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Worauf es ankommt

Es war eins der wichtigsten geistesgeschichtlichen Ereignisse aller Zeiten, als der Mensch zur Einsicht gelangte, nicht die Wirklichkeit, wie sie ist, bezeichne die letzte Erkenntnisinstanz, sondern die Möglichkeit; mithin etwas, was nicht eigentlich »ist«, wie immer man es sonst bestimmen mag. Denn damit waren die Schranken der Natur vom Geist grundsätzlich überstiegen, und dessen Eigengesetze, deren Übertretung undenkbar ist, weil sie ihn selber aufheben würden, blieben als einzige Bestimmungen von Notwendigkeitscharakter bestehen. Freilich steht zunächst dahin, ob die Entdeckung des auf ein irgendwie »Seiendes« bezogenen Möglichkeitsbegriffs, welche wir Leibniz danken, das Gebiet des Erkennbaren erweitert oder verengert hat. Die Bestimmungen des Möglichen sind offenbar nicht solche der Zwangsläufigkeit, sondern der Freiheit, denn die Normen des Möglichen gewähren dem Wirklichen zwar keinen unbegrenzten, wohl aber einen unendlichen Spielraum – und es mag sein, daß solche Freiheit nur dem denkenden Geiste eignet. Während Leibniz aus seiner neuen Einsicht heraus diese Welt als bestmögliche begreifen zu können glaubte, indem er die Freiheit Gottes postulierte und dann die Frage stellte, was Freiheit, als solche bestimmt, unter Voraussetzung eines bestimmt gedachten Stoffs, bestenfalls zustandebringen kann, gelangte Kant aus gleicher Urfragestellung dahin, alle erkennbaren Bestimmungen des Seins auf solche des Menschengeists zurückzuführen, woraus letztlich die Unmöglichkeit folgte, auf logischem Wege über das Menschenbedingte hinauszuschließen. Heute nun ist eine vorgeschrittenere Kritik dabei, den Nachweis zu erbringen, daß Leibnizens Grundintuition doch richtig war: zwischen Menschen- und Naturbedingtem ragt keine Scheidewand; das Denknotwendige, sofern es als solches zu Recht besteht, gilt zugleich für alle erfahrbare Welt. Da nun »Erfahrbarkeit« und »Welt« im Begriff zusammenfallen, so ist es nicht allein erlaubt, über das Mögliche, wo immer die empirischen Voraussetzungen des jeweiligen Entstehenkönnens erfaßt wurden, gültig zu entscheiden: dann muß das, was für unseren Geist gilt, grundsätzlich für alles ihm Wesensgleiche gelten. Soweit Wesenheit in Betracht kommt, worüber freilich Erfahrung entscheidet, erklärt kein Bestehendes sich letztlich aus sich selbst; alle Notwendigkeit folgt hier letztlich aus den Möglichkeiten der Freiheit, gleichviel, wie es mit deren Äußerungen jeweilig beschaffen und wie deren Begriff letztlich zu bestimmen sei; unter Freiheit verstehe ich hier einfach die spezifische Äußerungsart des lebendigen Geists, welchem grundsätzlich Spontaneität eignet im Unterschied von der trägen Natur. Diese Einsicht, die ich an dieser Stelle nicht näher ausgestalten noch begründen will, ist nun für die Lebensanschauung von unermeßlicher Bedeutung. Wenn nämlich die Notwendigkeit aus den Möglichkeiten der Freiheit folgt, überall also, wo Wesen in Frage stehen, nicht die letzte Seinsinstanz bezeichnet, dann bedeutet das Wirkliche grundsätzlich nie ein Fatum, sondern gleichsam eine freiwillige Stillstandsgebärde inmitten des ewig flüssigen Schöpfungsstroms. Für alles Geschehen, was in der vom Menschen ergreifbaren Welt verläuft, verantwortet dieser mit – mag seine jeweilige Mitverantwortung noch so gering sein. Bewußt ist er sich dieses logischen Sachverhalts bis heute kaum geworden, aber unbewußt färbt dessen Bedeutung alle Weltanschauung von den Tagen der Aufklärung an. Diese setzte, der Theodizee des Mittelalters den Rücken kehrend, die Naturgesetzlichkeit als letzte Instanz. Oberflächlich beurteilt, hätte sich der Mensch fortan wie eingekerkert fühlen sollen; jetzt gab es ja kein Reich des Übernatürlichen mehr, in dem die naturbedrängte Seele Zuflucht finden mochte. Tatsächlich datiert seither sein Optimismus; alle Abendländer, mit seltenen, kontrapunktisch wirkenden Ausnahmen, sind seither zukunftsfroh. Dies rührt eben daher, daß alle die Notwendigkeit instinktiv in Funktion der Freiheit deuten. Die Hellenen verstanden es anders; deren Anangke war Willkür oder Zufallsfügung; sie schränkte wesentlich ein. Daher der tiefe Pessimismus aller tiefen Griechen.

