Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweiter Zyklus

I. Die Symbolik der Geschichte

Der Zyklus, den dieser Vortrag eröffnet, soll am besonderen Thema des Historisch-Politischen erweisen, daß es kein Gebiet gibt, das nicht im Zusammenhang mit dem Tiefsten in uns steht, und folglich keins, das nicht aufs Tiefste bezogen und von diesem her sinngemäß beleuchtet und behandelt werden kann. Meine Schüler wissen, daß es mir grundsätzlich gleich gilt, was einer tut, daß ich jedesmal abrate, einen einmal ergriffenen, der äußeren Anlage gemäßen Beruf aus Geistesgründen aufzugeben Eine andere Seite des gleichen Problems behandelt meine Studie Vom Beruf im 2. Heft des Wegs zur Vollendung.: Handwerk, Handel, Industrie sind keine schlechteren Äußerungsmittel des Geists als Wissenschaft und Philosophie. Gewiß läßt sich in der Sprache der Schwerindustrie nicht Gleiches sagen wie in der Sprache der Metaphysik, wohl aber gleich Tiefes, weshalb die bloße Fragestellung, nach welcher die Betätigungsart zu ändern sei, damit das Wesen sich manifestieren könne, falls jene nur anlagegemäß erwählt wurde, grundsätzliches Mißverstehen beweist. Überall kommt es einzig auf die Kongruierung von Wesen und Erscheinung, Sein und Können, Sinn und Ausdruck an. Dies ist nicht etwa eine Ansicht von mir, über welche man streiten mag, es ist eine Einsicht, die sich erweisen läßt. Was ich nun im Fall eines individuell-persönlichen Problems schon oft getan habe, ebendas gilt es einmal in bezug auf ein sachlich-allgemeines zu leisten. Es gilt dies desto mehr, als von den vielen hundert Mitgliedern der Gesellschaft für freie Philosophie nur wenige Schüler werden können und so von den Tagungen heimzubringen den berechtigten Wunsch haben, was immer sich, vom Impuls der Schule der Weisheit, in den Körper allgemeiner Problematik hineingießen läßt. Ist dies viel, ist dies wenig? Dies hängt von den Zuhörern ab. Ein Impuls wirkt schöpferisch genau nur insoweit, wie er als solcher aufgenommen wird. Sie wollen doch alle verstehen, vom Verstehen zu besserem Leben, besserer Tat gelangen. So hören Sie mir denn bitte in solcher Weise zu, wie dies vom Schüler in seiner Individualbehandlung verlangt wird: rein aufnehmend, jeden Diskussionsgedanken fortscheuchend, von aller Stellungnahme absehend, bei keinem Stofflich-Sachlichen verweilend Vgl. hierzu den Aufsatz Von der einzig förderlichen Art des Aufnehmens im 2. Heft des Wegs zur Vollendung.. Stellen Sie sich dergestalt ein, dann, und dann allein, werden Sie von der folgenden, scheinbar rein sachlichen Erörterung beinahe Gleiches haben, als wenn ich auf die persönliche Problematik jedes einzelnen von Ihnen einginge. – Wenden wir uns nunmehr der Symbolik der Geschichte zu.

 

Es besteht, im allgemeinen, ein großer Unterschied zwischen der Art, wie Zeitgenossen und Nachgeborene die Geschichte beurteilen. Diese weisen allemal Geisteszusammenhänge auf, welchen das Faktische angehört, was doch voraussetzt, daß solche Zusammenhänge ein Wirkliches sind. Während die Zeitgenossen meist nur bedeutungslose Tatsachen sehen und, sofern sie politisch wirken, die Überzeugung haben, nur diese als solche kämen in Betracht; sie allein zu berücksichtigen, sei eben der Weg der einzig bewährten Realpolitik. Der Praktiker im Kleinen wird, in seiner Auffassung, auch selten widerlegt. Der lebt von der Hand in den Mund, und denkt er weiter, als sein unmittelbares Handeln verlangt, so fährt er meist nicht besser, sondern schlechter, weil eben seine besondere Tätigkeit keines weiteren Horizonts, keines höheren Standpunkts bedarf. Kurzsichtigkeit ist überhaupt kein reiner Nachteil: die Nähe ergründet das kurzsichtige Auge besser als das weitsichtige. Doch zu sehr außergewöhnlichen, großen Zeiten erweist es sich, daß die geistigen Zusammenhänge, welche der Historiker sonst erst nachträglich konstruiert, so tief ins konkrete Werden eingreifen, daß kein Tatsächliches ohne deren Erfassung verstanden und gemeistert werden kann. Das großartigste Beispiel aller Zeiten hierfür bietet die Epoche, die zu erleben wir das ungeheure Glück haben. Es ist völlig ausgeschlossen, den Weltkrieg und die aus ihm hervorgehende Weltrevolution aus den nachweisbaren Tatsachen als solchen heraus zu verstehen. Dagegen haben unglaublich viel einzelne, ja ganze Völker, trotz aller Tatsachen, von Anfang an und durch alle Wechselfälle hindurch vorausgewußt, was kommen mußte. Deutschland mußte geschlagen werden, so fühlten die meisten Erdbewohner. Warum? Daß sich die halbe Welt gegen Mitteleuropa verband, daß die zu allen Zeiten in solchen Fällen übliche Lügenkampagne in diesem einen so beispiellosen Erfolg hatte, daß zumal die wahnwitzige Unwahrheit von Deutschlands Alleinschuld am Krieg so allgemeinen Glauben fand, daß sie zur Grundlage eines ernstgemeinten Friedensschlusses werden konnte – diese Feststellungen erklären nichts. Warum traten diese Tatsachen ein? Sie traten deshalb ein, und zwar mit schicksalhafter Notwendigkeit, weil Deutschland, einerseits auf Grund seines wirklichen Zustands, dank einer langen Reihe eigener Fehler und Ungeschicklichkeiten, andererseits dank äußerst geschickt geformten und verbreiteten Entstellungen und Verleumdungen seitens anderer, für den weitaus größten Teil der Menschheit das Sinnbild dessen geworden war, was sie bei sich und anderen nicht mehr haben wollte. Die Ententeideologie – mit großartigem psychologischem Tief blick formuliert – konzentrierte auf sich tatsächlich die Sehnsucht der meisten Massen, auch innerhalb Deutschlands: deshalb ließen sich so viele Völker, ungeachtet der zu bringenden Opfer, zum Bündnis gegen dieses zusammenschweißen, deshalb herrschte auf dem halben Erdball Kreuzzugsstimmung. Jedes Volk kämpfte letztendlich für sein Ideal; die Niederlage Deutschlands erschien allen als der beste Weg zu dessen Verwirklichung. Deutschland als Tatsache kam dabei kaum in Betracht; seine Rechtfertigungen wurden aus den gleichen Motiven a limine abgelehnt, aus denen der köhlergläubige Christ, dem es einzig um sein Seelenheil zu tun ist, die Ergebnisse der Bibelkritik ablehnt; die meisten glaubten einfach, auch wenn sie einem Lande angehörten, das nicht das mindeste Interesse am Zusammenbruch Mitteleuropas haben konnte: wenn Deutschland nicht fällt, dann bleibt unser Ideal unverwirklicht. An dieser allgemeinen Stimmung ändert die ebenfalls unleugbare Tatsache nichts, daß jede einzelne der Ententeregierungen und sämtliche Drahtzieher drüben realste Ziele verfolgten. Deutschland war Sinnbild für etwas, was mit seinem Tatbestand an sich nichts zu tun hatte. – Aber ebendeshalb, weil es sich beim Krieg gegen Deutschland um eine symbolische Handlung handelte, rücken die imponderablen Mächte, welche letztlich die Geschichte bestimmen, seit 1918 unaufhaltsam – dieses Mal zum verständnislosen Staunen Frankreichs – aus dem Lager der Entente ab; denn seither wird einer stetig wachsenden Zahl von einzelnen und Völkern klar, daß es dieser, als politischer Kombination, mit ihren Idealen niemals ernst war, daß sich der Tatbestand mit dem Sinnbild nicht deckte, und daß ihr Idealismus von schlauen Geschäftsleuten aufs zynischeste ausgenutzt worden war. Dank der übergroßen Enttäuschung gingen die Imponderabilien zuerst ins allerradikalste, ins russische Lager über, denn der Pendel schlägt desto stärker aus, eine je heftigere Erschütterung ihm zuteil ward. Daß es in Rußland entsetzlich hergeht, daß das Moskauer Programm weniger als irgendein anderes bisher proklamiertes das Völkerleben tatsächlich auf eine idealere Grundlage stellt, ändert nichts daran – nicht mehr, als irgendwelche Tatsachen vor Versailles den Glauben an die Entente erschüttert haben –, daß das Idealbedürfnis der Menschheit seither seinen Brennpunkt in Moskau fand. Dort liegt er noch heute Diesen Vortrag hielt ich am 23. Mai 1921. Ich wiederhole hier nochmals, was schon in der Vorrede gesagt wurde, daß ich bei der Ausarbeitung der Zyklen die historischen und politischen Hinweise grundsätzlich so gelassen habe, wie ich sie seinerzeit gab, damit die praktische Voraussicht, welche Sinneserfassung ermöglicht, desto klarer zutage trete. Wer sich für meine Stellung zum Weltkrieg im besonderen interessiert, der lese in der richtigen Reihenfolge meine Aufsätze On the meaning of the War (Hibbert Journal, Oxford, April 1915), den ich im November 1914 schrieb, A philosopher's view of the war und Peace, or War Everlasting? im Atlantic Monthly (Boston) vom Februar 1916 (geschrieben August 1915) und April (geschrieben Januar) 1920, und vergleiche sie mit der im Juli 1918 verfaßten Broschüre Europas Zukunft, Zürich 1918, und mit den jetzt in Politik, Wirtschaft, Weisheit (Darmstadt 1922) gesammelt vorliegenden politischen Aufsätzen, die ich in Deutschland schrieb: er wird finden, daß ich meine Grundauffassung, trotz der wechselnden Verhältnisse, nie habe zu ändern brauchen. Freilich muß er dabei berücksichtigen, daß ich, als ich als russischer Staatsbürger in einer englischen Zeitschrift schrieb, aus taktischen Gründen manches anders fassen mußte. Um die englische öffentliche Meinung zu beeinflussen, mußte ich mich bis zu einem gewissen Grade auf ihren Boden stellen. Ähnlich steht es mit den in Amerika erschienenen Aufsätzen., denn jetzt bedeutet Moskau das Sinnbild für die Freiheit und Selbstbestimmung der Völker, die Emanzipierung der Armen, den Sturz der Plutokratie und des Ausbeutertums; wo es anders scheint, hängt dies mit der Ermüdung der Massen zusammen, die allen Idealismus verloren haben, oder ihrer Befriedigtheit dank momentan gestillter Gier. Deshalb ist mit Sicherheit vorauszusagen, daß der Bolschewismus durch die Entente nie besiegt werden wird und schon gar nicht durch die gegenrevolutionären Weißen. Aus seinem Symbolträgertum schöpft er so ungeheure Kraft, daß er allen Tatsachen zum Trotz der materiellen Übermacht widersteht und weiter widerstehen wird, bis daß Moskau aus einem der vielen möglichen Gründe aufhört, Symbolträger zu sein und die Fackel einem anderen weiterreicht, dessen Tatsächliches dem Sinnbild besser gemäß wäre, oder bis Vernunft die Leidenschaft ablöst auf unserem Kontinent, oder dieser schließlich, übermüdet, der unausbleiblichen zeitweiligen Reaktion verfällt. Diese Skizze zeigt Ihnen wahrheitsgetreu die tiefsten und eigentlichen Faktoren des Weltkriegsschicksals. Aus ihnen ergeben sich die besonderen Tatsachen, nicht umgekehrt. Erst mußte das Ententeideal siegen, darauf das von Moskau. Zum nächsten Sinnbild ist, wie ich anderweitig ausgeführt habe Vgl. die in Politik, Wirtschaft, Weisheit gesammelten Aufsätze Darmstadt 1922., Deutschland berufen. So absolut der traditionell-preußische Geist, mitsamt den sogenannten Ideen von 1914, jeder Werbekraft entbehrt, weil er keinerlei Verankerung mehr im Weltgeist hat, so sehr kann solche dem neuen Deutschland werden. Hoffentlich bringt dieses recht bald die moralische Kraft auf, seine Mission zu übernehmen. Doch wie dem auch werde: schon das bis heute Geschehene sollte den Stumpfesten einsehen lehren, daß die Geschichte ein geistiger Zusammenhang ist, und deshalb, gleich allem Geistigen, aus sich selbst allein, nicht aus den jeweiligen Tatsachen zu verstehen.

Die Geschichte stellt in der Tat, wie alle großen Historiker und Geschichtsphilosophen dies vorausgesetzt haben, einen geistigen Zusammenhang dar, und nur insoweit ist sie Geschichte. Der Naturprozeß als solcher hat jenseits seiner Tatsächlichkeit keinen Sinn. In der Geschichte jedoch strebt Geistiges seiner wachsenden Verwirklichung zu Vgl. hierzu meine Rede Vom Interesse der Geschichte in Philosophie als Kunst.. Deshalb postuliert jeder auf diesem Gebiet einen möglichen Fortschritt, zweifelt keiner ernstlich daran, daß das Geschehen einen Sinn haben muß. Weil es sich aber in der Geschichte um einen geistigen Zusammenhang handelt, sind alle Tatsachen notwendig zugleich Symbole, denn das Verhältnis einer Tatsache zu ihrem geistigen Sinn trägt, wie wir wissen, immer und überall symbolischen Charakter (vgl. S. 19 ff.). Auch das Bedeutende, d. h. das geistig Wirkliche an einer historischen Erscheinung, genau wie im Fall des Bedeutenden eines Gedankens, eines Gesichts, besteht darin, daß ihre materielle Tatsächlichkeit einen Sinn verkörpert. Daher ihr wesentlich Schicksalhaftes. Schicksal unterscheidet sich von der bloßen Begebenheit eben dadurch, daß man in jenem das Walten von Sinnvollem ahnt Vgl. hierzu mein Schicksalsproblem in Philosophie als Kunst.. Gewiß keines Vernunftgemäßen – beinahe jedes Schicksal ist, im Gegenteil, ausdrücklich unvernünftig –, aber eben eines Geschehens, welches geistige Gründe und Hintergründe hat, die dadurch nicht ungeistiger werden, daß man sie schwer durchschaut. Je bedeutender nun eine historische Erscheinung erscheint, desto mehr ist sie Sinnbild, desto mehr wird sie auch rein als solche beurteilt. Schon der Beamte, der Abgeordnete, vertritt etwas, welches mehr ist als er selbst, nur tut er es äußerlich; es besteht kein notwendiger Zusammenhang zwischen seiner Person und dem, wofür sie steht. In jedem Hochgestellten entsteht diese Verknüpfung auf die Dauer in höherem oder geringerem Grad, welcher Umstand den metaphysischen Rechtstitel erblicher Herrenstellung darstellt. Der repräsentative Mann wird auf die Dauer auch persönlich größer als der nicht-repräsentative. Im großen Mann nun fallen persönlicher und historischer Sinn tatsächlich zusammen. Hier hat jede Tatsache selbstverständlich weiteste Sinneszusammenhänge zum Hintergrund; was solch ein Großer denkt, sagt, tut, ist ipso facto Sinnbild, wird selbstverständlich so beurteilt. Bei den Größten geht dies so weit, daß von ihrem Leben und Wirken überhaupt nur Mythen und Legenden überliefert sind. Dies liegt daran, daß der sinnbildliche Charakter ihres persönlichen Lebens so in die Augen sprang, daß dessen Tatsachen so augenscheinlich nicht letzte Instanzen waren, daß schon die Zeitgenossen unwillkürlich nur Mythen erlebten, nur Mythen im Gedächtnis haften blieben. Denn der Mythos, im Gegensatz zur Chronik, ist primärer Sinnesausdruck.

 

Alle historischen Veränderungen, soweit sie wirklich historisch sind, tragen Bedeutungscharakter. Betrachten wir diesen Zusammenhang näher. Überall, wo ein Kulturwille herrscht, wo also Geistiges durch das Biologische hindurch nach Ausdruck strebt, entsprechen die Menschen, trotz aller Zufälle, auch an Talent und Anlagen den Anforderungen ihrer Zeit; je ausgesprochener und lebendiger deren spezifischer Geist, desto mehr und besser decken sich jeweilig Sinn und Ausdruck. So beweist denn der Historiker in jedem solcher Fälle nachträglich ohne Müh', daß im Großen alles genau so kommen mußte, wie es kam. Oberflächlich beurteilt, scheint dies nicht weiter verwunderlich: da jedes Zeitalter durch den Charakter der in ihm wirkenden Menschen bestimmt wird, so ist wohl klar, daß Zeit und Menschen sich entsprechen müssen. Allein die Notwendigkeit geht weiter, als sich kausal erschöpfend begreifen läßt. In unbedeutenden, routinebeherrschten Zeitläuften mag man wohl wünschen, daß interessantere Menschen erständen, und man mag sich auch ausmalen, was solche sagen und tun möchten – allein es gibt sie nicht. Zu anderen erwächst auf einmal eine ganze Flora solcher sonst umsonst Ersehnter, und diese Flora wirkt dann seltsam gleichsinnig, bei aller Verschiedenartigkeit, und unverkennbar zeitgemäß. Am auffälligsten offenbart sich dies zunächst dunkle Verhältnis im Fall des großen Mannes: ein solcher stellt sich immer dann nur ein, wenn er, theoretisch beurteilt, möglich ist, und bleibt er aus, so fühlt jeder Tiefere, daß dies seine guten Gründe hat Vgl. hierzu auch die Studien Zeitliche, zeitlose, ewige Geister und Das Schicksalsproblem in Philosophie als Kunst, sowie den Aufsatz Von der Bedeutung des Einzelnen in Politik, Wirtschaft, Weisheit.. Dies haben zumal alle großen Täter selbst gefühlt. Mag sich der Kleine und Mittelmäßige rein selbstherrlich vorkommen – jeder ganz Große hat sich, wie immer er sich den Zusammenhang deuten mochte, von den Sternen emporgetragen und beschirmt gefühlt und dies charakteristischerweise desto mehr, je mehr sein Erscheinen zufällig bedingt erschien, als bloß an seine überragende Persönlichkeit gebunden. Dies gilt von Cäsar, von Wallenstein, von den großen mongolischen Eroberern; dies gilt im höchsten Grade von Napoleon. Napoleon hat sich selbst, obgleich er die vielleicht selbstherrlichste und reinste Willensgestalt der Geschichte darstellt, durchaus als Kind des Schicksals beurteilt. Immer wieder hat er seiner Überzeugung Ausdruck verliehen, daß er ohne die gerade vorliegenden Massenbewegungen und Volksstimmungen nichts vermocht hätte; wäre er nicht geboren worden, dann hätte ein anderer die gleiche Rolle gespielt wie er. Er mußte wohl wissen, wie er's meinte. Was bedeutet nun dieses nie fehlende Schicksalsbewußtsein der ganz Großen? – Bismarck, ein weiterer tief Schicksalsbewußter, hat gesagt: »Der Mann ist genau nur so groß wie die Welle, die unter ihm brandet.« Dieses Wort, das der eiserne Kanzler auf der Höhe seines Ruhms zu meinem Vater sprach, als dieser, ein Student der Geschichte, die erste Quelle der Zeit nach dem Wesen historischer Größe fragte, weist den Weg zum Verständnis des ganzen Zusammenhangs. Die Schicksalskindschaft der historisch Großen bedeutet nicht, daß bestimmte Begabungen nur zu bestimmten Zeiten geboren werden, sondern daß bestimmte nur zu bestimmter Zeit entsprechende Bedeutung erlangen konnten. Nicht umsonst hat dieser oder jener Große oft jahrelang zu den ihn drängenden Freunden gesagt: meine Zeit ist noch nicht gekommen; nicht umsonst meint die Umwelt im Fall allzulange am Amte Klebender oft: dieses Zeit ist um; es wäre besser, er ginge; jetzt kann er nur mehr schaden, und damit begräbt er am Ende seinen Ruhm. Es ist wahr: nur zu bestimmter Zeit kann ein bestimmter Mensch, wie er ist, Großes bedeuten, denn nur zu bestimmter Zeit drückt sein gegebenes persönliches Wesen die Erfordernisse des Zeitsinns entsprechend aus. Es kommt auch hier auf den Bedeutungszusammenhang an, welcher die Tatsachen trägt, nicht diese selbst. Jenen kann man nur fühlen oder vorwegnehmen. Geschichtlich groß werden allein die Hochbegabten, welche zur rechten Zeit eingreifen. Die Bedeutung schafft den historischen Tatbestand, nicht umgekehrt. Die Natur als solche verändert sich durch Äonen nicht; ihr Gesetz ist das der Wiederholung. Auch die Rassen und Völker ändern sich der Anlage nach kaum, solange sie bestehen. Deshalb hat die Annahme alle Wahrscheinlichkeit für sich, daß die Begabungen unter noch lebendigen (nicht stagnierenden oder dekadenten) Völkern und Klassen durch die Jahrhunderte annähernd die gleichen bleiben, so wie es immer das gleiche Alphabet ist, vermittelst dessen man seine noch so verschiedenen Gedanken niederschreibt. Allein Bedeutung erlangt Begabung nur dann, wenn sie in ihrer Eigenart und Schaffensrichtung dem Sinn der Zeit entspricht. Daher die wechselnde Eigenart der Führer von Epoche zu Epoche. Heute wieder, wie zuletzt während des Untergangs der Antike, erlangen die Juden, trotz ihrer numerischen Schwäche, eine unbestreitbare Vormachtsstellung. Dies hat heute dieselben Gründe wie dazumal: einerseits liquidiert eine ganze Zeit, weshalb die zersetzende und im flüssigen Zustand wiederum verknüpfende jüdische Anlage sowohl im negativen wie im positiven Verstand als zeitgemäßeste erscheint; andererseits findet eine gegenseitige Durchdringung von Osten und Westen statt, was jener wiederum einen Vorsprung vor anderen sichert. Aus welcher Erwägung unter anderem die Torheit des Unterfangens folgt, die Vormacht der Juden durch deren Verfolgung zu brechen: dies bedeutet Ähnliches, als wenn ein Arzt Masern durch Schleichsche Crême kurieren wollte. Mögen die Germanen doch lieber dafür sorgen, daß recht bald ein neuaufbauendes Zeitalter anbreche, zugleich, sobald Führerschaft in Frage kommt, höhere Ansprüche an ihre eigenen geistigen und moralischen Fähigkeiten stellen: dann werden die Juden von selbst von der historischen Bühne abtreten; dies wäre ein besonders lehrreiches Beispiel dafür, wie das Böse durch Gutes überwunden wird, und so allein (vgl. S. 228) Vgl. über die selten beachteten positiven Seiten des Judentums Leo Baecks Wesen des Judentums (2. Aufl. Frankfurt 1922, I. Kaufmanns Verlag), über welches ich im 4. Heft des Weges zur Vollendung eine eigene Betrachtung angestellt habe, ferner die Broschüre R. N. Coudenhove-Kalergis Adel (Leipzig 1922, Verlag der Neue Geist). Sehr Beherzigenswertes enthält auch Oskar A. H. Schmitz Disraeli-Buch ( Die Kunst der Politik, München, Georg Müller Verlag) und Wilhelm Michels Verrat am Deutschtum (Verlag Steegemann, Hannover).. – Heute wieder, wie zuletzt während des Dreißigjährigen Kriegs, erlangen Kondottierenaturen Bedeutungsmöglichkeit – folglich werden sie historisch sichtbar; es gab deren zu aller Zeit, nur konnten sie nichts bedeuten. Eine ganz große dieser Art, welcher ich hier ein Denkmal setzen möchte, ist von den Bolschewisten leider gefangen und hingerichtet worden; sonst hätte sie höchstwahrscheinlich, als Tamerlan redivivus, dessen Horoskop ihr die Lamas zuerkannten, ein asiatisches Weltreich gegründet. Dies war der Baron Roman Ungern-Sternberg. In die Vorkriegszeit paßte er auf keine Weise hinein. Sein Wesen hing gleichsam im leeren Raum zwischen Himmel und Hölle; der höchsten Intuition und Güte fähig wie der grausamsten Tat, hatte er zu den Normen dieses verbürgerlichten Planeten gar kein Verhältnis. Aber als sibirischer und mongolischer Kondottiere hat er später Wunder gewirkt und wird drüben wohl Jahrhunderte entlang in den Liedern der Nomaden, welche er führte, fortleben. – Heute wieder finden blinde Fanatiker und sonstige Vertreter der Nachtseite des Lebens, welche es immer gibt, eine Bedeutungsmöglichkeit, die sie so seit den Tagen der Religionskriege nicht mehr hatten. Um Lenin, Trotzky, Dzershinsky, Clémenceau, Poincaré zu verstehen (man wundere sich nicht über die Zusammenstellung: die Extreme berühren sich), muß man trotz aller Unterschiede an Alba, Cromwell und Torquemada zurückdenken. So hat das Vorherrschen bestimmter Naturen zu bestimmter Zeit seinen guten Sinn: zu jeder können eben nur bestimmte etwas bedeuten. Hier wären wir denn beim Problem des großen Mannes wieder angelangt. Auch er erscheint immer nur dann, wenn er historisch möglich ist, und dies ist nur ganz selten der Fall. Damit nicht nur supreme Begabung, sondern ein großer Charakter sich im vollen Ausmaß seines Wesens auswirken könne, muß, um in Bismarcks Bilde zu bleiben, eine gewaltige Welle unter dem Manne branden. Solche erheben sich nur ausnahmsweise; gerade jetzt sind sie auf Jahre hinaus undenkbar, weil das Geschichtsmeer von so vielen Zyklonen und Taifunen auf einmal zerblasen wird, daß eine einheitliche Massenströmung sobald nicht resultieren wird. Und fehlt die Welle, so ersteht der Mann auch nicht, denn dieser erwächst in Wechselbeziehung zu seinem Schicksal. Die Stellung spielt beim sichtbaren Charakter eine solche Rolle, sowohl im Sinn der Entfaltung als dem der Auswirkung und Verdeutlichung, daß es buchstäblich falsch ist, einen Ohnmächtigen und einen Mächtigen empirisch gleichzusetzen: es mag einer, zur Macht gelangt, Eigenschaften offenbaren, die ihm vorher niemand, auch der Betreffende sich selbst nicht, zuerkannte. Ob der große Mann zur rechten Stunde notwendig kommt, ist eine andere Frage, aber man möchte sie beinahe bejahen aus der Erwägung heraus, daß es an großen Begabungen aller Richtungen grundsätzlich nie und nirgends fehlt, so daß irgendeine von ihnen jedenfalls, sobald die Betätigung ihr ermöglicht wird, zu Führerstellung gelangen müßte Ich weiß wohl, daß ich das Problem in einer Hinsicht gewaltsam vereinfache: Allergrößte hat es nur ganz wenige je gegeben, so notwendig sie dem Verstande zu aller Zeit erscheinen, und diese Seltenen waren einerseits vom empirischen Zeitgeist wie unabhängig (es erging ihnen meist sehr schlecht), legen andrerseits die Anerkennung astrologischer Zusammenhänge nahe, was immer diese letztlich bedeuten mögen. Aber die Allergrößten kommen für unser heutiges Problem nicht in Frage, zumal kein Staatsmann der bekannten Geschichte in ihre Kategorie fallen dürfte. Sehr große Begabungen gibt es fraglos zu aller Zeit. Die Klage über die besondere Mittelmäßigkeit der Menschen der unsrigen (die übrigens auch Schiller und Goethe über die ihre vorbrachten) ist dabei objektiv besonders unbegründet. Ich, mit meinen einundvierzig Jahren, bin Zeitgenosse von Ibsen, Tolstoi, Dostojewski, Turgenjeff, der chinesischen Kaiserinwitwe, Marquis Ito, Porfirio Diaz, Bismarck, Moltke, Hindenburg, Lenin, Gandhi, Tagore, Bernard Shaw, Anatole France, Richard Wagner, Nietzsche, Bergson, Rodin, Manet und vielen anderen gewesen, die mir im Augenblick nicht einfallen, aber dem einen oder anderen unter den Aufgezählten gewiß gleichwertig sind oder waren. Mehr bedeutende Leute gab es in der gleichen Zeitspanne vielleicht zu keiner Zeit.. Die Wahrscheinlichkeit seines rechtzeitigen Erscheinens und Eingreifens verstärkt der weitere Umstand, daß jeder einzelne seine Bildung und Entwicklungsrichtung vom Zeitgeist erhält ( dieser, wie er im geheimen schöpferisch wirkt, nicht die offizielle Routine bildet den Begabten, nur der Mittelmäßige wird vorzugsweise vom Sichtbaren beeinflußt), so daß die einer Zeit entsprechenden Geister und Charaktere beinahe automatisch in den Vordergrund rücken, während die Unzeitgemäßen zurückbleiben. Dieselben Journalisten, die im zaristischen Rußland nichts bedeuten konnten und jahrelang als zänkische Kannegießer im Ausland lebten, befanden sich dank dem Umschwung zu ihrer Aufgabe geradezu fachmännisch vorgebildet. Die Kadetten konnten in Rußland nie etwas bedeuten und werden es niemals tun, mögen die Westmächte sie noch so energisch stützen, denn der westliche Liberalismus entspricht keiner möglichen russischen Wirklichkeit. Daß ein Lloyd George jetzt in England die erste Geige spielt, und dieses gut, er, auf den noch 1914 alle damals führenden Engländer herabsahen, hat gleichfalls tief symbolische Bedeutung: nur dieser Typus des reinen Taktikers kleiner Herkunft und kurzsichtigen, aber überaus scharfen Blicks entspricht den Bedürfnissen und Möglichkeiten der neuen Zeit, die auch in England das Ende der alten Aristokratie und damit des weitvorausschauenden Planenkönnens mit sich bringt In seinem genialen Werk Les lois de l'imitation (5. Aufl. Paris 1907) hat Tarde das notwendige Gegensatzverhältnis zwischen Zeitaltern des Herkommens und Zeitaltern der Mode aufgezeigt; diese sind typischerweise ebenso kurzsichtig wie jene weitsichtig. »Quelque soit la forme de leur Gouvernement, les hommes d'état qui dirigent ces derniers temps, diffèrent à la fois des hommes d'état antérieurs par l'horizon très élargi de leur surveillance sur un plus grand nombre d'intérêts similaires simultanément soumis à des lois identiques, et par le regard très raccourci de leur prévoyance. On a vu jadis le roi féodal de l'Isle de France, resserré dans un domaine étroit, viser dès le début la formation séculaire de ce beau royaume de France et travailler péniblement à la poursuite de cet idéal futur. On a vu le roitelet de la petite Prusse sacrifier dans ses calculs le présent à un avenir impérial très éloigné que ses petits-enfants ont vu luire. Jamais, de nos jours, n'importe en quel pays, à commencer par l'Allemagne, une assemblée politique consentirait-elle à sacrifier un intérêt actuel en vue d'un bénéfice dont la seconde ou troisième génération après nous devrait seule profiter? Loin de là, c'est sur nos descendants que nous rejetons la carte à payer de nos emprunts et de nos folies.« (P. 388.) »Ce frappant contraste, cette sorte de compensation entre l'extension en surface ou en nombre et l'abréviation en durée,« wie Tarde das Verhältnis präzisiert, hat den übertriebensten Ausdruck, der sich überhaupt vorstellen läßt, in der Politik des Weltkriegs und seither gefunden.. Nur ein Augenblickspolitiker, der alles eher als ein Staatsmann ist, kann in Englands heutiger extrem labiler Lage eventuell auch staatsmännische Erfolge erringen. Heute ist persönliche Initiative und Taktik alles, weil die Welt verflüssigt ist. Dies allein schon erklärt die bisherige Überlegenheit der Ententepolitiker über die deutschen, deren Menschenbehandlungskunst keine parlamentarische Erfahrung ausgebildet hatte. Nun aber zum Problem des Auftretens besonders großer Begabungen in Erneuerungszeiten: auch dieses ist vom Sinn her leicht zu lösen. Der Führer bedarf es unter allen Umständen. Da nun unter den Routinierten nie solche zu finden sind, welche völlig neuen Aufgaben gewachsen wären, so betreten außerordentliche Talente zu solchen Zeiten leichter als sonst, trotz allen Neides und Hasses, der nie ausbleibt, den Weg zur Führerstellung, wie dies das bolschewistische Rußland besonders eindrucksvoll zeigt. Daß, umgekehrt, große Begabungen an der Spitze des neuen Deutschlands bisher so völlig fehlen, beweist eindeutig, wie wenig revolutionär das sogenannte revolutionäre Deutschland tatsächlich ist. Hier gibt es gar keine Welle, welche die Begabten hochtrüge. Deshalb erwies sich alles Revolutionäre von Bedeutung in diesem ordnungsfanatischen Land als materiell oder wenigstens geistig aus Rußland importiert.

