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IV.
Heimatlosigkeit.

Von Zeit zu Zeit hört man immer wieder Anklagen gegen die Gegenwart und ihre Verderbtheit im Gegensatz zum sittlichen Ernst früherer Zeiten. Diese Anklagen sind ebenso laut und ebenso grundlos, wie die meisten derartigen Beschuldigungen, die sich von Generation zu Generation wiederholen, von der Zeit an, in der die Menschheit begann, bewusst anderen Zielen nachzustreben als der augenblicklichen Befriedigung des ungezügelten Triebes.

Man braucht sich nur an die Männer dieser und die Greise der vorhergehenden Generation zu wenden, um darüber belehrt zu werden, dass Unsitten in den Schulen nichts für unsere Zeit besonders Charakteristisches sind. Liest man die historischen Schilderungen, z. B. des Lebens an den Hochschulen in früheren Zeiten – wo die jüngeren Studenten in demselben Alter standen wie heute die Schulknaben der fünften und sechsten Klasse – so wird man sich davon überzeugen, dass die Ursache des Uebels nicht »die moderne Litteratur« oder »der moderne Unglaube« ist.

Von der wirklichen unmittelbaren Ursache, den in der Natur begründeten Leidenschaften, und der Möglichkeit, diese durch die Erziehung zu beeinflussen, beabsichtige ich hier nicht zu sprechen. Diese Frage könnte nur von einem Menschen gelöst werden, der eine gründliche Kenntnis der Resultate sowohl der physiologischen wie der psychologischen Wissenschaften besässe und zugleich ein pädagogisches Genie wäre, – ja, vielleicht würden auf dem jetzigen Standpunkt der Wissenschaften nicht einmal hinreichende Hilfsmittel für eine solche Aufgabe zu Gebote stehen, selbst wenn es jemanden gäbe, der das Originellste in Sokrates', Rousseaus und Spencers pädagogischen Systemen beleben und weiter entwickeln könnte. Denn nichts Geringeres wird von dem verlangt, der einen für die Entwickelung wirklich bedeutungsvollen Einsatz auf diesem Gebiete machen können soll.

Meine Absicht ist nur, einige Andeutungen über die sekundäre Ursache des Uebels zu geben, der nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, wie sie verdient. Diese Ursache ist die in allen Gesellschaftsklassen gesteigerte Heimatlosigkeit.

Denn bei seinen Eltern wohnen – wie es die Schuljugend der Stadt ja im allgemeinen thut – ist nicht dasselbe, wie in einem Heim leben.

Bei uns wie überall wird das Familienleben in der arbeitenden Klasse durch die Aussenarbeit der Mütter und in der Oberklasse durch eine unaufhörlich wachsende Menge öffentlicher Vergnügungen und Obliegenheiten gestört.

Früher war es eigentlich nur der Mann und Vater, den das Heim seiner äusseren Angelegenheiten wegen entbehren musste. Jetzt verlässt auch die Gattin und Mutter, nicht nur wegen Vergnügungen, Gesellschaften oder Erbauung, sondern auch wegen Versammlungen, Vorlesungen oder Sitzungen, Abend für Abend das Haus, d. h. gerade zu der Zeit, die sie den vormittags in den Schulen beschäftigten Kindern widmen sollte.

Das beständig anwachsende Gesellschaftsleben, das sich unaufhörlich mehrende Vereinsleben und Aussenleben hat zur Folge, dass die Mutter so früh wie möglich die Kinder in die Schule schickt, auch wenn sie durch nichts anderes als die ebenerwähnten Verhältnisse abgehalten ist, den Kindern selbst ihren ersten Unterricht zu erteilen, zu dem in der Regel die schulgebildete Generation der jetzigen Mütter ganz tauglich wäre, und bei dem sich das Bedürfnis nach den Reizungen des kameradschaftlichen Lebens noch nicht geltend macht. Ja, selbst bevor die Schulzeit beginnt und in den freien Stunden der Schule werden die Kinder in der Regel Dienerinnen zum Spazierengehen, Eislaufen u. s. w. überlassen. Die Kinder der »oberen Klassen« werden in den meisten Fällen von der Kinderfrau und der Schule in ebenso hohem, wenn nicht in höherem Grade erzogen als von der Mutter – vom Vater gar nicht zu sprechen, der in der Regel doch nur ein unwesentlicher, gelegentlicher Faktor bei der Erziehung der Kinder ist.

