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Erster Teil
Von der Sinneserfassung

Morgenländisches und abendländisches Denken als Wege zum Sinn

Wer viele Sprachen beherrscht, der weiß desto besser, je vollkommener er sich in jeder von ihnen ausdrücken kann, daß es eigentlich keine übersetzbaren Gedanken gibt. Die Gegen- oder Zustände, welche den Vorstellungen entsprechen, mögen noch so genau übereinstimmen – jedes Volk bezieht doch seine gleichsinnigen Geistesgestaltungen auf ein besonderes Koordinatensystem, weshalb sich schon die Begriffe nahe verwandter und einem gleichen Kulturkreise angehöriger Sprachen nur selten decken. Wessen Ohr sehr fein ist, der entdeckt nun weiter, daß auch zwei Menschen gleichen Bluts und gleicher Sprache, indem sie Gleiches sagen, doch nie vollkommen Identisches meinen; jeder Einzelne ist zutiefst ein Einziges, eine richtige Monade ohne Fenster insofern, als es keine von sich aus bestehende äußere Vermittlung zwischen ihm und anderen gibt, wo es sich um Verstehen handelt. Jeder meint nur das Seine, sein Meinen drückt sich in konventionellen Lauten aus, welche der Andere wieder auf seine Art versteht. Demnach sollte Nichtverstehen oder Mißverstehen das soziale Urphänomen sein. In Wahrheit gilt aber das Gegenteil: das Urphänomen ist das Verstehen. Praktisch ist freilich Mißverstehen mehr als häufig, in allen schwierigeren Zusammenhängen wohl die Regel; grundsätzlich gilt der vorhergehende Satz trotzdem, denn sonst wäre geistige Gemeinschaft kein a priori. Dies ist sie aber. Ebenso wie der Zusammenhang des physischen Organismus gegenüber seinen Teilen ein a priori darstellt, genau ebenso geht das Bewußtsein eines Zusammenhangs, wo dieser vorhanden, dem seiner besonderen Komponenten vor; was zusammengehört, weiß dieses, und zwar, wie man sagt, instinktiv, auf äußere Anhaltspunkte hin, welche an sich die Gemeinschaft nie und nimmer bewiesen. Alle Tiere gleicher Art verstehen einander sofort, alle Menschen gleichen Niveaus. Man unterhält sich angenehm mit dem allein, welcher auf bloße Andeutungen hin weiß, wie man es meint. Und so muß es auch sein, wenn Gemeinschaft möglich sein soll, denn wie kein Gegenstand der Außenwelt einen Eindruck erzwingen kann – dieser hängt von den aufnehmenden Sinnesorganen ab –, so gilt Gleiches erst recht von dessen geistiger Verarbeitung; soll Verständnis in bezug auf Einzelnes erfolgen, so muß es grundsätzlich, zwischen den fraglichen Partnern, bereits bestehen, wenn nicht tatsächlich, so doch der lebendigen Möglichkeit nach. Aus diesen Erwägungen ergibt sich die Tatsache einer Kommunion der Geister durch die Äußerungsmittel hindurch, eine Tatsache, deren letzte kritische Deutung ich hier nicht geben kann, die ich indessen, als Grundlegung des Folgenden, auch nicht zu geben brauche, da sie als solche alle bisherige Erkenntniskritik allererst ermöglicht. Für unsere Zwecke genügt schon die älteste, die platonische Bestimmung. Plato lehrte: nicht die Augen sehen, sondern wir sehen vermittels der Augen. Gleiches gilt erst recht von jedem geistigen Verständigungsmittel: nicht diese selbst sagen uns etwas, sondern durch sie wird uns anderes offenbar. Dieser Sachverhalt allein erklärt die Rätsel, daß besonders intuitiv veranlagte Geister ihrer nahezu entraten können, daß Kinder den Sinn von Worten vor diesen selbst auffassen. Die Begriffe sind recht eigentlich Organe. Wie es ohne Augen für uns kein Licht gäbe, das Auge andererseits lichterschaffen ist und das Licht selbst doch ein völliges anderes, als das Auge, darstellt, nicht anders steht es mit den Begriffen in bezug auf den gemeinten Sinn. Dieses Bild verträgt nun noch weitere Ausführung, und diese führt zum ursprünglichen Gedankengang zurück. Vermittelst der gleichen Netzhaut sehen und erkennen wir bekannte sowohl, als unbekannte Farben und Formen; dies ist gerade deshalb und nur deshalb möglich, weil nicht das Auge als solches sieht, sondern nur die Verbindung zwischen der Außenwelt und deren visuell-geistiger Auffassung herstellt. Genau so vermögen wir, von uns aus nur im Besitz bestimmter Gedanken, verstehend neue aufzufassen; genau so, selbst nur der eigenen Sprache mächtig, durch diese hindurch fremde zu verstehen. So präzisiert sich unsere Bestimmung des Verstehens als Urphänomens: dieser sein Charakter wird durch die Tatsache, daß jeder nur das Seine denkt, nicht mehr berührt, wie das gleiche Verhältnis beim Sehen die soziale Kontinuität und Einheitlichkeit des Sichtbaren einschränkt oder aufhebt. Sobald Verständigungsorgane vorliegen, setzt Verstehen ein. Die Frage ist nur, wie tief dieses dringt. Man mag in den Worten eines anderen nur seine eigene Meinung oder die jenes erkennen. Dies hängt nie von den Verständigungsmitteln als solchen ab, sondern davon, wer sie nutzt. Kurz- und Weitsichtigkeit gibt es auch auf dem Gebiete des Verstehens. Unter allen Umständen verstehen wir nie ein Gesagtes an sich, sondern eine Meinung, welche jenes ausdrückt. Diese bedeutet ein grundsätzlich anderes, auch im Fall vollendeter Deckung von Meinung und Äußerung, mehr noch; die Äußerung an sich kann nie die Meinung sein. Wenn dem nun also ist, dann erscheint es nicht wunderbarer, einen Fremden als einen Verwandten zu verstehen, mag jenes auch größere Fähigkeiten voraussetzen; gibt es Verstehen überhaupt, dann muß solches gegenüber Fremdestem gelingen. So liegen die Dinge faktisch. Verständigung ist überall nur denkbar von Geist zu Geist, und insofern grundsätzlich unabhängig von aller Ausdrucksgleichheit. – Aus diesem Grunde ist Verständigung mit noch so fremdartigen Völkern sowie Bestimmung von deren Eigenart durch eigene Begriffskoordinaten, wo entsprechende Fähigkeiten vorliegen, ohne weiteres möglich. Heute nun will ich, auf Grund dieser Verständigungsmöglichkeit mit Fremdestem, den Unterschied zwischen morgenländischem und abendländischem Denken behandeln. Jedoch nicht als Selbstzweck: das volle Verständnis seines Sinns soll uns zum Sprungbrett zu höherer grundsätzlicher Einsicht werden.