Die Bedingtheit des Menschen erhält, in der Tat, durch die neue Erkenntnis einen neuen Sinn. Wenn die Normen des Wirklichen zunächst durch die des Möglichen beherrscht werden, welche ihrerseits den Weg der Freiheit abgrenzen, dann greift einerseits diese viel tiefer in die Natur ein, als man früher glaubte, besteht andererseits zwischen innerlich und äußerlich Bedingtem ein geringerer Charakterunterschied. Die Normen des Möglichen sind die Ausdrucksmittel des freien Willens, die des Wirklichen die Ausdrucksmittel des Möglichen: so ergibt sich ein fester Zusammenhang zwischen Wille und Schicksal, zwischen Natur und Geist. Die Freiheit mag grundsätzlich einsetzen, wo sie will: sobald ein Gemeintes sich aktualisiert, fügt es sich, wo es sich selbst nicht aufheben soll, den Normen des Möglichen ein; und findet innerhalb dieses wiederum eine Entscheidung statt, dann treten die Naturgesetze in Kraft. Das endgültig-Gebundene ist, wo Wesen mit entscheiden, nirgends Anfangs-, sondern Endzustand. Denken wir von hier aus nun an Leibniz zurück, so müssen wir zugeben, daß sein Begriff einer bestmöglichen Welt richtig genug gebildet war; nur seine Voraussetzung des biblischen Gottes, der eine bestimmte Schöpfung vorhatte, läßt sich anfechten. Übertragen wir indessen das, was Leibniz von Gott aussagte, mutatis mutandis auf den Menschen, dann erfassen wir dessen Wesen und Können in einer Tiefe, die nicht leicht zu überschreiten sein dürfte. Wir Menschen sind wesentlich frei. Aber da der Weg der Freiheit eigene Gesetze hat, so liegen für jeden, welcher an jeweils bestimmten Punkten ansetzt, nur bestimmte Möglichkeiten vor, von denen die, welche ins Reich der Wirklichkeit übertritt, sofort zur Notwendigkeit von Fatumcharakter auskristallisiert. Nachdem ein Entschluß gefaßt, eine Entscheidung gefällt ist, entsteht jedesmal eine buchstäblich »bestmögliche« Welt. Jeden Tag mag dies jeder im Kleinen an sich selbst erfahren. Ihrem Urgründe nach betrachtet, entspringen unsere Entschlüsse aus sich selbst heraus; die Tatsache des Wählenkönnens läßt sich nicht weiter ableiten, und sie allein genügt zur Fundierung des empirischen Freiheitsbegriffs, wie wir ihn hier verwenden. Kaum aber sind jene erfolgt, so setzt eine radartig sich fortwälzende, immer eindeutiger in bestimmter Richtung sich festfahrende Kausalreihe ein, von deren dichtem Zusammenhang die indische Karmalehre ein besseres Bild gibt, als unser fadenscheiniger Satz vom zureichenden Grund. Zwar bieten sich fortlaufend neue Entschlußmöglichkeiten dar, allein der Ablauf des einmal aus dem Reich des Möglichen in das des Wirklichen Hinabgestiegenen ist nie mehr aufzuhalten. Deshalb ist es buchstäblich wahr, daß sich in jedem Augenblick ein Weltenschicksal entscheidet. Aller »Sinn« ist vielfacher Ausdrucksmöglichkeiten fähig; der freie Augenblick, der diese von ihrer Verwirklichung scheidet, entscheidet zugleich für immer. Wohl läßt sich auf die Dauer, um das Sonderbeispiel des Moralischen anzuführen, das Meiste »wieder gut machen« insofern, als sich häufende richtige Entschlüsse der Wirklichkeit annähernd den gleichen Charakter zu geben vermögen, den diese, bei sofortiger Einsicht, längst erlangt hätte. Doch was ein Augenblick verfuhr, bringen oft erst Jahrtausende wieder ins Geleis. Was bedeutet dieses nun anderes, als daß der Mensch persönlich sein Schicksal schmiedet? Der Einzelne tritt freilich in eine gegebene Schicksalsreihe ein und verantwortet insofern nur für deren Weiterverlauf. Aber jede gegebene entstand ihrerseits aus den summierten Entschlüssen früherer Menschen, sodaß alle Notwendigkeit letztlich auf freie Wahl zurückweist und alles Fatum seinem Ursprung nach persönlich-innerlich bedingt erscheint. Dies gilt völlig unabhängig von der materiellen und quantitativen Überlegenheit von Natur und ererbtem Karma, denn der Geist ist grundsätzlich über diese Herr; ein richtiger Gedanke mag Berge versetzen. Ist er es praktisch nicht, so hat er die ihm innewohnenden Kräfte nicht ausgeübt und, was er hätte leisten können, zu tun unterlassen. Solches Unterlassen aber bedeutet metaphysisch ein genau so freiwilliges wie schöpferisches Tun. Wo der einzelne Mensch keine Verantwortung trägt, tut dies doch allemal die Menschheit; dies gilt von allem Geschehen, das überhaupt zur Geschichte gehört, d. h. nicht rein natürlichen oder kosmischen Ursprungs ist. So führt die Erkenntnis, daß das Wirkliche nicht die letzte Instanz bezeichnet, weit genug verfolgt, zu dessen ungeheurer Bedeutungssteigerung. Unsere Welt brauchte nicht so zu sein, wie sie ist, keine Anangke zwingt sie von außen. Aber daß sie so ist, folgt letztlich aus freiem Entschluß. Jetzt aber können wir einen höheren Aussichtspunkt ersteigen. Was vom Menschen gilt, besteht, wir sahen es, insofern zurecht für ihn, als er ein »Wesen« ist. Gleiches trifft nun für alles Lebende zu. Die Attribute des Geists, soweit dieser der Natur gegenüberzustellen ist, sind sämtlich solche des Lebens überhaupt Vgl. meine Prolegomena zur Naturphilosophie Vortrag V.. Insofern ist auch Freiheit Grundeigenschaft alles Lebendigen, wie gering diese bei den meisten Organismen vom Menschenstandpunkt betrachtet immer sei; ihrer aller Erscheinung wird von einem innerlichen Prinzip regiert, welches von sich aus, also spontan, wirkt. So müssen auch Protisten als wesentlich frei beurteilt werden, wie wenige Möglichkeiten der Wahl ihnen praktisch offen stehen; auch sie verantworten mit beim Weltgeschehen. Da es somit nachweislich Stufen geringerer Freiheit gibt, als wir sie einnehmen, und die Natur sich, je tiefer wir sie erfassen, desto einheitlicher zusammenhängend darstellt, so mag die Spekulation ohne Widersinn auch solche höherer fordern. So daß eben das, was uns als letzte, uns bedingende Instanz entgegentritt, das materiale Sosein der Welt, das kosmische Schicksal, auf vor Äonen gefaßte Entschlüsse höherer Wesen zurückgehen mag. Foraminiferen haben Dolomitberge aufgetürmt, Gedanken den Blitz in Menschendienst gezwungen. Der Schematismus des heutigen Weltverlaufs spricht eher dafür, daß er die Routine eines Endzustandes zum Ausdruck bringt.

 

