Eduard von Keyserling
Beate und Mareile / I
Eduard von Keyserling

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Viertes Kapitel

Das Stationsgebäude lag jenseits des Dorfes auf einem schattenlosen Sandhügel. Die Mittagssonne stach sengend auf den Bahnsteig nieder. Die elektrische Glocke meldete den Schnellzug. Herr Ahlmeyer, der Stationsvorsteher, erschien, die rote Mütze im Nacken. Über ihm, im ersten Stock des Hauses, wurde ein Fenster geöffnet. Betty Ahlmeyer steckte den blonden Kopf heraus und blickte gespannt den Schienenweg hinab. So erwartete sie seit dreiundzwanzig Jahren jeden Zug.

Heute erlebte sie etwas. Als der Zug hielt, entstieg einem Wagen erster Klasse Mareile Ziepe. In einen rahmfarbenen Staubmantel gehüllt, stand sie auf dem Bahnsteig und wiegte eine kleine, rote Tasche hin und her. Ahlmeyer schoß auf sie zu: »Fräulein Mareile – Signora – nicht möglich! Wir haben Sie nicht erwartet.«

»So ist kein Wagen da?« fragte Mareile ruhig. Nein, es war kein Wagen da. Aber wollte Mareile nicht Kaffee trinken? Wollte sie nicht Ahlmeyers Fuchs und Jagdwagen? Nein, Mareile wollte zu Fuß gehen. »Künstlerinnen sind unberechenbar!« meinte Ahlmeyer.

Mareile schlug den Fußpfad über die Heide ein. Das warme, staubige Kraut knisterte unter ihren Füßen. Es duftete schwer nach Wacholder, Wermut, Schafgarbe. Töne, wie das Schwirren einer Violinsaite, zogen über das Land. Die lichtgebadete Schläfrigkeit über den altbekannten Orten stimmte Mareile nachdenklich. Die Arbeit an ihrem Schicksal hatte ihr die Heimat so fern gerückt.

Sie war mit Beate zusammen im Schlosse erzogen worden. Schon damals erschien es ihr als das Höchste im Leben, ganz zu denen auf dem Schlosse zu gehören. Mit wunderlicher Reizbarkeit empfand sie alles, was an den Unterschied zwischen ihr und Beate gemahnte. Sie selbst verstand es zu vergessen, daß sie die Tochter des Inspektors Ziepe war; daß die anderen es nicht vergaßen, brachte Gefühlsstürme in ihr hervor, die von ihrer Umgebung kaum begriffen wurden. In solchen Krisen hatte sie es geliebt, auf die Heide hinauszulaufen, zu laufen, zu laufen, bis ihr die Wangen brannten und sie müde an einem Wacholderbusch niederfiel. Dort, platt auf das Heidekraut hingestreckt, das Gesicht in die harten Stengel gedrückt, die Zöpfe voller Mittagsfalter, hatte sie unbändig geweint, weil sie kein Baroneßchen war.

Später kam Berlin mit dem Konservatorium, das Wohnen bei der Hauptmannswitwe, der Tante Oberau, die Reisen nach London und Wien, der Ruhm, endlich die Berliner Gesellschaft, in der Mareile durch Tarniffs eingeführt wurde. »Ich liebe sie wie meine Jugend«, sagte die Fürstin Elise Kornowitz von Mareile, und das war viel. Das Gefühl, daß dieses königliche Wesen eine gesellschaftliche Schöpfung der Fürstin Elise und ihrer Freundinnen war, begeisterte die Aristokratinnen für Mareile.

Still und staubig lag das Land da. Überall gelber Sand; Wiesen, Felder und Gärten lagen darauf, wie eine verblaßte Stickerei auf einem blind gewordenen Goldgrund. Die Feldgrillen schrillten am Wegrain. Mareile mußte über sie lächeln. Als Knabe hatte Günther sie damit geärgert, daß er sagte, die Feldgrillen riefen: »Ziepe – Ziepe.« ja! Alles rief hier »Ziepe« und schien nichts von der berühmten Mareile Cibò, der Freundin der Fürstin Elise, zu wissen. Jetzt bog Mareile in die Lindenallee, die zum Schlosse führte, ein. Hier war es kühl und schattig. Das Ping-ping einer Schmiede tönte herüber. Ein Stallknecht, die Tressenmütze im Nacken, ritt ein großes, blankes Pferd aus; endlich das Schloß mit seiner schwarzgelben Fahne. Das war wieder Mareiles Welt. Über den sonnigen Hof ging sie zur Inspektorswohnung hinüber.

Gelber Sonnenschein lag in der kleinen Wohnstube auf den schwarz und rot gemusterten Möbeln. Auch der bekannte Geruch von Fettstiefeln und Suppe schlug Mareile entgegen. Wie still und unverändert das alles hier auf sie gewartet hatte! Auf dem Sofa schliefen die Zwillinge Jei und Sini, die Backen rot unter dem blonden Flimmern der Haare. Sini erwachte und weinte. »Werdet ihr die Mäuler halten!« rief Frau Ziepe von der Küche herüber. Sie erschien in der Tür – im kurzen Unterrock, die Ärmel aufgestreift, die nackten Füße in Pantoffeln. Sie errötete: »Mareiling – Kind!« Sie breitete die nackten Arme aus, ließ sie jedoch wieder sinken. »Nein, nein – komm nicht. Wie ich ausschau' – was? ich muß den Fußboden scheuern, die Anna is so dumm. Ich komme gleich.« Sie verschwand wieder.

Vor dem Spiegel, hinter dem die Rute der Zwillinge steckte, nahm Mareile den Hut ab. Hinter ihr trat Vater Ziepe in das Zimmer, eine schwere Gestalt in weißem Leinwandanzuge, ein rotes Gesicht in einem gelben Bartgestrüpp. Erschreckend, dachte Mareile, die ihn im Spiegel betrachtete, dann wandte sie sich ihm zu. »Teufel, unsere Dame«, sagte Ziepe und küßte seine Tochter befangen auf den Scheitel. »Wo is Mutter?«

»Du willst wohl deinen Kognak, Vater?« erwiderte Mareile. Ziepe stand breitbeinig da und sah zu, wie seine Tochter zwischen Spind und Tisch hin und her ging unter dem leisen Klirren der Armbänder. »Hätte nicht pressiert«, brummte er, setzte sich und aß. Er wußte nichts zu sagen und schalt die Zwillinge. »Immer schlafen, wie die Spanferkel.«

Endlich kam Frau Ziepe im frischen Kattunkleide, die Augen voller Tränen. Ziepe fuhr sie an: »Was, heute wieder das Scheuerweib gespielt? Ich will das nicht. Ich hab' kein Scheuerweib geheiratet. Wozu is das Mädchen da – Teufel auch!«

Frau Ziepe hörte ihn nicht. »Wie das glänzt!« sagte sie und strich über den Diamant in Mareilens Ohr. Ziepe erhob sich, ging, froh, seiner vornehmen Tochter aus den Augen zu kommen.

Mareile lehnte sich in die Sofaecke zurück. Die Fliegen summten an den Fensterscheiben; die Suppe nebenan roch immer stärker. Frau Ziepe ging leise hin und her und diente ihrer Tochter, erzählte dabei von der Wirtschaft, den Herrschaften, dem Dienstmädchen. Die fünfzehnjährige Lene kam, kauerte zu Mareilens Füßen nieder und schaute andächtig zu der herrlichen Schwester auf. Das alles war rührend und lieb. Das findet man draußen in der Welt nicht. Und doch, warum ist all das so zum Weinen traurig? dachte Mareile.


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