 

Zunächst sei bekannt: die Aufgabe, so wie ich sie mir hier stelle, schließt ohne Zweifel eine erhebliche Gewaltsamkeit ein. Vielleicht gibt es ein festbestimmbares, in allem Wesentlichen gleichartiges Abendland – sämtliche Asiaten behaupten es, führen auf die Gleichartigkeit aller Europäer des Westens ungeheuere Macht zurück, während die Erfahrung des Weltkriegs uns bewiesen hat, wie unmöglich es unter Umständen nächstverwandten oder-benachbarten Völkern wird, ihren gegenseitigen Mentalitäten gerecht zu werden –, ein einheitliches Morgenland gibt es ganz sicher nicht; nie wird es gelingen, islamisches, indisches, chinesisches Wesen auf einen gegenständlichen Generalnenner zu bringen. Die Welt des Islam ist der unseren nahe verwandt Vgl. hierzu und zu den folgenden Ausführungen mein Reisetagebuch. Die Zugehörigkeit des Islam zum westlichen Kulturkreis hat neuerdings C. H. Becker in seiner Studie Der Islam im Rahmen einer allgemeinen Kulturgeschichte (Zeitschrift der Deutschen morgenländischen Gesellschaft 76, 1922) im einzelnen erwiesen.. Gleich uns vom Judentum ihren geistigen Ausgang nehmend, ursprünglich nichts anderes als eine puristische Fortschrittsbewegung innerhalb der byzantinisch-christlichen und der dieser nächstverwandten und -benachbarten asiatischen Welt bedeutend, hat sie sich seither in von der unseren nur wenig abweichender Richtung fortentwickelt, so daß auch von den abliegendsten Endetappen beider Bewegungen her keine Schwierigkeit gegenseitiger Verständigung besteht. Mit den Indern gelingt solche unschwer bis zu einem gewissen Punkte dem, welcher geistig Deutscher, seelisch Russe ist, und dessen Spiritualität durch den Katholizismus gebildet ward – jenseits jenes Punktes setzt auch für solchen Ausnahme-Europäer das durch seine gewohnten Begriffsmittel Unbewältigbare ein. Nun aber die chinesische Denkart! Gebildete Chinesen denken normalerweise von einer Bewußtseinslage aus, welche wir bewußt nicht kennen. Daran gewöhnt, dasjenige, was sie meinen, niemals auf unsere Art zu explizieren, sondern in gleichsam algebraischen Beziehungssymbolen nicht allein zu schreiben, sondern zu denken – Begriffsmitteln, welche die Gedanken sozusagen im Zustand der Geburt erfassen –, verfügen sie nicht allein über eine Kombinationsfähigkeit nach außen zu, sondern über eine innere Fähigkeit, den Geistesprozeß im Unterbewußtsein zu erledigen, welche ihnen unsere umständlichen Verständigungsmittel entbehrlich erscheinen lassen. Jenes instinktive unmittelbare Zusammenschauen des Sinns in der Verzweigtheit seiner Verkörperungen, welches bei uns den seltenen Ausnahmegeist charakterisiert, bedeutet selbstverständliches Können jedes gebildeten, der höheren Grade des Schreibens und Lesens mächtigen Chinesen, denn ohne jenes können diese Künste in China überhaupt nicht ausgeübt werden. Eine unmittelbare Verständigung mit Chinesen von unseren gewohnten Ausdrucksmitteln her ist also schon deshalb ausgeschlossen, weil das chinesische Denken sich auf anderer Bewußtseinsebene bewegt. – Sieht man andererseits von den skizzierten Unterschieden ab, so erscheinen östliches und westliches Denken wiederum gleichsinnig, als menschliches Denken überhaupt; dieses ist zunächst eine bestimmte, allen Menschen eigentümliche Lebensäußerungsart, überall der gleichen biologischen Deutung fähig Vgl. hierzu den Epilog zu meinem Gefüge der Welt.. Man sieht: es hält sehr schwer, den im Thema vorausgesetzten Unterschied durchaus aufrechtzuerhalten. Nur in einem Zusammenhang gelingt dies: dem der Erkenntnis in philosophischem Verstand; einen Anhaltspunkt gibt es und nicht mehr, von dem aus das morgenländische dem abendländischen Denken als Ganzes und als Einheit gegenübergestellt werden kann. Nun, um dieses einzigen Ansatzpunktes willen habe ich das Thema gewählt, das ja nur dazu dienen soll, uns über sich selbst hinauszuführen. Wie allbekannt, steht jeder Orientale, auch der materiellste, dem Äußeren des Lebens grundsätzlich gleichgültiger gegenüber als wir; nie z. B. stellt er sein inneres Unendlichkeitsstreben als Expansionswillen in die Erscheinungswelt hinaus Vgl. hierzu die ersten Amerika-Abschnitte meines Reisetagebuchs.. Soviel gilt von jedem Eingeborenen des Orients, ist also wohl klimatisch mitbedingt. Der gleiche Umstand gibt nun auch allem philosophischen Denken des Ostens ein gemeinsames Charakteristicum. Während das abendländische selbst im Höchstfall als Mittel zum Zweck erscheint, erscheint es dort typischerweise als allgemeine Lebensform. Hieraus ergibt sich denn eine prinzipielle Unvergleichbarkeit der beiderseitigen gedanklichen Endprodukte, die sich in nicht nur relativer, sondern in absoluter Unübersetzbarkeit äußert. Diese Unvergleichbarkeit ergibt aber ihrerseits das Dasein von zwei geistigen Koordinaten, die auf die Möglichkeit eines neuen, tieferen Bezugszentrums zurückweisen.

 