Aus der Tatsache, daß die Natur dem Geist nicht letzte Instanz ist, gewinnt die Erscheinung sonach eine Bedeutung, die sie nicht hätte, wenn ihm kein Jenseits ihrer faßbar wäre. Eben weil alles anders sein könnte, bedeutet das Gegebene so viel. Man sollte meinen, daß seit Entdeckung des vom Möglichkeitsbegriff umschriebenen Seinsgebiets die von uns Menschen abhängende Wirklichkeit einen fortschreitend tieferen Hintergrund gewonnen hätte: immer mehr Verantwortung hätte sie zum Ausdruck bringen müssen. Tatsächlich gilt dies nur in äußerlichstem Verstand. Dies liegt daran, daß Leibniz selbst seine Erkenntnis nur auf den Gebieten der Ideenverknüpfung – der Mathematik und Logik – ausgebaut hat, nach ihm aber das einseitig wissenschaftliche Zeitalter anhub, das für lebendige Wirklichkeit wenig Verständnis besaß. Das Mögliche ist, tief verstanden, das unmittelbare Äußerungsgebiet der Freiheit; hieraus folgt, daß wir grundsätzlich die gleiche Macht haben, wie der Schöpfergott: nach unserem Bilde, dem unseres Ideales, Menschen zu schaffen, dem Schicksal bewußt die Wege vorzuzeichnen. Dies hätte des geistig Erwachten eine Sorge werden müssen, denn da Natur unweigerlich vollendet, was Geist begann, und die Menschenwelt von morgen fortlaufend den Charakter annimmt, den das lebendige Sein von heute begründete, so hätte alles Fortschrittsstreben fortan auf bewußte Seinsgestaltung gelenkt werden sollen. Schon wo Bewußtsein nicht mitbestimmt, wo dunkler Drang und Zufall walten, beweist Erfahrung, daß die äußeren Umstände im Großen überall die Innenwelt spiegeln und die Natur-Routine nur gerinnen läßt, was freies Leben erstmalig begann; muß bestehendes Fatum hingenommen werden, so hätte es als solches kaum je zu entstehen gebraucht. Wir sind ja nicht bloß der räumlich-äußeren Natur überlegen: auch die Seele, als Inbegriff der psychischen Kräfte, gehört zu jener, ihre Gesetze sind durchaus gleichen Sinns wie die der Außenwelt Vgl. hierzu, an der Hand des Registers, unter »Seele« und »Ich«, mein Reisetagebuch. Nähere Ausführung findet die gleiche Erkenntnis in den Zyklen der Schule der Weisheit.. Ist unser Geist dieser grundsätzlich Herr, dann steht nichts dem im Weg, auch die Seele dergestalt zu bilden, daß schließlich alles Fatum, das keine kosmischen Gründe hat, vom Geist die Richtung erhielte, wodurch die Menschenwelt auf die Dauer zur objektiv und absolut, nicht nur jeweilig bestmöglichen würde. Diese Einsicht hätte bestimmend werden sollen. Statt dessen wurde der Möglichkeitsbegriff vom aufgeklärten Europäer bloß abstrakt verstanden, auf Abstraktionen allein hin ausgebaut. Hieraus folgte denn, was bei der unbedingten Folgsamkeit der Natur nicht ausbleiben konnte: die apriorischen Wissenschaften nahmen einen ungeheuren Aufschwung, eine mathematische Möglichkeit nach der anderen wurde ausgebaut; durch die Übung jener geschult, setzte die wissenschaftliche Phantasie bald Erfindung über Erfindung in die Welt; immer bessere äußere Einrichtungen kamen auf. Allein das Leben selbst wurde kein Ausdruck tieferen Verständnisses, es wurde fortschreitend farben- und gestaltenärmer. So mußte es kommen, eben weil wir letztlich frei sind. Wie wir uns einstellen, so entwickeln wir uns. Senden wir all' unsere Kräfte in die Vorstellungswelt hinaus, zentrieren wir unser Bewußtsein ganz in ihr, so wird zwar alles nur Mögliche sich realisieren, was in und von ihr aus realisierbar ist, allein wir selbst werden von den noch so reichen, aus der Erkenntnis herausgestellten Möglichkeiten nicht ergriffen, und das Schicksal geht unabhängig von unserem Wollen seinen Lauf Genau ausgeführt habe ich diesen Gedanken in meiner Studie Erscheinungswelt und Geistesmacht in Philosophie als Kunst. Das volle Verständnis dieses Buches setzt deren Kenntnis überhaupt voraus.. Schlimmer noch: nicht nur werden wir nicht mehr und anders dank dem, was wir erkennen – die eigentliche Selbstgestaltung, zuletzt die Erhaltung des früher Gestalteten hört auf, da alle Lebenskräfte sich nun in der Vorstellungswelt erschöpfen. So erklärt sich die seit den Tagen der Aufklärung unaufhaltsam fortschreitende Verdürftigung des persönlichen Lebens, die sich in einem immer mechanischeren Charakter der Völkerschicksale spiegelt. Des Mittelalters Tiefe, seine Farbenpracht, der tiefe Sinn seiner Geschichte beruhte darauf, daß jede damals erfaßte geistige Möglichkeit leibhaftige Verkörperer fand. Von einem wesentlichen Fortschritt, der seither erfolgt wäre, ließe sich dann nur reden, wenn die durch die Befreiung des Geists ermöglichte tiefere Erkenntnis sich ihrerseits in Leben eingebildet hätte. Dann wären gleich vollausgeschlagene »Wissende« erstanden, wie es früher »Gläubige« gab, eine gleich reiche Menschenfauna hätte die überlebte abgelöst, und jene hätte eine höhere Seinsstufe zum Ausdruck gebracht insofern, als alles äußere Geschehen in höherem Grad vom Geist bestimmt erschienen wäre. Dies ist nicht geschehen, im Gegenteil: die Menschen sind fortschreitend unwesentlicher und ohnmächtiger geworden. Ihr immer gelehrtenhafter werdender Geist verhielt sich zur Welt nur mehr wie zu einem fertiggeschriebenen Buch, das es nur zu beurteilen galt, bemerkte an jeder Erscheinung immer mehr nur ihre Möglichkeit unter anderen; immer mehr schwand ihr Verständnis für die einzigartige Bedeutung des Einzigen, des Wirklichen als solchen, als eines durch freien Entschluß Erschaffenen. So schwand auch die Fähigkeit, lebendige Wirklichkeit in die Welt zu setzen, diese von innen heraus, anstatt von außen her, zu gestalten. So wurde das, was vormals Leben und Glaube war, immer mehr zu Theorie und Programm. Nur mehr von früheren Epochen geprägte Seinstypen begriffen bald die Bedeutung einzigartiger Seinsgestaltung; nur sie verkörperten noch bewußt ein Schicksal. Da aber ihre Seinsart auf der Linie der Geistesentwicklung überholt war, so konnten sie nicht mehr als Beispiele dienen, nicht mehr Schrittmacher sein; auf das Gesamtschicksal hatten sie keinen Einfluß. Heute hat der Gedanke seine unmittelbare Macht auf das Leben nahezu verloren. Bestimmter Glaube oder Glaubenswechsel bedeutet in bezug auf dieses ebensowenig, wie er einstmals viel bedeutet hat, von Überzeugung und Überzeugungswechsel nicht zu reden. Innere Entscheidungen kommen kaum mehr vor, weil solche dem veräußerlichten Geist physiologisch unerreichbar sind. So hat der Gedankengang, der von der Entdeckung eines Jenseits der Wirklichkeit ausging, zum genauen Gegenpol dessen geführt, wohin er, richtig geleitet, hätte führen können und sollen: zur Verflachung, anstatt zur Vertiefung des Menschenwesens, zugleich zur Mechanisierung des Schicksals.