 

Aber die Symbolik der Geschichte läßt sich noch weiter und tiefer im Wirrsal der Tatsachen verfolgen. Die Oberschichten Rußlands haben vollkommen versagt; nur unter den allerradikalsten Persönlichkeiten dieses Riesenlandes finden sich große Talente. Ebenso fehlt es innerhalb der reaktionären Kreise Deutschlands – wohl zu unterscheiden von den Konservativen –, soweit man sehen kann an jeder Begabung. Und unter den Dynasten beweist die Art, wie die Revolution und ihre Folgen auf sie gewirkt haben, daß die meisten tatsächlich reif waren zu ihrem Sturz. In China ist nun staatsphilosophischer Grundsatz, daß eine Dynastie nicht allein moralisch, sondern auch juristisch erledigt ist, sobald sie als Fähigkeit versagt. Dies ist wunderbar tief gedacht, wie das meiste in China, das sich auf die menschliche Gemeinschaft bezieht. Sobald nämlich eine historische Gestaltung keinen Sinn mehr hinter sich hat, dann ist sie wesentlich abgestorben; sie ist in der Lage eines Körpers, welchen das Leben verließ. Wohl mag sie sich jahrhundertelang trotzdem halten, wie das schon zu Mohammeds Zeiten erstarrende Byzantinerreich bis zum Ansturm der Türken bestehen blieb, weil in der Eigenbewegung der Natur als solcher kein Anstoß liegt, der eine Veränderung einleiten müßte: so mögen Sterne Jahrmilliarden entlang um die gleichen Mittelpunkte kreisen. Kommt aber ein Anstoß von außen, dann zerfällt die ganze Herrlichkeit mit einem Schlag. Dies erfolgt mit so ungeheurer Selbstverständlichkeit und wirkt auf die allermeisten, gleichviel wie sie persönlich stehen mögen, so sehr als Krisenlösung, daß schon kurz nach der Katastrophe kaum jemand mehr glauben mag, das Alte hätte jüngst erst gewaltige Macht verkörpert. Dies galt zu unserer Zeit vom zaristischen Rußland. Kaum war es gefallen, erschien es bereits allen Lebendigen als Unmöglichkeit, weshalb keiner, welcher Rußland nur einigermaßen kennt, an eine Restauration des Alten glaubt, was immer dort in Zukunft werden möge. Gleiches galt grundsätzlich, wenn auch in viel geringerem Grad, vom wilhelminischen Deutschland. Es lag kein Sinn mehr dahinter, d. h. seine Formen bedeuteten für das historische Bewußtsein nichts mehr, mochten sie, im übrigen, an sich noch so kräftig erscheinen. Warum aber bedeuteten sie nichts mehr? Weil die entsprechenden Erbanlagen, Lebensanschauungen, Gewohnheiten und eingefahrenen Willensrichtungen den geistigen Mächten des Zeitalters keinen möglichen Körper mehr boten. Seit anderthalb Jahrhunderten wird gegen die im Mittelalter unbeanstandete Kastenordnung angekämpft, und heute zerfällt sie wohl. Alle die, welche zählen, fühlen, daß dies in der Ordnung ist. Aber weshalb? Weil die natürliche Vererbung die Eigenschaften nicht perpetuiert, welche heute über die Bedeutung entscheiden. Heute kommt es auf Initiative, Überblick, Verstand, Geschmeidigkeit an – kein noch so großer Charakter ist ohne diese Eigenschaft fortan zur Führerschaft berufen Vgl. hierzu die Einleitung zu Politik, Wirtschaft, Weisheit, auch R. N. Coudenhoves bereits zitierte Broschüre Adel. Mit deren Inhalt identifiziere ich mich keineswegs, aber ich halte ihre Verbreitung für wichtig als Ferment. Gerade durch den berechtigten Widerspruch, den sie hervorruft, hindurch wird sie fortschrittsfördernd wirken. –, sie aber lassen sich, soweit unsere bisherige Erfahrung reicht, nicht züchten. Die Eigenschaften hingegen, die in der Ritterzeit den Ausschlag gaben, wie Mut, Charakterfestigkeit als solche, normale politisch-taktische Begabung, lassen sich wirklich züchten; deshalb hatte der Ständestaat seinerzeit Sinn. Nun bedeutet Sinn auf geistigem Gebiet das gleiche wie Leben. Sobald einer sein Dasein als sinnlos empfindet, hört sein Streben auf (vgl. S. 183). Dies drückt sich historisch so aus, daß die Klassen und Typen, die keinen Antrieb mehr hinter sich haben, erstarren; sie werden zum Äquivalent einer toten Sprache, eines toten Rituals. Sie erstarren auf die Dauer so sehr, daß selbst eine etwa vorhandene höchste Begabung den Weg zur Initiative in diesem Medium nicht findet, und wenn überhaupt, dann nur im Durchbrechen des traditionellen Rahmens. So standen zu wirklich revolutionären Zeiten die Begabtesten aus den alten Kulturschichten instinktiv auf der Seite der Erneuerung. Dies galt von Lafayette, Mirabeau, Talleyrand; es galt im höchsten Grad von Bismarck, dessen Einführung des allgemeinen Wahlrechts ein viel Revolutionäreres bedeutete als alles, was in Deutschland seit 1918 geschah; dies gilt im heutigen Rußland von Lenin, Lunatscharsky, Tschitscherin, von den großen Vorbereitern der Revolution, welche sämtlich dem Adel angehörten, zu schweigen. Die Völker- und Klassengeschichte bietet genau das gleiche Bild dar wie die der Kunst. Ein veralteter Stil findet auf die Dauer keine bedeutenden Vertreter; d. h. kein Begabter erwählt ihn, und wird er in ihn hinein geboren und durchbricht ihn nicht, so kann er nichts bedeuten (vgl. S. 55). Die Veränderung des Zeitsinns muß nun offenbar eine empirische Grundlage haben, und diese gilt es jetzt zu fassen, damit das bisher Erkannte uns nicht nur verstandesmäßig deutlich, sondern auch vorstellbar werde. Diese Grundlage hilft das Beispiel der Kunstentwicklung, an dem wir gerade halten, am besten bestimmen: diese erweist unzweideutig das Dasein eines kollektiven Unbewußten, jener zunächst mysteriösen Wesenheit, welche die analytische Psychologie postuliert, und die auch wir schon anzuerkennen gezwungen wurden (vgl. S. 56). Gustav Pauli hat gezeigt In Die Kunst und die Revolution, Berlin, Bruno Cassirer., wie der Kunststil immer um eine Anzahl von Jahren der Entwicklung vorgreift: ein neuer Zeitgeist offenbare sich am frühesten durch das Medium der Künstlerseelen hindurch. Man könne die führende Malerei deshalb als Barometer ansehen; die philosophischen, religiösen und politischen Veränderungen folgten unfehlbar, nur in langsamerem Tempo, den künstlerischen auf deren Wege nach. Dies bedeutet zunächst, daß die neueingreifenden Sinneszusammenhänge sich zuerst den empfindlichsten Organismen innerhalb jeder Generation offenbaren, welches eben die künstlerischen sind. Es bedeutet aber weiter, und darauf will ich hier hinaus, daß die Veränderung der geltenden Sinneszusammenhänge an einer entsprechenden Veränderung der Seelen ihren empirischen Ausdruck hat. Nur im Ausdruck wird Sinn ja wirklich; man versteht nur durch schon Verstandenes hierdurch, kann nur von bestimmtgegebener Basis her bestimmtes Neues schaffen (vgl. S. 268 ff.): die konkrete Wirklichkeit, welche die angeführten abstrakten Wahrheiten in diesem Fall betreffen, ist ein grundsätzlich gleichsinniger Seelenzustand bei allen Menschen einer gleichen Raumzeiteinheit. Im Oberbewußtsein mag nur Verschiedenheit zutage treten; das Unterbewußtsein aller ist gleichartig und hängt offenbar zusammen, denn sonst könnte keine nachweisliche Zeitgeisteinheit bestehen. Aus dieser Perspektive betrachtet, verkörpert die Geschichte eine unaufhaltsame Evolution des Unbewußten entsprechend den sich verändernden Bedeutungszusammenhängen; diese Evolution, von Generation zu Generation immer wieder überraschend, ist dasselbe, auf empirischer Ebene betrachtet, wie die Veränderung dieser; sie ist deren sinnlich greifbarer Ausdruck. Sie ist aber unaufhaltsam ebendeshalb, weil es sich um unbewußte Entwickelung handelt. Bewußte Entwickelung kann man durchkreuzen, unbewußte nicht. In diesem Fall schon gar nicht, weil sie Generationen auf einmal betrifft, die sich, sich selbst meist unbewußt, gegenseitig suggestiv beeinflussen. Hierher rührt, von der erkenntnistheoretischen abgesehen, die empirische Unmöglichkeit, historisch etwas zu bedeuten, wofern die Willensrichtung dem Zeitsinn nicht entspricht Noch ein Beispiel hierzu aus dem Gebiet der Kunst: Worringer behauptet, die bildende bedeute heute nichts mehr; was einstmals sie bedeutete, gälte jetzt vom universellen Buch – und hat wohl recht damit, trotz aller vorhandenen Talente. Er hat aber recht nur deshalb, weil die Bedeutung das Primäre ist. Folgerichtig sind die modernsten Maler typischerweise klug, im Gegensatz zu ihren ebenso typischerweise »tumben« großen Vorgängern, und neigen zur Literatur.: da jeder Sinn, um verstanden zu werden, entsprechend ausgebildete Verstehensorgane erfordert, so muß er machtlos bleiben, wenn er zum kollektiven Unbewußten der Zeit in keinem Korrelationsverhältnis steht. Jetzt leuchtet wohl ganz ein, wieso es möglich ist, den Geist einer Zeit aus reinem Symbolverständnis heraus richtig zu lesen: das Geistige ist die Seele des Empirischen (vgl. S. 27), und da es diesem gegenüber das Primäre darstellt, so irrt man sich viel schwerer, wenn man unmittelbar auf den Sinn und nicht auf den sich unter dem Einfluß äußerer Zufälle unaufhaltsam verschiebenden äußeren Ausdruck achtet. Wer den Sinn als solchen schaut, kann zweifelsfrei bestimmen, was auf die Dauer möglich ist – und Unmögliches verwirklicht sich nie. Wenden wir uns von hier aus zum Konkreten zurück. Der alte deutsche Staat brachte nicht allein keine namhaften Führer hervor – er konnte gar keine hervorbringen. Weshalb? Weil bei der geisttötenden und willensschwächenden Routine, die seinen Betrieb beherrschte, alle Männer von Initiative ins Wirtschaftsleben gingen. Dort wimmelt es entsprechend von Köpfen und Charakteren. In Rußland gewährt zunächst nur politischer Radikalismus vorhandener Begabung nicht bloß äußere, sondern sogar innere Ausdrucksmöglichkeit, denn alle Formen von früher her sind tot. Daher die völlige Aussichtslosigkeit für alle unverwandelten russischen Emigranten, je wieder etwas in ihrer Heimat zu bedeuten. In England erhält sich ein Mittelschlag an der Spitze, welcher in klugem Kompromißlertum eine Überstürzung der Entwicklung verhindert, entsprechend dem Tatbestand, daß das Britische Reich, das der Weltkrieg zweifelsohne mehr verwandelt hat als irgendein Land – denn das eigentliche England ist jetzt nur mehr ein englisch-sprechendes Gemeinwesen unter anderen, von denen bald die Jüngeren bedeutungs- und politikbestimmend sein werden – seine Wandlung langsam und stetig zu vollziehen in der glücklichen Lage ist. Nun aber Frankreich? Frankreich steht heute als reaktionärstes aller Länder da, und doch fehlt es dort nicht an Begabungen, im Gegenteil. Dies hat den folgenden Sinn. Frankreich stellt heute eine Insel dar aus alter Zeit inmitten einer neuen Welt. Als einziges Land Europas mit seinen lebendigen Wurzeln in die Antike zurückreichend, ist es zu ausgestaltet, um sich noch weiter zu verändern. Um dessen wieder fähig zu werden, wird es bedeutender Blutauffrischung bedürfen, die während des Weltkriegs möglicherweise auch schon stattgefunden hat, aber vor zwei Menschenaltern kaum historisch wirksam werden kann. So findet es in sich, wie es 1914-18 den Mut der Verzweiflung fand, seither den Antrieb, sich bis aufs äußerste zu verteidigen. Es ist insofern in gleicher psychologischer Lage, nur mit umgekehrten Vorzeichen gleichsam, wie ein aufstrebendes Volk – es will seine Welt der Welt oktroyieren. So verfolgt es gerade jetzt die altrömische, in Napoleon wiederverkörperte Tradition, wo dieser Geist seine europäische Äußerungsmöglichkeit verliert; so treibt es ganz folgerichtig reine Gewaltpolitik und will nichts, unter keinen Umständen, von Europas Erneuerung wissen. So mag es sich noch eine ganze Weile als künstliche Vormacht halten. Ereignet sich aber irgendeinmal ein Ausgleich zwischen den so verschiedenen Barometerständen Frankreichs und der übrigen Welt, dann wird es unaufhaltsam, wenn auch für sich selbst vielleicht lange unmerklich, in relative Bedeutungslosigkeit zurücksinken. Denn läßt es den neuen Weltgeist überhaupt in seinen Körper hinein, dann wird sich dieser als den neuen Aufgaben nicht mehr gewachsen erweisen.

 

Sie sehen, es sind wirklich geistige Zusammenhänge, welche die Geschichte bedingen und tragen. Wer jenen Sinn erfaßt, der kann nicht allein das Geschehen schon im Werden verstehen, wie dies dem Historiker allein dem Gewordenen gegenüber gelingt: der mag, ohne nur im mindesten Prophet zu sein, das meiste richtig voraussehen. Dies ist den jungen, durch den Weltkrieg zur Selbständigkeit gelangten Völkern in besonders hohem Grad gelungen – kaum eins von ihnen hat während der ganzen Zeit aufs falsche Pferd gesetzt –, weil deren Glieder, bisher an politischer Betätigung verhindert, auf Beobachtung und Gelegenheitsausnutzung angewiesen, in erwartender Versenkung auf die Zukunft allein bedacht, mit dem kollektiven Unbewußten und dem Zeitsinn in besonders nahem bewußtem Kontakt standen. Gewiß vermag keiner, der nicht Prophet ist Daß es tatsächlich ein Vorauswissen der Zukunft im prophetischen Verstande gibt, so selten es vorkomme, kann heute als wissenschaftlich erwiesen gelten. Man lese Charles Richets Traité de Métapsychique, Paris 1922, Felix Alcan. Aber zu erklären ist dies Vorauswissen mit unseren bisherigen Begriffen nicht., Tatsachen als solche vorauszusehen, denn deren Folge hat äußerlich-empirische Ursachen, und diese greifen, vom Sinn her betrachtet, meist zufällig ein. Dies gilt im höchsten Grad in demokratischen Zeiten, weil die geborenen Bewohner sozialer Niederungen, nun plötzlich zur Macht gelangt, diese vor allem fühlen wollen, was ihnen am besten so gelingt, daß sie gerade in für Millionen wichtigsten Fragen persönliche Motive überlaut mitsprechen lassen; die Launen der Könige und Königinnen waren nichts gegenüber denen moderner ministerieller Eintagsfliegen. Allein die grundsätzliche Voraussicht stört dies nicht: die Zufälle erlangen Bedeutung immer nur dann, wenn sie geistiger Notwendigkeit entsprechen. Deshalb bleiben die richtigen auf die Dauer niemals aus. Die russische Revolution vom Jahre 1917 brach zufällig herein, weil die Getreidezufuhr nach Petersburg eine Woche lang stockte und die Weiber deshalb auf die Straße strömten, auf welche die Soldaten nicht schießen wollten – aber bedeutsam wurde der Zufall allein, weil er längst Fälliges auslöste. Am Schicksal der Völker ist deshalb so viel Besonderes mit Sicherheit vorauszusehen, weil der Naturprozeß als solcher sich durch alle Zeit annähernd gleich bleibt, so daß die richtigen Zufälle ganz sicher auch eingreifen, wenn sie dem Sinn entsprechen; dies schon für das individuelle Schicksal gültige, nur nicht jedesmal nachweisbare Gesetz Vgl. hierzu mein Schicksalsproblem in Philosophie als Kunst. gilt für die Völker unbedingt, weil hier sehr lange Zeiträume in Frage stehen; für das Völkerleben bedingt es keinen Unterschied, ob eine sinngemäße Wende ein halbes Jahrhundert früher oder später erfolgt. So sah Bismarck den Zusammenbruch seines Werks schon mit dem Regierungsantritt Wilhelms II. unabwendbar kommen. So zweifelten Rußlands nationalst empfindende Kreise, die Nachkommen und Fortsetzer des Werks der alten Slawophilen – ich berichte aus persönlicher Erinnerung – schon 1915 nicht daran, daß der Weltkrieg mit dem Sturz der Romanoffs und dem Ende der petrinischen Epoche abschließen müsse; die Erneuerung werde von Osten her, nicht mehr dem mattgewordenen Herzen Rußlands kommen. So zweifelte kein Urteilsfähiger außerhalb Deutschlands schon lange vor der Revolution, daß dieses einen Koloß auf tönernen Füßen darstellte, während die Bolschewistenführer, kaum daß sie im Frühjahr 1917 nach Rußland heimkehrten, wie selbstverständlich die Parole ausgaben, nicht Deutschland sei der Feind der Völkerbefreiung – es sei im Gegenteil, trotz der momentan noch imperialistischen Fassade, die prädestinierte soziale Republik –, sondern Frankreich. Aus gleichem Sinnverstehen heraus sind seit Versailles die Weitblickenden in allen Ländern der erneuten Erhöhung Deutschlands, im Gegensatz zu Frankreichs unausbleiblichem Niedergehen, gewiß. Katastrophen bedeuten sehr wenig im langlebigen Völkerschicksal, es sei denn, sie schneiden die Entwicklung tatsächlich ab. Über den Fortbestand entscheidet für die Dauer allein die jeweilige Lebenskraft. Über die Bedeutung innerhalb der Völkergemeinschaft das Verhältnis zwischen Zeitsinn und Volksanlage, soweit die Vitalitäten und Initiativen sich wechselseitig die Wage halten; denn ein müdes, erschlafftes, feiges Volk hat niemals Zukunft, so begabt es sei. Sonst spielt noch die Routine eine schwer zu überschätzende Rolle. Die Trägheit ist auch unter Menschen, wie unter Sternen, die stärkste Macht. Was ein Volk jahrhundertelang zu denken und zu tun gewohnt war, woran die Völker jahrhundertelang geglaubt haben, hat unter allen Umständen, sofern es nicht sinnlos geworden und folglich abgestorben ist, mehr Zukunftsbedeutung als das in Konvulsionszeiten Geleistete. Verfolgung und Bedrückung kommt Lebenskräftigem auf die Dauer nur zugut. Im übrigen scheinen Revolutionen, wenn sie energisch genug waren, den Krankheiten anzugehören, die man nur einmal durchmacht, und die, überstanden, den Organismus in seinem Normalzustand gefestigt zurücklassen. So ist Frankreich heute das konservativste aller Länder, immuner als alle anderen gegen den Bazillus der Weltrevolution. Dementsprechend ist für die fernere Zukunft ein besonders konservatives Rußland zu erwarten – welche Erwartung aber nicht mit der seiner Emigranten zusammenfällt, daß das Vorrevolutionäre konserviert werden wird; zu Zeiten gewaltigster Umwälzungen bleibt im Großen nur Neugewordenes bestehen und vom Ererbten nur das, was indessen, so oder anders, neuerworben wurde, wodurch es in notwendige Beziehung zum neuen Zeitsinn trat. Tiefer Sinn liegt allem historischen Geschehen zugrunde. Weil der Mensch der unmittelbaren Sinneserfassung fähig ist, so vermag er nicht allein das Vergangene und Gegenwärtige zu verstehen, sondern auch das Kommende vorauszusehen.

