Eduard von Keyserling
Beate und Mareile / I
Eduard von Keyserling

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Beate verließ das Krankenzimmer. Die Mutter schlief. Neben ihr, auf dem Sessel, das Gesangbuch aufgeschlagen auf den Knien, schlief auch Seneïde.

Beate ging in den neuen Flügel hinüber, durch die Zimmer, in denen die hübschen, blanken Dinge in dem klaren Septemberlichte das stumme, selbstzufriedene Leben der Sachen lebten, das traurige Menschen noch trauriger macht. Sie stellte sich an das Fenster und schaute in den Garten hinaus. Die grellen Herbstblumen brannten auf den Beeten. Der Buchsbaum war ganz blank in der Sonne. Dort unten, wo der wilde Wein am Holzbogen den Garten von der Wiese abschließt, tauchte ein Figürchen auf, hell und klein in der Ferne auf dem Hintergrunde des bunten Lebens. Mareile war es, in ihrem mattfarbenen Mantel, den gelben Hut auf dem Kopfe. Hübsch, dachte Beate, wie ein Laterna-magica-Bildchen auf roter Wand. Sie will wohl unten durch das kleine Tor hinaus in den Wald. Dann war sie fort; aber ein zweites Bildchen tauchte auf der roten Laubwand auf, klein und hell. Günther war es, im grauen Sommeranzug, den Strohhut auf dem Kopfe. Er will wohl unten durch das kleine Tor hinaus in den Wald, kommentierten Beates Gedanken mechanisch; dann gab es ein Stutzen in den Gedanken, ein hastiges Arbeiten. Mareile geht in den Wald hinaus. Günther folgt ihr. Also, sie treffen sich im Walde. Wie eine bestimmte Nachricht erreichte das ihr Bewußtsein. Schnell, wie nur ein Frauenverdacht sich ein farbiges Bild ausmalt, sah sie alles vor sich. Jetzt sind sie bei den Ellern, jetzt am Teich. Dabei fühlte es Beate: Das, was sie jetzt sah und ahnte, war nicht neu, lange schon hatte ein Wissen darum auf dem Grunde ihrer Seele geruht; alles, was dafür sprach, lag klar und scharf vor ihr, und sie ging es durch, wie eine Aufgabe, die sie schon einmal gewußt hatte. Sie hatte nur nicht sehen wollen, hatte den Kopf abgewandt und war an alldem vorübergeeilt, schnell und scheu, wie an einem Zimmer, in dem etwas Entsetzliches ihrer wartet. Aber jetzt – jetzt! Sie legte beide Hände an ihre Schläfen und zog sie mit einer Bewegung unendlichen Jammers langsam über die Wangen herab; dann holte sie geschäftig ihren Hut und Sonnenschirm und ging in den Garten hinunter, auf die kleine Pforte im Park zu. Fremdartige Gedanken kamen ihr während des Ganges und verlangten nach Worten, wie Beates Lippen sie nie ausgesprochen hatten; nichts war grausam und haßerfüllt genug. Und an dieser fremderregten Beate gingen die altbekannten Heimatbilder vorüber, als gehörten sie zu einem anderen Leben und zu einer anderen Beate: der Gemüsegarten, der Teich mit den kleinen, blanken Enten, vor der Schmiede stand Kaspar und ließ die alte Stute beschlagen. Vom Feldwege aus sah Beate Mareiles Hut und Günthers Gestalt im Walde verschwinden. Nein, ich habe sie nie lieben können. Immer war etwas an ihr, das mir gegen den Geschmack ging. Verlogen war sie und schlecht und grausam. Wie sie den armen Halm quälte und dann Hans Berkow – und jetzt Günther. Alle mußte sie haben. An Günther dachte Beate nicht, nur an Mareile, die sie betrogen, an Mareile, die sie gekränkt, an Mareile, die sie erniedrigt hatte. Was wagte diese Inspektorstochter? Ein Dienstbote mit Dienstbotenheimlichkeiten! Dabei schritt sie eilig vorwärts. Sie mußte jenen nach. Jetzt war sie im Walde. Über ihr rauschten Wipfel. Ein Häher stieß einen Ruf aus, als schrie er durch den Wald: »Sie kommt.« Da war die große Linie des Wildparkes, an deren Ende, mitten im grellblauen Wasser, die Türkenbude stand. Günther und Mareile waren fort. Beate blieb stehen. Eine plötzliche Erschlaffung kam über sie. Etwas raschelte neben ihr am Haselnußstrauch. O Gott! Nur jetzt kein Mensch! fuhr es Beate durch den Sinn, und sie errötete, als würde sie auf einer schlechten Tat ertappt. Unter dem Strauch am Boden hockte Eve Mankow. Das rote Haar flimmerte in der Sonne und hing wirr auf das breite, erhitzte Gesicht nieder. Natürlich, dachte Beate, die muß auch da sein. Die gehört ja auch zu dem Entsetzlichen, das ich erlebe. Eve streckte die Hand aus, eine kurze, braune Hand, wie Beate deutlich bemerkte, an der die harte Haut glänzte. Sie wies auf das Häuschen im Teich. »Da«, sagte Eve kläglich, »da drin sind sie. Da sind sie immer. Ich weiß. Ich warte jeden Morgen hier.« Beates Blicke ruhten einen Augenblick auf dem Häuschen, in dessen Fenster ein verblichener, roter Vorhang wehte, dann kam eine große Angst über sie, Angst vor dem kauernden Mädchen, vor dem Häuschen mit seinem verhangenen Fenster. O Gott! Nur fort! Sie wandte sich und lief den Waldweg hinab. Erst am Waldrande blieb sie stehen, um Atem zu schöpfen. Sie lehnte sich an eine Tanne, glitt an dem großen, rauhen Stamme nieder und weinte, nicht das stille Weinen der Erwachsenen, es war das Weinen böser Kinder, das das Gesicht verzieht und entstellt, und dabei jammerte sie leise. »Was soll ich tun! Was soll ich tun!«

