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V.
Die Seelenmorde in den Schulen.

Wer vor die Aufgabe gestellt würde, mit einem Federmesser einen Urwald zu fällen, müsste vermutlich dieselbe Ohnmacht der Verzweiflung empfinden, die den Reformeiferer vor dem bestehenden Schulsystem ergreift – diesem undurchdringlichen Dickicht von Thorheit, Vorurteilen und Missgriffen, wo jeder Punkt sich zum Angriff eignet, aber jeder Angriff mit den zu Gebote stehenden Mitteln fruchtlos bleibt.

Der Schule der Jetztzeit ist etwas gelungen, das nach den Naturgesetzen unmöglich sein soll: die Vernichtung eines einmal vorhanden gewesenen Stoffes. Der Kenntnisdrang, die Selbstthätigkeit und die Beobachtungsgabe, die die Kinder dorthin mitbringen, sind nach Schluss der Schulzeit in der Regel verschwunden, ohne sich in Kenntnisse oder Interessen umgesetzt zu haben. Das ist das Resultat, wenn die Kinder ungefähr vom sechsten bis zum achtzehnten Jahre ihr Leben auf Schulbänken damit zugebracht haben, Stunde für Stunde, Monat für Monat, Semester für Semester Kenntnisse zuerst in Theelöffel-, dann in Dessertlöffel- und schliesslich in Esslöffelportionen einzunehmen, Mixturen, die der Lehrer oft aus Darstellungen aus vierter oder fünfter Hand zusammengebraut hat.

Und nach der Schule kommt oft eine weitere Studienzeit, in der der einzige Unterschied in der »Methode« darin besteht, dass die Mixtur jetzt mit dem Schöpflöffel zugemessen wird.

Wenn die Jugend diesem Regime entrinnt, ist die geistige Esslust und Verdauungsfähigkeit bei einigen so zerstört worden, dass ihnen für immer die Fähigkeit fehlt, wirkliche Nahrung aufzunehmen; andere wieder retten sich von all diesen Unwirklichkeiten auf das Gebiet der Wirklichkeit, indem sie die Bücher in die Ecke werfen und sich irgend einer Aufgabe des praktischen Lebens widmen; in beiden Fällen sind die Studienjahre so ziemlich vergeudet. Bei denen, die weitergehen, sind die Kenntnisse gewöhnlich auf Kosten des Persönlichen erworben: der Aneignung, des Vermögens der Reflexion, der Beobachtung, der Phantasie. Und ist es jemandem gelungen, all dies zu bewahren, so ist es gewöhnlich auf Kosten der Gründlichkeit der Kenntnisse geschehen. Eine geringere Intelligenz oder eine geringere Arbeitskraft, oder ein geringeres Aneignungsvermögen als die Natur ihnen zugedacht, das ist gewöhnlich das Resultat der zehn, zwölf Schuljahre; und es liegt eine tiefe Weisheit in dem französischen Witz: Sie sagen, dass Sie nie in die Schule gegangen sind – und sind doch so stockdumm?

Die Fälle, in denen Schulstudien nicht schaden, sondern im Gegenteil teilweise nützen, sind diejenigen, wo keine regelmässige Schulzeit hinter dem Schüler liegt, sondern lange Ruhezeiten oder Zeiten des Privatunterrichts, oder gar kein Unterricht überhaupt, sondern bloss Selbststudium. Beinahe jede hervorragende weibliche Persönlichkeit in den letzten 50 Jahren ist eine solche Autodidaktin oder ein unregelmässig unterrichtetes Mädchen gewesen, das daher in seinen Kenntnissen vielleicht grosse Lücken gehabt hat, aber desto mehr Frische und Fülle in der weiteren Aneignung von Kenntnissen und in der Art, das Angeeignete zu brauchen.

Heute ist es jedoch noch so, dass, wie laut auch die Familien über die Schulen klagen, sie doch nicht eingesehen haben, dass sie ihre Ansprüche an die »allgemeine Bildung« ändern müssen, bevor ein vernünftiges Schulsystem – d. h. ein in allem von dem jetzigen verschiedenes – zu stande kommen kann. Die sehr wenig zahlreichen Privatschulen, die sich in gewissem Masse von dem allgemeinen Systeme unterscheiden, sind Schwalben, die, weit davon entfernt, Sommer zu machen, das Schicksal der zu früh gekommenen Vögel teilen!

Solange die Schule eine Idee repräsentieren, einen abstrakten Begriff bilden soll, so wie die »Familie«, der »Staat« u. s. w., so lange wird sie – ganz wie die Familie und der Staat – die denselben angehörigen Individuen unterdrücken. Erst wenn man einsieht, dass die »Schule« ebenso wenig wie »die Familie« und »der Staat« eine höhere Idee, oder etwas Grösseres repräsentiert, als gerade die Anzahl Individuen, aus denen sie gebildet wird, und dass sie – ebenso wenig wie die Familie und der Staat – eine andere »Pflicht«, ein anderes »Recht« oder eine andere »Aufgabe« hat, als jedem einzelnen dieser Individuen so viel Entwickelung und Glück als möglich zu schaffen – erst dann ist der Anfang gemacht, dass Vernunft in die Schulfrage kommt. Die Schule wird dann ganz einfach das geistige Speisehaus, in dem die Eltern und Lehrer den für jedes Kind geeigneten Speisezettel entwerfen. Die Schule muss das Recht haben, zu bestimmen, was sie in ihr Menu aufnehmen kann, aber die Eltern haben das Recht, für ihre Kinder unter den von der Schule aufgenommenen geistigen Nahrungsstoffen zu wählen.