 

Doch was ist es nun letztlich mit jenem geistigen Sinn, welcher aller historischen Erscheinung als Tiefstes schöpferisch zugrunde liegt? Grundsätzlich brauche ich die Frage nicht mehr zu beantworten; dies ist in früheren Aufsätzen und Vorträgen bereits geschehen. Wir wollen jetzt vielmehr vom früher Erkannten, auf Grund der neuaufgedeckten Zusammenhänge, unmittelbar weiter vordringen. Wo es sich um Einsichten handelt, welche dem vierten Sprachenstockwerk angehören (vgl. S. 31), gibt es nur einen Weg fortschreitender Verdeutlichung: die prinzipielle Wahrheit an immer mehr Sonderfällen zu erweisen. Sie ist ja ein Letztes, ihrerseits auf nichts zurückzuführen, deshalb durch Definition nicht näher zu bestimmen; sie ist wesentlich eine Perspektive – und Perspektiven bezeugen ihr Dasein durch das allein, was sie zu sehen gestatten; an sich sind sie unfaßbar. Sinn und Leben weisen letztlich auf Gleiches zurück; auf Grund der Erkenntnisse des dritten Vortrags unseres Eröffnungszyklus können wir weiter sagen: Sinn ist die Logosseite des Lebens, deshalb das letzte an diesem durch denkmäßiges Verstehen Faßbare, gleichviel, was es jenseits der Faßbarkeit noch sei oder bedeute. Deshalb muß, rein grundsätzlich betrachtet, auch aller historischen Erscheinung als Letztes Sinn zugrunde liegen. Wir stellten seinerzeit fest (vgl. S. 60), daß die Zweckmäßigkeit der physischen Organisation genau das gleiche bedeutet, wie die Artikulation der Sprache, die rhythmische Sinneseinheit eines Gedichts. Genau im gleichen Verstande ist die Geschichte sinnvoll. Alle historische Begebenheit trägt Schicksalscharakter, weil durch das Biologisch-Sinnvolle hindurch ein Tieferes nach Ausdruck ringt und im letzten bestimmt. Über die empirischen Vermittlungen zwischen den äußerlich sichtbaren Tatsachen und deren tiefsten Gründen will ich hier nicht mehr sagen, als im Zusammenhang mit dem Dasein eines kollektiven Unbewußten bereits geschah (vgl. S. 310), weil dieses Gebiet empirisch noch wenig erforscht ist, Beobachtung und Experiment allein zu einem exakten Begriff dieser Zusammenhänge führen können und mir, gleich Newton, am Fingieren von Hypothesen nichts liegt. Das kollektive Unbewußte Jungs bezeichnet, soweit ich urteilen kann, den vorläufig letzten nachweisbaren, noch nicht weiter zu zergliedernden noch näher zu bestimmenden Tatbestand. Durch dieses Medium äußert sich ein besonderes Geistiges, welches man Zeitgeist oder Zeitsinn heißen mag. Dieses Geistige ist genau so real wie der geistige Grund des individuellen Lebens. Aber da sein unmittelbarer Wirkungskörper nicht fest organisiert ist, wie dies vom individuellen gilt, und eine Unzahl verschiedener Einzelwesen in sich einschließt, so ist es, wie gesagt, kein für unsere Begriffe deutlich Faßbares. Es verschwimmt, verfließt, metamorphosiert sich phantomhaft im Raum und in der Zeit. Wirklich zu fassen ist es allein in der erlebten Kongruenz von persönlichem und überpersönlichem Wollen, wie dies der Große darstellt, welcher im Geist des ewigen Sinns die Aufgabe der Stunde erfüllt, oder allgemeiner und unpersönlich gesprochen: wenn einmal das jeweilig Absolut-Richtige geschieht. Dies geschieht bekanntlich sehr selten. Dafür wird uns an diesem Punkte der besondere Charakter der Geisteswirklichkeit, den wir schon oft hervorhoben, vollendet deutlich – deutlich nämlich nicht allein im Sinn des Begriffs, sondern der Anschauung. Geist realisiert sich nur durch persönliche Initiative hindurch; es bedeutet ein Mißverständnis, einen Sinn des Daseins nachzuweisen, den man nicht selbst in dieses hineinlegt; nur durch Verwirklichung des Himmelreichs auf Erden wird dieses wirklich – diese uns längst vertrauten Wahrheiten gewinnen am Bilde der Geschichte lebendigen Umriß und Farbe. In der Geschichte kommt das, was kommen muß, ausschließlich dann, wenn es persönlich gewollt wird. Ohne entsprechende Persönlichkeiten gelingt nichts. Irgendeinmal kommt es freilich, weil es irgendeinmal sicher gewollt wird und gerade die Stauung der geistigen Energie ein starkes Libidogefälle schafft; so wird das erforderliche Neue durch Krieg und Revolution bewirkt, falls Einsicht es nicht allmählich ins Leben einführte. Aber kommt es nicht rechtzeitig, so sind die Unkosten so groß, daß die Verwirklichung mit der Zerstörung zusammenfallen mag; so kann sogar verdichtete Luft als Sprengstoff wirken. Deshalb ist rechtzeitiges Verstehen die Grundbedingung historisch günstiger Wirkung. Durch den Logos allein bestimmen wir am Weltenschicksal mit. Hier nun kommt es vor allem darauf an, wie tief der Sinn erfaßt wird. Im Fall des persönlichen Lebens ist der Zusammenhang jedem übersichtlich oder könnte es doch sein. Wir hatten gesagt, daß der Sinn des Lebens sich auf der Ebene der Natur selbsttätig, vermittels der Vererbung, fortsetzt. Aber des Menschengeistes Wesen erschöpft sich nicht in der Sinngemäßheit seines psychophysischen Sinneskörpers: als den eigentlichen Sinn seiner selbst fühlt er ein Tieferes. Dieses nun realisiert sich nicht von selbst, nur des Menschen freies Wollen und Schaffen verhilft ihm dazu. So konnte Jesus nur dem Schächer am Kreuz den Himmel öffnen, der ihm entgegenkam. Besagte freie Mitarbeit ist nun aber des Menschen eigentliche Bestimmung, so oft er sie verfehlt. Wenn die bloße Erhaltung des Ererbten des Lebens Sinn erschöpfte, so müßte es vollkommen sinngemäß sein, zu leben, um zu essen, um sich zu unterhalten, um reich zu werden und Karriere zu machen, wie es so viele tun. Doch solche sind nie wahrhaft befriedigt, werden es desto weniger, je länger sie leben. Jeder weiß eben, ob er sich's eingesteht oder nicht, daß sein Leben, abgesehen vom Sinn, den es als solches darstellt, einen tieferen hat, und fühlt sich wahrhaft glücklich nur im Verhältnis zu dem, wie er diesem Ausdruck verleiht. Seine Befriedigung wird aber ihrerseits eine desto tiefere, auf je tieferen Sinn er sein Dasein zurückbezieht. Jeden drängt von innen her die Forderung: werde, was du bist; jeden treibt von innen her ein Gefühl des Sollens, gleichviel ob er ihm sein Ohr schenkt oder nicht. Aus der Summierung dieser Einzelpostulate ergibt sich nun die Forderung des Menschheitsfortschritts, welche völlig allgemein ist, gleichviel, ob die Menschheit tatsächlich fortschreitet oder nicht. Und hieraus erhellt der wahre und eigentliche Sinn der Geschichte. Der Sinn sollte immer tiefer erfaßt werden, die Menschennatur, die sich als solche gar nicht oder nur wenig ändert Dies gilt auch von den Rassen, weshalb kein Zweifel besteht, daß es nicht angeht, alle gleich zu behandeln und gleich einzuschätzen. Hier hat Gobineau dem Demokratismus gegenüber grundsätzlich recht. Der Fehler der bisherigen Rassentheoretiker liegt darin, daß sie nicht nur die Grundstämme des Menschengeschlechts, sondern auch die Rassen als ein Ewiges beurteilen. Diese alle sind irgendeinmal entstanden, bis zum Weltende werden immer wieder neue entstehen. Deshalb gilt es nicht, unabänderliche künstliche Grenzen festzusetzen, die allenfalls gegenüber gewissen Negern berechtigt sind, sondern durch bewußte Kreuzung immer höhere hervorzubringen. Ich persönlich zweifle nicht daran, daß der Eugenik eine ungeheure Bedeutung beim künftigen Fortschreiten der Menschheit zukommen wird. Es geht nicht an, daß das Beste an Blut wieder und wieder verdirbt oder ausgerottet wird. Der Dekadenz ist auch zweifelsohne vorzubeugen. Es muß und wird auf die Dauer gelingen, auch die Blutsbasis des Menschengeschlechts immer mehr zu verbessern. Nach einigen Jahrtausenden sollte es nur mehr Edelrassen geben, und zwar nicht etwa nur wenige herrschende, sondern ebenso viele, als es überhaupt Stämme gibt, denn aus jedem sind grundsätzlich solche hochzuzüchten., zum Ausdruck eines immer tieferen Geistes werden, denn Fortschritt gibt es nur nach innen zu, in der Dimension der Sinneserfassung: deshalb forschen wir bei allem Schicksal nach seiner Bedeutung, sind wir instinktmäßig überzeugt, trotz aller Gegenbeweise, aus der Geschichte lernen zu können und zu sollen. Innerhalb gewisser Grenzen, in bestimmten Hinsichten ist nun die Menschheit tatsächlich vorwärts gekommen. Durch entsprechende Gestaltungen, welche naturartig, in nur wiederholender Wiederbelebung, dauernd fortleben, sind fortschreitend tiefere »Sinne« dem Geschehen objektiv eingebildet worden, so daß heute jeder, der Möglichkeit nach, von einer tieferen Sinneserfassungsstufe ausgehen kann (vgl. S. 268 ff.) als der antike Mensch. Der christliche Impuls hat die Welt doch objektiv verändert, indem, trotz aller persönlicher Unvollkommenheit, gewisse Einsichten, Gefühle und Entschlußarten zu Selbstverständlichkeiten geworden sind; der Verstand hat die Naturmoira überwunden, das Leben, durch selbsterschaffene Institutionen, deren Sinn einer höheren Einsichtsstufe angehört, in bessere äußere Bahnen eingeschient, die nur noch Ausnahmezustände auf kurze Zeit zerstören. Dementsprechend besteht heute die objektive Möglichkeit, das Sokrates-Problem zu lösen, das Leben von der Erkenntnis her neu zu formen, und zwar von einer tieferen Erkenntnis her, als solche je früher bestimmend ins Leben eingriff. Aber hier handelt es sich immer nur um innere und äußere Möglichkeiten, welche auszunutzen in jedem Fall der persönlichen Initiative vorbehalten bleibt; wo diese nicht einsetzt, herrscht, trotz aller äußeren Zivilisation, Barbarei, trotz alles Wissens Oberflächlichkeit. Deshalb ist die Linie des faktischen Fortschritts sehr schwer zu verfolgen. Die Auffassung, die einen Menschheitsfortschritt leugnet, erscheint durch die Erfahrung zweifelsohne besser gerechtfertigt als die der (heute freilich beinahe ausgestorbenen) Spencerianer. Dennoch findet ein langsamer, sehr langsamer wesentlicher Fortschritt ebenso zweifelsohne statt, in dem (einzig gültigen) Verstande zwar, daß fortschreitend tiefere Geistesmächte dem Geschehen dauernd eingebildet werden. Im Fall des Einzelnen, welcher ernstlich und unentwegt nach Vollendung strebt, gelingt es leicht, den Fortschritt zu verfolgen. In dem der Geschichte, woselbst der Kollektivgeist der Menschheit am Werk ist, schon deshalb äußerst schwer, weil hier die fraglichen Ausdrucksmittel des Geistes gar zu vielfältige sind. Hier spielt die Trägheit der Natur im höchsten Grade mit; die Endlichkeit aller Vererbungsreihen, die Blindheit der Gefühle und Leidenschaften, kosmische Zufälle, ungeheuere mechanische Wirkungen kleinster Ursachen mögen die Entwicklung durchkreuzen; ein großer Mann mag zu früh sterben, ein Volk vorzeitig erstarren. Aber auch in diesen Fällen ist nicht das Versagen die Hauptsache, sondern vielmehr die Erkenntnis, daß die entscheidenden Zufälle durch tiefere Sinneserfassung, welche ihrerseits Voraussicht ermöglichte, um ihre Bedeutung hätten gebracht werden können. So können wir von der Geschichte vielleicht am meisten lernen, wo sie ungünstig verlief: man lernt aus ihr, was man hätte vermeiden können und sollen, und aus dem »Wie« des Verfehlens ergibt sich indirekt das »Wie« künftigen Bessermachens. Die Antike hätte nicht so vollständig zugrunde zu gehen gebraucht, sie tat es nur, weil die Einsicht damals zu gering war, um den Naturprozeß zu korrigieren; dem Weltkrieg war vorzubeugen, der Bolschewismus hätte nicht zu einer alle Kultur bedrohenden Macht erwachsen müssen, in Versailles ein Frieden diktiert werden können, der eine bessere Welt begründete, anstatt die alte vollends zu verderben. Doch auch der Sieg des Unsinns ist niemals ohne Sinn – ohne einen tieferen Sinn, meine ich, als den, daß die jeweilig Handelnden ihre Sache schlecht gemacht haben: unter gegebenen Inferioritätsverhältnissen bedeutet er das einzig Sinngemäße. Meist steckt sogar hinter momentaner Inferiorität eines Unterliegenden tiefere Bedeutung. Wenn bald das eine, bald das andere Volk die Führerschaft erlangt, so hat dies, trotz aller nur möglichen Machtzufälle, genau wie im Falle des Sieges dieser oder jener Weltanschauung, in der Regel doch die Bedeutung, daß ein bestimmter Körper dem Sinn des jeweiligen Fortschrittsstrebens die beste Ausdrucksmöglichkeit verleiht, denn in vitalem, nicht moralischem Verstände ungerechte Entscheidungen rufen so starke Reaktionen hervor, daß es nie dauernd bei ihnen bleibt; geht eine Kaste, ein Volk unter, ohne daß es sich um physische Ausrottung handelt, so bedeutet dies fast immer, daß kein Sinn mehr hinter ihm steckt. So ist es, trotz aller empirischen Zufälle, doch das Streben der Menschheit im Menschen nach immer vollkommenerem Ausdruck, das sich an erster Stelle in der Geschichte manifestiert; nur ist dieses Streben eben ein stotterndes, durch Perioden des Schlafs und der Aphasie unterbrochenes. Sinn hat die Geschichte immer; die Weltgeschichte ist immer zugleich das Weltgericht, und ihr Geschehen immer symbolisch. Insoweit hatte Hegel mit seiner Lehre recht, daß sich die Welt im Menschen selber denkt.

II. Politik und Weisheit

Hegel hatte Recht, so schlossen wir gestern, mit seiner Lehre, daß sich die Welt im Menschen selber denkt. Wir wissen aber auch, von der Gesamtheit der bisherigen Beobachtungen her, inwiefern er Unrecht hatte. Unrecht hatte er in seiner Auffassung, daß Fortschritt notwendig stattfindet. Die Welt der Geschichte, als der des bewußten Lebens, gehört ganz und gar dem Reich der Freiheit an. Deshalb braucht nichts, was über die Mechanik des Karma hinausführt, zu bestimmter Zeit zu geschehen, kann jedes Schicksal verdorben werden. Nach Goethe gleicht der Weg des Fortschritts einer Spirale: den Kreislauf der Natur aufzuheben, vermag kein Geist, er kann jenen jedoch stetig auf eine etwas höhere Ebene hinauf heben. Dies gelingt durch Zurückbeziehung desselben auf andere Bedeutungszentren. Wenn der Weise über dem Schicksal steht, so hängt dies damit zusammen, daß die Zufälle, welchen er, wie jeder andere, ausgesetzt ist, in seinem Fall so anderes bedeuten, wie deren Eigen-Sinn entspricht, daß sie eben dadurch machtlos werden. Im gleichen grundsätzlichen Verstände sprachen auch die Astrologen dem Menschen Freiheit zu. Wohl mag es sein, daß die Begebenheiten der Zukunft wie der Vergangenheit in der Zeit genau so präexistieren, wie die Landschaft, welche der Reisende im Zug nur in Form einer Bilder folge erlebt, weshalb dieser, wenn er nichts anderes kennte, zum Glauben alle Ursache hätte, daß auch sie in einer Zeitfolge besteht; wohl mag es demgemäß sein, daß die Begebenheiten des Lebens im Lauf desselben nicht eigentlich entstehen, sondern daß wir in Wahrheit in dieselben hineinreisen Dies ist die Auffassung Sir Oliver Lodge's. Inwieweit ein Vorauswissen der Zukunft ausnahmsweise unzweifelhaft statthat, darüber lese man Charles Richet's Traité de Métapsychique, Paris 1922, nach.. Aber je nach unserer Stufe bestimmen andere Bedeutungszusammenhänge von innen her, weshalb kein Schicksal buchstäblich unentrinnbar ist; das bißchen Freiheit, über das wir verfügen, genügt zum Treffen solcher Entscheidungen, daß kein Planet uns ganz beherrscht. Auch das Horoskop betrifft nicht eigentlich den Sinn, sondern die Sprache (vgl. S. 70), weshalb es kein Wunder ist, daß dasjenige mancher Größter ein ausgesprochen ungünstiges war, da gerade empirische Schwierigkeit ihre tiefsten Geisteskräfte, die keinen Sternen gehorchen, zur Wirksamkeit berief. Unsere äußere Schicksalsgebundenheit ist grundsätzlich die gleiche und faktisch geringer, als die durch Anlage, angeborene Stellung und den allgemeinen physiologischen Prozeß, welche niemandes Freiheitsbewußtsein beeinträchtigen. Aber die das Schicksal bessernden Entscheidungen müssen wir eben selbst treffen; kein Schöpferimpuls verwandelt die Natur, der nicht aus persönlicher Initiative hervorginge. Und die nötigen Entscheidungen sind tatsächlich gar selten bisher getroffen worden; noch ist auch unter Menschen die Trägheit oberstes Gesetz. Theodor Lessing hat in seinem Buch über die Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen (München 1920, C. H. Beck), das ich allen Gläubigen des automatischen Fortschritts empfehle, gezeigt, wie der Un-Sinn fast immer bisher gesiegt hat; die nachträglichen Deutungen auf einen erzielten Fortschritt hin, meist von gerade Erfolgreichen in der öffentlichen Meinung festgelegt, bedeuteten fast immer Verfälschungen. Umsomehr ist unsere Aufgabe, den wahren Sinn zu erfassen und von seiner Erkenntnis her mit aller Kraft an seiner Verwirklichung zu arbeiten. Wir dürfen nicht länger vergeblich geistige Wesen sein. Bei unserem heutigen Bewußtheits-Zustand ist Blindheit unmittelbar Sünde, ist es nur gerecht, wenn Mißverstehen sich so grausam rächt, als handele es sich um schlimmste Verbrechen. Die Geschichte erkennt die Normen der Bürgermoral nicht an; wer nicht versteht, und sei er sonst der gesinnungstüchtigste Mann, darf nie mehr führen. Insofern ist das Weltkriegsschicksal, tief erfaßt, das grandios gerechteste, das es je seit biblischen Tagen gab Vgl. hierzu die Einleitung und den Aufsatz Deutsche Dämmerung in Politik, Wirtschaft, Weisheit.. Aber grundsätzlich brauchte es auch nicht mehr vorzukommen, daß der Unsinn siegte. Auch jene scheinbar völlig blinden Kräfte, die unaufhaltsame Massenbewegungen schaffen, haben einen tiefen geistig-seelischen Hintergrund; auch sie sind, vom Sinn her betrachtet, in ihrem Walten niemals ganz im Unrecht. Anstatt sich über sie zu entrüsten oder ihnen feige zu folgen, sollte man versuchen, diesen Sinn in seiner Tiefe zu erfassen und die blinden Kräfte eben dadurch zu meistern. Unmöglich ist dies nie. Deshalb hat einer Betrachtung über die Symbolik der Geschichte an dieser Stätte eine solche über Politik und Weisheit notwendig zu folgen. Da kein Fortschritt von selbst stattfindet, da nur Initiative vom Sinnverstehen her ihn einleiten kann, so gilt es jetzt, den allgemeinen Weg möglicher Sinnesverwirklichung, an der Hand unseres besonderen Themas, grundsätzlich zu bestimmen.

 

Überfliegen wir in der Erinnerung die geistigen Grundlagen des Geschehens, wie dieses sich uns an den gestern behandelten Tatbeständen darstellte, und suchen wir deren Bedeutung genauer zu bestimmen. Da fällt uns auf, daß das Geistige, welches überall das Materielle trägt, zunächst nichts Tieferes darstellt, oder wenigstens darzustellen braucht, als das, was man öffentliche Meinung heißt. Wenn zuerst die Entente unerhörte Werbekraft besaß, und später Moskau, so hat dieser Umstand zunächst keinen tieferen Sinn als den, daß die öffentliche Meinung sich an deren Ideologien orientierte. Nun liegt auf der Hand, wie wenig solche wert zu sein braucht. Meist war es, nach dem Buchstaben beurteilt, reiner Wahn, der die gewaltigsten Bewegungen entfesselt hat. Die Pflicht, die Heiden durchs Schwert zu bekehren oder zu vertilgen, erscheint uns heute als entsetzlicher Aberglaube – und doch war deren Anerkennung die Auslöserin jenes wunderbaren Idealismus, der in den Kreuzzügen seinen Kulminationspunkt fand. Der Deutschenhaß war die mächtigste Triebkraft des Weltkriegs, wird die Geschicke vielleicht noch lange weiter bestimmen, und doch handelt es sich bei ihm um einen Irrwahn, deren es nie einen ärgeren gab. Deshalb darf der, welcher die geistigen Imponderabilien richtig einschätzt, zunächst nur als Realpolitiker dem anderen als überlegen gelten, der nur die äußerlich sichtbaren Tatsachen, wie materielle Macht und zahlenmäßig als zweckmäßig Erweisbares, berücksichtigt. In der Tat kann nicht behauptet werden, daß die Alliierten, während des Kriegs, eine geistigere Politik als die Deutschen getrieben hätten: sie waren nur realdenkender, insofern ihr Handeln einem weiteren Umkreis des Wirklichen, in richtigerer Beurteilung der Gewichtsverhältnisse, gerecht wurde. Gäbe es daher kein Jenseits der öffentlichen Meinung – ich brauche das Wort wieder als Gattungsbezeichnung für alles Verwandte –, so hätte tatsächlich nur Realpolitik im üblichen Verstände Sinn und Idealen wohnte kein tieferer inne als der, geschickten Taktikern zum Mittel zu dienen. So haben die allermeisten Staatsmänner, was immer sie öffentlich bekennen mochten, die Ideale im Stillen auch beurteilt, und ich wüßte nicht, daß ein tief genug blickender Opportunist durch die Erfahrung jemals widerlegt worden wäre. Oberflächliche werden es in der Regel; tiefere deshalb nie, weil sie die Ideale als Kräfte unter anderen in ihre Rechnung einstellen und so aus Opportunismus erforderlichenfalls auch Ideale verwirklichen. Auf diesem Wege ist England so weit vorangekommen. Realpolitikerarbeiten eben grundsätzlich mit vorhandenen Mitteln, auf greifbare Ziele hin. Demgegenüber läßt sich das typische Scheitern aller ideologischen Politik durch die eine Erwägung erschöpfend erklären, daß diese mit nicht vorhandenen Mitteln arbeitet, auch wo ihr Ziel kein chimärisches ist. Sie geht typischerweise von einer unzutreffenden Vorstellung des Kräftezusammenhangs aus und glaubt überdies an eine Macht der abstrakten Ideen, welche diese als Abstraktionen nicht haben. Unsere Pazifisten verkennen die europäische Raubtierhaftigkeit, unsere Sozialisten, daß die Verwirklichung ihres Ziels einen unverhältnismäßig höheren moralischen Zustand voraussetzt, als solcher heute herrscht, die Internationalisten, daß es Europäer, die notwendige Voraussetzung von Europas Vereinigung, zunächst nur einige wenige gibt. Ideologen täuschen sich typischerweise über die wirklich vorhandenen Kräfte. Deshalb wurden sie durch alle Geschichte von den reinen Opportunisten besiegt. Besiegt gerade darin, daß diese Besseres, Idealnäheres erzielten.

Aber mit dieser Feststellung ist die Frage doch nicht erledigt. In der Tat genügt ein kurzer Rückblick in der Erinnerung auf unsere gestrigen Betrachtungen zur Erkenntnis dessen, daß unsere heutigen sich zunächst an der Oberfläche bewegen. Das kollektive Unbewußte, dessen Charakter die Grundlage des Zeitgeistes darstellt, ist ein tieferes als die öffentliche Meinung, welche meist künstlich erzeugt und nur in der Oberfläche verwurzelt ist. Der Zeit-Sinn ist die jeweilige Seele jenes, deshalb eine schöpferisch-geistige Macht. Eben deshalb muß es sich auch bei den Idealen um Wesenhaftes handeln; deren Sinn erschöpft sich keinesfalls darin, geschickten Taktikern zum Mittel zu dienen. Es ist auch nicht wahr, daß die Ideologen, deren praktische Politik regelmäßig scheitert, deshalb ohne politische Bedeutung wären: sie versagen nur notwendig als Verwirklicher ihres Ideals. Daß die bewußt unpolitischen Idealisten, die, sei es als Bahnbrecher, sei es als einfache Soldaten, sich selbst ihrer Idee zum Opfer bringen, zu den nicht allein edelsten, sondern auch praktisch wichtigsten Faktoren der Geschichte zählen, brauche ich nicht erst zu begründen: die Zeugen für eine Wahrheit, zumal die Blutzeugen, machen diese allererst bekannt und zur werbenden Macht. Aber die echten Idealisten gehören in eine Betrachtung über Staatskunst nicht hinein; kein Idealist war als solcher überhaupt in erster Linie auf praktischen Erfolg bedacht, was des Staatsmanns eine Sorge sein muß; er wollte sich in erster Linie opfern. Worauf es hier nun ankommt, ist, daß auch ideologische Politiker, also die Zwischenglieder zwischen Bekennern und Praktikern, nicht ohne politische Bedeutung sind. So kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Rousseau, Proudhon und Marx, trotzdem deren Utopismus abschließend bewiesen werden kann, in der Geschichte letztendlich eine entscheidendere Rolle gespielt haben als alle Realpolitiker seither, denn von ihnen ging ein großer Teil der realen Kräfte aus, welche den letzteren letzte Instanz waren. So hätte alle taktische Geschicklichkeit der Entente« und Bolschewistenführer zu den erfolgten großen Ereignissen nicht geführt, wenn den Idealen, mit denen sie operierten, nicht gewaltige Kräfte innegewohnt hätten. Deshalb geht es doch nicht an, die Vertreter großer Ideale als Ideologen verächtlich abzutun, bloß weil sie unzweifelhaft sehr schlechte Politiker waren. – Den Schlüssel zur Lösung des Problems bietet die Erfahrungstatsache, daß jeder tiefe Glaube unenttäuschbar ist. Die wahrhaft liebende Frau glaubt an den Mann, die Jüngerschaft an ihren Heiligen, der wilde Stamm an seine Zaubervorstellungen durch alle seinen Glauben widerlegenden Tatsachen hindurch; dieser wird durch Angriffe, Widerstände und Widerlegungen in der Regel sogar gestärkt. Dies scheint zunächst rätselhaft. Es erklärt sich aber restlos aus der Erwägung, daß idealer Glaube aus einer tieferen Wesensschicht hervorgeht, als der des Beweisbaren, sich auf Tieferes bezieht und am jeweiligen Objekt nur seinen Exponenten hat. Er geht unmittelbar auf Sinnhaftes, was Frauen meist so ausdrücken, daß das Schlechte, das man dem geliebten Manne nachweist, nicht dessen wahres Selbst tangiert, Gläubige ad absurdum geführter Götter meist so, daß man deren wahre Absichten nicht kenne Vgl. hierzu Lévy-Brühls höchst bedeutsame Studie Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures, Paris 1910, deutsch bei J. Braumüller, Wien und Leipzig 1921.. Deshalb müssen gerade Gegenbeweise ihn im Bewußtsein stärken, weil der Gläubige zu seiner freudigen Überraschung an sich erfährt, daß diese das, was er meint, überhaupt nicht treffen. In jener tieferen, sinnhaften Wesensschicht nun haben alle Ideale ihren ideellen Ort. Sie sind, wofern Kräfte von ihnen ausgehen, unter allen Umständen, gleichviel, wie es mit ihrer theoretischen Wahrheit beschaffen sei, Exponenten des tiefst-Geistigen im Menschen, welches jenseits der Erscheinung lebt. Deshalb sind sie tatsächlich unwiderlegbar. Deshalb allein erzeugen sie Heroismus und Opferlust. Diese müssen unter allen Umständen aus überempirischem Drang hervorgehen, denn im empirischen Zusammenhang erscheinen selbst die höchsten absurd. So haben auch die großen Fortschrittsideen, von Utopisten in die Welt gesetzt, durch Erfahrung jederzeit zu widerlegen, ihren Quell im tiefsten geistigen Wesensgrund. Von diesem her wird der Glaube an sie immer wieder gespeist. Deswegen kommt Mißerfolg ihnen nur zugute. Deshalb handelt es sich bei den weltbewegenden Ideologien, die sich an jenen orientieren, möge ihr jeweiliger Buchstabe noch so anfechtbaren und lebensunfähigen Charakter tragen, um ein tatsächlich Tieferes als das, was man öffentliche Meinung heißt: diese ist vielmehr, in ihrer jeweiligen Ideal-Orientiertheit, ein unvollkommenes Ausdrucksmittel des eigentlichen Strebens. So eroberte das Christentum den Westen durch unzählige sich widersprechende Ideologien und Dogmen hindurch. Die Homousier und Homoiusier, Athanasier und Arianer, Katholiken und Protestanten bekämpften sich nicht deshalb so bitter, weil beider Buchstabe ein verschiedener war, sondern weil beide die gleiche Wahrheit meinten und nicht verstehen konnten, daß solche Gleichheit Verschiedenheit der Ausdrucksart nicht ausschließt; nur Wahrheitsbewußtsein entzündet und erhält den Mut zum Kampf. Der Wille, ein Ideal zu verwirklichen, allein ermöglichte das Wunder der Kreuzzüge; tiefstgeistiges Fortschrittsstreben war die eigentliche Triebkraft des Weltkriegs, wie vorher der französischen Revolution. Man kann mehr sagen: so viele Kriege an realistischen Erwägungen durchtriebener Techniker ihre empirische Ursache hatten – Großes ist dann allein zustandegekommen, wenn ein Ideal die Völker von innen her trieb, und zwar kein Wahngebild, sondern ein dem wahrhaftigen Wesen gemäßes, denn nur realisierte Tiefe beschwört die stärksten Lebenskräfte zur Wirksamkeit (vgl. S. 185). So hat die Tatsache, daß Deutschland im Weltkrieg nicht durchhielt, ihre wahre Ursache daran, daß kein tieferes wahrhaftiges (nicht, wie die sogenannten Ideen von 1914, ein erfundenes, vorgespiegeltes) Ideal als das der Vaterlandsverteidigung das Volk beseelte; denn bloße Eroberungsgier entflammt vielleicht Tartaren, niemals Deutsche. Also handelt es sich bei jenem Geistigen, welches der sichtbaren historischen Erscheinung zugrunde liegt und seinen Exponenten an den geltenden Idealen findet, nicht etwa bloß um ein psychisches Imponderabile, als welches die Realpolitiker es ansehen, sondern um die tiefste historische Triebkraft; die jeweiligen konkreten Gesinnungen spiegeln diese nur abgeschwächt wider. Daß dem tatsächlich so ist, erhellt vollendet deutlich aus der Möglichkeit des Wechsels der Brennpunkte der Massensehnsucht (Entente – Moskau – Deutschland), von dem wir gestern handelten. Es ist eben ein gleiches Ideal, zu dem die Menschheit sich bald in dieser, bald in jener Verkörperung bekennt. Von hier aus besehen, wird einem nun auch der praktische Fehler der Ideologen vollends deutlich: es ist, so seltsam dies klinge, grundsätzlich der gleiche, den die oberflächlichen Realisten begehen. Auch der Ideolog glaubt nicht an das Geistige an sich, das ewig-Lebendige, unsterblich Wandelbare, jeden Augenblick Schöpferische, sondern an eine bestimmte Verkörperung seiner; nur handelt es sich dieses Mal um keine konkrete, sondern eine abstrakte. Und da solche starrer und unlebendiger ist, als jede nur mögliche konkrete, und am gegebenen Leben gar keinen Halt hat, so erweisen sich Ideologen als Politiker meist noch äußerlicher, als die Opportunisten. Sie beachten schließlich nur noch das Programm, das Bekenntnis, das Zusammenstimmen des Handelns mit der Theorie und übersehen deshalb vollständig alle tieferen Kräfte, über deren vorausgesetzten Zusammenhang sie Vorurteil entscheiden lassen. Auf diese Weise gelangen wir zum paradoxalen Ergebnis, daß Ideologen und oberflächliche Realisten recht eigentlich einander wert sind. Es ist gleich oberflächlich, die bloße Materie wie die abstrakte Idee als ausschlaggebende reale Macht zu beurteilen. Ideologische Politik führt sich jedesmal schnellstens ad absurdum; oberflächlich opportunistische langsamer, jedoch nicht minder sicher. Opportunismus ergibt notwendig Inkonsequenz, und irgend einmal wird der kritische Punkt in jedem Fall erreicht, wo die Inkonsequenz einer herrschenden Mehrheit bewußt und folglich auch zu viel wird. Diese Erwägungen enthalten aber auch implizite die Antwort auf die Frage, welcher Staatsmann allein Dauerndes zu leisten vermag: es ist der, welcher weder der Ideologie anheimfällt, noch in der Realpolitik die letzte Instanz sieht. Es ist der, welcher durch das jeweilige Mächte« und Meinungsspiel hindurchsieht und aus dem erfaßten geistigen Grund heraus das mögliche dauernde Ergebnis initiatorisch vorwegnimmt. Der Ideolog sieht nur das abstrakte Ziel und ahnt nichts vom Weg; der Opportunist paßt sich allein den vorhandenen Kräften an. Der wahre Staatsmann verändert von der Idee her die Erscheinung. Urgrund, Weg und Ziel sind ihm ein lebendiger Zusammenhang.