Mancher hat vielleicht den Einwand bereit, dass doch zu keiner Zeit so viel für die Erziehung der Kinder geschehen ist, wie heute; dass die Eltern nie so aufmerksam auf die physischen und psychischen Bedürfnisse der Kinder waren; dass zu keiner Zeit der Verkehr zwischen Eltern und Kindern ein so freier gewesen ist, zu keiner die Schulen in so starker Thätigkeit.

All das ist wahr, aber vieles davon trägt gerade dazu bei, die Heimatlosigkeit, von der ich spreche, zu steigern. Je mehr die Schule sich entwickelt, desto mehr wird sie mit allem Unterricht der Kinder belastet und nimmt infolge dessen immer mehr Stunden des Tages in Anspruch. Die Schule muss auch in jenen einfachen Gegenständen unterrichten, die die Mütter jetzt mindestens ebenso gut übernehmen könnten, wie unsere Grossmütter es einst konnten, nämlich die Kinder mit der einheimischen Schönlitteratur und mit Handarbeiten vertraut zu machen. Je mehr die Sorge für das körperliche und geistige Wohl der Kinder solche an sich vortreffliche Dinge, wie Gymnastik, Handfertigkeit und allerlei Sport hervorruft, desto mehr werden die Kinder vom Heim abgezogen; und sind sie zu Hause, werden sie oft durch Lektionen und schriftliche Aufgaben verhindert, mit Vater und Mutter zu sein – selbst wenn diese ausnahmsweise zu Hause sind! So dass, wenn man in Betracht zieht, wie das jetzige Schulsystem die Zeit der Kinder und das jetzige Gesellschafts- und Vereinsleben die der Eltern verbraucht, man eben zu der Beobachtung kommen wird, mit der ich begonnen habe: dass das häusliche Leben mehr und mehr aufhört.

Die Reformen, die man von der Schule verlangen muss, um die Kinder dem Hause in gewissem Masse wiederzugeben, kann ich hier nicht berühren, da die Absicht dieser Zeilen nur die ist, darzulegen, was die Familien selbst reformieren müssen, wenn die Reformen der Schule der Jugend wesentlich nützen sollen.

Denn Schulreformen in der angedeuteten Richtung sind geschehen, aber die Mütter beklagen sich dann darüber, dass die Kinder zu wenig Hausarbeiten oder zu wenig Schulstunden haben, und dass sie – die Mütter – gar nicht wissen, womit sie die Kinder in der vielen freien Zeit »beschäftigen« sollen!

Was man mit Grund als einen grossen Fortschritt im Familienleben der Jetztzeit hervorheben kann, der vertraulichere Verkehr zwischen Eltern und Kindern, hat nur teilweise die rechte Richtung genommen. Er hat mehr die Folge gehabt, dass die Kinder mit den Gewohnheiten und Vergnügungen der Eltern die Grossen spielen können, oder dass die Eltern aufgehört haben, ihr eigenes Leben zu leben. Aber keines von beiden ist die Weise, wie ein tiefes und gesundes Verhältnis zwischen Eltern und Kindern hervorgerufen wird.

Man sieht z. B. auf der einen Seite eine Minderzahl gewissenhafter Mütter und Väter, die eigentlich »nur für die Kinder leben«, ja ihr ganzes Leben für das der Kinder umgestalten, wodurch diese die Vorstellung erhalten, dass sie der Mittelpunkt des Daseins sind. Man sieht auf der anderen Seite, dass die Kinder, an allem Luxus und aller Ueberfeinerung des Hauses teilnehmend, die Ansprüche der Erwachsenen an Vergnügungen und Eleganz stellen, selbst Bälle und Soupers zu Hause oder in Hotels für ihre Schulkameraden geben, Veranstaltungen, bei denen alle Eitelkeit und Thorheit der Erwachsenen getreulich nachgebildet wird.

Aber dann verlangt man von diesen Knaben und Mädchen – wenn das Alter, in dem die Leidenschaften erwachen, kommt – eine Selbstbeherrschung, eine Fähigkeit der Entsagung, einen Stoizismus gegenüber den Versuchungen, in dem sie nicht geübt worden sind und den sie nicht von den Eltern üben sahen.

Die meisten Häuser der oberen Klassen haben nicht die Mittel, das Leben, das dort gelebt wird, zu führen; durch das Geld der Gläubiger oder einen unbilligen Profit auf Kosten der Arbeiter oder ein leichtsinniges Verbrauchen der für schwere Zeiten oder den Todesfall des Familienversorgers sehr notwendigen Ersparnisse wird der Luxus in den Gewohnheiten des Hauses bestritten. Aber selbst wenn in dem einen oder anderen seltenen Fall die Mittel, so zu leben, wirklich vorhanden sind, sollten die Eltern doch nicht dazu »in der Lage sein« – falls nämlich das Beste der Kinder in Betracht gezogen würde.