 

Bevor nicht das Phantom der »allgemeinen Bildung« aus den Schulplänen und den Elternköpfen vertrieben ist und die Bildung des Individuums die Wirklichkeit wird, die an ihre Stelle tritt, wird man vergebens Reformpläne entwerfen.

 

Aber so wie gewisse einfache Grundstoffe in jeder Nahrung enthalten sind, giebt es gewisse einfache Wissensstoffe, die die Grundlage aller höheren Kenntnisse bilden. Das Lesen und Schreiben der Muttersprache, die Anfangsgründe des Rechnens, der Geographie, der Naturkunde und der Geschichte muss die Schule als obligatorische Basis zu fortgesetzem, selbständigerem Studium verlangen.

Die eigentliche, im Alter von neun bis zehn Jahren beginnende Schule denke ich mir als eine wirkliche Gesammtschule. Die Unterrichtsweise müsste die Breite, die Ruhe, die Anschaulichkeit und die Selbstthätigkeit auf Seiten der Kinder voraussetzen, die jetzt durch das Hetzen und Jagen und die vielen Abstraktionen zerstört werden. Diese sind eine Folge des Kurslesens, der Viellernerei und des Formalismus, die von der Knabenschule ihren Einzug in die Mädchenschule gehalten haben, von der Elementarschule in die Volksschule, bis sie nun alle von diesen Gebrechen beherrscht werden, die die meisten bedauern, aber die nur durch eine radikale Reform kuriert werden können.

Ferner müsste der Unterricht gruppenweise geordnet werden, so dass gewisse Gegenstände in früheren Stadien untergebracht, andere auf spätere Stadien verschoben würden. Und nicht genug damit, dass man hierbei auf die psychologische Entwicklung des Kindes Rücksicht nähme, müssten auch noch gewisse Gegenstände auf gewisse Jahreszeiten verlegt werden.

Endlich müssten diese Schulen in dem Alter von ungefähr 15 bis 16 Jahren abschliessen, damit die Jugend dann entweder ins praktische Leben treten oder zu Fortsetzungs- und Anwendungsschulen übergehen könnte. Wünschenswert wäre es, wenn die Sitte eingeführt würde, die Grundtvig anempfohlen hat, nämlich: dass das eine oder andere Ruhejahr eintrete, bevor die Studien wieder anfingen. Besonders die Mädchen würden dann mit gestärkten Körperkräften und gesteigertem Wissensdurst wiederkommen. Jetzt ist es eine allgemeine Erfahrung, dass die Wissbegierde auch bei der begabten Jugend erschlafft, wenn sie – oft vom sechsten bis zum zwanzigsten Lebensjahre und darüber – ununterbrochen mit den Studien fortfährt.

Die Bestimmung des Schemas einer solchen Schule würde ungeheure Schwierigkeiten in sich schliessen. Aber sie würden sich nicht als unüberwindlich zeigen, sobald man sich darüber geeinigt hätte, dass die Seelen der Kinder mehr Berücksichtigung verdienen als das Schulschema.

Man bekommt von den Eltern unter anderen Einwänden den zu hören, dass man, bevor nicht der Staat die Initiative zur Reformierung des Schulwesens ergreift, es nicht wagen kann, sich auf einen Weg zu begeben, der die Zukunft der Kinder so ungewiss machen könnte; man müsste bis auf weiteres die Kinder das lernen lassen, was alle anderen lernen; aber wenn der Staat den ersten Schritt gemacht hätte, dann würde man mit ungeheurer Bereitwilligkeit folgen.

Aber was ist immer der richtige Weg zur Durchführung von Reformen gewesen? Dass in der Gesellschaft eine genügend starke Empörung gegen die bestehenden Missverhältnisse entstanden ist. Und diese Empörung wird noch nicht genügend stark empfunden, besonders seitens der Eltern. Die Kinder selbst fangen an, sie zu fühlen, und wenn nicht früher, so hoffe ich, dass, wenn die jetzige Generation der Schuljugend Väter, Mütter, Lehrer geworden ist, eine Reform statthaben wird.

Man darf nicht erwarten, dass ein System geändert wird, bevor die, welche das System missbilligen, dies ernstlich genug thun, um die Opfer auf sich zu nehmen, die nötig sind, um sich den unheilvollen Folgen des Systems zu entziehen. Solange die Familien über die Viellernerei klagen, aber beständig die Schule mit neuen Lehrgegenständen belasten, auch solchen, die die Familie auf sich nehmen könnte; so lange die Familien über Ueberanstrengung klagen, aber von der Wahlfreiheit in jenen Schulen, wo sie eingeführt ist, keinen Gebrauch machen; so lange die Eltern für die Verwirklichung ihrer Grundsätze nichts aufs Spiel zu setzen wagen – so lange kann man sich auch nicht wundern, dass der Staat sich nicht auf irgendwelche Reformen einlässt!

Ein alter pädagogischer Denkspruch lautet: »Man lernt für das Leben, nicht für die Schule.« So lange noch während eines grossen Teiles ihrer Lebenszeit die Geschlechter von einander getrennt werden, dadurch, dass die Knaben für sich studieren und die Mädchen für sich, ist das eine schlechte Erziehung für das Leben, das dann ihrer harrt, und in dem die gemeinsame Arbeit und das Zusammenwirken zwischen Mann und Weib nach der Ordnung der Natur das Normale sein soll. So lange die Gesamtschule eine Schule für eine Gesellschaftsklasse ist, aber nicht für alle, ist sie keine Gesamtschule im höchsten Sinne, und auch keine Schule, in der man fürs Leben lernt.