 

Hier wären wir im Mittelpunkt des Problems vom Zusammenhang zwischen Politik und Weisheit schon angelangt. Damit, daß die Meinungen der Völker und Klassen nur selten Kritik vertragen, ist wenig gesagt. Wer aus der Undurchführbarkeit des sozialdemokratischen Programms z. B. die Wesenlosigkeit des sozialistischen Gedankens ableitet, ist gar kurzsichtig: wenn sich Millionen, trotz aller Gegenbeweise, für eine Idee begeistern, so hat deren letzter, meist freilich unerfaßter und unverstandener Sinn seine Wurzeln im Tiefsten des Geisteswesens; das Falsche oder Verfehlte liegt an seiner Verkörperung. Dies dürfte jedem klar werden, wenn er sich auf die Wirkung, welche die Ideen großer Utopisten im empfänglichsten Stadium seiner Jugend auf ihn ausübten, zurückbesinnt. Die Jugend ist immer idealistisch und meist radikal, weil in ihrem Zustand das Tiefste als Ahnung unmittelbar bestimmt, die Kenntnis der Gesetze der Wirklichkeit jedoch gering und der psychische Körper, der die Beziehung zu dieser regelt, unausgebildet ist. Aus eben dem Grunde stammen alle genialen Intuitionen aus der Jugendzeit. Aber jenes Tiefste ist zunächst unerfaßter, unverstandener Sinn; es ist reine Triebkraft, die nach dem Ausdruck ringt. Da der Jugendliche den ihm eigentlich gemäßen nicht finden kann, sintemalen er noch gar nicht weiß, wo er hinaussoll und -will, sich aber unbedingt ausdrücken muß, weil er den Sinn in sich walten spürt und solcher nur in der Äußerung wirklich wird, so bekennt er sich zunächst zu einem ihm von außen Entgegengebrachten, im guten Glauben, eben das meine er. Solches ihm scheinbar gemäße findet jeder außer sich zu jeder Zeit aus dem sehr einfachen Grund, daß er im Fremden eben seine eigene Meinung sieht und die Gedanken eines anderen nur als Ausdrucksmittel annimmt für den von ihm selbst nur geahnten, noch nicht persönlich ausdrückbaren Sinn. Indem der Jüngling sich nun aber entwickelt und sein geistiger Organismus sich differenziert, wird ihm irgendeinmal bewußt, daß der übernommene Ausdruck mit seiner eigenen Meinung nicht zusammenfällt. Nun verwirft er diesen; er übernimmt weitere neue, verwirft diese wieder, bis daß er endlich einen findet, der seinem Zustand genau entspricht, oder einen selbsteigenen schafft. In diesem und keinem anderen Verstände war Nietzsche zeitweilig Schopenhauerianer und Wagnerianer. Oberflächliche Beurteiler wähnen nun, der also zu verschiedenen Zeiten Verschiedenes Vertretende habe fortschreitend seine Ansicht geändert. So sehr dies bei Oberflächlichen zutreffe, von wesentlichen Menschen gilt es nie: diese haben sich vielmehr von der Ansicht der Einsicht zu entwickelt, von der Diskrepanz zwischen Sinn und Ausdruck zu deren jeweilig höchsterreichbarer Kongruenz; gemeint haben sie zu aller Zeit Identisches, nur finden sie erst spät, wenn je, die Worte dafür. Je größer die innere Fortschritts-, d. h. Vertiefungsmöglichkeit, desto schwerer finden sie einen, den sie als endgültig anerkennen können, da jeder erkannte Sinn auf tiefere zurückweist, welche zunächst wieder nur als Ahnungen ins Bewußtsein treten, und das Leben dauernde Bewegtheit ist. Aber was an Tiefe wirklich erfaßt wird, das wird durch den entsprechenden Ausdruck erfaßt. Der objektivierte Ausdruck ist auch die einzig mögliche Basis jedes weiteren Fortschritts, denn nur er, nicht etwa die Ahnung eines besseren, schafft einen neuen Ausgangspunkt, bei welchem Bewußtsein unmittelbar ansetzen kann. Deshalb müssen beginnende Schriftsteller ihr jeweilig Bestes nicht allein niederschreiben, sondern womöglich auch drucken, trotzdem sie fühlen, daß sie die Erstlingsleistungen wahrscheinlich später desavouieren werden, denn nur so schaffen sie sich die Etappen zu höherer Vollendung. Deshalb riet Luther Gewaltnaturen geradezu, tüchtig zu sündigen; deshalb lehrt die Inderweisheit, daß jedes Karma ausgewirkt werden muß, und die analytische Psychologie, daß verdrängte Vorstellungen dem Fortschritt von allem am hinderlichsten sind. Eben deshalb gelten Mut und Wahrhaftigkeit letztlich als wichtigste Tugenden. Nur durch den Ausdruck wird ein gegebener Sinn zum Ausgangspunkt für die Erfassung und Verwirklichung tieferer. Weil er aber Realisierung im Ausdruck gibt, deshalb, und deshalb allein gibt es andererseits einen nachweisbaren Erkenntnisfortschritt. Schon die ältesten Weisen waren sich des Tiefsten wohl bewußt; nur drückten sie sich aus vermittelst unvollkommener Theorie. Nicht in dem Verstände sind wir heute über Plato hinaus, daß wir in der Sinneserfassung weiter wären als er, sondern daß wir die gleichen Einsichten besser zu fassen wissen Vgl. hierüber meine Mitteilung an den III. Internationalen Philosophenkongreß (Bologna 1911) Die metaphysische Wirklichkeit und meine im Logos 1910 und 1911 veröffentlichten Abhandlungen Zur Psychologie der Systeme und Das Wesen der Intuition und ihre Rolle in der Philosophie. Ferner die Vorrede zur ersten Auflage meiner Unsterblichkeit.. Beim Fortschritt handelt es sich eben um keinen Wechsel von falschen zu richtigen Ansichten, sondern um eine wachsende Kongruenz zwischen Sinn und Ausdruck. Diese ist unbedingt erforderlich, weil der Untergrund der Welt dermaßen geistig ist, daß der geringste Fehler im Ausdruck die Äußerung von Un-Sinn zur Folge hat, während umgekehrt jede richtige Fassung neuen Sinneszusammenhängen zur empirischen Wirksamkeit verhilft, welche früher nicht eingreifen konnten. Der Jugendliche mag das Tiefste ahnen: nur der Reife, oft erst der Greis vermag es zu fassen. Deshalb rührt aller greifbare Fortschritt doch von reifen Menschen her. – So liegen die Dinge nicht allein auf rein geistigem, sondern auch auf politischem Gebiet. Von jeher haben tiefe Geister gewußt, wie die Menschengemeinschaft beschaffen sein sollte, d. h. wohin der tiefste Wille der Einzelnen und Völker zielt. Deshalb gelten die Grundgebote der mythischen Herrscher der Vorzeit für ewig wahr. Aber die Verwirklichung des Sinns in der Erscheinung setzt die Wahl und Beherrschung der richtigen Ausdrucksmittel voraus, und diese ist in dem Fall, daß diese in konkreten Menschen bestehen, so ungeheuer viel schwerer, als in dem der Gedanken, daß man sich darüber wahrlich nicht zu wundern braucht, daß die Menschheit seit dem Morgenrot der Geschichte nur geringe Fortschritte gemacht hat. Welches sind denn die Ausdrucksmittel des politischen Sinns, entsprechend dem, was im Fall des theoretischen die exakten Anschauungen, Begriffe und Denkwege sind? Es sind die Triebe, Leidenschaften, Willensentschlüsse, die Meinungen, Denkweisen und Gewohnheiten der Menschen. Die müssen sinngemäß werden, damit der politische Sinn sich verwirklichen kann. Da sich nun aber die Natur des Menschen, zur Verzweiflung der Idealisten, gar nicht ändert, so treten deren Urtriebe dem Fortschritt mit immer alter Kraft in den Weg. Oder vielmehr: diese wachsen ihrerseits an Kraft, je weiter der Mensch sonst kommt, auf Grund des Gesetzes der Kompensierung, das auf dem Gebiet des flüssigen und bewegten Seelenlebens dem der Korrelation innerhalb des physischen Organismus genau entspricht. Einseitige Entwicklung zersprengt nur deshalb die organische Einheit nicht, weil sie automatisch durch entsprechende Rückbildung anderer Teile ausgeglichen wird. So wirkt die heutige Menschheit urtümlich-barbarischer als irgend eine seit langer Zeit, weil sie die bisher intellektualisierteste ist: kompensatorisch zur Differenzierung des Verstandeslebens hat sich das übrige primitiviert Näheres hierüber enthält das oft erwähnte Buch C. G. Jungs Psychologische Typen.. Aber auch abgesehen davon wachsen die Dämonen zusammen mit den Geistern des Lichts. Sintemalen der Organismus eine Einheit ist, in welcher Höchstes und Tiefstes sich gegenseitig bedingen und halten, kommt jedes Wachstum seiner Ganzheit zugute. Die Qualität dieser mag sich dabei sublimieren – das Plutonische bleibt doch plutonisch, und steigert sich insofern im Läuterungsprozeß. Deshalb lehrte Franz von Assisi seine Jünger wachsende Versuchungen als Gnadebeweise beurteilen. Eben deshalb stellt der christliche Mythos sehr mit Recht das Weltende nicht als friedlichen Übergang in höhere Sphären, sondern als Todeskampf zwischen Christ und Antichrist dar. Die Urhemmungen verlieren desto weniger im Lauf der Entwickelung an Macht, als der Menschheitsfortschritt immer mehr vom Charakter der Massen, nicht dem bevorzugter Einzelner abhängt, weshalb Blindheit, Trägheit und Dummheit an Bedeutung nicht abnehmen, sondern zunehmen müssen, je mehr die Welt sich demokratisiert. Keinesfalls wird hier notwendig oder automatisch irgendetwas besser. Falsche Meinungen, Gesinnungen und Theorien, die stupide Schaukelbewegung zwischen Aktion und Reaktion werden noch so manches Jahrtausend, fürchte ich, das eigentlich Normale bleiben. Was sie eigentlich will, ist der Mehrheit immer nur dunkel, wenn überhaupt, bewußt. Zwar orientiert auch diese sich immer wieder an erlauchten Geistern, welche ihr eigenes Wollen – das ist ja deren Aufgabe – verdeutlichen, aber diese mißversteht sie dann, die Mißverständnisse häufen sich, entwickeln sich weiter, zeugen fort, und in deren Endgestaltungen wird zuletzt das Wesen des Sinns erblickt. So entstehen Kirchen, Konfessionen, politische Parteien; aus eben dem Grunde pendelt die Menschheit seit Kain zwischen Radikalismus und Konservatismus geistlos hin und her. Nach jedem radikalen Vorstoß erhellt wieder einmal, daß es so nicht geht, und dann wird das Gleiche – hier liegt der springende Punkt – eine Weile auf dem entgegengesetzten Wege zu erreichen versucht. Von höherer Warte aus betrachtet, welche Einblick in tiefere Sinnesschichten erlaubt, wollen ehrliche und verantwortungsbewußte Radikale und Konservative gleicher Zeit letztendlich niemals Verschiedenes, sondern Gleiches. Nur können sie das nicht einsehen, weil sie nur zu einseitiger Fassung der Probleme befähigt sind. Gedenken Sie der Tatsache, daß das deutsch-nationale Programm von 1921 dem sozialistischen von 1913 notgedrungen, wegen des seither veränderten allgemeinen Zustands, ähnlicher sieht, als dem damaligen der gleichen Partei; gedenken Sie der anerkannten Wahrheit, daß der leitende Staatsmann über den Parteien stehen und dennoch positive Ziele verfolgen soll, welche im Volkswillen begründet liegen, so wird Ihnen das Gesagte nicht mehr paradox klingen. – Ist es nach allen diesen Erwägungen verwunderlich, daß die ältesten Gesetzbücher der Menschheit, die von Manu, Moses und Solon, noch heute erfunden werden könnten, so wenig selbstverständlich wird ihr Inhalt noch heute befolgt? Sinn und Ausdruck auf geistigem Gebiet zur Kongruenz zu bringen hält nicht schwer. Jedoch auf dem des Lebens? – Solche Aufgabe stellt so große Anforderungen an alle Fähigkeiten, zumal an die Geduld, daß sie schier übermenschlich scheint.

 

Und doch ist sie zu lösen. Sie ist zu lösen eben aus tieferem Sinnverstehen heraus, und gerade an dem hat es den Führern der bisherigen Geschichte meist gefehlt. Als wir die Weisheit des Ostens betrachteten, da fanden wir, daß Seinskultur nur von innen her zu begründen ist und Böses dadurch allein zu überwinden, daß man ein stärkeres Gutes, unabhängig vom Kampf, zum Wachstum bringt. Wir sahen ferner, daß die tiefsten Kräfte, obschon durch weltlich Schwache vertreten, auf die Dauer deshalb siegen (vgl. S. 231), weil sie auf ihrem Wirkungsplane konkurrenzlos sind. Jede tiefere Sinneserfassung schafft faktische Überlegenheit über alles, was der Oberfläche näher liegt. Auf diese Weise beherrscht Geist überhaupt die Natur; so ist auch politischer Fortschritt allein durch vertiefte Sinneserfassung zu erzielen. Will man dem Leben die Richtung weisen, dann muß man in dem Verstände über ihm stehen, daß man nicht bloß, als Opportunist, mit den jeweiligen Tatsachen rechnet, sich nicht lediglich den jeweilig vorhandenen Kräften anpaßt, auch nicht bloß äußere Ziele verfolgt, sondern den Sinn vorweg nimmt. Wer immer dies an wirksamer Stelle vermag, wandelt Schicksalsbestimmtheit in Schicksalsbestimmung um; der lenkt die Kräfte, die ihn sonst ihrerseits lenken würden. Wer z. B. den Sinn des sozialistischen Gedankens als den einer neuen, zeitgemäßen, das ökonomische und Juristische einbeziehenden Form des ewigen Solidaritätsgedankens erfaßt hat, der ist ipso facto über alle Parteien und Programme hinaus und kann das Ziel innerlich unabhängig von diesen verfolgen. Mehr noch: der überwindet praktisch deren Dialektik dadurch, daß er dem tiefer erfaßten Sinn eine entsprechend neue Verkörperung schafft, die ebendeshalb den Beschränkungen der alten nicht unterworfen ist. In diesem Verstände hat Bismarck das 48er Wollen verwirklicht. Auf dem damaligen Wege war die deutsche Einheit nicht zu erschaffen, weil alle realen Mächte dem entgegenstanden. Eben diese realen Mächte hat Bismarck später in den Dienst der gleichen Idee gestellt und ihr dadurch zur seinerzeit einzig möglichen Verkörperung verholfen. Daß Bismarck persönlich feindlich zum 48er Gedanken stand, ist hierbei völlig gleichgültig. Ebenso kann es geschehen, daß der Weg, den Hugo Stinnes beschritten hat, zu einer Lösung der sozialen Frage führt Vgl. den Vortrag Wirtschaft und Weisheit in Politik, Wirtschaft, Weisheit.; dies ist jedenfalls wahrscheinlicher, als daß sie von der Sozialdemokratie gelöst würde. So wird schließlich die friedliche Vereinigung Europas nicht durch Idealistenbeschluß, sondern die Zusammenlegung ökonomischer Interessen aus weitblickendem Egoismus heraus erfolgen. Genau der Sinn, auf dessen Vertretung der Ideolog ein Monopol zu haben wähnt, liegt eben unbewußt gerade den Bestrebungen der Bismarck und Stinnes zugrunde. Durch diese wirkt er lebendig hindurch, während er, von Ideologen vertreten, in abstrakten Theoremen eingekapselt liegt und sich desto weniger auswirken kann, je lauter er bekannt wird, weil er eben nicht von überlegener Basis aus wirkt, sondern in einer Gestaltung unter anderen verkörpert, welche die Übermacht gegen sich hat. Wer den Sinn an sich erfaßt, gleichviel, ob dies bewußt geschieht oder instinktiv, der ist über alle Meinungen und festen Gestaltungen ipso facto erhaben, der mag mit allen Parteien zusammenarbeiten, beliebige Programme vertreten. Er allein nur kann offenbar Richtung weisen, denn er wirkt unabhängig sogar vom Schicksal der Gestalt, die er persönlich vertrat, in die Zukunft hinaus. Auf diesem Können beruhte die Größe Cäsars und Bismarcks. Cäsar war scheinbar ein reiner Opportunist; er begann als Catilinarier, schob sich zuerst auf höchst moderne Weise durch die Fährnisse der damaligen Gärungszeit hindurch und tat dann, als er zum arbiter res publicae hinaufrückte, immer nur schrittweise das gerade Mögliche. Aber er tat dies jedesmal in solcher Richtung, auf einen solchen Sinnesmittelpunkt bezogen, daß das jeweilig Kleine zum Sinnbild und Keim zugleich des Größten wurde. So errichtete er persönlich kein Königtum, aber das Imperium erwies sich so unbedingt als seines Willens Kind, daß sich die späteren Herrscher Cäsaren nannten und Cäsarismus und Imperialismus noch heute eine unmittelbar auf den großen Römer zurückgehende Willensrichtung bezeichnen. Auch auf politischem Gebiete kommt es weniger darauf an, was man tut – dies hängt von den äußeren Umständen ab –, als in welchem Geiste man es tut; der »Sinn« entscheidet letztlich. Extension und Masse ergeben sich, wo der Sinn sie erfordert, bei dessen entsprechender Erfassung ganz von selbst. So denkt kein großer Unternehmer an das Geld: dies fällt ihm in den Schoß, wenn er nur richtig disponiert. – Und nun Bismarck. Der eiserne Kanzler wird in Deutschlands Geschichte sehr Ähnliches bedeuten, wie Cäsar in der römischen. Äußerlich betrachtet, ein ideenfeindlicher Realist, nur das Nächstliegende zu tun bedacht, als Person in vielen Hinsichten einer vergehenden Epoche angehörig, schuf er sein Werk doch aus so tiefer Sinneserfassung heraus, daß alle Zukunft Deutschlands, wie immer sie sich im einzelnen gestalte, von ihm ausgehen, auf ihn zurückweisen wird. Deutschland kann nur einheitlich in der Vielheit sein, un-agressiv, sozial ausgebaut, kontinental, nicht maritim zentriert, ostwärts, nicht westwärts vorgebeugt, gleichviel, wie die Verhältnisse liegen. So hat es Bismarck erstmalig zusammengefaßt und hingestellt. Er tat es vermittelst der damals vorhandenen Kräfte. Von denen sind viele tot. Aber durch die morgen lebendigen wird sich, sobald Deutschland sich selbst wiederfindet, Bismarcks Geist aufs Neue manifestieren Vgl. über Bismarck und die Zukunft auch Politik, Wirtschaft, Weisheit SS. 26, 69, 85, 89, 101, 117, 157.. Ja, dieser wird schließlich wahrscheinlieh zum Spiritus rector ganz Europas werden, denn Deutschlands Föderationsstaat bedeutet wohl das Urbild der künftigen Vereinigten Staaten von Europa. Ist Ihnen jetzt ganz klar, warum der große Staatsmann nicht allein niemals Realpolitiker im oberflächlichen Verstand, sondern vor allem nie Ideolog ist? Der letztere erfaßt den Sinn oft richtig, aber er verkörpert ihn sich in einem starren System oder Programm. Dieses strebt er dann von außen her zu verwirklichen. Solches gelingt aber nie, außer zeitweilig durch Terror, und auch dann nie zu gutem Ende, weil eben das Starre, von außen her Wirkende, an sich schon ein Äußerliches ist, eine Erscheinung unter anderen, auf der Ebene möglichen Kampfs belegen. Daher die Tragödie aller unpolitischen Idealisten: Krapotkin, vielleicht die edelste Seele des 19. Jahrhunderts, ist zum geistigen Vater des Bolschewismus, des schauerlichsten Zerstörungssystemes aller Zeiten geworden, der Name Gustav Landauers, dieses hochgesinnten Menschlichkeitsapostels, bleibt in der Geschichte mit den Münchener Schreckenstagen verknüpft. Die Ideale müssen von innen, nicht von außen her wirken; auf die Veränderung der Erscheinung als solcher kommt es dabei am allerwenigsten an. In diesem Zusammenhang kenne ich kein lehrreicheres Buch als H. G. Wells Neuen Macchiavelli: den mögen alle die lesen, die, Sozialisten im Herzen, nunmehr, angesichts des erwiesenen Versagens der Sozialdemokratie vom idealen Standpunkt aus, an der Zukunft verzweifeln. Der Held dieses Romans beginnt als extremer Radikaler, erkennt aber allmählich, im Verlauf seiner politischen Tätigkeit, daß der Sozialismus eine allgemeine Gesinnung, kein mögliches Parteiprogramm bedeutet; jeder parteimäßige Sozialist sei ein Exzentriker. So geht der Romanheld später, gerade um sein gleichgebliebenes Ideal verwirklichen zu können, zur konservativen Partei über. Der Sinn an sich liegt eben immer jenseits des Buchstabens; kein Buchstabe, auch der ihm äußerlich ähnlichst sehende, hat je ein Vorrecht in bezug auf ihn. Wie Laotse sagt: »Der Sinn faßt alles Bestehende in sich, aber durch sein Wirken geht er nicht etwa im Bestehenden auf.« Wie der Sinn einer Religion jenseits des Dogmas, der einer Philosophie jenseits ihres Systems liegt und dieser Sinn allein lebendig bleibt, durch seine absterbenden Verkörperungen hindurch, genau so ist auch der Sinn idealen politischen Wollens von allen Verkörperungen grundsätzlich unabhängig. Deshalb wundert es den Tiefen nicht, wenn während des Weltkrieges in allen Lagern ein gleicher und gleichsinnig gerichteter Idealismus glühte, deshalb sieht er nur ein Streben durch alles Wechselspiel dieser Zeit hindurch sich manifestieren, ob nun die Entente, Moskau oder Deutschland im Vordertreffen steht, ob der jeweilige Zeitsinn dem Radikalismus oder dem Konservatismus hold sei, ob an der Oberfläche ab- oder aufgebaut wird. Deshalb vermag der Tiefe von innen her das Geschehen in seinem Sinn zu lenken, gleichviel, welche Kräfte gerade vorherrschen, denn wenn er nur deren Eigensinn kennt und sie entsprechend handhabt, wenn ihm nur der schöpferische Sinn der ganzen Dialektik bewußt ist, dann gibt es nichts, wem er nicht überlegen werden könnte. Praktisch kam es allerdings noch niemals vor, außer vielleicht im Fall der sagenhaften ersten Beherrscher Chinas, daß einer in diesem gotthaften Sinne souverän regiert hätte; dieses setzte eine Machtfülle von oben einerseits, und andererseits ein konzentrisch verstehendes Zusammenarbeiten von unten her voraus, die zu erzielen noch niemals gelang. Deshalb wird sich der zu höchster Machtfülle Aufgestiegene typischerweise zunächst seiner enggesteckten Grenzen bewußt, gibt gar mancher, der als Beamter die durchgreifendsten Reformpläne hegte, dieselben als Minister auf, sich am Beispiel der salomonischen Skepsis tröstend ... Jenes gotthaft souveräne Regieren setzt vor allem eine Tiefe bewußten Sinnverstehens voraus, die es bisher nie gab. Auch die größten Herrscher, von denen wir wissen, waren bewußt hauptsächlich Realpolitiker im psychologischen Verstand. So hat Constantin der Große allerdings das Römische Reich, das sonst zerfallen wäre, dadurch gerettet, daß er dessen äußere Organisation auf den tieferen Sinn des Christentums zurückbezog, aber bewußt leitete diesen zynischesten aller Macchiavellisten dabei nur die Erkenntnis, daß das römische Reich eines geistigen Kitts bedürfe und ein solcher in Gestalt der christlichen Religion, die er persönlich vielleicht kaum kannte, zur Hand lag Diesen Gedanken hat meines Wissens zuerst Wells in seiner Outline of history ausgesprochen. (Deutsche Übersetzung, Berlin 1922.). Aber grundsätzlich ist es möglich, daß ein Herrscher von so überlegener Warte aus regierte. Mehr noch: es wird eben jetzt auch praktisch möglich, ganz objektiv, grundsätzlich unabhängig von der Personenfrage, dank unserer neuerstiegenen höheren Sinneserfassungsstufe. Wir können ja Schicksal schaffen; dies hängt nur vom Grad der fleischgewordenen Einsicht ab. Verkörperte sich die Einsichtsstufe, die wir hier vertreten, so tief im lebendigen Menschenwollen, daß die Impulse, welche die Menschheit sonst blind von außen her treiben, als freie persönliche Initiative in die Erscheinung träten, dann könnte die »Sinngebung des Sinnlosen« restlos vollzogen werden. Dann würde zum klar erkannten Leitstern, was die Menschen von innen her vorwärts drängt, und alle Abhängigkeit von Äußerlichem entfiele. Denn grundsätzlich handelt es sich um Gleiches, ob man nun äußerlich oder innerlich bestimmt erscheint. Unter meinen Schülern war einer, welcher in kosmischen Gefühlen schwelgte; diese waren von einem höheren und zwar realen Zusammenhang stimmungsmäßig bedingt, an dessen Peripherie er selbst sich fühlte. Den lehrte ich, den Kosmos in sich zu zentrieren; ich lehrte ihn: Sie können ebensowohl Mittelpunkt als Umkreis sein. So lange Sie letzteres sind, hängen Sie vom Kosmischen ab. Anderenfalls drückt dieser sich durch Ihr persönliches Denken und Wollen aus. Die Umzentrierung gelang; ein anderer Mensch entstand. – Die gleiche Umzentrierung kann auf die Dauer auch im Großen, im politischen Leben glücken. Denn grundsätzlich ist es heute jedem möglich, von wegen des objektiv bestehenden höheren Einsichtsmöglichkeitsniveaus, den Sinn jenseits des Buchstabens zu erfassen. Deshalb fordert der ganze Zeitgeist eben das, was ich predige: die Überwindung des Schicksals.