 

Die Eltern mögen von Fleiss sprechen, soviel sie wollen; wenn die Arbeit von Vater und Mutter für die Kinder keine lebendige Wirklichkeit ist, thäten die Eltern am besten, ganz zu schweigen. Und dasselbe gilt von Warnungen und launenhaften Verboten an die Kinder in Bezug auf Befriedigung ihrer Genusssucht, falls die Eltern nicht durch ihr Vorbild wirken.

 

Andererseits sind die Folgen oft ebenso betrübend, wenn arbeitsame Eltern den Kindern ihre Entbehrungen verbergen, wenn sie selbst alle Mühen auf sich nehmen, um die Jugend zu schonen, und sich abrackern, damit die Kinder nicht glauben, die Eltern seien nicht in der Lage, sie ebenso fein zu kleiden wie die Kameraden, oder ihnen dieselben Vergnügungen zu bieten. Und am allerwenigsten gelingt es jenem Heim, der Jugend durch die Schwierigkeiten der Jugendjahre zu helfen, wo die Strenge das Vertrauen zwischen Kindern und Eltern ertötet hat, wo die Kinder unwahr werden aus Mangel an Mut und leichtsinnig aus Mangel an Freiheit, wo die Eltern sich den Kindern als Ausnahmewesen gegenübergestellt haben mit der Forderung einer blinden Ehrfurcht, einer absoluten Unterwerfung. Aus solchen Heimen konnten ehemals tüchtige Männer und Frauen hervorgehen, aber jetzt äusserst selten. Denn die Jugend erkennt in unserer Zeit keine solchen Ansprüche an, seit der vertrauliche Verkehr mit den Eltern diesen ihren Unfehlbarkeitsnimbus geraubt hat.