Ich habe darum immer aufs wärmste den Gedanken gehegt, dass die Schule keine Knaben-, keine Mädchen-, keine Elementar- und keine Volksschule sein soll, sondern eine wirkliche Gesamtschule, wo das eine und das andere Geschlecht, die Kinder der einen sowie der anderen Gesellschaftsklasse das gegenseitige Vertrauen, die gegenseitige Achtung, das gegenseitige Verständnis lernten, das dann ihr segensreiches Zusammenarbeiten in der Familie und im Staate ermöglichen soll.

Die Gesamtschule, so eingerichtet, ist vielleicht das wichtigste Mittel, um schliesslich die Sittlichkeitsfrage, die Frauenfrage, die Ehefrage, die Arbeiterfrage auf eine weniger einseitige, eine mehr menschliche Weise zu lösen. Aus diesem Gesichtspunkt ist die Gesamtschule viel mehr als eine pädagogische Frage: sie ist eine Lebensfrage der Gesellschaft.

Mann und Frau, Oberklasse und Unterklasse gehen noch auf verschiedenen Seiten einer Mauer, über die sie sich die Hände reichen. Aber die Mauer zu durchbrechen, darum handelt es sich. Und die Gesamtschule in dem eben erklärten Sinne des Wortes ist die erste Bresche in diese Mauer!

Eine solche Schule wäre ein Gärungsstoff, der nach und nach den ganzen Teig durchsäuern würde. Denn es ist nie so, dass die Vielen für die Wenigen reformieren; die Wenigen sind es, die nach und nach für die Vielen reformieren müssen, weil sie einen genügend starken Unwillen gegen die gegenwärtigen Missverhältnisse haben, genügend grossen Mut, ihren Unwillen zu zeigen, und genügend starken Glauben an die neuen Wahrheiten, um durch ihren Glauben den Grund zur Zukunft zu legen.

Bei einer solchen Schule muss auch derselbe Grundsatz, der auf anderen Gebieten Sitte und Gesetz humanisiert hat, sich geltend machen, nämlich die Rücksicht auf die verschiedenen Individualitäten, so dass der persönlichen Freiheit so wenig Hindernisse wie möglich in den Weg gelegt werden, wenn sie dem Rechte eines anderen nicht zu nahe tritt, während die Schranken behalten, ja vermehrt werden müssen, wo das Recht eines anderen gekränkt werden kann.

Wenn diese Humanität ihren Einzug in die Schulen gehalten hat, wenn die Schüler nicht mehr als Klasse betrachtet werden, sondern jeder für sich, dann wird die Schule anfangen, eine der vielen Bedingungen zu erfüllen, um der Jugend wirkliche Nahrung und dadurch Entwickelung und Glück geben zu können.

Eine solche Schule würde fürs erste streben, ungewöhnliche Anlagen früh zu entdecken und auf Spezialstudien zu richten.

Fürs zweite würde sie auch für jene, denen ausgeprägte Anlagen fehlen, eine Studienweise anordnen, in der auch ihre Individualität ausgebildet und ihre seelische Spannkraft erhöht werden könnte. Und diese Bedingung ist wenn möglich noch wichtiger als die erste, denn die ungewöhnlichen Anlagen bringen auch eine grössere Selbsterhaltungsenergie mit sich, während die gleichmässiger oder geringer Begabten – die ja die Mehrzahl bilden – viel mehr durch die Mannigfaltigkeit verwirrt und viel leichter durch die Gleichförmigkeit des jetzt herrschenden Systems als Persönlichkeiten ausgelöscht werden.

Sowohl das Recht der ungewöhnlich Begabten wie das der übrigen könnte berücksichtigt werden, wenn, wie oben erwähnt wurde, der Schulplan so geordnet würde, dass gewisse Gegenstände während eines Teiles des Schuljahres vorgetragen würden, gewisse während eines anderen; ferner gewisse Gegenstände zu verschiedener Zeit, nie alle auf einmal.

Weiters dadurch, dass der Unterricht so eingeteilt würde, dass das lebendige selbständige Studium unter der Leitung des Lehrers das Gewöhnliche würde, der Vortrag des Lehrers hingegen das Ungewöhnliche, die Feierstunde, nicht die Alltagskost.

Schliesslich dadurch, dass man bei allem Unterricht den Schüler so weit wie möglich zur Wirklichkeit selbst führte, nicht zu einem Referat derselben.

Eine solche Schule müsste absolut mit dem ganzen in konzentrischen Kreisen angeordneten Vortragssystem brechen und in gewissen Fällen zu dem System der alten Schule zurückkehren, das sich um die »humanistischen« Studien konzentrierte, obgleich nicht die toten Sprachen der Gegenstand sein sollten, um den man sich sammeln würde.

Frühe Spezialisierung da, wo ausgeprägte individuelle Anlagen vorhanden sind;

Konzentrierung auf gewisse Gegenstände zu gewissen Zeitpunkten;

selbständiges Arbeiten während der ganzen Schulzeit;

Wirklichkeitsberührung während aller Schulstadien: dies müssen die vier Ecksteine der neuen Schule sein.

Doch die Zeit, in der die staatlichen Schulen anfangen, auf dieser Grundlage zu bauen, ist wohl noch ferne. Das nun Folgende bezieht sich daher nicht auf die oben angedeutete grosse Umgestaltung des Schulwesens, sondern berührt nur die Verbesserungen, die schon jetzt stattfinden könnten.

Wenn man, wie dies schon in Frankreich geschieht, das Lektionenlernen in die Schule verlegte und den Kindern einen ganzen freien Tag in der Woche gäbe, könnte das häusliche Studium – die Lektüre belletristischer Arbeiten, von Reisebeschreibungen und dergleichen, die die Lehrer im Zusammenhang mit den in der Schule betriebenen Studien empfehlen würden – schon jetzt in Kraft treten.