 

Herrscher, wie ich sie meine, gab es bisher vielleicht noch nie. Noch nie jedenfalls solche, welche die erforderliche höhere Bewußtheitsstufe bewußt vertreten hätten. Die einzigen, welche die Menschheit typischerweise vom reinen Sinn her geleitet haben, waren die großen Religionsstifter. Deshalb leben diese auch unabhängig – noch unabhängiger, wie die Geister Cäsars und Bismarcks von ihren ursprünglichen Verkörperungen – von allem Dogmenglauben fort und wachsen, je tiefer sie erfaßt werden, zu desto größeren Mächten heran. Die wahre Stunde von Christus und Buddha kommt erst, kann erst kommen, wenn der Sinn ihrer Lehren ganz verstanden sein wird, und dieser sich deshalb ungehemmt wird auswirken können; jede Diskrepanz zwischen den Eigengesetzen des Sinns und denen des Ausdrucks schmälert jenes Macht; dies gilt vom Verstehen genau so wie vom Schaffen. Aber die Religionsstifter befaßten sich grundsätzlich nur mit dem Absoluten; zeitliche Fragen bekümmerten sie nicht. Deshalb hat ihr Einfluß das politische Wesen der Menschen nur zeitweilig und kurzfristig vorwärts gebracht. Jede Kirche erstarrte auf die Dauer – und dies mit Naturnotwendigkeit – zu einer reaktionären Macht. Die weltlichen Führer, welche vom Sinnverstehen her die Geschichte lenken könnten, müssen erst kommen. Aber jetzt werden sie kommen. Die entsprechenden Persönlichkeiten finden sich immer, sobald ihre Auswirkung historisch möglich ist (vgl. S. 291 ff.). Und daß die jetzt erforderlichen früher unmöglich waren, braucht einen nicht zu verwundern. Die Geschichte steht ja noch ganz am Anfang, so lang sie uns erscheine. Es liegt kein Grund zur Annahme vor, daß unser Planet nicht noch etliche Jahrhunderttausende bewohnbar und von Menschen bewohnt bleiben wird. Demgegenüber hat die ganze Menschheit zusammengenommen bisher vielleicht 5000 Jahre Kultur hinter sich, und diese betraf dabei nur verschwindend kleine Minderheiten innerhalb der Völker und Klassen, die weder räumlich noch zeitlich im Zusammenhang standen. Also kann bis heute, der bloßen Zeit nach, unmöglich viel mehr vorgegangen sein, als ein erstes ungeschicktes Stimmen der Instrumente. Betrachtet man nun die Geschichte von diesem Gesichtspunkt aus, dann erscheint einem das augenscheinliche Versagen aller Zeiten und das typische »Umsonst« aller Endergebnisse weniger tragisch – und wohl auch in richtigerem Licht. Bis heute hat sich im Ganzen nur Irrtum und Unvermögen ad absurdum führen können; da Irrtumsfähigkeit zunächst den Menschen macht, im Gegensatz zum Tier, so mußte diese sich an erster Stelle auswirken. Und dieser Prozeß ist noch lange nicht zum Abschluß gelangt. Noch ist es sehr kurze Zeit her, daß der Mensch der Außenwelt überhaupt, auf irgend einem Gebiet, mit richtigen Vorstellungen gegenübertritt Vgl. hierzu meine metaphysische Wirklichkeit 1. c., das erste Kapitel der Unsterblichkeit und die Studie Sterndeutung in Philosophie als Kunst., die überwiegende Mehrzahl der Erdbewohner denkt noch heute auf allen gemäß den alogischen Kategorien der participation mystique Vergl. Lévy-Brühl Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures Paris 1910. Dessen grundlegende Ansichten über die von den unseren völlig abweichenden Kategorien, vermittelst derer der Primitive zur Natur geistig in Beziehung tritt, hat Jung in seinen Psychologischen Typen weiter verarbeitet.. Die äußere Natur beherrschen wir Westländer (und zwar wir allein) einigermaßen seit einigen Jahrzehnten erst – aber schon zu solch bescheidener Herrschaft haben wir uns als innerlich dermaßen unreif erwiesen, daß uns die materielle Macht sogleich über den Kopf wuchs und uns im Weltkriegsschicksal, welches die Menschheit einmal ähnlich beurteilen wird, wie die Bibel die Sintflut, schier unter sich begrub. Die Menschennatur beherrschen wir eben noch gar nicht. Der stehen wir noch sehr ähnlich gegenüber wie der Wilde der Außenwelt, und bevor dies nicht endgültig und im Großen anders geworden ist – wie soll sich Freiheit selbstbewußt und selbstherrlich auswirken? Aber das Haupthemmnis des Fortschritts lag bisher auf geistigem Gebiet. Nur darüber, was wir verstanden haben, besitzen wir Macht; nur die Mächte, die wir begreifen, vermögen wir sicher zu nutzen, nur der objektive Begriff eines Zusammenhangs macht diesen objektiv dem Geiste dienstbar, weil der Wahrheit vorher der Übertragbarkeitscharakter fehlt (vgl. S. 265). Deshalb haben die großen Bahnbrecher der Geschichte bis heute nur kläglich geringe Wirkungen erzielt. Deshalb brachen alle kulturellen und persönlichen Hochblüten irgend einmal ab, ohne daß eine Fortsetzung erfolgte. Deshalb vor allem gab es bisher nur ein Tasten dem Fortschritt zu. Nein, wir stehen noch ganz am Anfang. Aber gerade wir heute Lebenden und Wirkenden haben das Glück, zugleich an dem kritischen Punkt zu stehen, von dem ab sich Freiheit erstmalig souverän wird manifestieren können. Wir stehen wahrscheinlich an dem kritischen Punkt der bisherigen Menschheitsgeschichte, einem wichtigeren, als dem, welchen das Auftreten Christi bezeichnete. Nicht in dem Sinn, als ob ähnlich große Persönlichkeiten zu erwarten ständen, so viele solches erhoffen Vgl. meine Betrachtung über die neue Messiaserwartung im 4. Heft des Wegs zur Vollendung., sondern daß die Periode wahrer Wirkung für die bisherigen Großen erst jetzt beginnen kann, vor allem aber, daß persönlich weniger Große aus dem gleichen Geist der Tiefe heraus leben können. Christus begründete seine Führerschaft darauf, daß er allein das Leben »in ihm selbst« habe. Jetzt, wo die Möglichkeit der Erfassung des Sinnes jenseits des Buchstabens – von einer zufällig-persönlichen, die sie bisher war – zu einer historischen geworden ist, jetzt kann bewußte Selbstbestimmung im großen anheben. So beginnt jetzt erst die eigentliche Menschheitsgeschichte. Die Grundaufgaben der Völker- und Menschengemeinschaft konnten praktisch unmöglich früher gelöst werden, als bis das Animalische so weit durchschaut und durchdrungen war, daß sich die innere Freiheit einigermaßen manifestieren konnte. Dieses Durchdringen hat jetzt begonnen.

 

Der Staatsmann, genau wie der Philosoph hat also an erster Stelle unmittelbare Sinneserfassung, vom Sinn aus zu leben und zu herrschen zu lernen. Dieser Sinn liegt tiefer als das, was ich Ihnen gestern als geistigen Untergrund der Geschichte schilderte, in dessen lebendigem Quell. Von diesem werde ich morgen eingehender handeln. Das heutige Thema, das den Zusammenhang von Politik und Weisheit als unmittelbar praktisches Problem behandelt, verlangt zu seiner Lösung noch die Antwort auf eine Frage, die zwar implizite bereits beantwortet ist, jedoch nicht klar genug, um Mißverständnisse auszuschließen. Die Frage lautet: wie wird sich ein vollkommen sinnverstehender Staatsmann zur Realpolitik im üblichen Verstand verhalten? – Nun, er wird sich von allen Realpolitikern als positivster erweisen. Niemand wird weniger Ideolog sein, als gerade er. Nur erhält das bewährte Tun in seinem Fall einen neuen Sinn. Während die Tatsachen (im weitesten Verstand) den üblichen Politikern letzte Instanzen sind, bedeuten sie ihm nur Buchstaben, vermittelst derer er den Sinn souverän-bewußt verwirklicht.

Denn kein Sinn ist anders als mit den angemessenen Ausdrucksmitteln zu verwirklichen. Im Lun-Yü (XIII, 3) findet sich folgende Stelle: »Tsì Lu sprach: Der Fürst von Wei wartet Eurer, um Euch die Regierungsgeschäfte zu übertragen. Woran werdet Ihr vor allem Eure Hand legen? Der Weise (Confuzius) erwiderte: Was notwendig ist, das ist die Richtigstellung der Bezeichnungen. Tsì Lu sprach: Ist das wirklich so? Ihr weicht aus. Warum eine solche Richtigstellung? Der Weise antwortete: Wie ungebildet du dich zeigst, You! Was der Edle nicht weiß, darüber geht er gleichsam hinweg. Sind die Bezeichnungen nicht richtig, dann passen sich die Worte nicht an die Bedeutung der Dinge; passen sich die Worte nicht an, so gedeihen die Geschäfte des Staates nicht; gedeihen die Geschäfte nicht, so stehen die Riten und die Musik nicht in Ehren; stehen die Riten und die Musik nicht in Ehren, so sind die Strafen des Gesetzes nicht zutreffend: sind die Strafen des Gesetzes nicht zutreffend, so weiß das Volk nicht, wo es Hand und Fuß stützen soll. Darum wählt der Edle seine Bezeichnungen so, daß sie ohne Zweifel in der Rede angewendet werden können, und formt seine Reden so, daß sie ohne Zweifel in Handlungen umgesetzt werden können. Für den Edlen ist in seiner Rede nichts von Unwichtigkeit.« In den vorkonfuzianischen Aufzeichnungen Kuan Chungs liest man: »Mit Bezug auf die Bezeichnungen der Menschen gilt dreierlei: Ordnung (Regierung), Anstandsgefühl und Dienstverhältnis. Mit Bezug auf die Bezeichnungen der Dinge gilt zweierlei: Richtigstellung und Prüfung. Diese fünf Momente begründen die Regierung des Reichs. Sind die Bezeichnungen richtig, so herrscht Ordnung, sind sie abweichend, so herrscht Verwirrung; sind keine Bezeichnungen vorhanden, so herrscht der Tod. Darum legten die früheren Herrscher den Wert auf die Bezeichnungen.« Und im Ch'un ts'in fan lu, einer Schrift aus dem 2. Jahrhundert v. Chr., heißt es: »Der Schlüssel zur Regierung des Weltreichs liegt in der Prüfung bei Unterscheidung der Größenverhältnisse, der Schlüssel zur Unterscheidung der Größenverhältnisse liegt in der genauen Beachtung der Bezeichnungen und Benennungen. Die Bezeichnungen sind die Hauptpunkte des großen Gesetzes. Man fixiert den Sinn dieser Hauptpunkte, damit man die ihnen innewohnende materielle Bedeutung beobachten kann; dann kann das richtige und das falsche bestimmt werden, und das, was der Ordnung widerstrebt, wie das, was ihr entspricht, tritt deutlich hervor. So durchdringt wohl die Wirkung das Universum. Rechte Wahl der Bezeichnungen und Benennungen ergibt das Universum« Vgl. O. Franke Über die chinesische Lehre von den Bezeichnungen (erschien im T'sung-pao, Serie II. Vol. VII. Nr. 3, Leiden 1906). Nachdem ich 1920 in Hamburg über Sinn und Ausdruck in Kunst und Leben gesprochen hatte, schickte mir Professor Franke diese Arbeit mit der Bemerkung, unter den Autoren, die sie behandelt, befänden sich die wohl frühesten Vorläufer meiner Sinnes-Philosophie. Diese haben, in der Tat, das gleiche gemeint wie ich, sich nur natürlich einer frühen, grammatikalisch-ritualistischen Kulturstufe entsprechend ausgedrückt.. Die älteste chinesische Weisheit hat, wie man sieht, die wahre Bedeutung des Ausdrucks für das Staatsleben bereits erfaßt. Sie hat jene gerade dort erfaßt, wo der vorgeschrittene Moderne sie in der Regel ganz verkennt. Vorhin schrieb ich: der Untergrund der Welt ist dermaßen geistig, daß der geringste Fehler im Ausdruck die Äußerung von Un-Sinn zur Folge hat, während umgekehrt jede richtige Fassung neuen Sinneszusammenhängen zur empirischen Wirksamkeit verhilft, welche früher nicht eingreifen konnten. Dies berücksichtigt der Moderne bewußt nur auf dem Gebiet der exakten Wissenschaft. Diese ist nur insofern mehr als bloße Grammatik (vgl. S. 27), als der genaue Begriff vom Tatsächlichen nach innen zu den Kontakt mit tieferen Geistesschichten herstellt, weshalb der Tatsachenforscher gelegentlich Gleiches erreicht, wie der unmittelbar den Sinn realisierende. Nur weil dem so ist, gibt es einen objektiven Erkenntnisfortschritt, unabhängig von den jeweilig lebenden tiefen Geistern (vgl. S. 265). Aber der Moderne handelt eben nur auf dem Gebiet der Wissenschaft der fraglichen Wahrheit gemäß, und sie gilt schlechthin allgemein. Auf dem Gebiet der Politik, welchem der wissenschaftliche Geist sich charakteristischerweise am wenigsten gewachsen erweist, gilt dies im allerhöchsten Maß; hier bedeutet Realpolitik eben das, was auf dem der Wissenschaft die exakte Fassung der Tatbestände bedeutet. Die chinesische Weisheit nun hat die Bedeutung des Ausdrucks im konkreten Leben an der Wurzel erfaßt, wie denn die ganze chinesische Wahrheit dem vierten Sprachenstockwerk angehört; deshalb bedeuten ihr bei der Sinnesverwirklichung die Grundsätze alles und können es tun. Aber das Verhältnis zwischen Sinn und Ausdruck ist genau das gleiche im Fall der besonderen Taktik. Wie der Gedanke nur in richtiger Begriffsfassung wirklich wird, so die politische Idee nur im Körper der vorhandenen Kräfte – deshalb postuliert Sinnverstehen im besonderen Ausdruck äußerste Realpolitik. Mit den Wirklichkeiten des Lebens ist unbedingt zu rechnen; nie, unter keinen Umständen, darf von ihnen abgesehen werden, und handle es sich um noch so blinde und törichte Kräfte. Aber die besonderen Notwendigkeiten der Taktik weisen ihrerseits auf Grundsätze zurück, welche richtige »Bezeichnungen« im Sinn der Chinesen sind, deren Nicht-Berücksichtigung sich jedesmal rächt, und von diesen will ich einige – in willkürlicher Auswahl – anführen, um zu zeigen, wie alles, was überhaupt den Ausdruck betrifft, seine besondere Grammatik und Syntax hat, ohne deren Kenntnis und Befolgung kein Sinn sich wunschgemäß verwirklichen läßt. Diese Grundsätze stellen den Zusammenhang zwischen der metaphysischen und der empirischen Seite der Sinnesverwirklichung her. Wer je in Erziehung nicht gepfuscht, sondern erfolgreich gearbeitet hat, der weiß, daß man einen Menschen nur insoweit vorwärts bringt, als man seine Natur, wie sie ist, als Ausgangspunkt anerkennt, ohne über sie abzuurteilen; sonst schafft man seinem möglichen Einfluß unüberwindliche Widerstände. (Dies gilt natürlich besonders von der Selbsterziehung – wer gegen sich selbst nicht dergestalt generös zu sein weiß, dessen Fall ist hoffnungslos.) Nun, in der Politik liegen die Dinge genau ebenso. Hier sind zunächst alle psychischen Mächte, die Ansichten, Gewohnheiten, Glaubenssätze, gleichviel, was sie wert seien, unbedingt als Realitäten gelten zu lassen; diesem Grundsatz gegenüber kommt Vernunfturteil überhaupt nicht in Betracht. Und die vornehmste unter diesen als Realitäten zu behandelnden Mächten ist der Wille eines Volks. In der Befolgung des Grundsatzes, mit dem Willen der Völker als endgültiger Wirklichkeit zu rechnen, liegt die Grundursache des Erfolgs von Englands Expansionspolitik, in seiner Nichtbefolgung die von Deutschlands entsprechendem Versagen. Als die Deutschen ins Baltikum einrückten, da brachten sie objektiv nur Gutes – allein den Willen der Esten und Letten berücksichtigten sie in ihren Maßnahmen nicht; so fanden sie sich einer geschlossenen Oppositionsfront gegenüber, und was immer sie Gutes taten, löste doch niemals Dankgefühle aus. Die Engländer erkannten zunächst grundsätzlich die estnisch-lettischen Wünsche als berechtigt an. Mochten sie sich nachher einen noch so hohen Preis an Gut und Blut dafür zahlen lassen – er wurde gern und dankbar bezahlt, weil eben der Wille des Volkes grundsätzlich berücksichtigt war. Der Grundsatz, daß die psychischen Tatsachen unbedingt als reale Mächte zu behandeln sind, hat natürlich sein negatives Gegenstück: keinesfalls darf mit nicht vorhandenen Realitäten gerechnet werden. Und wieder hat hier gerade Deutschland während des Weltkriegs auf vorbildliche Weise versagt, so daß man sich deshalb allein über dessen Ausgang nicht zu wundern braucht. Die Vorstellungen Wilhelms II., welche leider sehr stark bestimmten, entsprachen überhaupt keiner modernen Wirklichkeit. Die Weltanschauungen und Voraussetzungen der deutschen Heerführer gehörten toter Vergangenheit an. Das, was Deutschland Sympathie erwecken sollte, seine Tüchtigkeit, Organisation usf., erweckte das Gegenteil. Hier hat schon Mencius, der offenbar ähnliche Fälle erlebt hat, das Zutreffende gesagt: »Wer durch seine Tüchtigkeit zur Anerkennung bewegen will, dem wird es nicht gelingen. Wer aber durch dieselbe Gutes zukommen läßt, dem wird die Welt Anerkennung zollen. Wen die Welt nicht im innersten Herzen anerkennt, dem wird es nie gelingen, König der Welt zu werden« ... In diesen Hinsichten haben die Deutschen während des Krieges, gerade, wo sie Realpolitiker sein wollten, sämtliche Fehler der Ideologen begangen. Seither aber wird lustig weitergefehlt. Sind Parteien ein Übel, so folgt daraus doch nicht, daß sie zu bekämpfen seien; dadurch stärkt man sie ja bloß (vgl. S. 226), schafft günstigstenfalls eine Partei der Parteilosen. Parteien gehören in Deutschland zu den Glaubensfragen, und solche darf man niemals diskutieren. Ein kluger Italiener äußerte zu mir einmal, über den deutschen Ideologismus baß verwundert, das folgende witzige Wort: »Ich verstehe die konservativen Politiker der revolutionierten Länder nicht. Erst stelle man fest, welches die Ideologien sind, an welche die Masse unbedingt glaubt: dann schlage man sie als Programm an allen Wänden an. Nachher kann man doch tun, was man will.« Er hatte recht: nachher, nicht vorher kann man tun, was man will. Die psychischen Mächte müssen wie Naturvorgänge behandelt werden. Als solche kann man diese nicht ändern, aber sobald man sie versteht, gelingt es, sie beliebig zu lenken. Hier gibt es nun einige weitere praktische Grundsätze, deren Wert sich noch nie verleugnet hat, weil eben auch sie zur Grammatik und Syntax des möglichen Ausdrucks eines politischen Sinns gehören. Der erste und vornehmste dieser ist der der Konsequenz. Eine einmal als richtig erkannte Handlungslinie muß unter allen Umständen festgehalten werden. Warum? Weil das Stete dem Unsteten auf die Dauer immer überlegen ist; deshalb siegt sogar folgerichtige Dummheit nicht selten über sprunghaften Geist. Handelt es sich nun um folgerichtigen Geist, der das Sinngemäße erfaßt hat, dann ist der Sieg gewiß, weil alle Zufälle sich bereitwillig dem geltenden Sinneszusammenhang eingliedern. Konsequenz bleibt aber die Hauptsache. Deutschland wurde nicht zum geringsten Teil deshalb geschlagen, weil es keine festen Kriegsziele hatte. Umgekehrt war Englands festes Kriegsziel (das im übrigen, wenn ich recht berichtet bin, erst Northcliffe, als er die Propaganda übernahm, mit der Begründung oktroyierte, daß sich ohne festes Ziel überhaupt nichts wollen läßt) die Hauptursache seines letztendlichen Erfolges. – Der zweite Grundsatz, den ich hier anführen will, ist der der unüberschreitbaren Grenzen. Wie jeder Gedanke, nur auf bestimmte Distanz betrachtet, wahr ist – kommt man ihm zu nahe, so verschwimmt er wie ein impressionistisches Bild, tritt man zu weit zurück, so entschwindet dem Auge sein Kern –, so ist jedes Ziel nur innerhalb bestimmter Grenzen erreichbar oder festzuhalten. Hier lag Bismarcks größte Kunst. Durch Selbstbescheidung gewann er das geschlagene Österreich zum Freund, festigte er seine Reichsschöpfung trotz deren äußerst exponierter Stellung, und hätten ihn die Militärs nicht überstimmt – wer weiß? vielleicht wäre auch die elsaß-lothringische Frage nicht offen geblieben, sie, die den Weltkrieg mehr als alles andere in den Seelen der Franzosen vorbereitet hat. In der Selbstbescheidung lag auch von jeher die Hauptkunst Englands. Immer hat dieses rechtzeitig erkannt, wann es nicht allein nachgeben, sondern mit aller Energie dafür eintreten mußte, was es vorher bekämpfte. Dadurch, daß es den psychologischen Moment noch in keinem großen Fall versäumt hat, sind ihm unbezweifelbare Niederlagen auf die Dauer zum Vorteil umgeschlagen. So wird es gewiß auch mit Indien werden. Ein hoher Beamter dort sagte mir vor nun 10 Jahren: Freilich werden wir Indien nicht dauernd halten können. Schon jetzt gelingt dies nur dadurch, daß wir uns, das Tempo verlangsamend zwar, doch an die Spitze der Reformbewegung stellen. Aber irgendeinmal wird diese uns hinausjagen. Nun, dann wird es eben Aufgabe unserer Staatskunst werden: »to make it a better business to leave than to stay.« In der Tat, bevor ein über alles ersehntes Ziel mit Sicherheit erreichbar scheint, bezahlt man es gerne hoch. – Der dritte Hauptgrundsatz, den ich hier anführen möchte, ist der der Wirkung. Theoretische Richtigkeit bedeutet gar nichts in der Politik; es gilt ein als richtig Erkanntes vermittelst der gerade vorhandenen Kräfte, und seien es die blindesten Massenstimmungen, zu verwirklichen. Hier liegt die ewige Wahrheit des Macchiavellismus. Macchiavelli zuerst wurde klar bewußt, daß es in der Politik einzig auf Resultanten ankommt, weshalb die Komponenten, je nach dem Charakter der Zeit, verschieden gewählt werden müssen. Weil dieser, seitdem das Erwachen der rein auf sich selbst gestellten Individualität den moralischen Kosmos des Mittelalters vernichtet hatte, zu einem völlig hemmungslosen geworden war, dem die Selbstsucht erstes und letztes Gesetz zugleich bedeutete, deshalb verherrlichte der kluge Florentiner die Technik eines Cesare Borgia. Hätte er sein Buch vom Fürsten geschrieben, als die mittelalterlichen Ehrbegriffe noch galten, so hätte er aus den gleichen Gesichtspunkten heraus eine ganz andere Staatsmoral vertreten, wie Macchiavelli denn persönlich alles eher als ein Vertreter von praktischem Macchiavellismus war. Heute nun könnte erst recht nichts törichter sein, als den Buchstaben des Principe zu befolgen, und zwar gerade aus Treue zu dessen Geist. Das Bewußtsein der Massen ist schon so weit erwacht, daß es nicht gut tut, Ideale zu bloß taktischen Mitteln zu mißbrauchen, wie dies noch Friedrich der Große unbekümmert tun durfte. Der gleiche Gesichtspunkt, der zu Macchiavellis Zeiten Verbrechen und Lüge empfehlenswert erscheinen ließ, empfiehlt fortan immer konsequenteres Festhalten an den Idealen der Wahrhaftigkeit und der Gerechtigkeit. Dies wird sich im Fall der Entente, insbesondere der schauerlichen Schuldlüge, der Grundlage des Justizmordes von Versailles, sehr bald erweisen. Die Stimmen der Wahrheit sind heute auf lange nicht mehr zu unterdrücken; der Endsieg ist ihnen gewiß. Lord Northcliffes grandioser Erfolg ist vielleicht schon der historisch letzte seiner Art – schon eine nahe Zukunft wird sein Beispiel als abschreckend beurteilen. Der Grundsatz der Wirkung – die Seele des Macchiavellismus – muß richtunggebend bleiben; aber der Sinn des Gewollten und der Zeitgeist wollen verstanden sein, sonst vergreift sich gerade der Macchiavellist am verhängnisvollsten in seinen Mitteln. Gewisse Handlungen führen zu gewisser Zeit nicht oder nicht mehr zu dauerndem Erfolg. Eine Politik, die auf die Grundforderungen des sozialistischen Gewissens keine Rücksicht nimmt, wird fortan nie mehr Gutes einbringen. Der unqualifizierte Mensch, rein dem Eros, nicht dem Logos nach gewürdigt – man lese die grundlegenden Ausführungen Leonie von Ungern-Sternbergs über diesen Punkt Vgl. deren Broschüre Der Sinn des Sozialismus, Otto Reichl Verlag.will seine Rechte, und soweit diese dem Sinn der Dinge gemäß gedacht sind, wird er sie sich erobern. Die absolute Achtung der Persönlichkeit anderer Menschen und Völker – daher die Selbstbestimmungsforderung – ist heute so allgemeines Postulat, daß dieses zweifelsohne seine historische Verwirklichung finden wird. Deshalb muß es als mindestens unpraktisch gelten, seine Politik auf den Gegenpol dieser Begriffe einzustellen. Die Sowjetregierung besitzt trotz allem, was sie faktisch tut, die größte werbende Macht dieser Zeit, weil sie in ihren Worten unentwegt und durch alles hindurch für jene Forderungen eintritt. Zum Wesen des heutigen Zeitgeistes gehört ferner, daß heute mit bleibendem Erfolge nicht mehr erobert, assimiliert, versklavt werden kann. Vor allem verlangt Macchiavellismus heute Einstellung auf die Zukunft und nicht die Vergangenheit, denn in einer Zeit so beschleunigten Neuwerdens, wie wir sie durchleben, trägt die Vergangenheit kein lebendiges Ideal. In diesem Licht erscheint Frankreichs heutige Lage besonders tragisch-hoffnungslos. Frankreich pocht andauernd auf sein »Recht«. Bis 1918 bezog dessen Begriff sich auf lebendige Gegenwart, deshalb verfügte er über große moralische Macht. Seither hat er sich aber zur Forderung zurückentwickelt, einen verjährten Zustand zu erhalten oder wiederherzustellen, er bezieht sich demnach auf totes Recht. Deshalb wird Frankreichs »droit« fortschreitend weniger verstanden und gewürdigt, denn die Geschichte erkennt nur Lebendiges an. Auch diesen Fall hat die chinesische Weisheit richtig vorausgesehen und -verstanden. Im Lü shi ch'un ts'in (3. Jahrh. v. Chr.) heißt es: »Sind die Bezeichnungen richtig, so herrscht Ordnung, sind die Bezeichnungen zerstört, so herrscht Verwirrung. Wer die Zerstörung der Bezeichnungen verursacht, der verdirbt die Sprache. Dann steht das Zulässige für das Nichtzulässige, das Zutreffende für das Nichtzutreffende, das Richtige für das Nichtrichtige, das Falsche für das Nichtfalsche. Wo Verwirrung herrscht, da sind die Bezeichnungen der Gesetze nicht zutreffend. Wenn die Herren der Menschen niedriger Art sind, trotzdem aber anscheinend das Erhabene anwenden, auf das Gute hören und das Zulässige tun, so besteht das Unheil darin, daß das, was sie erhaben nennen, dem Niedrigen entspricht, was ihnen als gut gilt, dem Verworfenen entspricht, und was sie zulässig nennen, dem der Ordnung Widerstreitenden entspricht. So haben die Bezeichnungen der Gesetze eine verschiedene Geltung und die in Laute gekleideten Objekte verschiedene Bedeutung. Das Erhabene wird zum Niedrigen, das Gute zum Verworfenen und das Zulässige zu dem der Ordnung Widerstrebenden. So wußte der unklare Fürst von Tsi zwar den Ausdruck shi zu gebrauchen, aber er wußte nicht, was er bedeutete« (O. Frankes Übersetzung).