Betrachten wir zunächst den Tatbestand der Unvergleichbarkeit ein wenig näher, die beiderseitigen Vorzüge und Nachteile genauer abwägend. Die Gedanken des Morgenlandes, soweit sie mit den unseren nicht zusammenfallen, wollen im allgemeinen überhaupt kein Objekt verständlich machen, sondern einen von der Außenwelt unabhängigen Sinn unmittelbar zum Ausdruck bringen. Uns, hingegen, ist es, welchen Problemen wir uns auch zuwenden, um das Verstehen eines Objekts zu tun. Deshalb können sich sogar die beiderseitigen Grundbegriffe nicht decken. Was bedeutet z. B. Wahrheit hüben und drüben? Ihr modern-westlicher Begriff leuchtet echten Orientalen nicht unmittelbar ein noch kann er es tun, denn von ihrer Einstellung aus mag eine empirische Lüge sich als wahrhaftigster Sinnesausdruck darstellen. Es besteht kein Zweifel darüber, daß man das, was man eigentlich meint, dem Verstehenden durch eine äußere Unwahrheit unter Umständen ebenso gut und sogar besser beibringen kann, wie durch eine sachlich zutreffende Erklärung. Frauen und Diplomaten wissen dies auch im Westen und handeln demgemäß. Aber ihr Wahrheitsbegriff ist nicht anerkannt. Sobald wir Abendländer die Frage bewußt stellen, erscheint uns das grundsätzlich gleiche Wahrhaftigkeitsideal, das auch der Osten bekennt, nur in Form sachlicher Wahrheit, d. h. des Zusammenstimmens von Subjekt und Objekt, realisierbar – gleichviel, ob wir dieses Zusammenstimmen im übrigen nach der Formel von Kant oder von Fries, idealistisch oder pragmatistisch deuten. So stellen wir sogar die Frage, die jedem östlichen Philosophen absurd vorkäme, ob es Gott »objektiv« gibt, eine Frage, die uns kein Nachweis der Unmöglichkeit eines Gottesbeweises, kein offenbarer Widersinn, zu dem die Annahme ihrer Sinngemäßheit in allen Fällen führt, bis heute verleidet hat; so fragen wir überhaupt, welchen Gegenständen ( Definitionen einsichtigerer Art, die metaphysische Substanz von empirischer Gegebenheit scharf unterscheiden, ändern nichts am psychologischen Sachverhalt; nicht darauf kommt es an, wie man definiert, sondern wie das Definierte verstanden wird) die tiefsten metaphysischen Begriffe entsprechen mögen. Für keinen typischen Abendländer hat das Denken eben seinen Sinn in sich. Sogar dort, wo letzteres ausdrücklich postuliert wird, wie im Fall der antiken und modernen Identitätsphilosophie, erweist sich das Denken als nicht wirklich selbstgegründet. Die großen griechischen Rationalisten waren ausgesprochene Grammatiker; den Sinn, welchen sie meinten, sahen sie so unauflöslich mit den Gesetzen des Ausdrucks verquickt, daß letztlich diese in ihren Augen über die Wahrheit entschieden. Daß aber das Denken auch den modernen Identitätsphilosophen nichts wirklich Selbstgegründetes bedeutete, beweist bei deren größtem, Hegel, der eine Umstand, daß ihm der objektive Geist, den er als konkret zwar richtig definierte, de facto ein Abstraktes bedeutete. Lägen die Dinge anders, so hätte er sich nie dahin verstiegen, im Staatswillen die Erfüllung der vernünftigen Einzelwillen zu sehen – denn der Staat bezeichnet, vom Geist her betrachtet, eine äußerlich abstrakte Einheit –, das innere Leben des Geists mit seinem äußeren Weg, der Dialektik, zu identifizieren, so hätte er vor allem nie daran gedacht, die formale Logik, welche den Weg der Natur absteckt und den des Denkens genau nur insoweit, als dieses jener angehört Vgl. hierzu meine Prolegomena zur Naturphilosophie. Vortrag II und IV., zum Weg metaphysischen Werdens zu promovieren. Dann hätte er auch nie auf die Weise verallgemeinert, wie er es tat; das gedankenmäßig Allgemeine entsteht überall nur durch Abstraktion aus der Erscheinungswelt, während das »konkrete Allgemeine«, welches es freilich gibt, keinesfalls durch Verallgemeinern innerhalb jener, sondern nur durch Tiefereindringen in den Sinn erfaßt wird. Wenn somit Hegel lehrte, daß Denken und Sein zusammenfallen, so sprach er damit nicht aus, was immer er meinen mochte, daß tiefste Wirklichkeit ein autonomes Geistesleben ist, sondern daß die aus der äußeren Wirklichkeit (zu der auch die gegebenen Geistesgestaltungen gehören) abgezogenen Begriffe als solche den tiefsten Sinn enthielten, womit er grundsätzlich den gleichen Fehler beging wie Kant, dessen »Ding an sich« nur einen äußersten Grenzbegriff der Vernunft, keine tiefste innere Wirklichkeit bestimmte. Den Indern nun, welche desto mehr als Prototypen des philosophierenden Ostens behandelt werden dürfen, als dessen ganze Metaphysik sich wohl letztlich von der indischen herleitet, gilt das Denken wirklich und in erster Linie als autonome Macht; nicht als Mittel zur Erkenntnis der Wirklichkeit, sondern als unmittelbarer Ausdruck geistiger Wirklichkeit. Und diese Auffassung entspricht tatsächlich einer ihrer Seiten. Jeder Gedanke kann in zwiefachem Verstand bedeutsam sein: einmal als geistige Korrespondenz äußerer Gegebenheit, ein andermal als Ausdrucksmittel eines ihm selbständig innewohnenden Sinns. Dieses gilt tatsächlich von jedem Gedanken, denn jedes Bedeutung kann unabhängig von dem, was ihm außerhalb seiner entspricht oder nicht entspricht, betrachtet werden. Nun, dieses rein Innerliche, schlechthin Selbständige, und das allein, bedeutet der Gedanke dem Orientalen, soweit sein Denken zum unseren überhaupt in Gegensatz zu bringen ist. Hieraus erklärt sich der sonst befremdliche Umstand, daß das indische Denken, anstatt, je tiefer es eindringt, mit desto weniger Begriffen auszukommen, immer mehr und verschiedenere Bezeichnungen verwendet. Ihm handelt es sich eben nicht um Abstraktionen, sondern um selbständige, in ihrer Art durchaus konkrete Geistesinhalte. Solche müssen sich offenbar, je weiter und tiefer das Gebiet erforscht wird, auf dem sie zu Hause sind, als desto zahlreicher und mannigfaltiger erweisen, genau wie die äußere Natur, je besser sie bekannt wird, desto bunter erscheint. Mündet diese Art Denken zuletzt aber doch in eine Vereinheitlichung ein, wie solche zu den Begriffen des indischen Atman, des chinesischen Tao führt, so weist dies auf keine Zusammenfassung von außen her hin, sondern auf eine tiefste Wirklichkeit, welche der Mannigfaltigkeit konkret zugrunde liegt oder zugrunde liegen soll.

In diesem Zusammenhang betrachtet, erscheinen östliches und westliches Denken einander antipodisch entgegengesetzt. Und dieser eine Zusammenhang, der gewiß nur ein begrenztes Gebiet umspannt, ist für beide Teile dermaßen charakteristisch, daß er in hohem Grade die ganze Lebensmodalität bestimmt. Hiermit gelangen wir denn zu bestimmterer Bewertung der beiderseitigen Einstellungen und Richtungen. Überall, wo es sich um Denken in unserem Sinne handelt, sind uns die Orientalen unterlegen. Ihnen sind Gedanken selbständige Lebensformen von wesentlich symbolischer Bedeutung; deshalb erreichen diese nur schwer eine ganz befriedigende Beziehung zur Außenwelt. Weil jene sich nie ganz und ausschließlich dieser anpassen, kann es keine orientalische Wissenschaft geben (so viele Orientalen sich auch in der erlernten westlichen auszeichnen mögen). Wahrhaftigkeit im Sinn von Wahrheit in bezug aufs Objekt liegt ihnen fern; weniger Exaktheit als Schlauheit ist ihres praktischen Denkens Ideal. Sie verhalten sich typisch weiblich zur Außenwelt: ihr Verstand ist ihr Auswärtiges Amt, methodisches Vorgehen ersetzt List. Ihre »Wissenschaft« bedeutet, wie sie sich auch anstelle, Magie; die Natur soll nicht eigentlich in ihrem Wesen begriffen und dadurch gemeistert, sondern einfach bezwungen werden. – Doch ebenso typischerweise versagen wir auf dem Gebiet der Metaphysik. Wie schon ausgeführt: das abendländische Denken ist grundsätzlich Erkenntnismittel, kein Geschehen für sich, welches geistige Wirklichkeit unmittelbar zum Ausdruck brächte. Deshalb fühlt sich der Abendländer unwillkürlich hilflos, wo es solch unmittelbaren Ausdruck gilt. Der Grieche verriet seine Wesenserkenntnis der Grammatik, der mittelalterliche Christ dem, was man damals Scholastik hieß; Kant blieb voll Mißtrauen an der Grenze des Metaphysischen stehen, welches Fichte, Schelling und Hegel zwar richtig intuierten, dann aber, als echte Westländer, als Vernunftgebiet mißverständlich ausdeuteten Etwas genauer ausgeführt habe ich den gleichen Gedankengang im Vortrag Ost und West auf der Suche nach der gemeinsamen Wahrheit in Philosophie als Kunst.. Auch Bergson ist kein Metaphysiker; hat er besser, als die meisten seiner Vorgänger, die Grenzen des Verstandes erkannt, so hat er dies doch, hier Kant sehr ähnlich, vermittelst seines wunderbaren Intellekts getan. Die Intuition, die er fordert, besitzt er selbst nur in geringem Grad; soweit ich sehe, ist diese in seinem Fall nur einem bestimmten Teil der Naturphänomene gewachsen. Im Westen sind Dichter typischerweise tiefsinniger als Philosophen, auch wo man diesen Tiefsinn zusprechen muß, weil eben Dichter den in ihnen waltenden Geistesmächten unter allen Umständen unmittelbaren Ausdruck verleihen, während unsere Philosophen typischerweise von außen nach innen zu vordringen und deshalb dem Innerlichen kein unmittelbares Sprachrohr sein können. Die metaphysische Wirklichkeit ist ihrem Wesen nach ein rein Innerliches, nur innerlich faßbar. Der Westen hat dies noch nie ganz klar erkannt. Daher sein »Idealismus«, der Metaphysik ersetzen soll: hier wird der Erscheinung eine andere Erscheinungsart, eine konstruierte Ideenwelt, also, vom metaphysischen Wesen her betrachtet, ein ebenso Äußerliches, wie die Natur, zugrunde gelegt – ein Mißverständnis, welches nur den befallen kann, dessen ursprüngliches Bewußtsein vom Metaphysischen nichts ahnt Vgl. meine Mitteilung an den III. Internationalen Philosophenkongreß (Bologna 1911) Die metaphysische Wirklichkeit.. Was liegt der Natur zugrunde? Im großen kann die Frage heute nicht entschieden werden, jedenfalls von keiner gewissen Wissensbasis her. Auf dem Gebiet des Lebendigen ist die Natur letztlich ein Ausdruck des Lebens, des ersten metaphysischen Prinzips, und dieses läßt sich weiter als Sinneszusammenhang beschreiben, wonach der »Sinn« sich als letzte Denkinstanz erwiese. In der Tat: als Instanz jenseits der Erscheinung gibt es außerhalb des Erscheinenden, für unsere Begriffe, nur deren möglichen Sinn, denn alles, was nicht Sinn ist, läßt sich grundsätzlich als Erscheinung fassen. Und wirklich liegt »Sinn« aller lebendigen, desto mehr aller geistigen Erscheinung schöpferisch zugrunde, eine selbständige, aber rein geistige Wirklichkeit, welche die Erscheinung als solche nicht enthält. Genau so wenig, wie der Sinn eines Gedankens in den Sätzen, Worten und Buchstaben als solchen lebt, die ihn zum Ausdruck bringen, ebensowenig fällt irgendein Sinn mit seiner Erscheinung wesentlich zusammen, vom »Leben« in bezug auf den Körper bis zum Wissen des Weisen in bezug auf die Lehre, in welcher er es darstellt. Wir erkannten es schon zu Anfang dieser Betrachtung: Gemeintes und Gesagtes können gar nicht ein und dasselbe sein. Nun, dies hat der Westen bisher noch nie verstanden. Sogar dort, wo er ausdrücklich Sinneserfassung anstrebte, ist er typischerweise von außen nach innen vorgegangen, sonach auf verkehrtem Weg; er hat von außen in die Erscheinung Sinn hineingelegt, nicht deren innerlich vorhandenen Sinn erkannt; so und nicht anders steht es mit der Bibeldeutung Philos sowohl als Rudolf Steiners, der Physiognomik Otto Weiningers und Müller-Walbaums; es entspricht nicht allein der Oberflächlichkeit, sondern auch der Gewaltsamkeit abendländischen Wesens, anstatt zu verstehen, was da ist, zu dekretieren, was dasein soll. Diese Praxis ziemt wohl dem Soldaten, nicht aber dem Metaphysiker. Dessen Typus gedeiht im Orient deshalb besser.