 

Als Beate in der Nacht am Bette ihrer Mutter wachte, legte die Kranke ihre Hand auf Beates Hand, eine Hand weich wie welkende Malvenblätter; und sie begann zu sprechen, leise und mühsam: »Beating – es kommt viel vor – ich weiß – nie fortgehen – nie. Die armen Männer sind so unruhig – ich weiß. Warten müssen wir – warten – sie kommen doch zu uns. Du glaubst nicht – wieviel wir – vergessen können. Und dann kommt Friede – ich weiß – ich weiß.« Die Stimme wurde schwächer, versiegte. Beate weinte, aber in ihr empörte sich etwas gegen die Worte der Sterbenden. Warten? Auf wen? Günther? Wußte sie denn, wer dieses Gespenst dort in der Türkenbude hinter dem verblichenen Vorhange war? Die anderen konnten kommen – und ihr ihr Eigentum und ihren Frieden nehmen, und sie mußte vergessen – warten? »Ich weiß – ich weiß«, hatte die Mutter gesagt. Hatte denn auch dieses Leben solche dunkle, unbegreifliche Stellen gehabt? Beate sah ihren Vater vor sich, den Greis mit dem strengen Elfenbeingesicht über der leichtgebeugten Gestalt. Eine etwas bedrückende Luft von Ehrfurcht umwehte ihn. Die Kinder wurden in seiner Gegenwart still und scheu. Als er gestorben war, sprach die Mutter von ihm, »dem lieben Papa«, mit dem Stimmton, den sie sonst für heilige, sonntägliche Dinge hatte. Und doch! »Pfui!« sagte Beate vernehmlich in die Nacht hinein; dabei schreckte sie auf, sah das bleiche Gesicht in den Kissen an. Die Mutter lag mit offenen Augen da und schaute geduldig vor sich hin, wie Menschen es tun, die auf den Tod warten. Jetzt sagte sie etwas. Beate beugte sich vor. »Mareile – fort; es ist besser –«, sagte die Kranke und seufzte.