Es gibt also wohl Grundsätze für alle nur mögliche Politik; aber andererseits gibt es niemals Regeln. Regeln gelten nur dort, wo die Situationen dauernd die gleichen bleiben, denn nur dann lassen sich Probleme in abstracto, ein für alle Male, lösen. Auf dem Gebiet des individualisierten Lebens liegt dieser Fall nie vor. Dort gibt es immer nur einmalig-einzige Lagen, so ähnlich sich manche sehen, weshalb sie wohl nach den gleichen Grundsätzen, nie jedoch gemäß ein für allemaligen Rezepten behandelt werden dürfen. Weil dem so ist – ebendeshalb ist jeder auch nur leidliche Taktiker dem größten Gelehrtengeist politisch überlegen. Der Gelehrte denkt typischerweise an die Norm, und gerade deren Gesichtspunkt hilft zum Handeln nicht; er denkt typischerweise an die Idee an sich, und gerade deshalb ist er unfähig, sie zu verwirklichen. Ist sie einmal herausgestellt, so wirkt sie nicht mehr als schöpferische Macht. Welches ist nun das praktische Bindeglied zwischen schöpferischer Idee und Wirklichkeit? Ein solches muß es doch geben, da die Erscheinung nur vom Sinn her gemeistert werden kann. Dieses Bindeglied ist der Takt. Takt ist das im Rahmen der gegebenen Bewußtseinslage Wesentlichste, Tiefste, was ein Mensch besitzen kann, viel tiefer als alle abstrakte Vernunft. Denn Takt bedeutet die lebendige Fühlungsmöglichkeit zwischen dem Sinn und den jeweilig vorhandenen Ausdrucksmitteln, in Rücksicht seiner Verwirklichung; Takt bedeutet die Gabe, das Ewige zur gerade gegebenen einzigen Situation in notwendige Beziehung zu setzen. Deshalb ist Takt das Eine, was jeder Regierende besitzen muß. Alles andere mag ihm fehlen, wenn er nur über Takt verfügt. Denn ein taktloses Wort mag alles sachliche Recht zunichte machen Das bisher Bedeutendste, was über das Problem des Takts (vom empirischen, nicht metaphysischen Standpunkt) geschrieben wurde, enthält der zweite Band von Spenglers Untergang des Abendlands, mit dem ich leider erst während der zweiten Korrektur dieses Kapitels bekannt wurde. Dieser Band ist zur Ergänzung des vorliegenden Zyklus unbedingt zu lesen. – Eine genaue Präzisierung meines Standpunkts gegenüber dem von Spengler bringt das 5. Heft des Wegs zur Vollendung..

III. Weltüberlegenheit

Unsere gestrigen Betrachtungen haben Sie davon wohl überzeugt, daß auch das Problem der Politik auf das zentrale des Geists zurückbezogen werden kann. Was auf den ersten Blick subaltern und oberflächlich scheint, kann, ohne nur irgendwelche Änderung seiner Eigenart zu erfahren, einen tiefen Hintergrund erhalten. Alles kann, nichts muß oberflächlich sein, genau so, wie nichts Sinnloses also zu bleiben braucht; wie sich vermittels der gleichen Buchstaben und Worte Sinn und Unsinn sagen läßt, so vermöchten die altbewährten Mittel der Realpolitik Wesentlicheres zu bewirken, als je bisher geschah. Nur darauf kommt es an, wie tief der Sinn jeweilig erfaßt wird, bis zu welchem Grade es gelingt, ihm den genau entsprechenden Ausdruck zu schaffen. Aber unsere Betrachtungen führten zuletzt weit über das Sonderthema hinaus. Aus dem Staatsmann wurde der Sinnesverwirklicher schlechthin, aus der Staatskunst die des angemessenen Ausdrucks überhaupt. Zuletzt mündete das sachliche Problem in das persönliche ein, wie der beschaffen sein muß, der die Welt vom Sinn her zu verändern vermöchte. – Dort blieben wir gestern stehen. Heute müssen wir diesen Weg zu Ende gehen. Wir müssen uns ein lebendiges Bild des Menschen machen, welcher allen gestern und vorgestern gestellten höchsten Anforderungen genügte. Dies ist in der Tat unser vorgezeichneter Weg: vom Standpunkt der Weisheit bedeutet das Sachliche niemals die letzte Instanz. Da Geist nur von innen heraus wirkt, so hängt der Wert jeder seiner Äußerungen letztlich davon ab, von wem sie ausgehen.

 

Überblicken wir zunächst, der Unbefangenheit halber ohne jeden Rückbezug auf unsere besonderen Erkenntnisse, die Menschen, die allgemein als überlegenste und größte gegolten haben – wer waren es? Künstler? – Nein. Künstler sind typischerweise Medien; etwas Großes spricht aus ihnen oder durch sie, allein es fällt mit ihrer Person fast nie zusammen. Ihr persönlicher Mittelpunkt ruht selten in ihrem Besten, dies aber müßte sein, wenn sie persönlich überlegen erscheinen sollten. Deshalb haben die Griechen und die Italiener der Renaissancezeit, die über die Frage aus besonderer Sachkenntnis urteilen konnten, den Künstler als Menschentypus nicht höher, sondern geringer als manche andere eingeschätzt. – Waren es Denker? Erst recht nicht. Denker leben typischerweise bewußt in der herausgestellten Vorstellungswelt, außer Zusammenhang mit ihrem schöpferischen Selbst; von ihnen gilt alles gegen die Ideologen Angeführte. – Waren es Weise? – Ja. Doch bei genauerem Hinsehen findet man, daß nur solche Weise als anerkannte Höchstausdrücke des Menschentums fortleben, welche gleichzeitig Staatsmänner waren, oder doch als solche gesinnt. Damit hätten wir eine Bestätigung e consensu gentium unseres gestrigen Ergebnisses, daß nur der Idealist, welcher zugleich Realpolitiker ist, praktisch Großes leistet. Der Staatsmann, im Gegensatz zum reinen Geistesmenschen, hat es grundsätzlich allerdings nur mit dem Zeitlichen und Vorläufigen zu tun. Aber da wir nun einmal in einer zeitlichen und veränderlichen Welt leben, so ist seine Aufgabe, auch vom geistigen Standpunkt aus beurteilt, die wichtigste, denn nur er weiß Zeitliches und Ewiges miteinander zur Deckung zu bringen. Sie liegt auch keineswegs mehr an der Oberfläche als die Aufgabe jenes, denn den Sinn muß der staatsmännisch Gesinnte im Idealfall ebenso tief, wie jener, erfassen, überdies aber die Mittel finden, ihn im Körper der Lebensgesamtheit vollkommen zu verwirklichen. Der Idealfall ist bis heute vielleicht noch niemals eingetreten, aber daß er hier und nicht anderswo seinen ideellen Ort hat, geht eindeutig aus der einen Erwägung hervor, daß alle großen Religionen von ausgesprochen staatsmännisch gesinnten Geistern begründet worden sind. Sollte also der eigentliche Staatsmann in der bisherigen Geschichte typischerweise einen geringeren Grad der Sinneserfassung verkörpert haben als der Geistesmensch, so besagt dies doch nichts gegen seine Vorzugsstellung als Anlage. Freilich muß der Staatsmann Weiser sein, um Größtes zu bewirken, aber vor allem gilt das umgekehrte Verhältnis: hier liegt, vom Standpunkt der Weisheit, der springende Punkt. Hieraus folgt aber weiter eben das, was wir gestern von einem anderen Ausgangspunkte her implicite feststellten: daß Staatsmanntum als Anlage mehr bedeutet als spezifisch-politisches Talent: es bedeutet ganz allgemein die Fähigkeit zur Verwirklichung des jeweiligen Sinnes. Deren ausgesprochenster und umfassendst ausgebildeter Repräsentant ist eben der Staatsmann, weil dieser die Sinnesverwirklichung mit den reichsten Mitteln, von weitester Basis aus und auf die größten Ziele hin betreibt. Deswegen muß er als der Prototypos gelten. Deshalb wird auch die Bedeutung des sinnverwirklichenden Philosophen für diese Welt am gegenständlichsten am Maßstab jenes gemessen. Auch dieser kann sich nur vermittelst der vorhandenen Kräfte seiner Zeit – hier der Denkmittel – ausdrücken. Auch er fördert die Erkenntnis genau nur insoweit, als er das Neue zum Alten in lebendige Beziehung setzt, d. h. das gerade Mögliche verwirklicht. Vertritt er Wahrheiten, für welche die Verstehensorgane fehlen, so erreicht er nichts. Und nicht anders, wie mit der psychologischen Verständlichkeit, steht es mit der objektiven Richtigkeit. Sinneserfassung verhält sich zur Realpolitik genau so, wie ein theoretischer Sinn zu seinem wissenschaftlich exakten Ausdruck. Exaktheit im Ausdruck ist recht eigentlich die Realpolitik des Manns der Wissenschaft. Umgekehrt ist Macchiavellismus grundsätzlich genau so berechtigt, dem Ideal genau so wenig widersprechend, wie die Verwendung der angemessenen Begriffe in der Philosophie. Sogar der Takt spielt hier wie dort die gleiche Rolle: nur der Denker wirkt, welcher weiß, wie er seine Erkenntnisse vorzubringen hat, in welcher Stoff-, Raum- und Zeitverteilung. Wenn unbestreitbar wahr ist, was Flaubert vertrat, daß nur gutgeschriebene Bücher auf Dauer rechnen dürfen, so liegt dies eben daran, daß nur gute Schriftsteller im gestern ausgeführten Sinne taktvoll sind. Wissenschaft und Politik, wie andererseits Kunst und Lebensführung, sind allesamt, vom Standpunkt der Weisheit aus betrachtet, nur Sonderformen der Sinnesverwirklichung; das Urbild des Sinnesverwirklichers ist aber weder der Künstler noch der Philosoph, sondern der Staatsmann, weil bei diesem das Primat des Sinns sowohl als die grundsätzliche Kontingenz der Ausdrucksmittel am reinsten in die Erscheinung tritt.

 

Doch ehe wir weiter fortschreiten, müssen wir noch eine kleine Umschau halten. Die Staatstheoretiker unter den großen Denkern der Geschichte haben nämlich den Akzent meist umgekehrt oder doch anders als wir gelegt. So meinte Plato, die Philosophen als solche sollten herrschen. Wie weit der große Athener sich als Ratgeber des Tyrannen Dionys bewährt hat, ist aus der Geschichte nicht deutlich zu ersehen. Aber das Utopische seiner Staatsidee und die Engheit und das Zwangsverlangende des praktischen Gesichtskreises, den seine politischen Schriften offenbaren, legen die Vermutung nahe, daß er als Herrscher schwerlich besser gewirkt hätte, als sonstige Theoretiker und Intellektuelle, wenn sie zur Macht gelangen. Was Eisner und Landauer praktisch geleistet haben, dürfte symbolisch bleiben für alle Philosophokratie. Zum Überfluß ist Bertrand Russell, dem scharfsinnigen Mathematiker und Philosophen, als er in Sowjet-Rußland weilte, die frappante Ähnlichkeit des bolschewistischen mit dem platonischen Staate aufgefallen. Deshalb irrte Plato wohl, wenn er sich selbst als Herrscher im Auge hatte. Gewiß wären Philosophen, sofern sie der Anlage nach Staatsmänner sind, die berufensten aller Regenten, als Theoretiker und Intellektuelle sind sie es nicht, und wenn sie in jedem Falle richtig angeben könnten, wie man es machen soll; alle Philosophen des Westens seit der Frühantike, mit der einzigen Ausnahme vielleicht des gewaltigen Leibniz, waren aber Theoretiker, deren Fähigkeit der Sinnesverwirklichung über das Reich der Abstraktionen nicht hinausreichte. – Die Religionsstifter, im Gegensatz zu den Philosophen, waren nun häufig echte Herrschernaturen, denn sie gingen unmittelbar vom Sinn aus, keinem Zwischenreich, weshalb sie der Eigenart der Erscheinung unwillkürlich Rechnung trugen. Jesus war sehr praktisch, trotz des Radikalismus seiner Lehre, und so wenig er persönlich ans Weltliche dachte; nur deshalb hat jene im grandiosen Organismus der katholischen Kirche, der nichts ausschließt, wenn nicht einen unbedingt passenden Körper, so doch an sichtbarster Stelle Raum finden können. Mohammed, gleich Moses, war ein durchtriebener Politiker und Buddha gar eine Herrschernatur allerersten Ranges; ich kenne nichts Königlicheres, als den Geist, aus dem dieser seine milde Lehre formte. Aber den Religionsstiftern war es nie um diese Welt als solche zu tun. Deshalb gilt von ihrem Typus nicht, was vielleicht von den meisten einzelnen Persönlichkeiten gegolten hat. Auch er ist in bezug auf diese Welt exzentrisch eingestellt und bezeichnet daher nicht, was immer Ekklesiastiker geschrieben haben, den Typus des vollendet überlegenen Menschen. – Bei den Ordensgründern braucht man auf das Politische ihres Wesens kaum überhaupt hinzuweisen. Was hätte der heilige Benedikt erreicht, wenn er die Menschennatur nicht von überlegener Warte gemeistert hätte? Alle großen Ordensgründer waren Staatsmänner, mit der einzigen Ausnahme vielleicht des Heiligen Franz, dessen Orden auch nicht dank ihm, sondern durch andere, und vielfach im Gegensatz zu seinem eigenen Geiste, das wurde, als was er sich später darstellte. Ignatius von Loyola stehe ich persönlich nicht an, als den größten aller Politiker zu feiern, denn was er erreicht hat, steht völlig einzig da: sein Orden hat sich nach seinem Tode beinahe ununterbrochen im Sinn der geistigen Führung und der Qualität der leitenden Persönlichkeiten auf gleicher Höhe erhalten, wo sonst schon der erste Nachfolger die dauernde Niveausenkung einleitet. Dies ist der Triumph einer psychologischen Genialität, welche Ignatius mit vielleicht keinem anderen Organisator der Geschichte teilt. Aber dieser war andererseits alles eher als ein Weiser, denn nicht tiefste persönliche Einsicht und letzte persönliche Verantwortung lenkten sein Tun, sondern Hingabe an ein blind übernommenes Dogma und an fremden Willen. Metaphysische Unaufrichtigkeit, welche persönliche Aufrichtigkeit freilich nicht ausschließt, ist die empirische Voraussetzung des Jesuiten. In geringerem Grade gilt Gleiches aber von jedem Glaubenstypus. Aus diesem grundsätzlichen Grunde können überhaupt Priester keinesfalls als Idealtypen gelten, so oft sie geherrscht haben, welche Erwägung die Theokratie als beste Herrschaftsform erledigt – diese artet unabwendbar, man fingiere an Stellvertretung, was man will, sintemalen Gott doch nicht persönlich regiert, zur Priesterherrschaft aus: Priester können, wo sie herrschen, nicht umhin, besonders kasuistisch, macchiavellistisch (im üblen Sinn) und betrügerisch vorzugehen, weil sie starre Dogmen vertreten und dennoch weltklug vorgehen müssen. So führt auch dieser Umweg zu unserer letzten Feststellung zurück. Diese aber deckt sich mit der Überzeugung aller Völker und Zeiten. Wie immer die jeweiligen Machtverhältnisse beschaffen waren – weder Religionsstifter noch Priester, noch Gelehrte, noch Künstler, noch auch Philosophen hat das Menschengeschlecht je als Idealtypen anerkannt. Als Ideal hat ihm zu aller Zeit der staatsmännisch gesinnte Weise gegolten, mit dem Nachdruck auf dem Staatsmanntum, dieses aber hat es zu aller Zeit im Bilde des königlichen Menschen geschaut. Solches gilt von schlechthin allen Menschen. Es gilt vom Literatenvolk der Chinesen, als welches sein Ideal in den mythischen Kaisern der Vorzeit verkörpert sieht, es gilt vom Philosophen- und Priestervolk der Inder, das nicht in Jajnavalkya und Vyasa, sondern in Krishna, Manu und König Janaka seine höchsten Vorbilder verehrt. Gleichsinnig stellen sich alle Völker ohne Ausnahme ihre allwissenden Götter nicht als Weise oder Heilige, sondern als Könige vor. Warum nun wird der König als Typus des überlegensten und freiesten Menschen einstimmig anerkannt? – Mit der Beantwortung dieser Frage sind wir zum Endergebnis aller bisherigen Gedankengänge gelangt. Nicht weil er die äußere Macht hat. So sehr er dieser bedarf und so wenig man deren Prestige unterschätzen darf, bei ihm wird vorausgesetzt, daß sie zu ihm gehört, und in der Tat: dem innerlich Subalternen nützt keine Machtstellung; wer nicht zu solcher geboren ist, verträgt sie nicht. Nein, der königliche Mensch gilt als höchster Mensch, weil er der Ganzheit des Lebens innerlich überlegen ist. Weil er natürlicherweise über dem steht, was alle anderen bindet. Weil er den Höchstausdruck staatsmännischer Überlegenheit darstellt.

Es ist eine Niveaufrage. Dem König kann seinem eigensten Begriffe nach keine Gestaltung die letzte Instanz bedeuten. Er darf nicht einseitig sein, wie Doktrinäre, reine Praktiker und Fachleute, nicht subaltern, wie Arbeitstiere, Routiniers und gelehrte Rechner. Er darf aber auch nicht bloßer Taktiker sein, denn er hat dauernde Ziele vor Augen, nicht Ideolog, denn er hat es unmittelbar mit der Wirklichkeit zu tun, nicht tatsachengläubiger Realist, denn dann fehlte seiner Überlegenheit der Sinn. Um diesem das Primat zu wahren, kann er kein Faktum als letzte Instanz gelten lassen, muß er in jedem Falle davon ausgehen, was solches im Zusammenhang bedeutet. So muß er schon jenseits von Gut und Böse stehen, denn tagtäglich hat er vermittels des Bösen Gutes zu wirken. Nun, diese herrscherische Einstellung allein ist die der vollkommenen Überlegenheit. Deshalb ist der Herrscher-Weise als Typus in der Tat der höchste Mensch.

 

Der königliche Herrscher-Weise ist der höchste Mensch, weil er an keine Erscheinungssonderart gebunden, vielmehr jeder überlegen ist; weil alles empirische Werden von seinem Standpunkt notwendig Sprache ist, nicht Sinn, und die Wahl dieses oder jenes Ausdrucksmittels eine politisch-taktische, keine Wesensfrage. Stellen wir uns nunmehr, von den Forderungen aus, die unsere bisherigen allgemeinen Einsichten ermöglichen, den höchsten Herrscher-Weisen, der theoretisch denkbar wäre, so konkret als nur irgend möglich vor. Ein solcher müßte und könnte offenbar schlechthin aller Natur überlegen sein. Zu dieser gehört ja schlechthin alles, was nicht Sinn ist; das Empirisch-Psychologische des Menschen nicht minder, wie die materielle Außenwelt. Ihr gehören schlechthin alle Gestaltungen an, nicht allein die sichtbar objektivierten und materialisierten, sondern auch die seelischen und geistigen bis zu den höchsten Idealen hinauf, soweit diese in fertigen Begriffen, Dogmen, Programmen, Vorurteilen konkretisiert sind. Genau genommen, sind alle Gestaltungen (als Ausdruck) materiell. Nicht Materie und nicht Natur ist einzig das, was sie von innen her hervorbringt und belebt. Deswegen muß es grundsätzlich gelingen, wenn anders Überlegenheit überhaupt ein Ding der Möglichkeit ist und deren Grad von der Sinnestiefe abhängt, in welcher das Bewußtsein sein Zentrum hat; wenn anders es dem Menschen gegeben ist, in fortschreitend tieferen Sinnesregionen Wurzel zu fassen, wementsprechend neue Kräfte frei werden (vgl. S. 184 ff.), zuletzt der ganzen Welt überlegen zu werden.

Aus diesen Erwägungen ergibt sich zunächst das folgende: es bedeutet theoretisch ein Mißverständnis, welches praktisch innere Grenzen schafft, aus Geistesgründen der Materie abhold zu sein. Alle Gestaltung gehört ja zu ihr. Will man aus Furcht vor dem Stoff ein vermeintliches »Geistiges an sich« in einen einfürallemaligen Ausdruck zwängen, so ist das, was einem dabei zu fassen gelingt, eben dadurch materialisiert und zwar in viel starrerer und deshalb stoffdichterer und beschränkenderer Form, als wenn man jenem weniger zu entrinnen trachtete. Daher die besonders ausgesprochene Gebundenheit des Ideologen. Aus diesem einen Grunde müssen sämtliche Lösungen des Überlegenheitsproblems, die auf einem Absehen von oder einem Verleugnen der Natur beruhen, grundsätzlich schief sein. Die Stoiker, die sich befreien wollten, schufen sich in Wahrheit nur einen seelischen Panzer, der sie vor Erlebnissen bewahrte – dieser jedoch beengte ihren Geist viel mehr, als unbefangenes Leiden getan hätte; es bedarf in der Tat eines ungeheueren Apparats von starren Begriffen, um sich auf stoisch abzuschließen. Gleiches gilt in oberflächlichster Form (denn hier kommen nicht einmal selbstgeschaffene Bindungen in Frage) vom modernen Pflichtmenschen. Das Mönchtum, seinem allgemeinen Sinne nach beurteilt, kann einen besten Weg bezeichnen, um die Natur zu einem gefügigeren Ausdrucksmittel umzubilden, aber als Dauer- und Endzustand bedeutet es eine Verengerung, keine Überwindung ihrer. Daher die unerhörte Geregeltheit des Mönchlebens: nur in so starrer Gesetzesbefolgung, wie solche sonst nur tote Sterne kennen, kann Geistesfreiheit in diesem Zustand bestehen – und wer sieht nicht, daß der Mönch insofern noch viel naturgebundener als der Weltmann ist? Der Weg zur wahren Freiheit hat mit der Einschränkung der Gestaltung an sich nichts zu tun. Freier wird der Mensch genau proportional dem Maß, indem er sich innerlich über diese erhebt und durch sie hindurchliest und -lebt. Gedenken Sie der Bilder von den vier Stockwerken der Sprache und des Verhältnisses des unbegrenzt mannigfaltigen Sinnes, welcher vermittels der gleichen 25 Buchstaben auszudrücken ist: Freiheit gibt es ausschließlich im Reich des Sinns. Deshalb ist es von deren Standpunkt völlig gleichgültig, durch welche Mittel sie sich manifestiert, ob diese nun reich sind oder arm: nur darauf kommt es an, daß das Bewußtsein in der Region des Sinnes wurzelt. Asketik, Disziplinierung, wie alle sonstige Einschränkung der Natur können deshalb genau nur insoweit als sinngemäß gelten, wie sie die Realisierung des Sinnes vorbereiten, so wie man Grammatik und Syntax methodisch lernen muß, um eine Sprache schließlich frei zu beherrschen. Nachher müßte Asketik überflüssig werden. Dies ist die grundsätzliche Seite des Sachverhalts. Praktisch aber liegen die Dinge noch anders, und zwar gerade umgekehrt als Stoizismus, Asketismus und abstrakter Idealismus annehmen: da Überlegenheit über die Natur der Freiheit Gradmesser ist, so ist der Mensch desto größer und desto freier, je reicher die Natur, die er beherrscht. Es bedarf keiner großen Kunst, eine so arme und dürftige zu regieren, wie solche aus mönchischer Erziehung typischerweise hervorgeht; schwerer und wertvoller ist die Meisterung solcher, welche alles Menschliche in sich einschließt und bejaht. In der Tat: wer seine Natur ganz beherrscht, braucht keine Anlage zu verleugnen, denn er hat es nicht mehr nötig. Der braucht nicht einmal sein Böses zu verleugnen. Es ist das gewisseste Zeichen von Subalternität, wenn einer nur das sogenannte Gute in sich verträgt, nur vermittels dieses Gutes zu wirken weiß. Die Geister des Lichts und der Finsternis hängen bei allen, die nicht schon endgültig im Lichtreich aufgingen, organisch zusammen; es ist unmöglich, wesentlich vorwärts zu kommen, wofern man nicht beide an ihrem Ort bejaht (vgl. S. 331). Nun aber gelangen wir zum Schlußglied dieser Gedankenkette. Gedenken wir des Bildes vom Baume, dessen Wurzeln desto tiefer ins Erdreich eindringen müssen, je höher die Krone gen Himmel ragt (vgl. S. 191): demnach verlangt wachsender Reichtum zu seiner Meisterung vom Geist her korrelativ größere Tiefe. Also ist gerade um der Geistesverwirklichung willen Reichtum, nicht Armut zu postulieren. Die bisherige Asketik sah in der Anstrengung zur Armut, in der sogenannten Mortifikation, den besten Weg zum Heil. Sofern sie die menschliche Vollendung anstrebte, irrte sie. Gerade die Aufgaben des Reichtums, als solche erkannt, bringen die Mächte der Tiefe zur Wirksamkeit. Diese Erwägung erweist endgültig die Höchststellung des herrscherisch überlegenen, allesbejahenden Menschen.