 

Allerdings wird sich die Menschheit ihrer Unzulänglichkeit neuerdings sehr bewußt. Zumal der Weltkrieg, der ihrem wahren Seelenzustand – einem dermaßen barbarischen, wie ihn die Geschichte des gesitteten Europas zu keiner früheren Epoche aufweist – die Maske abriß, hat die Mehrheit zum Nachdenken genötigt. Doch da die Wurzel des Übels unerfaßt bleibt, so werden, aus halber Erkenntnis heraus, Heilmittel in Anwendung gebracht, die nicht einmal als Palliative wirken können. Wir kommen ja nicht weiter, weil unsere Ideale keine Lebensmächte, sondern herausgestellte Programme sind. Nichtsdestoweniger wird von solchen alles Heil erhofft – wo das Leben dahinsiecht, wird an Vorstellungsprodukten herumkuriert. Wenn die äußeren Einrichtungen vollendet gut sind, so urteilen die Meisten, werde jenes auch vollkommen werden. Das »Sollen« leite vom einen zum andern über. – Die Vorstellung, vermittelst intellektuell anerkannten Sollens zu innerer Erneuerung zu gelangen, illustriert mit wohl abschließender Deutlichkeit die Wesensfremdheit des modernen Menschen. Gewiß gibt es in der Seele, jenseits des empirischen Willens, ein Motivationsgebiet, dessen Impulse, da sie aufs schlechthin Werthafte hinzielen, einen scheinbar unpersönlichen Charakter tragen; was einen von dort aus drängt, heißt die philosophische Terminologie in Analogie mit dem im Menschenleben äußerlich Aufgezwungenen ein Sollen. Allein eine schlechtere Analogie ist selten denkbestimmend geworden. Die ethischen Gebote entstammen einer noch tieferen Wesensschicht, als die empirischen Wünsche, sind somit über-, nicht unpersönlichen Charakters. Ihr ideeller Ort liegt noch tiefer in der persönlichen Innenwelt, als der des persönlich Bestimmten. Umgekehrt steht es mit dem äußerlich Gesollten, und dieses allein kommt bei Programmen als solchen in Frage. Was man so soll, nicht will, ist ein totes Vorstellungsprodukt, ohne unmittelbare Beziehung zum Lebensmittelpunkt. Daß solches »Sollen« durch Pflichtgefühl, opferfreudigen Entschluß, Verzicht, die im übrigen, der reinen Form nach, sehr wohl der innerlichsten Wesensschicht enstammen mögen, zu lebendigem Wollen umzugestalten sei, das ist nicht wahr: keine lebendige Brücke führt vom Programm zur schöpferischen Willensentscheidung hinüber; kein Mensch erneuert sich auf diesem Weg, so sehr die Askese ihm sonst zugute kommen mag. Hier hielten wir denn die eigentlich psychologische Ursache dessen, daß kein moderner Mensch durch seine Weltanschauung innerlich geformt wirkt: bei keinem erscheint die geistige Möglichkeit aus der Vorstellungswelt in die lebendige Wirklichkeit hineingebildet, gleich wie ein Sinn sich in den angemessenen Sätzen, Worten und schließlich Buchstaben ausdrückt. Demgemäß führt auch kein noch so ernster Erneuerungswille zu neuen Lebensformen; das metaphysische und psychologische Mißverstehen schließt dies aus. Wer dies begriffen hat, der möchte bitter lachen darob, wie die Erneuerung allerseits betrieben wird. Nachdem ein Programm als intellektuell befriedigend anerkannt ward, werden Bünde und Vereine gegründet, um dasselbe von außen her in Wirklichkeit umzusetzen. Da ihm aber keine schon stattgehabte innere Entscheidung zugrunde liegt, so bleibt es machtlos, wird nichts besser oder auch nur anders durch dasselbe. Das Leben rollt weiter auf den Schienen der Zwangsläufigkeit, welche die letzte innere Entscheidung gelegt hatte, und diese liegt meist weit in der Rassenvergangenheit zurück. Das Sollen, wie es gemeiniglich verstanden wird, ist eben ein völlig Lebensfernes; um Wesentliches zu wirken, muß es nicht nur im Wollen, sondern im Wollenden wiedergeboren sein. Hält man am Glauben an die unmittelbare Macht des Sollens fest, so gelangt man unabweislich zum Postulat des Terrors; in dieser Hinsicht, wie in vielen andern, erweist sich der Bolschewismus als eines tieferen Geistes Kind, als aller liberale Reformismus. Jener behauptet nun, Vergewaltigung sei als Vorstufe notwendig; im Lauf der Zeit verwandele sich das Erzwungene von selbst, wenn erst entsprechende Gewohnheiten erwuchsen, in persönlich Gewolltes; auch das Christentum hätte jahrhundertelang keine andere Taktik befolgt. Äußerlich läßt sich auf diesem Wege gewiß viel erreichen; wo nur die Außenseite des Lebens in Frage steht, wie im Fall aller bloß soziologischen Gestaltungen, wird Gewalt bis zum jüngsten Tag als zweckdienliches Mittel anerkannt bleiben. Daß solches aber ausschließlich für die Außenseite des Lebens gilt, beweist gerade die Geschichte des Christentums. Dem äußeren Gebaren nach sind wir gewiß alle Christen. Innerlich hingegen sieht die überwältigende Mehrheit der heutigen Abendländer ihren heidnischen Altvorderen erstaunlich ähnlich. Soweit es echte Christen gibt, geht deren Sein nicht auf die Zwangsmaßnahmen der Obrigkeiten und das Fürwahrhalten bestimmter Lehren zurück, sondern das geheimnisvoll nachwirkende Beispiel Jesu und seiner echten Nachfolger – von Johannes und Paulus bis zu den schlichten Gotteskindern, von deren Dasein die weite Welt nichts ahnt. Nur Sein wirkt eben unmittelbar auf Sein Diesen Gedanken führen der letzte Zyklus und die Studie über die Schule der Weisheit in diesem Buche näher aus.. So lange keine noch so kleine Menschenzahl den Inhalt eines Programms in dem Verstand vertritt, daß dieses nur den äußerlichen Ausdruck eines seinsmäßig Vorhandenen bezeichnet, bleibt jenes, vom Sein aus beurteilt, machtlos. Ersteres kann nun bisher von keiner Reformanhängerschaft behauptet werden. Kein Sozialist, von dem ich wüßte, will wirklich das, was er vertritt; gelangt er zur Macht, so lebt und handelt er gar bald im Geiste eben der Weltanschauung, die er vorher bekämpfte und äußerlich auch weiterbekämpfen mag. Wären nur ein paar tausend Sozialisten durch ihre Weltanschauung innerlich gebildet, dann, aber erst dann, dürfte mit dem baldigen Anbruch der prophezeiten sozialistischen Weltaera gerechnet werden.