Beate lehnte sich in ihren Stuhl zurück. Mareile mußte fort, das war es. Morgen wollte sie sie fortschicken, fortjagen, wie einen Dienstboten, wie Amelie, und Günther sollte es wissen. Hier war wieder ein Wollen, ein Entschluß, auf dem Beate ausruhen konnte; sie brauchte nicht mehr ratlos um die Not herumzuirren. Das Blut der alten Rasse, die von Schonung und Zucht geschwächten Instinkte fanden nicht mehr die Kraft zu einem Zorn, der fortreißt und wohltut. Aber hier war ein Entschluß – etwas wie Pflicht und Ordnung schaffen, das beruhigte sie. Also morgen. Aber noch war es lange nicht morgen, noch brauchte sie nicht zu handeln. Sie schloß die Augen. »Warten, warten, ich weiß«, klang es ihr wie ein trauriges Wiegenlied in die Ohren. Ein Gefühl unendlicher Einsamkeit legte sich schwer auf ihre Seele. In der Müdigkeit der Nachtwache wurde das Gefühl zum Bilde: helles Nebelgrau über dem herbstlichen Garten und dem verlassenen Hause. Oben in dem grauen Himmel ein Zug Raben, große, schwarze Vögel, die unablässig ihre Kreise zogen. Und auf dem feuchten Wege, vom Nebel umspannen, eine einsame Frau mit einem Kinde. Ja, das Kind! Wenn ihre Gedanken sich der kleinen, blonden Gestalt näherten, dann bekam das Leben wieder Gestalt und Sinn. Zuweilen horchte sie gespannt auf die Uhr, auf das geschäftige Ticken, das wie der Ton kleiner Füße klang, die eilig, eilig dem entsetzlichen Morgen zuliefen. Dann wurde das Licht der Nachtlampe blasser. Roter Schein drang durch die Vorhänge. Seneïde kam Beate ablösen. Beate ging in den Garten, schritt dort lange an der Buchsbaumhecke entlang, auf und ab. Als sie Mareile über den Hof kommen sah, kehrte sie in den Gartensaal zurück, bleich von ihren Kämpfen und Gebeten, die Hände voll feuchter, weißer Astern. Mareile wollte sich nach der Kranken erkundigen. In ihrem elfenbeinfarbenen Morgenkleide, rote Skabiosen im Gürtel, mit den gut ausgeschlafenen, klaren Augen, erschien sie Beate wie triumphierend in ihrer Kraft und Schönheit.

»Wie war die Nacht?« fragte Mareile.

»Ruhig«, erwiderte Beate und schaute auf die Astern nieder; als sie dann aufblickte, mußte Mareile etwas Seltsames in Beates Zügen gelesen haben, denn ihre Augen wurden groß und rund vor erschrockenem Erstaunen, und dann hatte sie verstanden. Die beiden Frauen, die ihre Kindheit miteinander verlebt, kannten die Bedeutung eines jeden Zuckens auf dem Gesichte der anderen.

»Du mußt fort, Mareile, gleich fort von hier«, sagte Beate scharf und kalt. Mareile breitete die Arme aus in einer großen, trauervollen Bewegung, wie nur sie sie wagen konnte; dann begann sie leise und schnell zu sprechen: »Ja, ich geh'. Das ist dein Recht. Das mußte kommen. Das ist dein Recht. Aber sieh, das kannst du nicht verstehen, in meiner Art hab' ich auch recht...«

»Bitte«, unterbrach Beate sie. »Sprich nicht. Ich ertrag' es nicht. Geh! Recht –! Eine wie du hat kein Recht.«

Mareiles Augen wurden durchsichtig und golden, dann wandte sie sich um und ging, sie lief fast aus dem Zimmer.

Gott, sind solche Augen entsetzlich! dachte Beate. So etwas, wie sie jetzt empfand, mußte derjenige fühlen, der zum ersten Male eine Wunde schlägt, wenn das fremde Blut warm über seine Hände fließt. Beate besorgte dann ihre Morgengeschäfte, prüfte den Speisezettel des Herrn Miespeck, sah nach Went, legte die Astern auf den Frühstückstisch; brachte die hübsche, harmonische Lebensmaschine in Gang. Endlich hörte sie die Türen gehen, hörte Günthers lustige Stimme. Er hielt Peter einen Vortrag. Ja, allen gehört er, dachte Beate, Eve und Mareile und Peter. Von allen will er bewundert und geliebt sein. Was war er? Ein Phantom, an das er selbst und sie, Beate, und die anderen glaubten und doch nicht zu fassen war. Bis in die Seele hinein fror es Beate bei diesem Gedanken. Günther kam.