 

Ehe wir weitergehen, muß ich einiges wiederholend zusammenfassen, was ich schon früher gesagt habe, und einiges andere etwas breiter ausführen, damit nichts unklar bleibt. Die Welt des Sinnes hängt ebenso lückenlos zusammen, wie die des Erscheinenden. Aber während diese ein mechanisch-einheitliches System darstellt, ist jene ein Organismus (vgl. S. 29). Wie jede Zelle im Körper, jedes Organ seinen Seinsgrund in der Rolle hat, die es in diesem spielt, wie unser Leben einen Sinn haben muß, um lebenswert zu erscheinen, so ist jeder erfaßte Sinn seinerseits Sinnbild eines möglichen tieferen. Hier ist keine Grenze möglicher Tiefe abzusehen. Wie gelangt nun ein tieferer Sinn dazu, sich zu manifestieren? Allein durch Oberflächlicheres hindurch. Dieses muß durchorganisiert sein. Jede neue, tiefere Sinneserfassung setzt zu ihrer Möglichkeit die Durchbildung des ganzen Organismus vom erfaßten Sinn bis zur Erscheinung voraus. Hierauf beruht der Fortschrittswert der Wissenschaft, hierauf die Notwendigkeit stufenweiser Bildung. Jede allgemeinere exakte Begriffsfassung des Wirklichen schafft einen neuen Ausgangspunkt zur Beherrschung seiner; das Verständnis jedes Neuen setzt einen ganz bestimmten Organismus des schon Vorhandenen voraus. Wer immer nun seinen gesamten Geistes- und Seelenkörper vom jeweilig erfaßten Sinn bis zur äußerlichsten Erscheinung durchorganisiert hat, so daß diese dem innersten Impuls ohne Widerstand gehorcht, ist auf seiner Stufe frei, denn sein Tiefstes gehorcht nicht, sondern befiehlt. So kann man schon als buchstabenbestimmter Beamter, Mönch und Sklave frei sein, sofern die Gebundenheit geistiger Beschränkung entspricht: in diesem Falle wirkt sich das Wesen vermittels bejahter Schranken doch selbständig aus. Nur liegt hier das Bewußtseinszentrum ganz nahe der Oberfläche; deshalb bleibt der innerlich freieste Buchstabengläubige metaphysisch subaltern. Entsprechendes gilt von jedem Blindgläubigen überhaupt. Kein solcher, und beträfe sein Glaube die absolute Wahrheit, ist selbstbestimmt; wo eine Wahrheit nicht vom persönlichen Bewußtsein begriffen ist, ist ihr Vertreter nicht souverän – der Grad der Souveränität entscheidet aber über die persönliche Bedeutung des Menschen. Diese wächst nun genau proportional dem Sinnverstehen und dessen Verkörperung in der Lebensgesamtheit. Je tiefere Kräfte das unmittelbare Ausdrucksmittel eines Menschen darstellen, desto mehr oberflächlichen ist dieser physiologisch überlegen, und die Tiefe der Kräfte ist der der Sinnesregion proportional. Wer sein Bewußtseinszentrum im tiefsten Sinn belegen hätte, wessen Organismus von der Oberfläche bis zu diesem durchorganisiert wäre, der wäre vollkommen frei. Denn den bände die Gesetzmäßigkeit der Natur überhaupt nicht mehr, dem diente sie vielmehr auf deren sämtlichen Ebenen, wie dem Dichter die Sprache, als vollbeherrschtes Ausdrucksmittel. Hier hätten wir den eigentlichen Erkenntnisgrund des vorhin Gesagten, daß ein solcher nichts an ihr mehr zu verneinen braucht. Die Gesetzmäßigkeit der Natur an sich ist ein Unüberwindliches; die Normen der Logik binden im gleichen Verstande absolut, wie Blutkreislauf und Skelett. Nur im Reich des Sinnes gibt es Freiheit, nur von ihm aus gelangen Impulse der Wandlung ins routinierte Naturgeschehen hinein, was sich auf dessen Ebene so ausdrückt, daß es sich bei allen physiologischen Prozessen, die mit der Freiheit zusammenhängen, um Explosionen handelt Vgl. die Ausführungen Bergsons in dessen Buch L'énergie spirituelle, Paris, F. Alcan., und allgemein um Entscheidungen Vgl. Erscheinungswelt und Geistesmacht in Philosophie als Kunst., deren Möglichkeit mit der verschiedener Lösungen eines gleichen Problems zusammenfällt, zwischen denen das Geistige wählt. Empirisch betrachtet gibt es also Freiheit nur im Augenblick der Indifferenz Diese Wahrheit hat zuerst mein Großvater, Graf Alexander Keyserling, erkannt. Vgl. dessen posthumes Schriftchen Einige Worte über Raum und Zeit, Stuttgart 1894, Cotta., welcher Entscheidung gestattet; in unserer Ausdrucksweise: indem ein Sinn, noch schwebend, zum Ausdruck wird; sobald eine Entscheidung stattgefunden hat, herrscht unbedingte Gebundenheit (vgl. S. 92). Dennoch ist die Freiheit das Primäre gegenüber dieser, wie der Sinn gegenüber dem Ausdruck. Sie realisiert sich praktisch proportional dem Grad, in welchem sie bewußt wird. Dies geschieht so, daß die äußerlich unveränderte Bindung, indem das Bewußtsein sich in immer tieferem Sinn zentriert, immer mehr zum Ausdrucksmittel wird; gleichermaßen lenkt man den äußeren Naturprozeß nicht, indem man dessen Gesetze durchbricht, sondern dieselben von überlegener Erkenntnis her beherrscht. Je tiefer nun der Sinn, in dem das Bewußtsein seinen schöpferischen Mittelpunkt hat, desto höher, noch einmal, die Überlegenheit über die Natur. Deshalb braucht höchste tatsächlich gar nichts an ihr zu verneinen – deren Gesamtheit ist ihr zum Ausdrucksmittel geworden. Auf diese Weise erklärt es sich, wie Gott, obschon die Welt des Bösen voll ist, doch als Schöpfer und Erhalter ihrer Gesamtheit vorgestellt wird.

Der Satz, daß nicht Armut sondern Reichtum um der Geistesverwirklichung willen zu postulieren ist, verlangt deshalb die folgende Ergänzung: Reichtum und Tiefe sind grundsätzlich proportional. Doch hier setzt eine Einschränkung ein, und diese erklärt, warum diese Gleichung bisher unerkannt blieb: sie gilt auf der Ebene des Sinnes, nicht der Tatsachen. Deshalb muß sie erst verwirklicht werden, um wirklich zu werden; deshalb ist es kein Wunder, daß die meisten Daten der bisherigen Geschichte gegen ihre Geltung sprechen. Aber sie kann eben jetzt, oder von jetzt ab verwirklicht werden, die geistige Möglichkeit steht fest; sie kann es eben jetzt, weil der geistige Organismus des Menschen heute allgemein, dank dem objektiv bestehenden Erkenntnisfortschritt, so weit durchorganisiert ist, daß er den erforderlichen tieferen Sinn zu verkörpern fähig ist. Deshalb handelt es sich bei dem königlichen Menschen, den wir konstruierten, dem Herrscher-Weisen, welcher der ganzen Welt überlegen wäre, obschon er noch niemals da war, um keine Phantasterei, sondern ein Vorbild möglicher Wirklichkeit.

 

Denken wir von hier aus nun daran zurück, daß nicht der Philosoph, nicht der Künstler, sondern der Staatsmann das Prototyp des Sinnesverwirklichers ist, weil sich in dessen Tätigkeit zugleich das Primat des Sinns und die Kontingenz der Ausdrucksmittel am reinsten darstellen. Je näher der Oberfläche ein Sinn, desto eindeutiger ist er, an desto bestimmtere Gestaltungen gebunden. Deshalb konnte vormals der bildende Künstler als Prototyp des Geistesverwirklichers gelten, er, der, je bedeutender er ist, desto mehr, in der Regel, nur auf eine Weise kann. Bei der Vertieftheit nun, die ein Bejahen und Lenken aller Erscheinung ermöglichte, kann von einer apriorischen Festlegung der Ausdrucksmittel nicht mehr die Rede sein; hier gilt bei aller Betätigung das, was an der Oberfläche nur taktische Realpolitik charakterisiert. Warum? Weil in diesem Falle alles auf die letzte Bedeutung ankommt. Wohl hat jede Gestaltung als solche, gemäß dem Korrelationsverhältnis von Sinn und Ausdruck, wie die Sprache in ihrer lexicographischen Bedeutung und nächst dieser die formale Wissenschaft am besten illustriert, einen ihr allein gemäßen unmittelbaren Sinn. Aber dieser kann seinerseits als Sinnbild von tieferen verstanden werden, und wo solcher Tiefere bestimmt, dort ist der Eigensinn der Gestaltung nicht mehr letzte Instanz: dort ist diese grundsätzlich vieldeutig, wie wiederum die Sprache als solche am besten illustriert, denn das eigentlich Gemeinte liegt in einer anderen Region, welche die Sondersinne ihrerseits nur ausdrücken. Jedem Vertieften ist also alle Gestaltung im gleichen Sinne vieldeutig, wie dem Staatsmann, der sein ideales Ziel vermittels der gerade vorhandenen beliebigen Kräfte verwirklicht. Aus diesem Grunde muß es praktisch wohl das erste Kennzeichen des Vertieften sein, daß er Gestaltungen als solche nicht mehr ernst nimmt. Dies erwies sich schon früher in jedem Fall, wo letzte Tiefe unmittelbar bestimmte. Die indischen Weisen waren in bezug auf Dogmen und Systeme Relativisten. Gleichsinnig verleugnete Jesus jegliche Gesetzesgerechtigkeit als Wert, lehrte Laotse: »Der große Sinn ward verlassen, da gab es Sittlichkeit und Pflicht.« Wer den Sinn des Moralischen erfaßt hat, für den kann es in der Tat keine unbedingten Gebote und Regeln mehr geben. Das moralische Gesetz an sich ist gar nichts Tiefes (vgl. S. 234); bei ihm handelt es sich um nicht mehr als eine Naturgesetzlichkeit, und zwar eine dem physikalischen Satz von der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung nahe verwandte Vgl. hierzu meine Betrachtungen in der Bücherschau des 3. Hefts des Wegs zur Vollendung., welche die indische Karmalehre (die den Indern eben auch nur als Naturlehre gilt) bisher am besten, wenn auch ihrerseits noch unbefriedigend faßt. Darum kann die »moralische Erscheinung« eine durchaus verschiedene Bedeutung haben, je nach den Umständen. Das Moralische versteht sich in dem Verstand »von selbst«, daß es das Minimum dessen darstellt, was dem Menschen, sofern er über dem Tiere stehen soll, wirklich zu sein hat. Gerade deshalb ist aber jeder einigermaßen Tiefe übermoralisch, steht der ganz Tiefe selbstverständlich jenseits von Gut und Böse. Auch das Böse ist eine notwendige Kraft in der Weltökonomie. Zu allen kritischen Zeiten ist das Böse und nicht das Gute Träger des Prinzips der Erneuerung, wie denn das Kainsmal von der Esoterik als Gnadenzeichen gedeutet wird, wie Lucifer die erste Erleuchtung brachte, wie die teuflischen Gestalten der Bolschewisten trotz aller Tatsachen in vorderster Reihe für eine bessere Zukunft stehen. Das Böse wirkt Unheil nur dort und nur so lange, als der Mensch ihm dienstbar ist, anstatt es zu beherrschen. Deshalb ziemt dem Subalternen freilich, es zu meiden. Wenn jedoch Nietzsche den Menschen zurief, wieder böse zu werden, so wußte er wohl, was er tat: höheres Menschentum beginnt erst oberhalb des moralischen Gegensatzes. Es kann erst dort beginnen, weil der Sinn einer Handlung niemals nach starren Regeln zu verstehen ist: je nach dem Zusammenhang kann Gleiches Gutes und Böses bedeuten. Und von hier aus – ich greife noch einmal auf das Sondergebiet der Politik zurück, um den letzten Betrachtungen mehr Farbe zu verleihen – von hier aus begreifen wir vollends die Verachtung, die jeder große Staatsmann dem politischen Ideologen zollt: für ihn gibt es selbstverständlich nur konkrete, keine abstrakten Probleme, denn der gleiche Sinn verlangt in jeder Situation einen anderen Ausdruck, um sich als wirksam zu erweisen. Was sich in diesem Zusammenhang zu widersprechen scheint, ist in Wahrheit identisch. Deshalb äußert sich echte Überlegenheit praktisch allezeit, wie theoretisch in Relativismus bezüglich der Gestaltung, in extremem Rechnungtragen der jeweiligen Lage. Kein Großer war jemals Drauf- und Durchgänger um jeden Preis; der Große geht nur dann drauf und durch, wenn diese Taktik gerade zweckmäßig ist. Da er sieht, bis zu welchem Grade und in welcher Form der Sinn, den er meint, jeweilig verwirklicht werden kann, so sagt und tut er nur, was frommt, was der Verwirklichung näher bringt. Insofern bedeuten Bismarcks Kurzsichtigkeit – er unternahm nie mehr, als sich gerade erreichen ließ – und Buddhas Pragmatismus – er sprach nur aus, was die Mehrheit fassen konnte – Gleiches. Aus den gleichen Gesichtspunkten gingen Sokrates und Christus in den Tod: sie wußten, daß das Martyrium ihre Ziele förderte. Gewiß waren sie keine politischen Opportunisten im üblichen Wortverstand, aber reiner Idealismus als Bekenntnisdrang und praktischer Blick für die Lage deckten sich in ihrem wie in jedem großen Fall. Deshalb lieferte sich Christus erst aus, als er die Stunde dazu gekommen fühlte: nur beim Subalternen schließen Idealismus und Macchiavellismus sich aus, beim Überlegenen bedingen sie einander vielmehr. Dieser verträgt einen Grad der Bewußtheit, der geringere um ihre innere Sicherheit brächte. Oft wurde und wird die Frage aufgeworfen, warum der doch allmächtige Gott so viel Übles und Unglück geschehen läßt. Nun, dies hat wohl die gleiche Ursache, die es Jesus unmöglich machte, dem widerstrebenden Schächer zu helfen, welche Confuzius davon abhielt, seine Aussprüche, falls sie nicht gleich verstanden wurden, zu wiederholen (vgl. S. 235), die jedem Tiefen verbietet, irgend jemand überreden oder zwingen zu wollen. Der Tiefe weiß, daß alles Verstehen, als ein Schöpferisches, von innenher kommt, demzufolge ein schlechterdings Freiwilliges ist und nie erzwungen werden kann. So künden die nördlichen Buddhisten vom »strengen Weg« der Bodhisatvas, der zu bestimmten Wendezeiten darin besteht, die Zertrümmerung der Welt bewußt und absichtlich zu betreiben. Ein Gläubiger dieser Lehre möchte meinen, gerade heute seien solche am Werk, denn seit Menschengedenken hat sich jede vernünftige, der Katastrophe vorbeugende Entscheidung im letzten Augenblicke nicht so regelmäßig durch irgendeinen Zufall vereitelt erwiesen. Die Bodhisatvas lassen Europa sich zertrümmern, dieweil sie wissen, daß die Einsicht zu gering ist, als daß eine vernünftige Lösung dem wahren Zustande entsprechen könnte. Nur persönliche Erfahrung – sowohl im Sinn der Erkenntnis des wahren inneren Zustands, als dem der verderblichen Folgen, welche dieser zeitigt – macht von Hause aus Unweise leider schließlich weise. Deshalb bedeutet ein Mitansehenkönnen des Leids, nicht allein beim Bodhisatva, sondern schon beim mächtigen Menschen, unter Umständen ein menschenfreundlicheres, als ein Nachgeben gegenüber dem natürlichen Mitgefühl. Deshalb war kein Großer jemals sentimental. Deshalb scheute keiner erforderlichenfalls vor Gewaltanwendung zurück. Die Gebundenheit, Trägheit und Blindheit sind Naturtatsachen, die sich von selbst nicht ändern. Fehlt der Antrieb, der dies von innen her bewirkt, so können nur leidvolle äußere Erfahrungen helfen. Wer andere wesentlich vorwärts bringen will, wird ihnen selten Erfahrung ersparen.

 

Das allezeit gültige Korrelationsverhältnis von Sinn und Ausdruck gewinnt also, je nach der Sinneserfassungsstufe, verschiedene Ausprägung. Je tiefer jene, je höher dementsprechend die Überlegenheit, desto vieldeutiger werden die Tatsachen. In der Möglichkeit, diesen aus eigener Wahl jeweilig verschiedenen Sinn zu erteilen, dokumentiert sich praktisch die Freiheit. Solche fällt ihrerseits mit der Überlegenheit im Begriff zusammen. Der Weise steht über dem Schicksal, insofern das Gleiche, was andere niederwürfe, ihm nichts anhat; ein Cäsar lenkte die Geschicke, insofern er die mehr als häufig unglücklichen Zufälle, die seinen Weg kreuzten, zu seinem Vorteil umlenkte; Jesus und Sokrates erwählten freiwillig den Tod, weil das, was anderen ein Ende bedeutet hätte, von ihnen als Weg zur Ewigkeit erkannt wurde. So schafft Vertiefung buchstäblich Weltüberlegenheit. Nichts kann den Geist grundsätzlich hindern, dem Geschehen beliebigen Sinn einzubilden. So sind sogar »Wunder« nicht allein möglich, sondern grundsätzlich Selbstverständlichkeiten. Zu durchbrechen ist die Naturgesetzlichkeit freilich nicht, aber falls, von neuer Sinnestiefe her, neue Kräfte in ihr wirksam werden, so ergibt dies eine Veränderung der Erscheinung, die aus deren vorheriger Kenntnis unbegreiflich bleibt. Jede Inspiration, jeder geniale Einfall, jede magische Wirkung ist ein echtes Wunder, nicht zuletzt das Leben selbst, das seinen ideellen Ort im Jenseits der Erscheinung hat Vgl. den 5. Vortrag meiner Prolegomena zur Naturphilosophie.. Im gleichen Verstand ist eine vollkommene Überwindung des Schicksals möglich. Das Schicksal von heute ist überall die Folge der freien Entschlüsse der vorhergehenden Geschlechter (vgl. S. 93). Je nachdem, wozu diese sich entschieden, geraten andere Karmamassen ins Rollen. Der Mensch entscheidet sich aber wiederum mehr oder minder souverän, je nach seiner Sinneserfassungsstufe; er erscheint gebunden in genauem Verhältnis zu dem Grad, in dem er den Sinn verkennt und die Ausdrucksmittel nicht beherrscht. Je mehr das Umgekehrte der Fall ist, je vollkommener die Deckung zwischen den Eigengesetzen dieser und dessen, was sie verwirklichen sollen, je durchorganisierter im großen, von der Tiefe bis zur Oberfläche, die menschliche Bewußtseinswelt, desto mehr gehorcht dem Geiste die Natur. So könnte es ohne Zweifel einmal dahin kommen, daß das Schicksal, wo immer es keine übermenschlichen Geistesgründe hat, durchaus vom bewußten Menschengeist die Richtung erhielte. Diese ungeheuere Möglichkeit wird Ihnen am besten einleuchten, wenn ich beim Schöpfungsmythos anknüpfe. Als der biblische Gott die Welt erschuf, da sprach er jeden Tag nur wenige Worte, und dementsprechend rollt das Geschehen seither ab. Hätte er damals ein klein wenig, nur um eine Nuance anders gesprochen, wir lebten heute in einer anderen Welt. In der Tat: die Korrelation von Sinn und Ausdruck ist so absolut, und die einmal erschaffene Gestaltung so unveräußerlich dem gesetzmäßigen Naturkreislaufe eingegliedert, daß die ersten Schöpferurworte das ganze seitherige Werden in seiner Art und Richtung völlig eindeutig prädeterminiert haben müssen. Dies mußten sie deshalb, weil sie die Urgründe betrafen: sind diese bestimmt, gilt Gleiches von der Richtung der Fortentwicklung, so ergibt sich deren Sosein ganz von selbst. Nun sprach zwar Gott jene Schöpferworte: aber die Tat selbst war, äußerlich betrachtet, eine Kleinigkeit. Deshalb steht auch die äußere Geringfügigkeit des Menschen der Überwindung des Schicksals nicht im Weg, falls aus jener nur die erforderliche Geistestiefe spricht. Denn der Begriff der Extension entbehrt im Reich des Geists des Sinns. Dort spiegeln sich Kleinstes und Größtes, weil es nur auf die Bedeutung ankommt, dort ist es wahr, daß Makro- und Mikrokosmos sich entsprechen. Besteht das Wunder der Ideenassoziation, dann ist grundsätzlich das größte Hellsehwunder möglich, denn beide bedeuten gleiches, unterscheiden sich nur technisch voneinander. In beiden Fällen wird ein gleich unbegreiflicher Kontakt zwischen an sich fern Auseinanderliegendem hergestellt. Die Telekinesie bedeutet nichts Rätselhafteres als die Bewegung des eigenen Körpers durch den Geist, sowie greifbarer Gegenstände vermittelst jenes, denn beide Vorgänge sind gleich und im gleichen Verstande rätselhaft. Wenn das Medium nur mit einem unter Vielen en rapport ist, so bedeutet dies Gleiches, wie die idealistische Lehre, daß die Welt meine Vorstellung ist – es erweist als möglich zugleich, daß unbegrenzt viele Welten einander durchdringen mögen. Die Extension spielt auf geistigem Gebiete keine Rolle, weil sie eben der Natur angehört, und die Dimension des Geistes senkrecht zur Dimension dieser, von innen nach außen zu, geht. Deshalb kommt es hier, zum Zwecke der Macht, allein auf die Tiefe der Sinneserfassung an. Entspricht die äußere Macht, als Ausdruck, dem jeweiligen Sinn, so entsteht sie ganz von selbst, so wie das Geld dem richtig disponierenden Unternehmer zuströmt, ohne daß er daran denkt. Gottes Tiefe wird freilich kein Mensch jemals erreichen. Aber die ihm erreichbare genügt, um das Schicksal, soweit es nicht kosmisch ist, zu überwinden. Nur setzt solches, wie ich wieder und wieder betonen muß, weil nichts schwerer eingesehen wird als gerade dies, die vollständige Durchorganisierung der Bewußtseinswelt von der Oberfläche bis zum tiefsten Sinn voraus, so daß vollkommene Realpolitik auf dem Gebiet des Ausdrucks möglich wird. Wäre die Durchorganisierung nun einmal vollendet – was dann? Nun, dann brauchte der Mensch, um von der Tiefe her zu wirken, nicht mehr zu tun, wie seinerzeit Gott. Denn dann wirkte sich das Tiefste so selbstverständlich bis zur äußersten Oberfläche aus, wie eine vom Großhirn gewollte Fingerbewegung abläuft, ohne daß das Bewußtsein den Weg überhaupt zu kennen braucht. Was der Mensch zuerst in Form toter Maschinen realisierte, wird einmal von allem niederen Leben gelten. Es ist eins der wichtigsten Ergebnisse der modernen Psychologie, daß der Mensch sich nur ein Ziel klar vorzustellen braucht, damit das Unbewußte von selbst den Weg zu seiner Verwirklichung findet Vergl. besonders Beaudouin Suggestion et Autosuggestion. Neuchâtel 1921.. Phantasie schafft genau so menschliche Wirklichkeit, wie diejenige Gottes die Welt erschuf. Mit anderen Worten: wo das rein geistige Urbild vorhanden ist, dort realisiert es sich selbsttätig. Aber es muß dazu unbedingt richtig vorgestellt werden: hier liegt der springende Punkt. Wie nur die unbedingt richtige mathematische Formel die Sonderausdrücke eines Naturgesetzes vorauszubestimmen gestattet, so muß das geistige Urbild so sinngemäß sein, daß es alle abgeleiteten Sinne richtig prädeterminiert, damit es zur positiven Schöpfung führt. Dies weiß die Asketik von jeher. Buddha verlangte rechtes Wort, rechte Tat, rechtes Gedenken, rechtes sich Versenken – nur das von richtiger Einstellung aus richtig Getane frommt. Gleichermaßen rechnet die moderne Psychotherapie mit der Bedeutung des rechten Worts in einem Grad, welchen Zauberformelgläubige kaum übertreffen. Das Unbewußte führt die Suggestionen des Oberbewußtseins so unfehlbar aus, daß der geringste Fehler karmamäßig fortwirkt und umgekehrt ein richtig ausgesprochener richtiger Gedanke genügt, um erstaunliche Veränderungen zum Besseren einzuleiten. Dies beweist, wie logoshaft alles Geschehen ist (vgl. S. 269). Im Rahmen unserer heutigen Betrachtung beweist es vor allem, daß Sinn sich nur vermittelst der richtigen Ausdrucksmittel verwirklicht. Es beweist die absolute Notwendigkeit klarster Realpolitik. Ist diese nun am Werk, dann mag auch ein von Menschen gesprochenes Wort zuletzt die Welt bewegen. Denn da es seine Bedeutung, nicht die physische Macht seiner Verkörperung ist, die ihm die Kraft verleiht – hier spricht der alte Zauberglaube wahr –, so steht die Kleinheit des Menschen seiner möglichen Weltüberlegenheit nicht im Weg.

 

Doch wie tritt Überlegenheit, die mit der Freiheit eines Sinnes ist, nun sichtbar zu Tage? Hier führt uns unser Weg zu den Betrachtungen des ersten Vortrags unseres Einführungszyklus zurück: sie ist keine Wissens- und Könnens-, sondern eine Seinsfrage (vgl. S. 172). Die Chinesen, welche den Sinn der Überlegenheit von allen Menschen am besten verstanden haben, nennen als erstes und Hauptcharakteristikum des echten Herrschers das Wu-Wei, d. h. das unwillkürliche Wirken. Der Kaiser Schun habe nur dagesessen, das Gesicht gen Süden gewandt, und es herrschte vollkommene Harmonie. Herrsche ein ganz Großer, so merke man äußerlich kaum, daß er da ist, jeder fühle sich selbständig und tue doch jenes Willen. Das seinsmäßig Vorhandene wirkt unwillkürlich und zwar so allein; absichtlich überlegen zu sein, ist unmöglich – entweder man ist es selbstverständlich, oder man ist es nicht. So liegen die Dinge tatsächlich. Auf selbstverständlicher Überlegenheit beruht das ganze Prestige des Alters, und dessen jedermann bekannter Charakter dürfte das Wesen des Wu-Wei überhaupt am besten verdeutlichen. Was das Alter kennzeichnet, ist, daß der überwiegende Teil des »Wortes« »Fleisch« geworden ist. Während der Jüngling oft die größten Gedanken eines gegebenen Lebens denkt, fehlt ihm typischerweise das persönliche Gewicht; jene überzeugen nur durch sich selbst, nie durch den Menschen. Zu letzterem kommt es immer mehr, je mehr Erfahrung, Arbeit, Tat den psychischen Körper ausbildet, je mehr die gesamte Person in ihrer Vielfalt zum Ausdrucksmittel des jeweiligen Wissens wird, was eben Weisheit bedeutet. Diese Durchorganisierung bedeutet aber nicht bloß, daß verknüpft wird, was vorher geschieden war, sondern das In-die-Erscheinung-Treten neuer Kräfte, die desto mächtiger eingreifen, je vollkommener jene. Jeder Mensch stellt, von einem gewissen Gesichtspunkt aus betrachtet, einen Übertragungsmechanismus dar. Die Geisteskräfte, über die er jeweilig verfügt, leben nicht etwa in seinem Gehirn, sondern dieses vermag, je nach seiner Organisation, andere Kräfte aus den geistigen Welten ins empirische Leben einzuleiten. Daher die grundsätzliche Unabhängigkeit des Talents von der Persönlichkeit, daher das sonst unerklärliche Phänomen der Medialität; daher die Möglichkeit, durch entsprechendes physisches Training mit tieferen Geistesregionen in Kontakt zu kommen. Aber dieser Übertragungsmechanismus erfüllt nur dann seinen eigentlichen Zweck, wenn er dem empirischen Ich nicht Fremdes, sondern Tiefsteigenes zuführt, so daß das tiefste Selbst unmittelbar durch alle Anlagen spricht. Eben das bedeutet das Fleischwerden des Worts. Ist das Wort nun aber also Fleisch geworden, dann kann es nicht umhin, unwillkürlich zu wirken, weil dann alles Äußerliche unmittelbar vom Lebenszentrum gespeist wird, wie denn ein jeder nicht absichtlich, sondern unwillkürlich lebt. Die Wahrheit dieser Darlegung bestätigt das banale Bild jedwedes erfolgreichen Mannes. Nur das gelingt dauernd, was man unwillkürlich treibt; erfolgreicher Geschäftsmann ist nur der, welcher die Welt unwillkürlich, jeden Augenblick, auf geschäftliche Koordinaten bezogen sieht, nur der Philosoph, welchem geistige Problematik von selbst als erstes auffällt. Denn nur wo dies »von selbst« statt hat, spricht, durch das Können hindurch, die Qualifiziertheit des Wesens, die sich niemals verleugnet. Was schon von technischen Betätigungen gilt, gilt erst recht vom Tiefsten. Nur wer den Sinn unwillkürlich durch den Buchstaben hindurchliest oder durch denselben ausdrückt, nur wer unwillkürlich seine Überlegenheit in jedem Sonderfall erweist, nur der hat's erreicht. Daß nun ein solcher tatsächlich ein höheres Seinsniveau erstiegen hat, das sich von selbst durch alles hindurch äußert, beweist der Einfluß aller sehr tiefen Menschen, auch wenn sie vom hier vertretenen Ideal noch weit entfernt sind. Solche brauchen eigentlich nichts zu sagen oder zu tun, nicht einmal verstanden zu werden, um schöpferisch zu wirken. Der große Seelenarzt heilt und beruhigt durch sein bloßes Dasein, die schweigende Gegenwart eines Großen bewirkt mehr, als das tiefsinnigste Gespräch eines anderen. Gleichsinnig überträgt sich der steigernde Rhythmus eines Führers unmittelbar. Eben dies Verhältnis illustriert die Erfahrung, daß bei Vorträgen das bloße Niveau eines Redners am stärksten wirkt. Ist er jemand, so kommt es gar nicht so sehr darauf an, was er sagt und daß er verstanden wird; steigt er nur von seinem Niveau nicht herab, so hebt er die Zuhörerschaft hinan, und der innerste Impuls seines Wesens löst in dieser, ihr meist unbewußt, Verwandtes aus. Gleiches besagt auch die Tatsache, daß die Menschen in der Geschichte auf die Dauer genau so wirken, wie sie sind Vgl. hierzu meine Anführungen in Schopenhauer als Verbilder. (vergriffen).. Deshalb bedeutet es nichts Außerordentliches, daß Kaiser Schun nur dazusitzen brauchte, das Gesicht gen Süden gewandt, und es herrschte vollkommene Harmonie: sein bloßes Dasein war sein wichtigstes Tun. Denn ist einmal die Durchorganisierung des Menschen von der Oberfläche bis zum tiefsten Geistesgrund vollzogen, dann wirkt dieser unmittelbar, sintemalen er jene notwendig bedingt, bedarf er der gewollten Vermittelung durch ihm gemäße Gestaltungen überhaupt nicht mehr. Dann strahlt der Sinn so mächtig in die Erscheinung hinein, daß diese sich ihm selbsttätig anpaßt, so wie die Welt sich selbstverständlich gemäß Gottes kurzen Worten weiterentwickelte. Daß der, welcher es erreicht hat, nicht mehr absichtlich zu handeln braucht, bedeutet sonach jenes Positivste, daß sein Tiefstes unmittelbar wirkt. In einem anderen Zusammenhange fanden wir bereits, daß korrelativ mit der Vertiefung des Bewußtseins immer tiefere Schichten des geistig-seelischen Organismus zu Automaten werden. Vorhin streiften wir eine weitere Illustration des gleichen Verhältnisses: es kommt deshalb, in der Psychotherapie, so sehr auf die richtigen Suggestionen an, weil das Unbewußte das einmal Rezipierte unfehlbar ausführt. Dieses findet überhaupt den Weg zur Verwirklichung eines Vorsatzes ganz von selbst, wenn ihn das Oberbewußtsein nur klar genug und in sinn- und sachgemäßer Einstellung faßte. Je tiefer nun das Bewußtseinszentrum eines Menschen, der zugleich mit der Oberfläche in organischem Zusammenhang steht, auf desto weitere Erscheinungskomplexe wirkt sein unmittelbarer Einfluß ein. Dieser mag zuletzt das Unbewußte eines ganzen Volks beherrschen. Das ist es, was die Legende vom Kaiser Schun besagt.