 

Im Osten und im Westen bedeutet Denken also typischerweise Verschiedenes: dort ein unmittelbares Sich-Ausdrücken geistiger Wirklichkeit, hier ein Mittel, die Außenwelt zu bezwingen. – Auf unsere Denkart brauche ich nicht näher einzugehen. Dagegen tut es wohl not, die des Ostens genauer zu betrachten, denn daß auch diese zu Wahrheitserkenntnis führt, leuchtet westlicher Mentalität nicht ohne weiteres ein: diese meint, bei geistiger Wirklichkeit im östlichen Verstand handele es sich wesentlich um Schöpfung der Einbildungskraft, sonach um eine nur vom Menschen her bestehende, von ihm herausgestellte, um keine tiefere Welt, deren Ausdruck erst er selber wäre. – Daß die meisten Behauptungen des Orients Transzendentes betreffend dem Bereich der Phantasie angehören, wenn nicht gar der Phantasmagorie, kann kaum bestritten werden. Aber es ist falsch, jene Behauptungen überhaupt wörtlich zu nehmen: der Orient selbst, so wenig er von Erkenntniskritik weiß, ist sich dieses Sachverhalts auch instinkt- oder ahnungsmäßig wohl bewußt; sonst würde er sich widersprechende Theorien oder Dogmen nicht als gleich wahr, würde er Götter entgegengesetzten Charakters nicht als identisch anerkennen. Bei allen Erscheinungen, welche das metaphysische Bewußtsein schafft, handelt es sich nicht um letzte Tatsachen, sondern um Sinnbilder; auf dem Sinn ruht der Nachdruck; er, nicht die Erscheinung, ist die letzte Instanz, d. h. das Wesen der Sache. Zu Anfang meines Reisetagebuchs schrieb ich, der Metaphysiker verhalte sich zum Dichter, wie dieser sich zum Schauspieler verhält: »der Komödiant stellt dar, der Dichter schafft, der Metaphysiker antizipiert im Sinn alle mögliche Darstellung und Schöpfung«. Dieser Satz wird von unserer heutigen Betrachtung aus wohl besser verstanden werden, als bisher. Die Gestaltung des Schauspielers hat ihren »Sinn«, ihren λόγος σπερματιχό in der übernommenen Rolle, die des Dichters in seiner eigenen Natur; dem Metaphysiker ist diese, samt ihren Geschöpfen, ihrerseits nur Ausdrucksmittel für ein Tieferes. Dieses Tiefere allein meint er eigentlich. So liegt des Metaphysikers Wesen allerdings auf der Linie des Dichters, nicht der des Gelehrten, nur an einem tieferen, dem schöpferischen Urgrund näheren Punkt lokalisiert. Deshalb meint er anderes, wenn er Gleiches wie jener sagt. Er meint wesentliche Wahrheit. Und hier wende man nicht ein, auch der Dichter stelle vermittelst des Eingebildeten Wahrheit dar, dies sei sein eigentlicher Beruf: wohl tut er dies, allein der Bedeutungsakzent ruht ihm nicht auf dem Sinn, sondern auf der Erscheinung – in Sinneszusammenhängen kommt aber alles auf den Ort der Betontheit an; diese bedeutet das Lebenszentrum, und wie es auf physischem Gebiet nicht gleichgültig ist, ob Hirn oder Rückenmark regiert, so liegt es erst recht auf geistigem. Sehr selten versteht der Dichter selbst das Tiefe, das er sagt; der Metaphysiker versteht es, und solches bedingt einen qualitativen Unterschied in der Bewußtseinsart. Der Metaphysiker ist von beiden der Tiefere, denn wenn Bilder Sinnbilder sind, dann liegt im Sinn ihr Seinsgrund, und wer von dem nichts weiß, muß insofern oberflächlich heißen. Hier würden weniger Mißverständnisse obwalten, wenn klarer erfaßt wäre, daß Mensch-Sein und Bewußt-Sein, vom Standpunkt der Erkenntnis, Wechselbegriffe sind, und daß von ihrem Standpunkt allein von Werten die Rede sein kann. Alle Wertsteigerung vom Tier dem Gotte zu mißt sich, sofern sie statthat, an der wachsenden Bewußtseinsvertiefung und -erweiterung. Kehren wir von hier aus nun zum Problem des östlichen Denkens zurück. Dieses Denken ist, da es den Ausdruck innerer Wirklichkeit in der Erscheinung darstellt, ohne Rücksicht auf die äußere Wirklichkeit, ein sinnbildliches, und zwar liegt der betreffende Sinn im Innern des Denkers. Jetzt stellt sich die entscheidende Frage: inwiefern kann es sich bei solchem »Sinn« um Wirkliches handeln? – Betrachten wir, gleich als erstes, das Gebiet, das am wirklichkeitsfernsten anmutet: das der Mythologie. Schon lange fiel den Forschern die Gleichartigkeit der Mythen aller Völker und Zeiten auf. Zuerst suchte man diese äußerlich zu begründen, durch Zurückführung auf die überall gleichen Hauptetappen des Naturverlaufs; heute steht wissenschaftlich fest, daß die Gleichartigkeit einen inneren Grund hat: die Mythen sind Sinnbilder unterbewußter Seelenvorgänge und zwar der tiefsten, ältesten, allen Menschen gemeinsamen, seit Jahrtausenden sich wiederholenden, deshalb in der Erbmasse fixierten, in der Gestalt bestimmten, dieses letztere so sehr, daß es vorkommt, daß ein irrer Neger in der Form griechischer Sagen deliriert Vgl. C. G. Jungs Psychologische Typen, Zürich 1921 und des gleichen Verfassers Wandlungen und Symbole der Libido im Jahrbuch für psycho-analytische und psycho-pathologische Forschung Bd. III und IV, Leipzig und Wien, 1911 und 1912.. Deshalb wirken jene alten Sinnbilderfolgen auf jeden, der sich in sie versenkt, auch gleich überzeugend, denn sie rufen in jedem ein Vorhandenes wach, gleichwie der geschriebene Ausdruck einer bekannten Vorstellung diese im Geiste selbstverständlich wachruft. Die Symbole wirken ferner als richtige Organe für bestimmte psychologische und metaphysische Zusammenhänge, genau wie das Auge Organ ist für das Licht, denn nur im bestimmten Sinnbild, dessen Sosein folglich kein Willkürprodukt darstellt, gewinnen wir bewußten Kontakt mit der ihm entsprechenden inneren Wirklichkeit. Dies ist der Grund, warum alle Selbstvervollkommnungssysteme zur Erreichung ihrer Ziele älteste Symbole verwenden; diese sind organisch dazu geschickt, den ihnen korrespondierenden Sinn zur Realisierung zu bringen. Unter diesen Umständen bezeichnen sogar die phantastischesten Mythen einen Ausdruck innerer Wirklichkeit. Wie tief diese jeweilig liegt, ist eine andere Frage; oft liegt sie wohl mehr an der Oberfläche, als die normale Gedankenwelt, wie solches von der überwältigenden Mehrzahl aller Träume gilt, als welche sich auf bloß Physiologisches beziehen. Aber um Wirklichkeit überhaupt handelt es sich in jedem Fall. Man kann ja auch keine Erfindung machen, es sei denn aus vorhandenem Seelengrund, und überzeugend wirkt keine, die nicht in jenem ihr unmittelbar verstehendes Echo fände. Von dieser Erkenntnis nun bis zur Anerkennung einer eigenen Sinnes-Wirklichkeit, unabhängig von deren bildhafter Verkörperung, führt nur ein Schritt. Diesen Schritt ist die moderne analytische Psychologie tatsächlich, wenn auch noch nicht bewußt, bereits gegangen. Seitdem Freud zuerst erkannte, daß Träume, Unterlassungen, Handlungen, Krankheiten niemals als letzte Instanzen zu betrachten, sondern nur aus dem, was sie bedeuten, zu verstehen sind, ist die von ihm begründete Wissenschaft dahin gelangt, alles Tatsächliche des Lebens auf Sinneszusammenhänge zurückzubeziehen, sodaß heute nach dem geistigen Ziel eines Menschen gefragt wird, um sein Empirisches zu verstehen; dieses gilt überall nur als Symbol. Nun, unter diesen Umständen gibt es zweifelsohne eine letzte geistige Wirklichkeit, die sich in der Natur nur ausdrückt, gleichviel wie sie weiter zu deuten sei; zweifelsohne bezieht sich die orientalische Auffassung vom Denken insoweit auf Reales. Dieses Reale nun ist in abstracto, für unseren Verstand, nur als Bedeutung, als Sinn zu fassen. Jedes Sinnbild als solches ist materiell, gleichviel welchem Plan der Materie es angehöre; denn Laute, Worte, Begriffe, Ideen sind, als Gestaltungen betrachtet, genau im gleichen Verstand Erscheinungen, wie feste Körper Vgl. hierzu den ersten Vortrag meiner Prolegomena.. Aber der Sinn selbst ist in keinerlei Erscheinungs-Kategorie zu denken; er allein ist das eigentlich Geistige, soweit wir's fassen können. Dies gilt von der Bedeutung des Gedankens im Unterschied von seiner erscheinenden Verkörperung, vom Sinn eines Traums, eines Mythos, eines Kunstwerks im Unterschied von seinem Tatbestand. Dieser Sinn ist nun auf geistigem Gebiet nachweislich der Schöpfer seines Ausdrucks. Folglich besteht die orientalische Auffassung von einer selbständigen Geisteswelt grundsätzlich und tatsächlich zurecht.