 

Greifen wir von hier aus zu unseren ersten Betrachtungen zurück. Jeden Augenblick fortlaufend steht uns frei, eine Wahl zu treffen; haben wir einmal gewählt, so befinden wir uns an die erfolgte Entscheidung fortan gebunden. Da wir Heutigen, in der überwältigenden Mehrheit, persönlich überhaupt nicht gewählt haben, so wirken sich im großen, bis auf Weiteres, unter der Maske beliebiger neuer Programme, nur alte Kräfte aus: in Rußland einerseits die, welche den Moskauer Zentralismus erschufen, andererseits die anarchisch-primordialen, die aller Staatsordnung von jeher widerstrebten; in Deutschland zu annähernd gleichen Teilen vor- und nachbismarckische, von deren letzteren jedoch keine, von der ich wüßte, über die Wesensart des sterbenden 19. Jahrhunderts hinausweist; in Frankreich der Hauptsache nach solche, die in dessen dreißiger und vierziger Jahren ihre Prägung erhielten. Es ist, auf indisch gesprochen, durchaus noch altes Karma, das sich in Europas Geschichte amortisiert. Was heute neu aufzubauen wähnt, betreibt in Wahrheit Abbau: die überstürzten Reformen der letzten Jahre werden nicht mehr vermögen, als die Welt von gestern endgültig zu Grabe zu tragen. Wohl nimmt der Verstand mehr Möglichkeiten als je vorweg; es regnet Utopien. Aber zu Wirklichkeiten werden jene nicht früher gerinnen, als bis innerhalb des Webens der Geistesmächte eine Stillstandsgebärde gleichsam eintritt, dank der ein unter anderem Mögliches auf einmal vollkommen wirklich wird. Ist dieses geschehen, dann erst tritt ein wesenhaftes Neues als Macht ins Leben ein.

Diese Verwirklichung kann nun ausschließlich im Körper der Persönlichkeit geschehen. Auf das Sein des Menschen, nicht das, was er vertritt, kommt es letztlich an, denn nur der persönlich lebendige Mensch ist möglicher unmittelbarer Wesensausdruck. Da der Sinn sich von innen nach außen zu, und nur so realisiert, was in jedem Fall persönliche Initiative verlangt, so versteht es sich recht eigentlich von selbst, daß die erforderliche »Stillstandsgebärde« durch nichts Unpersönliches bewirkt werden kann. Nur was persönlich der Ebene des Wesens angehört, ist der Natur überlegen, kann sie verändern, schließlich Schicksal schaffen. Nichts Äußerliches vermag dies, keine Einzelkraft, keine Vorstellung, kein Programm, denn diese alle gehören, als Gestaltungen, in jene hinein. Wo Wesen jedoch im Körper des Erscheinenden entsprechenden Ausdruck fand, beseelt diesen eine metaphysische Macht. Deren Exponent ist eben die Persönlichkeit. Aus dieser einen Erwägung erklärt sich deren überall letztlich den Ausschlag gebende Bedeutung, die Hoffnungslosigkeit aller Versuche, sie durch Einrichtungen oder Massenwirkungen zu ersetzen; diese eine Erwägung erklärt die Möglichkeit, die Kurven des Völkerwerdens zu aller Zeit, auch zu solcher angeblicher Massenherrschaft, durch wenige Persönlichkeitskoordinaten zu bestimmen. Nur wird der Tatbestand der Bedeutung der Persönlichkeit gewöhnlich mißverstanden: man wähnt, auf den großen Mann als solchen komme es an, dessen Unbedingtheit, Haltung, Wesenhaftigkeit an sich genüge schon, um ihn zum Wegweiser und Erneuerer zu weihen; gerade heute erleben wir am Stefan-George-Kreis eine Wiedergeburt des antiken Heroenkults, von dem Ruf nach dem starken Mann im Kraftmeiersinn zu schweigen. Da es der Mensch allein ist, der Erneuerung bringen kann, und nur der große über die inneren Machtmittel verfügt, sich durchzusetzen, so versteht es sich, wie aus dem Vorhergehenden ersichtlich, recht eigentlich von selbst, daß menschliche Größe historisch letztlich entscheidet. Nur ist diese Größe als solche nur Verkörperungsmittel, nicht das Wesen. Auf dem Geist, der sich in jenem äußert, liegt der Bedeutungsakzent. Wo ein Großer einen verderblichen verkörpert, da schafft er Unheil; es geht nicht an, Götter und Teufel, Blinde und Weise auf einen Nenner zu bringen. Eine erkenntnis- und fortschrittfördernde Macht ist der große Mensch ausschließlich dort, wo ihn ein tieferes Wissen und ein reineres Wollen als seine Zeitgenossen beseelt, wo er sonach die erforderlichen neuen Geistesinhalte in Form des Lebens der Wirklichkeit einverleibt. Auf diese kommt alles an. Historisch wie auch metaphysisch beurteilt ist der größte Einzelne nie mehr als Symbol und Exponent; anders ausgedrückt: grundsätzlich bedarf die Menschheit in ihrem Fortschreiten seiner nicht. Wessen sie bedarf, ist einzig die rechtzeitige Verkörperung des erforderlichen Seinstypus; daß solche nur großer Persönlichkeit gelingt, ist, von hier aus besehen, eine Frage der bloßen Technik. Was den Großen zum Erneurer macht, zum jeweiligen Markstein in der Menschheitsgeschichte, ist, noch einmal, nicht seine Größe als solche, es ist der Umstand, daß seine konkrete Gestalt gegebenenfalls die Verwirklichung der Möglichkeiten darstellt, die innerhalb der seelisch-geistigen Welt nach Ausdruck ringen. Diese eine Frage entscheidet. Der Größte mag ein Anachronismus, ein Archaismus, ein Exotismus sein, der Unsterblichste für keine besondere Stunde bedeutsam scheinen. Nur wer von tieferer Erkenntnis aus das Leben neu ergreift, nicht abseits stehend, sondern mitten im historischen Prozeß, zeugt weiter Sein und Schicksal.