 

Jetzt ist wohl vollkommen deutlich, inwiefern Weltüberlegenheit nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch möglich ist. Sie darzustellen, ist, äußerlich betrachtet, viel weniger schwierig, als die meisten voraussetzen, denn sie erfordert gar keine unmittelbare äußere Macht. Äußerlich der Welt überlegen sein zu wollen, ist ein widersinniger Wunsch: auf ihrer Ebene überwiegt nur Masse die Masse. Aber da der Sinn nicht der Natursphäre angehört und doch das Primäre ist, so beherrscht Bedeutung – ein grundsätzlich Nichtextensives – virtuell den Weltenraum. Als Gott die Welt erschuf, da setzte er auch keine Massen als solche in Bewegung; er wollte wohl nicht einmal, denn Wille ist ein mit physischen Vorgängen eng Verquicktes Das bisher Beste über den Willen, der als solcher nichts Schöpferisches (s. hierzu auch Beaudouin 1. C.), sondern vielmehr einen Hemmungsmechanismus darstellt, steht in Ludwig Klages Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft, Leipzig 1921, zu lesen. – er stellte sich bloß einen neuen Sinneszusammenhang vor im Rahmen von Raum und Zeit, und dieser realisierte sich alsdann von selbst. Deshalb bedeutet Überlegenerwerden grundsätzlich ein fortschreitendes Absehenkönnen von materieller Realisierung, die sich von selbst erledigt. Ein Absehen nicht zwar im Sinn des indischen Weltverneiners, sondern im Gegenteil dessen, daß vollkommene Weltbejahung im Idealfall von einem überweltlichen Standort aus geschieht. Weltüberlegenheit impliziert, in der Tat, vollkommene Weltbejahung, denn dem, welchem jene eignet, ist die gesamte Schöpfung zu einem Alphabet geworden, das er vom Sinn her meistert, vermittelst dessen er nur das sagt, was ihm selbst beliebt. Wer wollte zu diesem oder jenem Buchstaben vom Sinn her Stellung nehmen? Wer wollte einen verwerfen, welcher, richtig angewandt, die Ausdrucksmöglichkeit verstärkt? Der wahrhaft Tiefe braucht auch keinerlei Oberfläche zu verleugnen, denn von seinem Standpunkt ist alle Erscheinung gleich tief. Er kann auch in keinerlei Verstand mehr einseitig sein, denn er bedeutet von allen Differentialen des Menschenwesens das Integral. Alle Differenzierungen in ihrer festgelegten Einseitigkeit sind Bedingtheiten eines niedrigen Niveaus. Sehr viele der Probleme, über welche Fachgelehrte dickleibige Wälzer schreiben, stellen sich nur deshalb, weil deren Urhebern der Blick für die wesentlichen Zusammenhänge fehlt. Man mag freilich seine Fragen beliebig stellen, man wird auch jedesmal entsprechend richtige Antworten erhalten – nur sind diese überflüssig, sobald sie die Wirklichkeit in schiefer Perspektive zeigen, dies aber geschieht jedesmal, wo eine Nebensache als Hauptsache behandelt wird. Fachgrenzen sind praktisch notwendig; an und für sich bestehen sie aber nicht, ihr ganzer Seinsgrund liegt in der Unmöglichkeit, einen allseitigen Zusammenhang anders als einseitig in bezug auf einen bestimmten Blickpunkt zusammenzufassen. Je höher dieser nun, desto besser deckt sich das geschaute Bild in seinen Proportionen mit den realen Zusammenhängen, desto weniger beschränkte und verzerrte Perspektiven tun sich auf; deshalb ist schon der wahrhaft große Wissenschaftler über das eigentliche Fachmanntum hinaus. Desto mehr muß dies von jedem großen Menschen gelten. Daß dem nun wirklich so ist, beweist allein schon die Erfahrungstatsache, daß ein Mensch, je höher er innerlich steht, desto Verschiedeneres kann oder könnte, und daß der höchste Menschentypus, der des Herrschers, allem Fachmanntum grundsätzlich und notwendig überlegen ist. Sein Vieles-Können bedeutet aber nicht Vielseitigkeit im dilettantischen Verstand, sondern Vertieftheit: je tiefer ein Mensch, durch desto mehr Anlagen kann er sich willkürlich ausdrücken, denn desto mehr übersieht er selbstverständlich von innen her. Den bisher normalen Menschheitszustand typisiert am besten die indische Kastenordnung: ihr gemäß kann einer nur entweder Brahmane, oder Krieger, oder Händler, oder Bauer sein. Aber dieses entweder – oder beruht offenbar allein auf innerer Gebundenheit, wie denn der Wissendgewordene eben damit auch nach indischen Begriffen der Kastenbindung entwachsen ist. Wer im Sinn lebendig Wurzel gefaßt hat, ist an keinen Ausdruckstypus gebunden, der kann sich daher beliebig typisieren, vorausgesetzt, daß er über die entsprechenden äußeren Anlagen verfügt, je nach der Situation. Dem entstehen die Gestaltungen ad hoc, wie der Amöbe ihre Pseudopodien, der ist ebensowenig in einer bestimmten innerlich festgelegt, wie der wahrhaft große Geist in irgendeinem möglichen Fach. Die Vertiefung des Menschen bedeutet eben gleichzeitig seine Integrierung. Was an der materiellen Oberfläche differenziert auseinanderliegt, das konvergiert im Reich des Sinns. Auf jener wird es immer Fächer und Kasten geben, man dekretiere an Reformen, soviel man mag. Aber sie hören ganz von selbst zu sein auf, wo immer ein Mensch sich innerlich über sie erhebt. Darauf allein kommt es an. Es sollten möglichst viele soweit kommen, daß sie über alle Bindung innerlich hinaus wären, das rein Fachmäßige sollten zuletzt überall Maschinen erledigen. Bis dahin aber müssen sich alle auf den wahrhaft Überlegenen abstimmen. In diesem erlebt das Menschenwesen nicht mehr und nicht weniger als eine Niveauverschiebung. Dies ist das Eine, was nottut, denn Fortschritt gibt es überhaupt nur in diesem Sinn, nach innen zu. Was früher letzte Instanz war, ist es beim Weltüberlegenen nicht mehr.

So wäre der höchste Mensch, den wir vorstellen können, der erdnächste und erdfernste zugleich. Für ihn gäbe es kein Oberflächlicheres und Tieferes, denn alle Erscheinung erschiene ihm gleich tief, keine Höher- und Minderwertigkeit in bezug auf Äußerliches, kein notwendig Auseinanderliegendes, denn alles sähe er, sich gegenseitig bedingend, im Ineinander; jeder Einseitigkeit wäre er physiologisch unfähig geworden. In ihm erfüllte sich persönlich die überall erforderliche Synthesis von Sein und Können, von Wesen und Erscheinung, Sinn und Ausdruck, er wäre vollkommener Sinnversteher und Realpolitiker zugleich, in ihm fiele Zeitliches und Ewiges jeden Augenblick zusammen. Und zwar durch den Kern seiner Persönlichkeit hindurch. Diesen letzten Punkt müssen wir noch näher betrachten. Es bedeutet nämlich den entscheidendsten aller Unterschiede, ob durch das Empirische hindurch das Persönliche oder ein Fremdes spricht. Im letzteren Falle handelt es sich um ein Medium, im ersteren dagegen um einen Meister, und nur dieser verkörpert das Ideal Vgl. hierzu auch den Beitrag Carl Happichs in der von ihm, Graf Hardenberg und mir gemeinsam verfaßten Broschüre Die richtige Einstellung zum Okkultismus, Darmstadt 1922.. Die allermeisten Menschen, entgegen der üblichen Annahme, sind Medien, denn aus den allerwenigsten spricht, außer in Ausnahmefällen, ihr eigenes Selbst. Medien sind alle Künstler, Medien die meisten sozial Eingestellten, denn ihr Persönliches vertritt zum überwiegenden Teil ein »man«. Im weiteren Sinne Medien sind die meisten Gelehrten und Intellektuellen, nämlich in bezug auf ihr System oder Programm; Medien alle Menschen schlechthin in bezug auf Zeitgeist und öffentliche Meinung. Was man gewöhnlich Medium heißt, ist nur die seltene Abart dieser häufigsten Gattung, durch deren Organismus sich Kräfte manifestieren, die sich durch ihre bewußtbestimmende Person nicht äußern können und mit dieser außer Zusammenhang stehen. Das Medium ist nun niemals höherer Mensch, gleichviel, was aus ihm spricht; die Botschaft oder das Werk, das es vermittelt, macht seine Person nicht größer, als die Benutzung durch einen großen Menschen das Telefon. Die Bedeutung des Menschen hängt ganz und ausschließlich vom Ausmaß dessen ab, was sich durch den Mittelpunkt der Person hindurch äußert. Medien, hinter denen höhere Mächte standen, mag es zu aller Zeit gegeben haben; der Fortschritt bemißt sich daran, wie weit jene Mächte im bewußten Menschen und durch dessen Persönliches wirksam wurden. Deshalb ist Aufgabe nicht, in anderen Welten zu Hause sein zu können, sondern zwischen diesen und unserer Sphäre einen lückenlosen Zusammenhang herzustellen, das heißt die Medialität zu überwinden. Nicht die Ý÷óôáóéò, nicht das Heraustreten aus der Geistbestimmtheit ist Ziel, sondern die Durchgottung dieser.

 

Fügen wir unsere Betrachtungen zum Schluß dem historisch-politischen Zusammenhang wieder ein, der diesen Zyklus trägt. Weltüberlegenheit, wie wir sie hier schilderten, kann heute, im Gegensatz zur ganzen bisherigen Geschichte, dauernd wirksam werden, weil sie fortan in ihrem Sinn verstanden werden kann. Der Logos ist das Prinzip der Übertragbarkeit. Größte Geister und Menschen gab es zu aller Zeit, aber sie haben nicht annähernd so stark gewirkt, wie dies grundsätzlich denkbar gewesen wäre, weil die Möglichkeit fehlte, den Impuls, den sie verkörperten, auf das bestimmende Bewußtsein zu übertragen. Daß sie heute besteht, beweist schon die Inventur der öffentlichen Meinung. Die Zeit der blindgeglaubten Dogmen, der anerkannten Gewalt ist grundsätzlich vorbei. Schon sind persönliches Verstehen und Freiwilligkeit des Tuns die einzigen Mittel, welche Realpolitik zu dauerndem Erfolge führt. Den korrespondierenden höheren Idealen gemäß muß schon heute, wenigstens in Worten, überall regiert werden, so wenig der wirkliche Zustand der Mehrheit jenen gewachsen sei, denn deren Nichtachtung und Bekämpfung führt nachweislich Katastrophen herbei. Allein der neue, tiefere Sinn, auf den das Leben fortan bezogen werden muß, wenn es neu aufblühen soll, erscheint noch nirgends positiv und klar erfaßt. Noch sind seine Verkörperer nicht zu Sinnbildern des wahren Strebens aller geworden, und dazu muß es kommen, bevor der mögliche Fortschritt zu einem wirklichen werden kann; dieser beruht niemals darauf, daß alle auf einmal weiterkommen, sondern daß alle sich auf tiefere Grundtöne abstimmen, als bisher (vgl. S. 145). Eine Zeit ist immer erst dann zu einem Fortschritt reif, wenn frühere Irrtümer sich in concreto amortisiert haben, so daß ein neuer seelischer Zustand erschaffen erscheint; daher zuerst die Ablösung erkannter Fehler durch entgegengesetzte, daher ganz spät erst die Konsolidierung des objektiv Sinngemäßen. Die früheste Verkörperung des richtig erfaßten Verhältnisses von Sinn und Ausdruck ist wohl die indische Dharma-Lehre (vgl. S. 214); die größte bisher verwirklichte innere Freiheit haben wahrscheinlich die taoistischen Weisen Chinas erreicht Die von Richard Wilhelm übersetzten, bei Eugen Diederichs erschienenen Hauptwerke der chinesischen Weisheit dürften in keiner Bibliothek fehlen. Die beste Einführung in diese Literatur stellt Richard Wilhelms bei Otto Reichl in Darmstadt erschienener Band Chinesische Lebensweisheit dar.. Nun, auf unserem besonderen abendländischen Weg sind wir alle heute so weit gelangt, wie die tiefsinnigsten Inder und Chinesen. Bei uns handelt es sich um eine historische, keine Einzel-Errungenschaft. Erst brach bei uns die mittelalterliche Kastenordnung, die Herrschaft des Dogmas. Darauf folgte die Herrschaft der individualistischen Weltanschauung und Moral. Auch sie ist erledigt. Zur Zeit lebt die Gesamtheit im Zeitalter des Relativismus – die Erkenntnis ist (ob auch unbewußtes) Gemeingut geworden, daß keine Gestaltung als solche einen absoluten Wert verkörpert. Allein der Relativismus stellt keine mögliche letzte Instanz dar, er ist als solcher oberflächlich, was in seinen Früchten nur allzu deutlich zutage tritt. Es gibt freilich ein Absolutes, und wenn die Dogmen, welche es dem Bewußtsein ehemals versinnbildlichten, verstorben sind, so bedeutet dies nur den Tod von sterblichen Leibern. Deren Lebensprinzip, zur Zeit entleibt, ist der sie hervorbringende und tragende Sinn. Er bedeutet das Absolute, soweit wir's fassen können. Die nächste historische Aufgabe ist da offenbar, in diesem unmittelbar Wurzel zu fassen, auf seiner Ebene Charakter zu bilden. Bisher kannte man Charakter nur auf der Ebene der Erscheinung; solcher ist immer einseitig, beschränkt und starr. Umgekehrt ist der Relativist typischerweise charakterlos. Aber nichts hindert grundsätzlich, bei allem Relativismus in bezug auf die Erscheinung, dennoch Charakter zu haben; dies gelingt eben bei unmittelbarer Verwurzelung im Sinn. Hier lag das Geheimnis jener ganz großen Herrscher, von welchen wir früher handelten: diese lebten praktisch jenseits von Name und Form. Hierauf beruht die Unsterblichkeit, das unaufhörliche Fortwirken der ganz großen Geister. Die seltenen Großen sind nun allemal die Vorläufer einer möglichen Gesamtheitsstufe; eben hierauf beruht ihre Bedeutsamkeit. Was zuerst Prometheus allein vermochte, leistet heute der geringste Streichholzfabrikant; was den Hellenen Mysterium war an der Natur, begreift heute der mittelmäßigste Realschüler; in manchen Lehrbüchern des Okkultismus wird als Eigenschaft des Meisters gepriesen, was innerhalb der vorgeschrittensten Völker jedem Gebildeten selbstverständlich eignet. Die allgemeine Kulturstufe mißt sich daran, was an Erkenntnis selbstverständlich ist (Erkenntnis hier natürlich im Sinne fleischgewordener, lebendiger, nicht abstrakter verstanden; man erinnere sich meiner Betrachtungen auf S. 126 über die Bedeutung alter Kultur). Diese Selbstverständlichkeit beruht ihrerseits auf einer bestimmten allgemeinen Ausbildung der Verstehensorgane. Der heutige allgemeine Ausbildungsgrad bei den vorgeschrittensten Völkern ist nun eben der, daß der Weltüberlegene fortan bestimmen kann.

Was dies bedeutet, ist unermeßlich. Der heute mögliche Fortschritt ist viel, viel größer, als irgendeiner, von dem die bisherige Geschichte weiß. Er ist viel größer als der, welchen der Einfluß Christi bisher bewirkte. Dieser hat bis heute nicht viel bewirken können, weil er unverstanden blieb, und nur Verstandenes als solches übertragbar ist. So entsprang seiner Lehre nur eine Filiation beschränkter Kirchen, deren Bande zu sprengen zur wichtigsten ersten Aufgabe eben des Christus-Impulses in unserem Zeitalter ward. Nietzsche war in vielen Hinsichten ein echterer Christus-Jünger als irgendein Papst. Wie Jesus, so erging es allen Sinnverstehern. Buddha ward zum Kirchengott; auf Laotse beruft sich autoritativ ein höchst bedenkliches System der Magie; und um aufs Politische zurückzugreifen: die Überlegenheit Bismarcks hat, buchstäblich verstanden, zu einer Sorte Realpolitik geführt, welche Deutschland zugrunde richten mußte. Ähnliche Irrtümer brauchen nie wieder vorzukommen. So beginnt die wahre Christus-, wie die wahre Buddha-Epoche erst jetzt. So beginnt erst jetzt überhaupt, wie ich gestern zeigte, die wahre Menschheitsgeschichte. Und sie hat begonnen. Die meisten mögen dies nicht merken. Aber auch das Himmelreich kommt nicht mit »großen Gebärden«. Große Erneuerungen bedeuten, äußerlich betrachtet, niemals ein Aufheben, sondern ein Erfüllen. Was soll denn äußerlich anders werden? Wenn jetzt die Ära der wahren Freiheit anhebt, so hat dies nichts mit der Verwirklichung irgendeines Beglückungsprogramms zu tun. Äußere Freiheit ist eine Utopie oder eine Heuchelei; frei ist immer nur, unter allen Umständen, der, welcher innerlich über der Gebundenheit der Natur steht. Als solche ist diese ebenso notwendig, wie die Gebundenheit der Sprache, der Poesie, der musikalischen Harmonie. Wohl mag eine beschränktere Art der Gebundenheit einer besseren Platz machen, gleichwie das Ochsengefährt als Verkehrsmittel der Eisenbahn und dem Aeroplan: die Natur im weitesten Sinn soll und wird zu einem immer gehorsameren Ausdrucksmittel werden. So ist die Zeit schon heute abzusehen, in der alle Erkenntnis, welche wissenschaftliche Forschung vermitteln kann, ins Gebiet der selbstverständlichen Voraussetzungen gehört, so daß die Frage sich gar nicht mehr stellen wird, unrichtige Daten und unzulängliche Theorien zu vertreten, oder äußere Vorkehrungen anders zu treffen, als entsprechend dem Maßstab absoluter Sinn- und Zweckgemäßheit. Sind wir aber einmal so weit, dann wird über wissenschaftliche Fragen in ihrer Gesamtheit, deren sogenannte okkulte Zweige inbegriffen, ebensowenig mehr gestritten werden, wie heute über das Problem des Einmaleins. Daß die Wissenschaft bis vor kurzem beinahe das Prestige der Weisheit genoß, beweist, wie rein grammatikalisch das heute sterbende Zeitalter war: nur auf die Sonder-Sinne der Sprachen war es bedacht; ihm blieb vollständig verborgen, daß die wichtigste und eigentliche Aufgabe die ist, vermittelst ihrer etwas zu sagen. Daher der Materialismus und Mechanismus jener Zeit, daher der Tiefstand von Metaphysik und Religion. Ist nun wissenschaftliche Wahrheit auf allen Gebieten selbstverständlich geworden, dann wird man einzig darüber nachdenken, welchen Sinn man vermittelst des vollbeherrschten Ausdrucks verwirklichen soll. Dann wird auch die Frage äußerer Neuerung jedes grundsätzliche Interesse verloren haben, denn kein möglicher metaphysisch gespeister Idealismus erschiene mehr mit ihr verknüpft, und allgemein würde anerkannt, daß, wie das Alphabet der Natur als solches hinzunehmen ist, so auch die Mehrzahl der an der Erfahrung bewährten grundsätzlichen Lebensformen, während alle Neuerung ohne Ausnahme, die sich aus tieferer Sinneserfassung ergibt, nach ebenso streng sachlichen Gesichtspunkten realisiert werden muß, wie die Verbesserung an einer technischen Erfindung. Die Gesetze der Grammatik sind unter allen Umständen zu befolgen, gleichviel was man sagt. Aber fortan kann eben Besseres gesagt werden, als je vorher: hier liegt der springende Punkt. Die wahre Menschheitsgeschichte hat bereits begonnen, weil dies schon heute möglich ist. Das grammatikalische Zeitalter war als Vorstufe freilich notwendig; dank seinen Errungenschaften wird vollkommene Sinnesverwirklichung allererst möglich. Fortan ist sie's aber, deshalb können grammatikalische Fragen wesentliches Interesse nicht mehr beanspruchen. Denken Sie nun an die Gesamtheit unserer Gedankengänge über das Verhältnis von Sein und Können, Oberfläche und Tiefe, Sinn und Ausdruck zurück und schauen Sie dieselben zusammen: nun, Herrschaft der Weltüberlegenheit würde nicht weniger bedeuten, als daß die Gesamtheit des Lebens auf ein tieferes Sinneszentrum bezogen erschiene. Dies aber würde eine unerhörte Vitalisierung nach sich ziehen. Wir sahen seinerzeit (vgl. S. 184), daß alles Leben ein Beleben ist, und die Belebung desto größer, je tiefer das Sinneszentrum, auf das es sich bewußt bezieht. Unsere Zeit wirkt leblos und mechanisch, ihre Lebenslust schlägt leicht in Todessehnsucht um, weil sie sich sinnlos fühlt; umgekehrt eignet religiösen Epochen die größte Vitalität, weil solche der Urquell selbst des Lebens speist – man kann sein Leben auf nichts Tieferes als Gott zurückbeziehen: bei dem, was heute möglich wird, handelt es sich um ein Niedagewesenes: unser Dasein kann auf ein gleich tiefes Sinneszentrum zurückbezogen werden, wie im Fall der größten aller religiösen Menschheitsepochen, nur dieses Mal durch den bewußt verstehenden Geist hindurch. Damit nun erfolgte der erste entscheidende Schritt über Christus hinaus. Dieser bezog das Menschenwesen und -leben auf einen tieferen Grundton, als er im Westen je vorher erklang. Aber dies geschah praktisch nur mit einem Teile jenes, woraus sich die Scheidung zwischen Natürlichem und Übernatürlichem, Weltlichem und Geistlichem, Glauben und Wissen, Geist und Seele ergab, eine Scheidung, die sich in der Differenzierung verschärfen und verhärten mußte und eine kompensatorische Veroberflächlichung dessen in ihm bedingte, was an der Vertiefung keinen Teil hatte. Vor allem blieb die schöpferische Urkraft, so wie Christus sie faßte, und dies zwar trotz seiner Lehre, daß das Himmelreich inwendig in uns ist, denn diese ist historisch noch nicht wirksam geworden, außerhalb des Selbstbewußtseins zentriert, dessen Stellung zu Gott ebendadurch zu einer exzentrischen wurde. Daß es zeitweilig dazu kam, war gut: dadurch allein entstand jenes konkrete Spannungsverhältnis zwischen Ideal und Wirklichkeit, das den eigentlichen Seinsgrund der westlichen Fortschrittsfähigkeit bedeutet. Aus der Konzentrizität der typischen östlichen Einstellung, auf Grund welcher sich der Mensch dem All ein für allemal harmonisch eingegliedert fühlt, mußte jener zunächst einmal herausgerissen werden, denn nur so wurde ein Übersteigen der Naturbedingtheit im Großen möglich; auch dieser Sündenfall mußte sein. Aber die Exzentrizität des Bewußtseins, die während der letzten zwei Jahrhunderte geherrscht hat, kann nur, als spannende Dissonanz vor dem Akkord verstanden, als sinnvoll gelten. Der neue höhere Einklang ist das Ziel. Würde dieser nun erreicht, dann zentrierte sich die schöpferische Urkraft, die bisher außen waltete, nur hingegebenem Unbewußten zugänglich, im Bewußtsein selbst. Der bewußte Geist würde, vom toten und tötenden Werkzeug, zum unmittelbaren Ausdruck jener. Nichts bliebe mehr ausgeschlossen von der Teilhabe an ihr, kein Sondersinn stände mehr exzentrisch, keine Einzelbetätigung wirkte sich in falscher Richtung aus. Religion wäre nicht mehr ein Gebiet für sich, Philosophie keine Disziplin neben anderen, Politik keine selbständige Technik: ein lebendiger geistiger Leib umschlösse alles, sinnvoll gegliedert von der Tiefe bis zur äußersten Haut. Der bewußte Geist aber, mit dem kosmogonischen Eros einsgeworden, herrschte souverän, durch Äußerliches nie mehr beengt, nie mehr beirrt. Es würde Normalzustand, was vormals den des Magiers allein charakterisierte. Das Weltalphabet brächte Sinneszusammenhänge zum Ausdruck, die auf Erden früher niemals bestimmen konnten. Kaum eins der Probleme, das uns heute beunruhigt, stellte sich dann mehr. Dafür würde der Weg zu neuen, vormals nie geahnten, frei. Denn wie der Weltraum nach außen zu keine verstellbaren Grenzen hat, so gibt es nach innen zu keine denkbare möglicher Sinnes-Tiefe.


 << zurück weiter >>