Die Hausaufgaben zerstören das Behagen, ohne die Selbstthätigkeit zu fördern, denn sie werden in der Regel unter allzu freigebiger – und oft unkluger – Hilfe seitens der Eltern angefertigt. In der Schule würden die Aufgaben in der Regel ohne Hilfe gemacht werden, eine selbstthätige und rasch erledigte Arbeit sein.

In der Schule könnte Zeit für wahlfreies Selbststudium z. B. in folgender Weise festgesetzt werden: in einer Klasse von ungefähr zwölf Schülern – bei grösseren Klassen ist keine vernünftige oder persönliche Unterrichtsmethode möglich – finden sich z. B. drei Schüler mit ausgeprägten Neigungen, der eine für Geschichte, der andere für Mathematik, der dritte für Sprachen; zwei mit ausgesprochener Unbegabung, der eine für Mathematik, der zweite für Sprachen; die anderen sieben hingegen gleichmässig begabt. Die drei ersten müssten dann während des ganzen Semesters zu gewissen, für selbständige Studien bestimmten Stunden jeder in seinen gewählten Gegenstand tiefer eindringen; der erste einige historische Werke über die Epoche lesen, die die Geschichtsstunden behandelt haben; der zweite die Zeit seiner Mathematik widmen; der dritte einige fremdsprachige Bücher lesen, die in der Sprachlektion berührt wurden; die sieben übrigen, mehr gleichmässig Begabten könnten dieselbe Zeit zu lauter Lektüre und Handarbeit verwenden. So erhalten alle ihr Teil an Geschichte, Mathematik und Sprachen, aber die besonders Interessierten Gelegenheit, tiefer in den Gegenstand einzugehen. Sollte wieder unter den drei Begabten einer grosse Neigung und leichte Auffassung für alle drei Gegenstände haben, so muss dieser für sich selbst zu Hause lernen, falls nicht das gründlichere Studium des einen Gegenstandes das des anderen ablösen könnte. Die zwei hingegen, denen Mathematik oder Sprachen besonders schwer fielen, könnten entweder den Gegenstand ganz durch einen anderen ersetzen oder in jenen Stunden schulfrei sein oder schliesslich die Stunden, die für die Begabtesten zum Selbststudium über die Forderungen des gemeinsamen Kurses hinaus bestimmt wären, dazu verwenden, sich mit Hilfe des Lehrers besser in den der ganzen Klasse gemeinsamen Kurs hineinzuarbeiten.

Um einen solchen Plan durchzuführen, ist vor allem die Konzentrierung der Gegenstände nötig, von der ich früher gesprochen, so dass z. B. nie mehr als einer oder höchstens zwei der umfassendsten Hauptgegenstände – Geschichte, Geographie, Naturwissenschaft – zu gleicher Zeit studiert würden; ferner dürfte nie mehr als eine Sprache auf einmal gelehrt werden; die schon gelernten müsste man aber durch litterarische Lektüre, schriftliche Resumés und Gespräche fortwährend üben.

Noch eine andere Art der Konzentrierung ist notwendig: nämlich nicht jeden Gegenstand in Unterabteilungen zu zersplittern, sondern die Geschichte auch Litteraturgeschichte, Kirchengeschichte u. s. w. einschliessen zu lassen; in die Geographie im Anfangsstadium einen Teil der Naturkunde aufzunehmen und die Kunstgeschichte mit beiden zu vereinigen. Und eine andere, nicht weniger wichtige Konzentrierung ist die, sich bei den allen gemeinsamen Kursen auf die Hauptsachen zu richten, unter Opferung einer Menge Nebensachen, die – bei dem unablässig wachsenden Inhalt des Wissens – nicht von Generation zu Generation als »unentbehrlich für den gebildeten Menschen« mitgeschleppt werden können.

In Beziehung auf den Unterricht dürfte die jetzt in Blüte stehende Methodik wohl das Feld räumen müssen. Die bis jetzt obligaten zwei Tempi: das sorgsame mündliche Verhör und die sorgsame Präparation der nächsten Lektion müssten mit anderen Methoden abwechseln, je nach dem Alter der Schüler, der besonderen Art des Gegenstandes und der Schüler oder dem besonderen Teil des Gegenstandes. Einmal würde der Lehrer eine anregende, anschauliche Darstellung einer Zeit, einer Persönlichkeit, eines Landes, einer Naturerscheinung geben; das andere Mal sich mit einer bloss orientierenden Anweisung zur Lektüre der einen oder anderen Arbeit über den Gegenstand, am besten einer Quellenschrift begnügen; das eine Mal würde er das Referat – seines Vortrages oder des Gelesenen – mündlich verlangen, das andere Mal schriftlich. In einer von mitgeteilten Thatsachen ausgefüllten Lektion würde der Schüler eine Stunde mitschreiben, das andere Mal bloss aus dem Gedächtnis referieren dürfen. Das eine Mal könnte ein aufgegebenes Pensum erklärend vom Lehrer durchgenommen werden; ein anderes Mal würde ein Pensum gegeben, das gar nicht durchgenommen wurde, aber das die Schüler doch fähig wären, auf eigene Hand zu durchdringen und sich anzueignen. Zuweilen würde die Aufgabe in kurzer Zeit zu machen sein, von einem Tag auf den anderen, zuweilen in längerer.