Hiermit wären wir in der Konkretisierung unseres Problems einen entscheidenden Schritt weiter gelangt. Wenn es die bestmögliche Welt zu schaffen gilt, dann ist von den Zeitverhältnissen und -bedürfnissen niemals abzusehen. Im Reich des Möglichen lebt die Idee in zeitloser Gültigkeit. Sobald jedoch Verwirklichung in Frage steht, so gilt der Satz, daß solche allein einen Fortschritt einleiten kann, an deren Körper alle empirischen Mächte, die gerade wirken, nicht allein überhaupt, sondern dergestalt mitgebaut haben, daß sie als notwendige Ausdrucksmittel des Ideellen wirken. Unter allen Umständen bestimmen sie das jeweilige Leben; der neue geistige Sinn, der sich ihm einbilden soll, kann niemals Macht über dasselbe gewinnen, wo die vorhandenen Ausdrucksmittel ungenutzt bleiben. In diesem Zusammenhang sind die Dadaisten, so seltsam dies klinge, den George-Jüngern gegenüber grundsätzlich im Recht, sie, die nur gerade Wirksames gelten lassen: nur das zeitlos Gültige, das die Sprache des Zeitgeistes spricht und seine Möglichkeiten erfüllt, kann zeitliche Bedeutung erlangen. So erwuchs Luther zunächst und grundsätzlich wohl deshalb zur geschichtlichen Macht, weil ein Mögliches in ihm vollausgeschlagene Wirklichkeit wurde, sonst wäre er ja bedeutungslos geblieben. In concreto aber und in fortschrittlichem Verstand nur deshalb, weil er kein Anachronismus war; in ihm gewann das geistig-seelische Leben neue Form gemäß den Gesetzen der Phylogenie. Sein Typus war grundsätzlich fällig; die vorhandenen geistigen und seelischen Mächte gestatteten dem sich der Erscheinung tiefer einprägenden Sinn auf religiösem Gebiet zu seiner Zeit und an seinem Ort keine wesentlich andere Verkörperung. Diese erwies sich eben deshalb als lebens- und fortpflanzungsfähig, während unzeitgemäße, falls sie aufkommen, auf der Ebene der Natur nicht Wurzel fassen können. Der lutherische Mensch wird einmal aussterben, und dies noch nicht so bald. Der George-Mensch hingegen als Typus ungeboren bleiben, weil die konkreten Mächte fehlen, die ihm einen dauerhaften Körper schaffen könnten.

 

Somit liegt nicht allein das historisch, sondern auch das geistig-seelisch Wichtigste in dem Umstand beschlossen, nicht allein daß eine Stillstandsgebärde innerhalb des Webens der Möglichkeiten eintritt, sondern welche erfolgt. In gutem Sinn bedeutsam wird nur die, welche die realen Kräfte der Zeit zu neuem, entwickelterem Sinneskörper zusammenfaßt. Nun können wir aber eine weitere Frage stellen: wann bedeutet die Erneuerung einen echten Fortschritt? Dann, und dann allein, wenn die neue Gestalt weitere und tiefere Erkenntnis zum Ausdruck bringt. Alle anderen Wandlungen bereichern das Leben nur; diese führt aufwärts.

Darüber zu urteilen, ob eine Neuerung einen Fortschritt bedeutet oder nicht, gestattet die Fähigkeit, das Mögliche als solches zu erfassen und als unmittelbaren Körper des freien Wesens zu verstehen. Der reine Historiker bleibt sachgemäß bei der Auffassung stehen, welche Leibniz in bezug auf Gott vertrat: jede Gestaltung sei die zur Zeit bestmögliche – eine Auffassung, die sich sogar der Metaphysiker Hegel insoweit aneignete, als dieser jede Philosophie als notwendige Stufe des Erkenntnis-Fortschritts rechtfertigte; unter Annahme des Gegebenen als letzter Instanz besteht sie zu Recht. Aber die Einsicht, zu der wir am Anfang unserer Betrachtungen gelangten, war ja gerade die, daß das Wirkliche nicht letzte Instanz ist; als solches untersteht es den Normen der reinen Freiheit, die in der Erfahrungswelt, gleich wie ein Sinn in bestimmt-geregelter Sprache, nur Ausdruck gewinnt. Hinsichtlich Luthers dürfen wir z. B. sagen: trotz seiner Zeitbedingtheit wäre es sehr wohl möglich gewesen, daß er sich zu tieferer Einsicht durchgerungen hätte; dies wäre dann geschehen, wenn er, anstatt beim Buchstaben der Bibel vielfach stehenzubleiben, deren Bedeutung tiefer erfaßt hätte. Gewiß hätte er auch tiefstes Wissen zeitgemäß ausgedrückt; das Fatum von gestern bietet überall das Material zum Freiheitskörper von morgen. Aber sein Wissen wäre dann ganz anders fruchtbar geworden.

Vom Begriff der Zeitbedingtheit aus läßt sich das zeitlos Gültige, auf dessen Erfassung und Realisierung es letztlich ankommt, in seinem Wesen besonders klar begreifen. Man kann bloß modern sein oder auch zeitgemäß, ohne daß dieser Umstand Kurzlebigkeit bedingte; diesen Unterschied erweist schon das banale Beispiel des Vergleichs zwischen kleinen und großen Schneidern. Letztere zeigen sich, ohne je Unmodernes zu schaffen, vom Modewechsel doch wie unabhängig. Wie hängt dies zusammen? – Bloß modern ist der, welcher auf die Ausdrucksmittel des Augenblicks ausschließlichen Nachdruck legt. Dies tun z. B. Dadaisten und Futuristen, welche weniger exzentrisch als allzu oberflächlich-zeitlich sind, insofern sie nicht auf den Sinn des neuen Form willens, der als solcher eines sowohl zeitgemäßen, als auch zeitlos gültigen Ausdrucks fähig wäre, das Hauptgewicht legen; deshalb müssen sie sich fortlaufend überleben, und es spricht nicht eigentlich gegen, sondern für das metaphysische Bewußtsein der Jungen von heute, daß sie grundsätzlich keinen Dauerwert anstreben, sogar eine Altersgrenze für jede Richtung festlegen – nicht trotzdem, sondern weil jene bald überschritten sein wird. Vollendetes metaphysisches Bewußtsein verhält sich anders. Solches strebt gerade aus der Erkenntnis der wesentlichen Zeitbedingtheit jeder Gestaltung nach Zeitlos-Gültigem; dieses wird erkannt, wo immer der Sinn als solcher eingesehen und der Nachdruck auf ihn gelegt wird. Hier liegt das Geheimnis aller Künstler, deren Werke nie veralten. Hierauf beruht letztlich das Fortleben aller bestimmten Religion und Philosophie, deren jede sich sonst bald überleben würde. Bei wahrhaft Wissenden bedeuten eben Begriffe und Dogmen unwillkürlich nicht mehr als Ausdrucksmittel; bei solchen liegt das Bewußtsein ursprünglich jenseits der Gestalt. Und je mehr dies jeweilig der Fall war, desto länger und tiefer wirken sie. Jajnavalkya, Buddha, Laotse werden nie veralten, obschon auch sie ihr Wissen in zeitbedingtem Vorstellungskörper ausdrückten. Luther hingegen, war in vielen Hinsichten bloß modern, trotz all seiner Größe; deshalb verblaßt heute sein Stern. Die Welt, die er erschuf, war wohl die bestmögliche vom Standpunkt seiner Beschränktheit, nicht aber im letztdenkbaren Sinnesverstand.