 

Was ich hier sage, kann gewiß noch nicht als erwiesen gelten. Aber die Anlage dieses Buches verlangt, daß ich seine Leitmotive von vornherein anschlage. Deshalb suche der Leser nicht hier schon nach Ausführungen und Begründungen, welche erst später kommen können, sondern folge zunächst dem allgemeinen Rhythmus meiner Darstellung. Er wird es nicht bereuen. – Es gibt in der Tat eine rein geistige und dabei reale Welt. Es gibt ein autonomes Geistesleben, das nicht bloß mit Abstraktionen aus der Außenwelt arbeitet, wie die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts annahm, sondern seine eigene Wirklichkeit fortschreitend in der Erscheinung ausdrückt. Wie der Erfinder von einem unsichtbaren Plane ausgeht, der sich dann langsam materialisiert, so liegt »Sinn« überall dem Geistesleben als Innerstes zugrunde. »An sich« ist er völlig unfaßbar; er realisiert sich, indem er sich ausdrückt; der Ausdruck umspannt seine ganze empirische Wirklichkeit. Aber diese wird dann allein verstanden, wenn sie eben als Ausdrucksmittel betrachtet, wenn durch sie hindurchgelesen wird, wie durch eine Buchstabenschrift. So lesen wir tatsächlich durch alle Erscheinung hindurch, sofern wir Geist auffassen, nicht bloß beim Studium eines Buchs, beim Anhören einer Rede, sondern auch bei der Aufnahme eines musikalischen, dichterischen, bildhaften Kunstwerks, ja bei der Würdigung einer technischen Erfindung. Überall erweist sich der Sinn als der eigentliche Schöpfer der Erscheinung. Auf ihn allein bezieht sich alles Verstehn, so daß wir jetzt, von anderer Seite her, die Bestätigung dessen haben, was wir zu Anfang (S. 6) erkannten, nämlich daß Gemeintes und Gesagtes grundsätzlich nicht ein und dasselbe sein können, und daß es eine unmittelbare Kommunikationsmöglichkeit gibt von Geist zu Geist. Und jetzt gelangen wir zu dem für unsere heutigen Zwecke Wichtigsten: die sinnhafte Geisteswirklichkeit manifestiert sich nicht bloß in der bewußten Geistesschöpfung, also in der Sphäre dessen, was man Kulturgestaltung heißen mag, sondern in der alles Lebens. Nicht nur ein großer Seelenmaler, wie Rembrandt, benutzt die Gesichtszüge als Ausdrucksmittel für Tieferes – das lebendige Fleisch selbst durchgeistigt sich fortschreitend im genauen Verhältnis zum inneren Wachstum seines Trägers; auch die physischen Lebenserscheinungen sind also nicht bloß da, wie tote Körper – sie bedeuten etwas jenseits ihrer selbst, oder können es doch tun. Da dieses Bedeuten nun eine rein geistige, als Materie auf keine Weise zu begreifende Wirklichkeit ist, so muß daraus weiter folgen, daß, je mehr Geist eine Erscheinung zum Ausdruck bringt, desto mehr alles Gewicht auf der Bedeutung liegt. Daß dies im Fall der Geistesschöpfung wahr ist, liegt auf der Hand: ein wirklich bedeutendes Buch ist beinahe reiner Geist, der Stoff spielt kaum eine größere Rolle in ihm, wie in der Buchstabenschrift. Aber nicht anders liegen die Dinge im Fall lebendiger Menschen. Die bloßen Tatsachen des Lebens eines wirklich bedeutenden Menschen – wie genial hat die Sprache hier den Sinn gefaßt! – beurteilen wir unwillkürlich als gleichgültig; wir achten bloß auf das, was durch sie zum Ausdruck kommt; jeden Zug, jedes Erlebnis sehen wir als Sinnbild. Hiermit wäre denn ein irgendwie »objektiver« Geist als wirklich festgestellt; hiermit wäre die östliche Auffassung vom Beruf des Denkens als innerhalb ihrer Grenzen zutreffend erwiesen. Gewiß nicht in Form erschöpfenden Nachweises, noch weniger im Sinn letztmöglicher Deutung, aber doch soweit, wie die Umrißzeichnung das spätere Gemälde bestimmt. Die Grenzen stehen fest, gleichviel, wie viel im einzelnen noch auszuführen und zu ändern sei. Zum metaphysisch Wirklichen hat der Osten augenscheinlich das richtige Verhältnis. Allein jetzt verstehen wir auch ganz, weshalb er so unexakt ist. Da alle Erscheinung ihm vor allem Sinnbild ist, so fehlt ihm das Gewissen für sie. Sie ist ja nur Ausdruck. Insofern sind »wirkliche« Erfahrungen nicht mehr wert als Träume, erscheint es freilich angängig, irdische Chronik mit himmlischer Sage zu verquicken. Wer je seine Träume aufmerksam beobachtete, der weiß, wie leicht eine Gestalt sich in andere umwandelt, wie selbstverständlich Verschiedenstes in diesem Zustand Gleiches bedeutet. Der Inder beurteilt alle Erscheinung, wie wir den Traum. Er nimmt sie nicht ernst. Nur um den Sinn ist es ihm ernstlich zu tun. Da aber der Sinn als solcher unaussprechlich, die Erscheinung jedoch proteisch-wandelbar ist, so schwankt der Inder geistig zwischen dem Rückzug aus aller Gestaltung und einem Gestaltenwirrsal, in welchem der Europäer sich erschreckt verliert.