»Guten Morgen, Herz«, rief er. »In der Nacht ist nichts passiert, hör' ich. Gott, siehst du bleich aus! Eine schöne, weiße Mumie.« Er beugte sich auf Beate nieder, um sie zu küssen. Jetzt, sagte sich Beate, und sie begann zu sprechen in dem harten, kalten Ton, der ihr selbst fremd klang: »Ich, ich wollte dir sagen, Mareile verläßt Kaltin, heut. Ich – ich habe sie fortgeschickt.«

Günther errötete, dann machte er eine Handbewegung, die »Nichts zu machen« bedeuten sollte. Es wurde still im Gemach; Günther schritt auf und ab. Er fühlte sich sehr elend. Er empfand Mitleid um sich, mit Mareile, mit Beate. Jetzt sprechen, viel sprechen, große Worte, die guten, pathetischen Klang hatten, bei denen sich weite Bewegungen machen ließen, eine Szene, das war die Rettung. »Ich frage nicht weiter. Du mußt vielleicht so handeln. Dir scheint es wohl, als sei dir großes Unrecht geschehen. Was?« Beate schwieg. »Gut! Ich bin im Unrecht, ich gestehe es zu. Einer gewöhnlichen Frau hätte ich nichts mehr zu sagen. Von dir kann ich verlangen, daß du mich trotz allem auch verstehst.«

Beate zog die Augenbrauen empor und sagte: »Ich bin eine gewöhnliche Frau. Ich versteh' dich nicht.«

Günther wurde durch den Widerspruch wärmer: »Doch, doch! Du verstehst mich. Du weißt, daß ich dich liebe, wie du bist und weil du so bist, und daß ich zuweilen Sehnsucht haben kann – nach – nach heißem Blut – nach Leidenschaft – nach – nach... nun, mein Gott, nach allem, was du nicht geben kannst und sollst.«

Das Blut stieg Beate in das schmale, kummervolle Gesicht. Ihre Augen wurden feucht und böse. Sie sprach heiser und mühsam: »Und wer... wer sagt dir – daß ich nicht auch heißes Blut habe... daß ich nicht auch...«, sie kam nicht weiter. Mit beiden Händen bedeckte sie ihr Gesicht. Sie schämte sich. Die arme geknechtete, verleugnete Sinnlichkeit wollte sich wehren, aber sie schämte sich davor, sich selbst zu bekennen. Beate weinte: »Sprich nicht. Ich kann es nicht hören. Was soll ich tun!« klagte sie.

»Soll ich gehen?« fragte Günther kleinlaut. Beate nickte. Da verließ er das Gemach, leise, als fürchtete er einen Schläfer zu wecken.

 

An einem nebelgrauen Oktobermorgen starb die alte Herrin von Kaltin. Beate kniete bleich und tränenlos am Bette der Sterbenden. Günther stand mit gebeugtem Kopfe am Bettende. Seneïde kniete mitten im Zimmer, die Hände betend erhoben. Große Begeisterung schüttelte ihren Körper. Die Nähe des Todes berauschte sie. Die Türen zu dem Saal nebenan standen weit offen, und dort knieten die Dienstboten des Hauses. Alle waren sie da, die breiten, ruhigen Gestalten mit dem schläfrigen Ausdruck, den große Andacht den Gesichtern der Leute aus dem Volke zu geben pflegt. Ab und zu schlich der eine oder der andere an die Tür, um neugierig auf die alte Frau zu sehen, die atemlos dort ihre letzte Arbeit verrichtete.

Wie schwere, feierliche Traurigkeit lag es in dieser ernsten Stunde über dem alten Schloß, über den leeren Zimmern, über Garten und Hof, die wie verlassen schienen; selbst die Hunde, von der Stille und Leere ringsum traurig und schläfrig gemacht, streckten sich seufzend auf der Freitreppe aus.


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