All diese Arbeit würde, wie gesagt, in der Regel in der Schule stattfinden. Aber die Lektüre der Schönlitteratur und aller damit vergleichbaren Bücher muss hingegen zur Hausaufgabe werden, und zwar innerhalb weiterer Zeitbestimmungen. Denn wir wissen alle, dass, was auf uns in dieser Beziehung einen tiefen Eindruck gemacht hat, nur frei Gelesenes war, das, wozu wir uns selbst die Zeit, den Ort und die Stimmung wählen konnten. Und da es ja in diesem Falle auf den Eindruck ankommt, nicht auf die Kenntnisse, ist die Freiheit hier noch wesentlicher als sonst. Die Selbstthätigkeit kann dadurch unterstützt werden, dass der Lehrer, wie es z. B. in Frankreich geschieht, eine vorhergehende Erklärung der Worte und solcher Dinge giebt, die in der Dichtung schwer verständlich sind, und dadurch, dass der Lehrer hier und da durch Vorlesen eines Gedichtes die Lust erweckt, mehr von demselben Dichter kennen zu lernen. Am meisten wirkt ein Gedicht, wenn es unerwartet kommt. Wenn eine Geschichtslektion z. B. dadurch abgeschlossen wird, dass man etwas aus Lenaus Albigensern oder einer anderen historischen Dichtung vorliest, so vergessen die Schüler weder die Dichtung, noch die Episode, die dieselbe behandelt – mögen sie auch sonst alles andere vergessen! Aber die in der Litteraturstunde mitgeteilten Proben gehen zu dem einen Ohr hinein und zum anderen wieder heraus.

Wie ein überzeugter Lehrer dann im einzelnen diese Art konzentrierten und auf der Selbstthätigkeit des Schülers beruhenden Unterrichts durchführen würde, muss sich natürlich aus der Persönlichkeit des Lehrers selbst ergeben. Ich denke mir, dass z. B. der Geschichtslehrer die vorhistorische Zeit nicht schildern, sondern den Schülern irgend eine gute populäre Arbeit darüber in die Hand geben würde und sie einige Museumsbesuche machen Hesse. Dann würde er ein schriftliches Referat verlangen, das der Schüler mit Zeichnungen einiger charakteristischer Typen von alten Gegenständen illustrieren müsste. Hierauf könnte er selbst eine vergleichende Uebersicht derselben Periode bei anderen Völkern geben und schliesslich, falls ein besonders wissbegieriger Schüler vorhanden wäre, diesem ein Werk über den Urzustand des Menschen in die Hand geben. Jeder Lehrer und jede Lehrerin kann sich leicht in ihrem Gegenstand Analogien zu diesem Verfahren ausdenken. Die Geographielehrerin, die z. B. über Sibirien vorträgt, könnte allen Schülern zum Privatstudium irgend eine gute, allgemeine Schilderung geben; aber den besonders Interessierten würde sie ausserdem eine Reiseschilderung über Sibirien, Dostojewskys »Aus dem toten Hause« u. s. w. zur Lektüre empfehlen. Stellte z. B. der Geschichtslehrer Napoleon dar, so könnte in der französischen Stunde eine Arbeit, wie de Vignys »Servitude et grandeur militaire« gelesen werden; während des niederländischen Freiheitskrieges Motleys Arbeit über dieses Thema, Goethes Egmont und Schillers Don Carlos. Ein ganzes Buch könnte über ähnliche Pläne geschrieben werden; mit Vorschlägen, wie die verschiedenen Wissensgebiete sich gegenseitig ausfüllen könnten; wie man Geschichte, Geographie, Litteratur und Kunst miteinander zu verflechten im stande wäre, ebenso wie auf der anderen Seite Geographie und Naturwissenschaft; wie auf diese Weise die verschiedenen Lehrer einander behilflich sein könnten, den Schülern ein volleres Wissen zu vermitteln.

Ich möchte hier zur Diskussion und Prüfung eine Hypothese aufstellen, die ich auf eine umfassende Erfahrung als Zuhörerin sowohl wie als Erzählerin von Märchen gegründet habe. Wenn ich in eine Behauptung, die zu beweisen hier nicht beabsichtigt ist, meine Erfahrung über den genannten Gegenstand zusammenfassen sollte, so wäre es die, dass jene geistige Speise, die für das Kind die anziehendste ist, auch die für dasselbe nahrhafteste sein wird; etwas, das die Physiologie unserer Tage für das organische Dasein des Kindes bewiesen hat und das die Erziehungslehre schon anfängt, bewusst oder unbewusst auf das geistige Gebiet zu übertragen, aber ohne noch recht zu wagen, die Natur für so einfach zu halten, dass sie Bedürfnis und Neigung so nahe verbunden haben sollte. Natürlich kann ebenso wenig behauptet werden, dass nur das für das Kind Fesselndste, z. B. Märchen, seine ganze Erziehung bilden soll, wie die Physiologie behauptet, dass das für das Kind Wohlschmeckendste, z. B. Zucker, seine einzige Nahrung zu bilden habe.

Was jeder Märchenerzähler als ganz besonders anziehend für das Kind finden wird, ist die episch ruhige, klare Anschaulichkeit des Märchens, seine unerschütterliche Objektivität. Und jede Darstellung, die die Aufmerksamkeit des Kindes gewinnen will – sei sie aus der nordischen, der klassischen oder der biblischen Geschichte – muss jene Eigenart des Märchens haben. Es giebt kaum Märchenerzähler, die das Kind so völlig fesseln, wie alte Kinderfrauen. Sie vergessen nie irgend einen malenden Zug im Märchen, sondern geben stets dieselbe breite, volle Darstellung. Und sie erzählen ohne Erklärungen und ohne Anwendung, mit dem eigenen unmittelbar ergriffenen Gefühl der Kinder. Alles, was den ruhigen Gang des Märchens stört, vor allem, wenn sich der Erzähler durch einen Scherz ausserhalb desselben stellt, trifft das Kind als ein tiefes Unbehagen. Die Kinder sind immer mehr oder weniger Künstlernaturen, in dem Sinne, dass sie einen Eindruck rein empfangen wollen, nicht als Mittel zu etwas anderem. Und sie wollen an das Märchen glauben. Sie wollen durch dasselbe etwas Wirkliches erleben, während sie gleichzeitig »nein« rufen, wenn man sie fragt, ob sie eine wirkliche Geschichte lieber hören wollen als ein Märchen? Dieser scheinbare Widerspruch erklärt sich dadurch, dass die Darstellung, die das Märchen von der Wirklichkeit, so wie die Kinderphantasie der Völker sie auffasst, gerade die Form ist, in der auch die Phantasie des Kindes sie aufnehmen kann.