 

Es gibt sonach zwei grundsätzlich berechtigte Arten, das Denken anzusehen und mit ihm umzugehen: dieses ist wirklich einerseits Mittel zur Beherrschung der Außenwelt, andererseits unmittelbare Lebensform; morgenländisches wie abendländisches Denken führen innerhalb ihres Geltungsbereiches beide der Wahrheit zu. Dieses allein vermittelt Erkenntnis im wissenschaftlichen Verstand, jenes allein wiederum, als Typus genommen, metaphysisches Wissen. Inwieweit beide ihr Ziel bisher erreicht haben, will ich hier nicht untersuchen. Daß sie es auch nur einigermaßen bisher erreicht haben könnten, scheint aus dem prinzipiellen Grunde ausgeschlossen, daß beide Arten des Denkens offenbar einem Lebenszusammenhang angehören, da sie ja beide von fraglos wesensgleichen Geschöpfen ausgeübt werden, weshalb sie sich ergänzen müßten, und solche Ergänzung in der bisherigen Geschichte so wenig nachzuweisen ist, daß es von beiden Seiten heißt: nur die eine Art tauge, die eine schließe die andere als Wahrheitsvermittlerin aus. Wichtige Irrtümer, welche jede bisher beging, liegen offen zutage. Wie sehr wissenschaftliche Kritik dem Orient nottut, erkennt dieser längst selber an: sein Denken ist aus dem Zustand der Mythenbildung nie hinausgelangt und entwächst ihm deshalb sehr schwer, weil, wenn Kritik schon innerhalb nachweislicher Außenwelt nur mühsam zur Feststellung der wahren Verhältnisse gelangt, die Unterscheidung notwendiger Geistesausdrücke von willkürhaften Erfindungen innerhalb des Bewußtseins schier unerfüllbare Anforderungen an die Exaktheit stellt. Hier gibt es gar keine Hilfsmittel von außen her; der Seher des Geistigen kann sich an nichts von ihm unabhängigen orientieren, weil alles, was er erkennt, sich im Bereich seines Geistes und seiner Seele abspielt. Deshalb sind beinahe alle Theorien des Ostens falsch, die allermeisten seiner verstandesgemäßen Erklärungen; und da ein begriffsmäßiges Verstehen der geistigen Wirklichkeit doch nur vermittelst des Denkens als Erkenntnismittels gelingt, so ergibt sich a priori, was überdies Tatsache ist, daß der Osten seine eigene Tiefe in unserem Sinne nie verstanden hat. Insofern ist er über die Stellung des Dichters noch nie hinausgelangt, des Dichters, welcher mehr offenbart, als er versteht. Aus diesen wenigen Gründen allein schon darf die Weisheit des Ostens keinesfalls als letztes Wort der Menschheitsweisheit gelten. Aber umgekehrt fehlt uns modernen Westländern dermaßen der bewußte Kontakt mit der inneren Wirklichkeit, daß unsere kritische Überlegenheit sich, wo es Metaphysisches gilt, als Blindheit darstellt. Hieraus ergibt sich denn die Zukunftsforderung, und zu deren konkreter Grundlegung allein habe ich die Sonderbetrachtung über Osten und Westen angestellt: Will die Menschheit ein höheres Erkenntnisstadium erreichen, dann muß sie über Ost sowohl als West hinaussteigen. Wessen es für uns speziell bedarf, ist weder Veröstlichung noch Bescheidung bei der ererbten Richtung abendländischen Geisteslebens: ein Neues muß entstehen. Beide Betrachtungsarten gehören einem lebendigen Zusammenhange an; dieser erst gibt beiden ihren letzten Sinn. Dieser letzte Sinn muß zur Voraussetzung des künftigen Denkens werden.