Die Welt könnte aber jederzeit zur absolut bestmöglichen werden. Dieser Wahrheit, zu der uns abstrakte Überlegung schon zu Beginn unserer Betrachtungen geführt hatte, vermögen wir jetzt, zum Schluß, einen so konkreten Körper zu erschaffen, daß sie als taterzeugende Neuerung wirken wird. Es gibt ein Jenseits der Wirklichkeit, welchem wir wesentlich angehören, dem all unsere Entschlüsse ihren Ursprung danken; in aller Natur, allem Fatum gerinnt ursprüngliche Freiheit. Alles Schicksal ist, im großen betrachtet, innerlich bedingt. Die Schärfe der Erfassung realer Kräfteverhältnisse, deren umsichtige Nutzung entscheidet über irdische Macht, in der Religion und Philosophie wie in der Politik, denn nur das Zeitgemäße kann wirken in der Zeit; an der Tiefe der Sinneserfassung, welche die zeitliche Gestaltung zum Ausdruck bringt, bemißt sich der Ewigkeitswert. Ist dem nun also, dann ist die Stunde gekommen, der Moira ihre letzten Herrschaftsrechte streitig zu machen. Viel ist ihr seit Griechentagen bereits abgetrotzt; nur zu Zeiten, wie den Jahren des großen Kriegs, während welcher ein unerhörtes Übermaß an geistiger und moralischer Unfähigkeit, ein beinahe anorganischer Initiativemangel auf der karmischen Grundlage eines Jahrhunderts fortschreitender Mechanisierung in die Erscheinung trat, kann sie den Versuch wagen, ihre alte Stellung wiederzuerringen. Sie hat es tatsächlich dahin gebracht, daß die allerjüngste Geschichte an den Urzustand der Titanenkämpfe gemahnt. Desto mehr gilt es jetzt, daß Zeus siege. Aus tiefster Sinneserfassung heraus müssen wir nunmehr innerlich ergreifen, was uns bisher von außen her betraf. Alles Geschehen müssen wir zu unserem Schicksal umschaffen, alles Schicksal ins Reich persönlicher Freiheit hineinbeziehen. Nicht im Verstand des Amor fati, des bloßen Jasagens zum Geschick, sondern in dem von dessen Überwindung. Denn wenn es wahr ist, daß zunächst nur ein geringer Teil der Welt seinen Herrscher am Geiste hat, so kann dieser sich jene allmählich ganz unterwerfen. Die Welt hängt nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich zusammen; jenes in statischem Daseinsverstand, dieses im Sinn der Möglichkeit. Wenn es nichts Äußerliches gibt, was der Mensch nicht zum Sinnbild des Innerlichen erobern könnte – bedeutende Menschen erleben nur Schicksalhaftes, unbedeutende nur Zufälliges –, so gibt es auch kein Schicksal, das freier Wille sich nicht zu seinem Ausdrucksmittel umschmieden könnte.

Es ist drum Zeit, mit dem üblichen Gerede vom Fatum, der Gnade, der Fügung aufzuhören. Es gibt kein anderes Fatum als das karmisch aus der Summierung freier Entschlüsse Auskristallisierte. Es gibt keine Gnade, die nicht zur rechten Stunde käme, keine Fügung, welche sich nicht vom Sinn her vorwegnehmen ließe. »Von selbst«, aus kosmischem Urwollen heraus, geschieht alles Wesentliche. Selbstverständlich ist dieses nie äußerlich zu fabrizieren, es muß erwachsen, und was erwächst, wird eben, für unsere Begriffe, »von selbst«. Aber man soll nicht beim selbstverständlichen Gegensatz von »Gewächs« und »Gemächte« stehen bleiben: im Bereich des »Von selbst« kann das persönliche Bewußtsein seinen Sitz errichten – und dann gehorchen ihm die Mächte des Alls. So allein ist die Frage sinngemäß zu stellen. Viele beurteilen die Zumutung, das Kosmische dergestalt ins Persönliche hineinzubeziehen, als Entweihung: in Wahrheit bedeutet es Selbstschändung des Menschenwesens, wenn dieses seine Bestimmung nicht ganz erfüllen will. Keine Abhängigkeit vom Äußerlichen darf als endgültig anerkannt werden; es ist recht eigentlich unwürdig, bloß passiv abzuwarten, bis daß die Not der Zeit den rechten Mann gebiert. Der Geist kann nicht allein vorwegnehmen, was nottut, dem Erforderlichen vermag er praktisch den Weg zu bereiten. Auch dann kommt es schließlich »von selbst«, nur eben sehr viel früher und schneller. Vor allem aber kann der rechte Mann, welcher dann kommt, in genauerem Verstand der Rechte sein, als je bisher geschah.

 