Beim Märchenerzählen findet man weiter, dass das für das Kind Anziehende die Darstellung von Handlungen ist; dass es sich nur auf diesem Umwege von Gefühlen und Stimmungen ergreifen lässt. Die Entwickelung des Kindes – das ist eine Wahrheit, die abgedroschen worden ist, bevor man sie sich wirklich angeeignet hat – entspricht im kleinen der der Menschheit im grossen. Und daraus folgt, dass die Kinder ebenso naiv Idealismus und Realismus vereinen, wie es die epische Dichtung der Völker thut. Das Grosse, Gute, Heldenhafte, Uebernatürliche ergreift sie am meisten; aber nur in konkreter Gestalt, sinnlich veranschaulicht, mit dem eigenen Kraftreichtum des Lebens, ohne Anpassung an die gegenwärtigen Auffassungen.

Man kann das erproben, wenn man z. B. ein echtes Volksmärchen erzählt und eine Variation von Andersen darüber, mit wenigen Ausnahmen werden die Kinder das erstere einstimmig als »das schönste« bezeichnen.

Was weiter für frische Kinder mit gesundem Appetit anziehend ist, ist ein Viel, aber keineswegs ein Vielerlei.

Zu allererst fragen sie, ob »das Märchen lang ist«, nachdem sie die Hoffnung haben, dass es schön ist; sie hören gerne dasselbe Märchen weiss Gott wie oft; sie haben ein unbewusstes Bedürfnis nach gründlicher Aneignung, sobald das, was man ihnen giebt, mit ihrem Entwickelungsstadium übereinstimmt. Das gilt von allen Gegenständen. Ich kenne Kinder, die die »Ausgewählten Erzählungen« aus der Bibel verabscheuten, mit denen die Morgenandacht eingeleitet wurde, die aber das neue Testament als »Unterhaltungsbuch« lasen; die durch die pädagogischen Auszüge nicht zum Interesse für die nordische Götterlehre erweckt werden konnten, die aber vor Entzücken ausser sich gerieten, als ihnen der Inhalt der Edden selbst mitgeteilt wurde u. s. w. Auch darin gleichen die kleinen Kinder den grossen, den Künstlern. Die Phantasie der Kinder verlangt volle, ganze, tiefe Eindrücke als Stoff für ihre rastlos bildende und umbildende Arbeit; und ist ihre gesunde Sinnlichkeit nicht durch einen aufgezwungenen Dualismus gestört, so führt sie sie mit bewundernswert sicherem Instinkt dahin, das Gesunde, Reine und Schöne zu wählen, das Ungesunde, Hässliche und Rohe aber zu verwerfen. Schliesslich findet man beim Märchenerzählen, dass die Vorliebe der Kinder für Kontinuität der Eindrücke ebenso gross ist wie ihre vielbesprochene Vorliebe für Abwechslung. Man hört die Kinder nie sagen: erzähle jetzt ein lustiges Märchen, das vorher war so gruselig! Sondern hat man angefangen, gruselige Märchen zu erzählen, so wollen sie ein gruseliges nach dem anderen haben. Und hat man angefangen, lustige zu erzählen, werden sie gar nicht müde, zu lachen. Die Veränderlichkeit der Kinder bei Spielen, bei Lektüre und Arbeit ist kein so allgemein charakteristischer Zug der Kindernatur, wie man glaubt. Er ist wenigstens nur für jene Kinder besonders charakteristisch, deren Lektüre und Spiele nicht ihrer Natur und ihrer Neigung angepasst sind; die Veränderlichkeit ist in gewisser Weise eine Selbstverteidigung der Natur gegen das unbewusst Nachteilige.

Was das Komische betrifft, so findet man beim Märchenerzählen, dass das Kind den gewecktesten Sinn für das, was man Situationshumor nennen könnte, hat: hingegen haben sie kaum eine Spur von Empfänglichkeit für den auf tieferen seelischen Kontrasten beruhenden Humor, und am allerwenigsten für den selbstironisierenden Humor. Soll eine Erzählung aus ihrer eigenen Welt wirklich Eindruck auf sie machen, so muss sie wie das Märchen voll Leben, Handlung und Ueberraschungen sein, breit und naiv in der Darstellung ohne merkbare Absichten. Alle Kinderbücher, von denen Kinder das Leben hindurch eine Erinnerung und Eindrücke bewahren, sind solche, die wenigstens in der einen oder anderen Beziehung diese Bedingungen erfüllen. Die übrigen werden von anderen Eindrücken bedeckt, aber dadurch ebenso wenig unschädlich gemacht, wie arsenikhaltige Tapeten durch weiss der Himmel wie viele neue Papierschichten! Man kann sich, was den Humor des Kindes betrifft, leicht durch eine Probe überzeugen. Man kann Kindern die allerkomischste psychologische Kinderanekdote erzählen, und von 99 von hundert wird man höchstens ein »wie furchtbar dumm« hören, während sie sich über eine einfältige Geschichte, die eine Situation darstellt, vor Lachen zerkugeln wollen.