Die Menschheit muß über Ost und West hinaussteigen. Zu verschmelzen sind beide deshalb nicht, weil westliches und östliches Denken auf ihrer Ebene letzte Instanzen darstellen, genau so, wie ein gegebener lebendiger Metaphysiker und ein gegebener Zweckmensch. Sie sind beide einseitig, was aber nicht bedeutet, daß sie etwa zusammengelegt werden könnten, sondern daß die Ganzheit des Lebens sich in jedem Falle einseitig ausdrückt. Quantitativ bewertet, kann jeder Menschentypus gleich voll oder erfüllend sein. Vom qualitativen Standpunkt gilt gleiches indessen nicht. Der metaphysisch Bewußte ist dem genialsten Streber, wie niemand bezweifelt, an Wert absolut überlegen. Woran bemißt sich nun aber der Qualitätsunterschied? – Er bemißt sich daran, wie weit jede Sonderbetätigung dem Zusammenhang jeweilig sinnvoll eingegliedert ist. Jeder Mensch muß essen; wer aber dieses zum Zweck des Lebens erhebt, steht unter dem Geistesmenschen, denn der Bedeutsamkeitsakzent ist falsch gelegt. Gewinnstreben ist notwendig; wer aber den materiellen Vorteil als Sinn des Lebens auffaßt, der mißversteht diesen, und sein Mißverständnis führt zu einer minderwertigen Persönlichkeitssynthese. Dies ist keine theoretische Behauptung, sondern ein Erfahrungssatz. Grundsätzlich nicht anders steht es jeweilig mit dem abendländischen und morgenländischen Denken, sofern jedes von ihnen den Sinn des Denkens erschöpfend realisieren soll. Unser Denker-Leben ist kein durchaus sinnvolles, weil das Denken als Mittel zum Zweck auch dort arbeitet, wo solches nicht am Platz ist; das des Ostens ist im gleichen Zusammenhange auch kein durchaus sinnvolles, weil es ausschließlich sinnbildlichen Ausdruck kennt und der Außenwelt deshalb nie wirklich gewachsen wird, wozu Denken doch gleichfalls dienen soll. Nun sind beide Betrachtungsarten organisch verknüpft. Es ist eine gleiche letzte Lebenssynthese, die des erkennenden Menschen, welche beide innerlich ermöglicht; zwischen beiden besteht ein notwendiger Zusammenhang insofern, als jede einer bestimmten Seite der Wirklichkeit gerecht wird, und beider Kenntnis nottut, um die Welt in ihrer Totalität zu fassen. Unter diesen Umständen präzisiert sich die Aufgabe, über West und Ost heraus zu gelangen, offenbar dahin, die Art des Zusammenhanges beider Denkerstellungen festzustellen und dessen Erkenntnis fortan zum bewußten Ausgangspunkt zu nehmen. Diese Art können wir nunmehr bestimmen; hierzu brauche ich nur an den kritischen Ergebnissen meiner Prolegomena zur Naturphilosophie anzuknüpfen. Das Leben ist das metaphysische Prinzip in uns; dieses realisiert sich, indem es sich in der Erscheinung ausdrückt. Seine Ausdrucksmittel hingegen gehören allesamt, ohne Ausnahme, der Natur an, in deren eindeutigem Gesetzeszusammenhang. Nun, zur Natur in diesem Verstand gehört auch das ganze westländische Denken. Dieses führt nie ins Metaphysische hinein, weil es sich ganz im Getriebe der Erscheinungswelt erschöpft, sich auf diese allein, seinem Wesen nach, bezieht, auf sie allein beziehen kann. Umgekehrt bringt das morgenländische nur das Metaphysische, das der Erscheinung zugrundeliegt, sinnbildlich zum Ausdruck und hat gar kein Verhältnis zur empirischen Außenwelt. Hieraus ergibt sich die Art des Zusammenhanges beider Denkarten, welche wir feststellen wollten: das westliche Denken verhält sich zum östlichen nicht anders, wie das empirische Leben zum metaphysischen. Und aus dieser Feststellung ergibt sich weiter der methodische Weg, über die Einseitigkeiten von Ost und West herauszugelangen: beide Denkarten verhalten sich nicht bloß tatsächlich so zu einander, wie empirisches und metaphysisches Leben – sie müssen so auch bewußt auf einander bezogen werden. Unser abendländischer Geisteskörper, richtig eingestellt und vollendet ausgestaltet, wäre eben der angemessene Körper jenes Geistigen, das, an sich selbst, nur der Orient bisher typischerweise kennt. Oder anders gefaßt: Die Wahrheiten des Ostens verhalten sich zu den Wahrheiten, welche wir wissenschaftlich heißen, wie Sinneszusammenhänge zu grammatikalischen; denn die Welt der Naturgesetzlichkeit mag man füglich die Grammatik des Wirklichen heißen. Jetzt vermögen wir die bisherigen Erkenntnisse, westliche und östliche Art betreffend, in ihrer tiefsten Bedeutung zu fassen. Wenn die Weisheit des Ostens inexakt, und unsere Wissenschaft bis zu einem genau bestimmbaren Punkte oberflächlich war und ist, so liegt dies daran, daß der Osten, nur auf den Sinn bedacht, auf die Gesetze des Ausdrucks gar keine Rücksicht nahm, weshalb er wesentliche Wahrheit beinahe immer in der Form tatsächlichen Irrtums darstellt – daß der Westen, hingegen, seine auf ihrer Ebene richtige Erkenntnis bisher nie auf den diese letztlich tragenden lebendigen Sinn zurückbezog. Das Subjekt ist, so erkannte schon Kant, der objektiven Erkenntnis unübersteigbare Voraussetzung; inbezug auf jenes hat diese allererst Sinn; ein Bedeutungszusammenhang trägt, vom Geist her gesehen, die ganze Natur. Was uns fehlt, ist eben die Erfassung dieses Bedeutungszusammenhanges innerhalb seiner grammatikalisch-richtigen Artikulation. Dieser so naheliegende methodische Schritt über Kant hinaus muß endlich getan werden. Wird er nun aber getan, dann erweist sich die Geistesart, die bisher für den Orient ausschließlich typisch war, zu welcher der Westen bisher gar kein Verhältnis fand als Gattung genommen, als die eigentliche Seele der unsrigen; erschien diese häufig seelenlos, so hatte dies insofern seinen guten Grund. Unsere Seele lebte sich seit dem Anbruch des wissenschaftlichen Zeitalters – so paradox dies klinge – auf besonderem, abliegenden Gebiete aus, was ihr Leben zu einem exzentrischen Phänomen im Rahmen seiner Gesamtheit machte: dem Gebiete der positiven Religion als einem Reich des Glaubens im Gegensatz zum Wissen. Daß dieser Zustand ein ungesunder ist, liegt auf der Hand: unmöglich kann es frommen, das Zentrum des Lebens als exzentrische Nebenerscheinung zu mißdeuten, es muß veroberflächlichend und demoralisierend wirken. Andrerseits würde eine Rückkehr zur intellektuellen Blindheit, wie solche des mittelalterlichen Kosmos eine Voraussetzung war, einen verhängnisvollen Rückschritt bedeuten. Uns bleibt tatsächlich nur der eine Weg, das wissenschaftlich-wahre zum Ausdruck des seelisch-wahren zu gestalten. Hier liegt denn offenbar die Aufgabe des kürzlich angebrochenen Neuen Zeitalters in der Geistesgeschichte. Das Problem der Seele stellt sich ganz anders, viel ernster, viel sachlicher möchte man sagen, als je bisher geschah. Hiermit nun wären wir über das Problem von Ost und West, das uns von jeher nur zum Sprungbrett diente, endgültig hinausgelangt. Das eigentliche, entscheidende Problem ist dieses: es muß das Geistesleben, das der Natursphäre angehört, überall auf seinen Sinn zurückbezogen werden. Dann erweist sich als ein Organismus, was bisher nur in zwei sich ausschließenden Typen der Welt bekannt war.

 

