegen unsere Ziele wäre durch diese kurze Betrachtung, die im übrigen nur schon Gesagtes zusammenfaßt, wohl erledigt. Aber ein anderer, den vielleicht die meisten meinen, wenn sie den ersteren aussprechen, ist ernster zu nehmen: damit der Logos den Eros beseelen kann, muß er doch seinerseits schöpferisch sein – und gerade das sei er nicht. Darauf ist zu antworten, daß der Eros eben auch auf der Ebene des Logos wirksam ist, weshalb es nicht nur tote, sondern auch lebendige und deshalb schöpferische Erkenntnis gibt. Wir nannten Metaphysik Leben in Form des Wissens (vgl. S. 134); der Weise ist der, welcher ganz zur Initiative des Geists geworden ist (vgl. S. 145): bei ihm ist eben der Eros wirksam, welchen Platon als höchsten pries, und deshalb vermag seine Erkenntnis in den Seelen im gleichen Sinn zu zeugen, wie dies sonst nur Glaube und Liebe tun. Seine Erkenntnis sterilisiert nicht, sondern sie befruchtet. Deshalb bedeutet seine Objektivität ein grundsätzlich anderes als die des kalten Verstandesmenschen: sie tötet nicht die jeweilige Subjektivität, sondern sie verleiht dieser einen tieferen Sinneshintergrund. Vielleicht werden Sie mich am besten verstehen, wenn ich an dieser Stelle einiges Persönliche sage. Der Plan der Schule der Weisheit erwuchs aus der Wirkung meines Reisetagebuchs: dieses wirkte auf viele so belebend, daß daraus vielfältiger Wunsch entsprang, die Belebungsmöglichkeit, die sich in meiner Person verkörpert hat, der Allgemeinheit zugänglich zu machen; natürlich wurde er zuerst von solchen ausgesprochen, die mich persönlich kannten. Wie kann nun ein, äußerlich betrachtet, so grenzenlos objektives Werk, wie mein Reisetagebuch, das nie und nirgends Partei nimmt, beleben? Weil der Eros der Erkenntnis in ihm wirkt und deshalb nicht das Nebeneinander vieler Weltansichten sein Wesentliches ist, sondern die Durchdringung jedes einzelnen durch tieferen Sinn. Der eigentliche Sinn dieses Buchs hat mit der Weltreise an sich nichts zu tun; grundsätzlich gesprochen, hätte ich es, auch ohne Rayküll zu verlassen, schreiben können, wie denn manches schon vorher und das meiste erst lange nachher entstand – sein eigentlicher Sinn ist der, daß ein im tiefsten Selbst verwurzelter Mensch sich gleichsam um die eigene Achse dreht und so aus gleicher Tiefe heraus die verschiedensten Kultursprachen spricht. Die Belebung (vgl. S. 184) alles jeweilig Besonderen aus gleicher Sinnestiefe her ist sonach sein Wesentliches. – Nun, unter diesen Umständen kann es freilich jedem Sonderdasein, das sich an irgendeiner Stelle gespiegelt findet, Belebung bringen. Unter diesen Umständen besteht kein Widerspruch zwischen der universellen Objektivität dieses Werks und der praktischen Aufgabe, welche ich mir jetzt gestellt habe, nicht zu reden von meiner nur allzu subjektiven und in ihrer Eigenart durchsetzerischen Persönlichkeit: es ist der gleiche Logos, der sich in allen Fällen äußert. Es sind oft schlichte Frauen, welche das Wesentliche am klarsten fassen. So sagte eine strenggläubige Katholikin nach einem Vortrag von mir, der, nebenbei bemerkt, kein religiöses Thema behandelte, nur aus dem Gefühl für mein Wesen heraus: »Sie nehmen einem nichts, sondern Sie geben einem etwas hinzu.« Und eine andere bemerkte: »Ihre Hauptkunst ist, alles Oberflächliche, das Sie als solches bestehen lassen, tief zu machen und im Oberflächlichen tief zu bleiben.« Es handelt sich eben bei der Sinneserfassung, die ich lehre, um schöpferische Erkenntnis, um den λόγος σπερματιχ, nicht den Logos des modernen Verstandesmenschen. So wird an der Schule der Weisheit nicht weniger Eros am Werk sein als an irgendeiner religiösen Stätte, nur eben ein Eros anderer Art; es ist an sich kein tieferer Eros, sondern ein tieferem Logos dienstbarer. Der Logos und er allein aber bietet uns die Handhabe am Weltenschicksal: deshalb, noch ein« mal, geht ihr Ziel dem aller andern Stätten vor. So wird die Schule der Weisheit den Täter beleben können – obwohl sie selbst nicht Tatförderung zum Ziel hat; sie wird jeden Religiösen vertiefen – doch der besondere Glaube in seinen Auswirkungen geht sie nichts an. Sie wird zu Ansichten als solchen niemals Stellung nehmen. Auch sie muß einseitig sein. Das, was als ihre Farblosigkeit schon im voraus beanstandet wird, bedeutet gerade ihr Farbebekennen. Jener tiefere Sinn, auf dessen Erfassung und Verwirklichung es ankommt, liegt nun einmal jenseits aller Sondergestaltung – was aber nicht bedeutet, daß er sich allen entzöge, sondern vielmehr alle von innen her zu beleben fähig ist. So wird jetzt deutlich, inwiefern die Schule der Weisheit zur Synthesis von Verstehen und Tat, zu erkenntnisbedingtem Leben erziehen kann und wird: indem sie alle jeweiligen Tatbestände auf tiefere Sinneszusammenhänge zurückbezieht und von diesen aus neu belebt (vgl. S. 185). Solches kann natürlich nur konkret, von lebendigem Fall zu lebendigem Fall geschehen, weil es sich in jedem recht eigentlich um einen neuen Schöpfungsvorgang handelt. Wer ihr Wesen in abstrakten Lehren auch nur theoretisch sucht, verkennt es völlig, denn ohne den platonischen Eros vermag ihr Logos nichts. Der persönliche Zusammenhang zwischen Lehrer und Schüler wird alles in ihr bedeuten, jede abstrakte Wahrheit jeweilig die Konkretisierung erfahren, deren sie bedarf, um lebendig zu wirken, denn der Mensch versteht nur durch schon Verstandenes hindurch Diesen Gedanken habe ich genau in der Vorrede zur dritten Auflage meiner Unsterblichkeit ausgeführt., weshalb alles Neue jedem, sofern es ihn befruchten soll, in seiner Sprache mitgeteilt werden muß. Die Lehre, welche die Schule der Weisheit vertritt, liegt eben jenseits der empirischen Gestaltung. Deshalb wird der, welcher an ihr lehrt, zur Befolgung und Verwendung alter Begriffe und Normen genau nur so weit ein Recht haben, als er sie jedesmal ad hoc neu erschafft, und zwar aus dem Verstehen heraus. Dieser scheinbar geringfügige Umstand bedeutet alles; er unterscheidet unseren Weg grundsätzlich von allen anderen. Alle Lehren des Altertums, alle Praktiken, ja alle Riten verkörpern tiefen Sinn und sind als solche nur selten veränderungsbedürftig; sie gehören mit zum Weltalphabet. Aber dadurch, daß sie hier aus ihrem Sinn heraus jeweilig neu geboren werden, werden sie zum Ausdruck eines anderen Bedeutungszusammenhangs; der alte Buchstabe offenbart nun tieferen Sinn. Im gleichen Zusammenhang lehnt die Schule der Weisheit alles Okkulte, alles Mysterienwesen als solches ab, obschon sie vieles von dem zu vertreten haben wird, was bisher dazu gerechnet wurde: auch das, technisch betrachtet, Geheimnisvolle kann im Geist der Klarheit betrieben werden. Das Geheimnis gehört nie zum Wesen einer Sache, sondern allenfalls zum Weg, und das Ideal liegt auf jedem Stadium in restloser Aufklärung, weil so allein fortschreitend tiefere Schöpfungsgründe dem Geiste faßbar werden. Hier wären wir denn wieder zum Grundmotiv dieses Vortrags zurückgelangt, daß Klarheit unser Ziel ist. Ebendeshalb steht die Schule der Weisheit grundsätzlich allen offen. Ebendeshalb steht sie durchaus auf dem Boden der heutigen historischen Gegebenheit. Ebendeshalb vertritt sie genau die Aufgabe, welche dem metaphysischen Moment entspricht. Die gleiche Aufgabe konnten sich – von der Lösungsmöglichkeit ganz abgesehen – die Alten nur in kleinstem Kreise stellen, weil die damals anerkannte Scheidewand zwischen Herren und Sklaven, zwischen Griechen und Barbaren die Stellung von Menschheitsproblemen nicht zuließ. Damit der Geist wirklich Völker ergreifen konnte, mußten die künstlichen Schranken erst niedergerissen sein. Dies geschah zum ersten Male durch das Christentum, geschieht jetzt, in der nächst bedeutsamen Wende, die mit der französischen Revolution begann, durch die Weltrevolution. Deshalb ist die Aufgabe der Weisheit – wieder von der Lösung ganz abgesehen – heute viel größer, als sie es in der Antike sein konnte. Heute ist Weisheit kein Ziel enger Zirkel, sondern der ganzen Menschheit. Deshalb, noch einmal, ist das Symbol unserer Schule nicht der geschlossene Kreis, sondern der offene Winkel. Nun möge sie wachsen und gedeihen. Wächst sie im rechten Geiste fort, so wird sie ohne Zweifel, trotz ihrer äußeren Geringfügigkeit, zur Keimzelle des Neuaufbaus inmitten des allgemeinen Abbaus werden. Stellt sie sich, dem Ergebnis des ersten Vortrags entsprechend, ganz auf Sein ein, trachtet sie konsequent, im Sinn des zweiten, das Äußere von innen her zu formen, geht sie im Sinn des heutigen auf höchstmögliche Klarheit aus, indem sie sich bei keinem Dunklen bescheidet, nichts Schwüles duldet, keinen Kompromiß mit chaotischen Zeitströmungen eingeht, so wird die Schule der Weisheit, des bin ich gewiß, ihr Ziel erreichen. Sie wird erweisen, daß Johannes wahr sprach mit seinem Eingangswort:

Im Anfang war der Logos.


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