Dass Kinder sich nicht zum Abstrakten hingezogen fühlen, ist auch eine der alten Wahrheiten, für deren Richtigkeit das Märchenerzählen die besten Beweise liefert. Alle noch so gut verkleideten Tugenden und Eigenschaften enthüllen sich wunderbar rasch den Kindern als »langweilig«. Für Fabeln haben Kinder selten Geschmack, am wenigsten jedoch für Abhandlungen. Das Auftreten des Fuchses oder des Bären in einem Märchen oder in einer wirklichen Begebenheit macht sie zu den vertrauten Freunden der Kinder, während selbst die lebendigste und kindlichste Abhandlung über » Der Bär« oder » Der Fuchs« sie unberührt lässt, falls nicht ihre persönliche Erfahrung vom Lande oder von einem zoologischen Garten ihnen zu Hilfe kommen kann. Diese Wahrheit ist so anerkannt und von so vielen Gesichtspunkten bewiesen, dass ich hier bloss bemerken will, dass auch das Märchenerzählen neue Beweise für dieselbe liefert. Schliesslich zeigen die Kinder beim Märchenerzählen eine feinfühlige Empfindlichkeit gegenüber aller Herablassung, allem Herabsteigen zum Standpunkt des Kindes, allem Gemachten in der Darstellung. In dem Verkehr mit Kindern hat – besonders bei den Repräsentanten einer Entwickelung zum Besseren – die Reaktion gegen die alten Lektionen- und Büffelmethoden eine gekünstelte Naivetät, einen Bilderreichtum und eine Lebendigkeit hervorgerufen, die die Kinder bald als etwas für ihre Rechnung Hergerichtetes, als etwas nicht ganz Echtes empfinden. Diese Art, den Kindern gewissermassen seine eigene Einbildungskraft zu geben, erschlafft die der Kinder, wenn es auch im Anfange gelingt, sie bei den Lektionen gut zu unterhalten. Denn die Bilder und Vergleiche sowohl wie die Schlussfolgerungen, die ein anderer für sie ausgedacht hat, werden für die Selbstthätigkeit des Kindes hemmend und geraten überdies sehr rasch in Vergessenheit. Es ist damit ebenso wie mit den Spielsachen: die selbstgemachten gewähren unerschöpfliches Vergnügen, während die fertig gekauften gewöhnlich nur zwei Freuden bereiten: das Zeigen und dann das Zerlegen, um das Uhrwerk herauszufinden, die einzige Selbstthätigkeit, die dabei möglich ist. Der Unterricht beginnt in diesem Falle den Kinderspielsachen und den Kinderbüchern zu gleichen; zu vollkommen, zu reich illustriert hindern diese die eigenen, freien Entdeckungsfahrten der Phantasie, und auch die guten Illustrationen gereichen so oft zum wirklichen Schaden, um nun gar nicht davon zu sprechen, wie oft sich die Kinder durch die Bilder enttäuscht fühlen.

Das Masshalten des Märchens ist auch eine nicht wenig anziehende Eigenschaft für das Kind. Seine Bilder sind mit einigen wenigen bestimmten, oft wiederholten Zügen gezeichnet, der Phantasie bleibt es dann überlassen, das Bild mit Farben zu füllen. Die Einförmigkeit, der Rhythmus und die Symmetrie, die das echte Volksmärchen aufweist, sind für das Kind ausserordentlich fesselnd, es geniesst Wiederholungen wie »das erste, zweite, dritte Jahr« u. s. w. ganz wie Refrain und Reim in der Poesie.

Aber alle diese Beobachtungen führen zu dem Schlusssatze: dass das jetzige Lesebuchsystem weder das für die Kinder anziehendste ist, noch ihnen am meisten giebt. Anstatt des episch Ruhigen, Einheitlichen bringen die Lesebücher eine unruhige Mischung von allerhand aus der Kinderstube, der Religionslehre, der Poesie, der Naturgeschichte und der Geschichte. Hier und da kommt eine Sage oder ein wirkliches Gedicht, das in Ton und Anschaulichkeit grell von seinen Nachbarn absticht. Anstatt klarer Eindrücke erhalten die Kinder durch diesen Mischmasch getrübte, anstatt Objektivität sittenlehrende Kindergeschichten; anstatt Poesie belehrende Reimerei; anstatt Handlung Erwägung; anstatt viel vielerlei; anstatt Kontinuität der Eindrücke unaufhörliche Abwechslung; anstatt konkreter Lebenseindrücke Abhandlungen und anstatt Naivetät Herablassung!

Was ist nun für die Entwickelung vom 6. bis zum 16. Jahre die Folge dieses Lesebuchsystems?

Ja, was ist im allgemeinen die Folge für die Entwickelung des Charakters, wenn man von Eindruck zu Eindruck flattert, flüchtig an den verschiedensten Dingen nippt, Bild um Bild vorüberhuschen lässt, ohne irgendwo Halt zu machen?

Man pflegt, was die Erwachsenen anlangt, die Antwort sogleich bei der Hand zu haben, und sie ist so übereinstimmend, dass sie nicht wiederholt zu werden braucht. Aber das, was für die Erwachsenen gilt, das sollte weniger für das Kind gelten? Es gilt für das Kind viel mehr! Die Erwachsenen haben gewöhnlich eine Arbeit, eine Aufgabe, etwas Einheitliches, um das die Mannigfaltigkeit sich ordnen kann und wobei Abwechslung manchmal nützlich sein mag. Aber der ganze Schultag des Kindes ist Abwechslung, die Art, wie es Kenntnisse aufnimmt, geschieht löffelweise. Hat man da nicht Grund, mit allen Kräften dieser Zersplitterung überall entgegenzuarbeiten, wo sie nicht notwendig ist?