Ist dieses Ziel praktisch erreichbar? – Es ist es deshalb, weil die Welt des Sinnes genau so organisch zusammenhängt, wie die des körperlichen Lebens. Jede Zelle hat ihren sinnvollen Ort im Organ, dieser sodann im Organismus, letzterer seinerseits in einem weiteren räumlich-zeitlichen Zusammenhang Vgl. hierzu die beiden letzten Kapitel meiner Unsterblichkeit 3. Aufl.. So weist jede sinnvolle Betätigung ihrerseits auf einen tieferen Sinn zurück. Bei dem, der seine persönliche Bestimmung ganz erfüllt, erscheint nicht allein das Einzelne, das er tut und leidet, einem höheren Ganzen, dem eines persönlichen Schicksals sinnvoll eingegliedert – dieses persönliche ist seinerseits Sinnbild und insofern Ausdrucksmittel eines tieferen Sinneszusammenhangs, eines völkischen, zeitlichen, historischen, menschheitlichen, zuletzt dessen vielleicht einer göttlichen Heilsordnung. Hier ist keine Grenze abzusehen. Von außen her und doch auf den Sinn hin betrachtet, wie dies der Orient tut, erscheint die Welt dergestalt als ein Geflecht von Sinnbildern, als wirklichkeitsfernster Mythos gerade in ihrem jüngsten Ausdruck exakt-wissenschaftlicher Beschriebenheit. Man wundere sich deshalb nicht, wenn tiefe Geister, so Rudolf Kassner und Spengler, die alte Idee einer universellen Physiognomik wiederaufnehmen. Vielleicht hat der ganze Weltprozeß soviel wie eine Innenseite? Das weiß ich nicht. Sicher gibt es diese Innenseite auf dem Gesamtgebiet des Lebens. Hier sind die Erscheinungen nicht bloß da, wie im Fall der toten Körper, hier bedeuten sie allemal etwas Erst während der Korrektur dieses Buchs kam mir Ludwig Klages Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft (Leipzig 1921, W. Engelmann) in die Hand. Ich möchte die wirklich grundlegenden Ausführungen dieser Schrift als Ergänzung der meinen sehr warm empfehlen.. Und erst von der Bedeutung her wird das Faktische wirklich verstanden. So gelangen wir zum Postulat einer neuen Philosophie, welche den Gegensatz von Ost und West in sich erlöste. Es ist die Philosophie des Sinnes. Diese unterscheidet sich von der bekannten nur durch ihren ideellen Ort. Sie geht von einer tieferen Schicht des Geisteswesens aus, als die bisherigen. Die Kantische verdeutlichte den Sinn der Erfahrung in bezug auf den erkennenden Menschen. Deren Fragestellung bedeutet nicht die letztmöglich e. Was wir denken, leben, tun, ist seinerseits Sinnesausdruck, gehört tieferen Zusammenhängen an, welche bisher noch nicht exakt verstanden, aber zweifelsohne ebenso verstehbar sind, wie die oberflächlichen. Auch auf religiösem Gebiete wird der Mythos nicht immerdar das letzte Wort bleiben. In meinem Reisetagebuche habe ich praktisch schon gezeigt, wie es möglich ist, in tieferer Bewußtseinslage zentriert, durch die Erscheinung hindurch den Sinn der verschiedenen Religionen, Mentalitäten, Kulturen, Sprachen usw. unmittelbar zu verstehen, sodaß das letzte Wort der bisherigen Philosophie und Religion, die bestimmte philosophische, psychologische, religiöse Gestaltung, von vornherein als Ausdruck eines Tieferen erfaßt wird. Was dort einmalig in dichterischer Form geschah, muß jetzt zur typischen Praxis aller werden. Einen anderen Weg des Erkenntnisfortschritts gibt es nicht. Dieser Weg ist aber tatsächlich auch allen beschreitbar, deren Begabung genügt. Daß dies der Fall ist, dürfte das Bild von den vier Stockwerken der Sprache am besten deutlich machen. Die Worte eines Satzes bedeuten zunächst nur das, was sie als Scheidemünze gelten, was also objektiv, nach dem Wörterbuche, festzustellen ist. Sie bedeuten zweitens, was ein bestimmter Mensch mit ihnen sagt. Das, was er sagt, braucht aber nicht seine genaue Meinung wiederzugeben – sehr wenige sind des Ausdrucks so weit mächtig –; damit wäre bereits ein drittes Stockwerk möglichen Sinnes festgestellt. Erst das vierte nun wäre das der wahren Einsicht: das, wo der Sinn, den der Betreffende meint, sich mit dem Sinn an sich des Zusammenhanges deckt. Die drei ersten Stockwerke steigt jeder Einsichtsfähige unbewußt viele Male täglich auf und nieder. Jetzt gilt es, gleiches bewußt zu tun; jetzt gilt es vor allem, das vierte Stockwerk zur geistigen Wohnstätte einzurichten. Da es sich auf den anderen aufbaut, da die vertraute Stiege unmittelbar zu diesem weiterführt, da es keiner neuen Art des Steigens bedarf, um höher hinaufzukommen, so ist das Ziel erreichbar. Es ist möglich, dahin zu gelangen, daß die Erfassung des letzten Sinns zu etwas ebenso unmittelbarem wird wie die Erfassung der sichtbaren Welt durch das Auge. Dieser letzte Sinn nun ist völlig frei von aller Buchstabenbestimmtheit; er gehört dem indischen Arupaplane an. Aber er erteilt der Gestaltung erst ihre eigentliche Bedeutung. Gelingt es nun, so tief in sich selber leben zu lernen, daß man in aller Erscheinung diesen Sinn erkennt, dann ist alle Natur sowohl wie aller Mythos durchschaut. Dann sind die Sinnbilder nicht mehr, wie im Fall der meisten überkommenen Mythen, Oberflächengestaltungen, sondern Sinnbilder in der vollen Bedeutung des Worts, denn der Nachdruck ruht auf dem Sinn. Dann ist eine Bewußtheitstufe erreicht, auf welcher der erkennende Mensch den Beirrungen der Gestaltung organisch entwachsen wäre.

Hier wären wir denn beim Problem des Verstehens dessen, was einem nicht gleich ist, wieder angelangt. Ich wiederhole: gelöst hat diese skizzenhafte Betrachtung, vom Standpunkt verstandesmäßiger Beweisführung, noch keins, noch wollte sie es tun; sie sollte nur die Leitmotive des Buchs erstmalig im richtigen Rhythmus anschlagen. So schließe ich denn mit Ergebnissen, welche erst später ihre Richtigkeit vollkommen erweisen werden. Deren wichtigstes ist nun das Folgende: Die Erscheinungen sind nur die Buchstaben der Welt. Wie der Erfinder von einem unsichtbaren Plane ausgeht, der sich dann langsam materialisiert, genau so liegen Geistespotenzen und -Prinzipien überall dem Leben zu Grunde. Von außen sind diese nicht zu fassen. Keine Buchstabenschrift als solche enthält ihren inneren Sinn. Doch wer zum Sinn für sich den Zutritt fand, entdeckt, daß gleichwie alle äußeren Erscheinungen irgendwie zusammenhängen, so auch ein Kontakt zwischen allen Geisteswelten besteht Diesen Leibnizschen Grundgedanken hat neuerdings Paul Natorp wieder aufgenommen. Dessen Sozialidealismus (Berlin 1920, Julius Springer), der mir übrigens nichts Neues gegeben hat, ist insofern lesenswert.. Deswegen müssen Menschen en rapport sein.um einander zu verstehen; deshalb genügt dieser innerliche Zusammenhang zur Verständigung, wo jede äußere Möglichkeit zu solcher fehlt. Sinneserfassung ist ein Urphänomen, ein a priori, unabhängig von den Vermittelungen, die sie benutzt. Grundsätzlich stellt sich also nicht die Frage, wie verstehe ich überhaupt, sondern wie tief verstehe ich die Welt? Jeder Sinneszusammenhang läßt sich auf tiefere zurückführen. So mag es fortgehen bis zur Unendlichkeit. Hieraus ergibt sich nun eine weitere Erkenntnis, welche ich hier, zum Schluß, nur andeuten kann. Das metaphysische Verstehen bedeutet dem empirischen gegenüber lediglich ein Tieferverstehen; die Welt religiösen Sinnes bezeichnet keine andere, sondern eine tiefere Geisteswelt. Somit träfe zu, was Otto Flake sagt: die Welt ist ein konzentrisches Phänomen. Nun fragt es sich: wie gelange ich dazu, tiefer zu verstehen? Da gibt es nur den einen Weg: die Bewußtseinslage zu verändern. Je tiefer man in sich selber eindringt, immer tiefere Sinneszusammenhänge, welche wiederum tiefere Lebenskräfte beseelen, seinem Bewußtsein einverleibend, desto weiter wird der Weltumfang, mit welchem man in geistige Berührung kommt. Wer bis zum innersten Grunde seiner selbst vordränge, der durchschaute zugleich die gesamte empirische Wirklichkeit. Der wäre hinaus über Morgenland und Abendland, über den Unterschied von Metaphysik und Empirie: ein Zusammenhang, in seinem Ich zentriert, umspannte, sinnvoll gegliedert, die ganze Welt. Wer diesen Zustand erreichte, der hätte das erzielt, was man göttliche Allwissenheit heißt.


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