Hier liegt der entscheidende Punkt. Luther hätte nicht bei so vorläufiger Einsicht stehenzubleiben gebraucht, Napoleon die Kräfte des Zeitgeistes besser verwerten können, Nietzsche Positiveres leisten, als er's getan; und umgekehrt hätten sich die Geführten, bei besserer Bildung, nie an unwirksamen oder irreführenden Sternen zu orientieren gebraucht. Es wäre nie nötig gewesen, daß ein »Rechter« unerkannt oder machtlos blieb. Der große Mann als solcher tut es nicht – Begabungen sind immer vorhanden, und die Sprache des Zeitgeistes als solche redet unwillkürlich jeder –, sondern der Bildungstypus, in dessen Sinn er sich gestaltet; dies hängt von Willen und Einsicht ab. Worauf es ankommt, ist die geistige Erfassung und praktische Züchtung des Bildungstypus, welcher den höchsten Möglichkeiten der Zeit entspricht. Hierbei spielt die Einzelbegabung keine Rolle; andererseits ist es selbst im Höchstfalle jener, der über die fortschrittliche Bedeutung des einzelnen Großen schließlich entscheidet. Jener Typus entsteht freilich auf die Dauer gleichfalls von selbst – aber wieviel Jahrhunderte gehen dank Mißverstehen oft umsonst dahin! Wie viele erlesene Geister erreichen nicht das in und außer sich, was sie erreichen könnten! Wie viele orientieren sich an falschen Idealen! Und wieviel vollkommener hätte der Bildungstypus selbst vielfach, bei tieferer Einsicht, werden können! Bis heute hat hier zuviel Zufall mitgespielt, auch zuviel Aberglaube den großen Mann betreffend. Fortan muß dies anders werden. Die Fortschrittsstufe der Menschheit hängt nicht von der Veranlagung ihrer jeweiligen Glieder, sondern dem bestimmenden geistigen Seinsniveau ab, das eine ebenso unpersönliche und doch persönlichkeitbestimmende zeitliche Einheit darstellt wie die physische Gattung. Dieses Niveau kann durch bewußte Kultur geschaffen werden. Wir vermögen darüber zu entscheiden, nicht allein daß Glaube, sondern welcher nottut, nicht allein daß eine, sondern eine wie-beschaffene Persönlichkeit auftreten muß, damit ein Fortschritt erzielt werde. So sind wir an dieser wichtigsten Wende, dank der neuerstiegenen Sinneserfassungsstufe, in der Lage, dieselben Kräfte, die sich bisher in der herausgestellten Vorstellungswelt erschöpften und dort Erfindungen schufen, die, als ein Äußerliches, das Innerliche nicht beeinflussen konnten, auf Selbst- und Menschenbildung umzulenken. Jetzt gilt es, am Urheber der Menschenwelt unsere Freiheit betätigen. Geschieht dies konsequent, so wird das alte Karma bald amortisiert sein, neues ins Rollen kommen; die Natur wird immer mehr vom Geist bestimmt erscheinen, das Schicksal auf gewollte Bahnen einlenken. Bis endlich eine nicht allein im empirischen, sondern im tiefsten Sinn-Verstand bestmögliche Welt entstanden ist.

Über die Art der Erziehung, auf die es ankommt, um Niveau zu schaffen, will ich hier nichts äußern; darüber lese man den letzten Zyklus der Schule der Weisheit sowie den Aufsatz über diese in diesem Buche nach. Für dieses Mal will ich nur zur allgemeinen grundsätzlichen Einsicht dessen führen, welches das wahre Ziel ist, nach dem wir alle streben sollen, und gleichzeitig den hoffnungsreichen Gedanken anklingen lassen, daß es erreichbar ist. Nur eine mögliche Frage will ich schon jetzt beantworten. Der Fortschritt geht überall von einzelnen, nicht von vielen oder Massen aus, schon aus dem einfachen Grund, weil irgendeiner in jedem Fall der erste war. Wo es sich nun um Persönlichkeitsbildung handelt, da kann das Weiterwirken des zunächst einmalig-Einzigen nur darin liegen, daß eine immer größere Zahl sich auf ihn abstimmt, sich dem Einfluß seiner Seins» Art hingibt. Bei dieser Abstimmung spielt nun die Zeit die geringste Rolle. Dies gilt nicht allein in dem Verstand, daß die inneren Entscheidungen, auf die es ankommt, aus dem Zeitlosen stammen und deswegen aus keiner Zeit noch Kausalreihe zu begreifen sind – im Fall der religiösen Bekehrung ist dies allbekannt –: bei den Typusänderungen, die allen Menschheitsfortschritt in musikalische Sätze abteilen, verschlägt es wenig, wie lange sie herausgestellt wurden. Erscheinungen von entscheidender Kulturbedeutung haben nie lange bestanden. Die griechische Höchstkultur hatte sich in wenigen Jahrhunderten überlebt und ist doch heute noch typusbestimmend für den halben Erdball; die Höhepunkte aller waren in großen Einzelnen verkörpert, und kein Leben währt lang. Aber dieser Gedankengang führt zu einer die Zeitbedeutung noch stärker einschränkenden Feststellung: innerhalb des Einzellebens sind es nur kurze Perioden, oft nur Augenblicke gewesen, auf die es für die Menschheit wirklich ankommt. Jesus soll drei Jahre gelehrt haben, sein Vorleben kommt nicht in Betracht. Das Wirken der langlebigsten Großen ging in der Regel auf Augenblicke der Inspiration zurück. Im übrigen aber haben kurze Anregungen zu aller Zeit die nachhältigsten Wirkungen ausgelöst. Was bedeutet das? Es bedeutet, daß nur der Augenblick der Freiheit wesensschöpferisch ist, in welchem ein Mögliches gerade wirklich wird, also der Übergangszustand zwischen dem »Noch nicht« der Möglichkeit und der Routine, in welcher die Freiheit stirbt. Nur während der Mensch sich entscheidet, ist er frei; sobald er sich entschieden hat, ist er gebunden. Da Gleiches allein auf Gleiches wirkt, so vermag nur der Moment oder die Periode der Freiheit, die als solche Bewegtheit ist, eine Bewegung einzuleiten und als Beschleunigungsantrieb fortzuwirken. So hat es einen tiefen Sinn, wenn die Mythologie die Wirksamkeit aller entscheidend Großen auf Einzelszenen zurückführt. Aus dem gleichen Grunde kann kein Entscheidendes als solches zur Routine werden. Deshalb ist es ganz in der Ordnung und nicht als tragisch zu beurteilen, daß keine Kirche ihren Entstehungsimpuls festgehalten hat, daß jede Bewegung in ihrer Urform bald verjährt, daß jeder Neuerer, der nicht bald stirbt, sich überlebt oder gar ad absurdum führt. Bei jener Stillstandsbewegung inmitten des Werdens der geistig-seelischen Mächte, deren Eintreten den Fortschritt macht, kommt es letztlich nur darauf an, daß sie überhaupt statthatte. Alles Weitere bedeutet wenig. Deshalb kommt es bei der Erschaffung des neues Menschentypus, die unsere wichtigste Zeitaufgabe ist, zunächst weder auf die Zahl seiner Träger an, noch auf deren Dauerhaftigkeit. Ihre Wirkung wird in ihrer inneren Bewegtheit bestehen, im Rhythmus ihres Seins. Dieser wird sich naturnotwendig fortpflanzen, in immer mehr Seelen anklingen. Ist ein neuer tieferer Grundton angeschlagen, so wird es bald kein Ohr mehr vertragen, daß die Melodien des Lebens auf alte abgestimmt bleiben. Aber der Augenblick seines Anschlagens ist wichtiger als die Zeit seines Klingens. Nur Bewegtheit zeugt fort. Die Routine erzeugt nichts. Deshalb kann man von allem Wesentlichen sagen: der zeitliche Tod zur rechten Stunde sei recht eigentlich der Unsterblichkeit Gewähr.


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