Und sie ist nicht notwendig in den Lesebüchern. In den fremden Sprachen sowie in unserer eigenen wird durch ein Buch viel mehr als durch ein Lesebuch das Interesse der Kinder angespornt, ihr Wortvorrat vermehrt. Aber selbst wenn das nicht der Fall wäre, so ist das, was man durch die Lesebücher an flinkerer Fertigkeit in der Muttersprache und in den fremden Sprachen gewinnt, nicht mit dem oben angedeuteten Verlust, den sie für die Entwickelung bedeuten, vergleichbar.

Wenn schon die Schule durch ihren Mangel an Spezialisierung, Konzentrierung, Selbstthätigkeit und Wirklichkeitsberührung unverantwortlich mit den geistigen Kräften der Jugend verfährt, so sind die Gymnasien und Seminarien geradezu Vernichter der Persönlichkeit. Hier, wo nur periodische Tentamina (Kolloquien) vorkommen sollten, wo alle Studien den Charakter der Selbstthätigkeit tragen müssten, hier wird kaum in irgend einer Beziehung der Hunger der Schüler nach Wirklichkeiten befriedigt, ihr Durst, selbst zu sehen, zu lesen, zu urteilen, Eindrücke aus erster Hand zu bekommen, nicht durch fremde Referate!

Auch hier ist gewiss die Leitung des Lehrers nötig; bald um eine überflüssige Arbeit durch einen klarmachenden Ueberblick zu ersparen; bald um auf eine einseitige Darstellung hinzuweisen, um das Bild vollständig auszufüllen. Manchmal muss der Lehrer durch eine lebensvolle Darstellung aus eigenem Gesichtspunkte anfeuern, durch eine feine, psychologische Studie, ein farbenvolles Zeitgemälde interessieren; ein anderes Mal dem Schüler helfen, die Gesetze zu finden, die die Erscheinungen beherrschen, welche er durch eigene Erfahrung kennen gelernt hat: oder die Vergleiche anzustellen, zu denen die Erfahrungen Anlass geben. Auch hier muss das mündliche und das schriftliche Referat grosse Bedeutung erlangen.

Aber das Ziel des ganzen Unterrichts hier sowie in der Schule darf nicht in Examen und Zeugnissen bestehen, die von der Erde ausgetilgt werden müssen; sondern das Ziel wäre: dass die Schüler selbst aus erster Hand ihre Kenntnisse einholten, ihre Eindrücke erhielten, ihre Ansichten bildeten, sich zu ihren geistigen Genüssen durcharbeiteten, anstatt sie wie jetzt ohne alle Mühe durch den »interessanten«, oft schlaff angehörten und rasch vergessenen Vortrag der Lehrer über fünf Gegenstände an jedem Vormittag zu erlangen.

Fakten entgleiten jedermanns Gedächtnis – und am raschesten dem Gedächtnis derer, die nach dem Mixtur- und Theelöffelsystem gelernt haben. Aber Bildung ist glücklicherweise nicht bloss Kenntnis von Fakten, sondern nach einem vortrefflichen Paradoxon »das, was übrig ist, wenn wir alles, was wir gelernt haben, vergessen haben«.

Je grösser der Reichtum an solchem bleibenden Gut ist, desto grösser ist der Nutzen des Studiums; mit je mehr inneren Bildern, vibrierenden Gefühlen und Ideenverbindungen, mit je mehr suggestiv wirkenden Eindrücken wir erfüllt wurden, desto mehr Entwickelung haben wir durch ein Studium für unsere Persönlichkeit gewonnen. Und dass die Schüler in dieser Beziehung so wenig gewinnen, wenn sie auch alle Schulen mit »Vorzugszeugnissen« durchmachen, das ist die ernste Schädigung, an der sie ihr Leben lang zu tragen haben. Das schön geordnete, etikettierte Schachtelwissen der Examina geht nur zu bald verloren. Der jedoch, der durch freie Wahl und selbständige Arbeit Wissbegierde und Arbeitstauglichkeit beibehalten hat, kann dann leicht die Lücken ausfüllen, die diese Studienmethode in Bezug auf Kenntnisse hinterlassen hat.

Nur der, der durch das Wissen einen Blick für den grossen Zusammenhang im Dasein erhalten hat, den Zusammenhang zwischen der Natur und dem Menschenleben, zwischen der Jetztzeit und der Vorzeit, zwischen Völkern und Ideen, kann seine »Bildung« nicht verlieren. Nur der, der durch die geistige Nahrung, die er erhalten, klarer sieht, feuriger fühlt, des Lebens Reichtum ganz erfasst, hat wirklich »Bildung« erworben. Diese Bildung kann in der regellosesten Weise errungen sein; vielleicht an der Kaminflamme oder auf der Wiese; am Meeresstrand oder im Walde; sie kann aus alten Scharteken oder aus der Natur selbst geholt sein; sie kann grosse Lücken und viele Einseitigkeiten aufweisen – aber wie lebendig, persönlich und reich ist sie nicht gegen diejenigen, die in dem fünfzehnjährigen Lehrkurs-Kreislauf mit zugebundenem Munde das Getreide auf fremden Feldern gedroschen haben!

Die Zeit ruft nach »Persönlichkeiten«, aber sie wird vergebens rufen, bis wir die Kinder als Persönlichkeiten leben und lernen lassen; ihnen gestatten, einen eigenen Willen zu haben, ihre eigenen Gedanken zu denken, sich eigene Kenntnisse zu erarbeiten, sich eigene Urteile zu bilden; bis wir mit einem Worte aufhören, in den Schulen die Rohstoffe der Persönlichkeiten zu ersticken, denen wir dann vergebens im Leben zu begegnen hoffen.

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