Die Häuser, die die sittlich stärksten und arbeitsfrischesten jungen Männer und Frauen entsenden, sind diejenigen, wo Kinder und Eltern Arbeitskameraden und Gleichgestellte sind, auf dieselbe Art, wie eine gute ältere Schwester oder ein solcher Bruder jüngere Geschwister als ihresgleichen betrachten; wo die Eltern, dadurch, dass sie Kind mit den Kindern, jung mit der Jugend sind, zwanglos die Heranwachsenden in ihrer Entwickelung zu Menschen stützen, indem sie sie immer als Menschen behandeln. In einem solchen Heim wird nichts besonders für die Kinder angeordnet; man betrachtet sie da nicht als einer Art von Wesen angehörig, während die Eltern einer anderen Art angehören; sondern die Eltern erringen die Achtung der Kinder dadurch, dass sie wahr und natürlich sind; sie leben und handeln so, dass sie den Kindern Einblick in ihre Arbeit, ihre Bestrebungen, ja soweit als möglich in ihre Freuden und Schmerzen, ihre Fehler und Missgriffe gewähren können. Solche Eltern können auch ohne gekünstelte Herablassung oder Ueberlegenheit die Mitteilsamkeit der Kinder aufnehmen und in einem freien Austausch der Gedanken und Meinungen unmerklich erziehen. Die Kinder erhalten nicht alles als Geschenk: nach Massgabe ihrer Kräfte müssen sie an den Arbeiten des Heims teilnehmen; sie lernen Rücksicht auf Eltern, Diener und einander nehmen; sie haben Pflichten und Rechte, ebenso unerschütterlich wie die der Aelteren, und man hat Achtung vor ihnen, ebenso wie man sie lehrt, Achtung vor anderen zu haben. Sie kommen in tägliche Berührung mit Wirklichkeiten; sie können Nutzen thun, nicht bloss so machen, als thäten sie es; sie schaffen sich ihre Vergnügungen, ihre kleinen Einkünfte, ja selbst ihre Strafen selbst, weil die Eltern sie niemals hindern, die natürlichen Folgen ihrer Handlungen zu erleiden. In einem solchen Heim wird nie ein Befehl anders als zugleich mit dem Grunde gegeben, sobald ein solcher verstanden werden kann, und das Verantwortlichkeitsgefühl wird so vom zartesten Alter an auf die Kinder selbst übertragen. Verbote sind äusserst selten, aber unumstösslich, weil immer auf einem guten Grunde beruhend, nicht auf einer Laune; Mutter und Vater sind wachsam, aber bewachen die Kinder nicht, und die relative Freiheit lehrt die Kinder, die vollständige Freiheit zu brauchen, während Verbot und Kontrolle Unaufrichtigkeit und Schwäche hervorrufen. Eine alte, ungelehrte Haushälterin, die davon lebte, Schulknaben in Kost zu haben, war eine der besten Pädagoginnen, die ich je gesehen habe. Ihre »Methode« bestand darin, die Jungen lieb zu haben und an sie zu glauben, ein Vertrauen, das sie in der Regel zu verdienen suchten. Weiter ist ein gutes Heim immer froh. Die Zärtlichkeit dort ist frisch, nicht sentimental. Da wird nicht über Kleinigkeiten gepredigt und gesalbadert; da bekreuzigen sich Mütter und Schwestern nicht, wenn der Junge eine lustige Geschichte erzählt oder ein Kraftwort in den Mund nimmt; da wird ein Scherz nicht als eine Aeusserung der Sittenverderbnis betrachtet, oder kühne Ansichten als Beweis von Schlechtigkeit. Da herrscht die Frische, der Mangel an Prüderie, der sich bei den weiblichen Mitgliedern des Hauses so wohl mit Gemütsreinheit und einfacher Würde vereinen lässt, Eigenschaften, die durch nichts anderes ersetzt werden können. Da herrscht Zusammenhalt, sodass jung und alt sich zu Arbeit, Zerstreuung, Lektüre und Gespräch vereinigt, wo einmal die Jungen, das andere Mal die Alten den Ton angeben. Da ist ein offenes Haus für die Freunde der Kinder und Freiheit, sich so froh als nur möglich zu vergnügen, aber in aller Einfachheit, ohne dass die Gewohnheiten des Heims dabei geändert werden. Aus des grossen finnländischen Dichters Runeberg Kindheitsheim wird erzählt, dass seine Mutter – wenn sie die jungen Gäste des Sohnes aufforderte, zu tanzen, solange sie konnten – hinzufügte: »Wenn Ihr durstig werdet, so steht der Wasserzuber da, und der Trinkbecher hängt daneben«, – und fröhlichere Tanzgesellschaften erinnerte sich die alte Dame, die die Geschichte erzählte, niemals mitgemacht zu haben. Diese einstmalige Vornehmheit, der Mut, sich so zu geben, wie man war, der fehlt in den Häusern von heutzutage, und Mangel an Mut hat Mangel an Freude im Gefolge.

Die einfache, gastfreundliche häusliche Freude, die jetzt den Kinderbällen, dem Lektionenbüffeln und dem Aussenleben der Eltern Platz gemacht hat – die muss wiederkommen, wenn das Uebel sich nicht verschlimmern soll. Denn Böses treibt man nicht mit Bösem aus: man überwindet das Böse nur durch das Gute. Wird das Heim nicht wieder sonnig, ruhig, einfach und frisch, dann können die Mütter soviel sie wollen zu Diskussionsabenden über Erziehung und Sittlichkeit gehen – nichts wird wesentlich anders werden! Die Mütter müssen ernstlich einsehen, dass keine soziale Thätigkeit grössere Bedeutung hat als die Erziehung, und dass bei dieser nichts ihren eigenen, gleichmässigen Einfluss in einem Heim ersetzen kann. Und sie müssen sich zu Reformen entschliessen, wie die, zu der eine mit öffentlichen Angelegenheiten und gesellschaftlichen Verpflichtungen überhäufte Mutter in Stockholm griff, sich nämlich, ausser einmal die Woche, von allen Einladungen fern zu halten, um ihre Abende in Ruhe mit den Kindern zu haben. Wie lange wird die Mehrzahl der Mütter die Kinder dem ewigen nichtigen Einerlei des jetzigen Gesellschaftslebens und Vereinslebens opfern?

Es ist durchaus nicht beabsichtigt, dem Gesellschaftsleben oder der öffentlichen Arbeit allen Einfluss erfahrener und denkender Mütter entziehen zu wollen, sondern nur auf die Ueberanstrengung hinzuweisen, die jetzt dadurch verursacht wird, dass jeder sich viel zu viel Verkehr und öffentliche Thätigkeit aufbürdet, eine Ueberanstrengung, die besonders durch die Mütter schädlich auf das Heim zurückwirkt. Zu unserer Zeit, sowie zu allen anderen Zeiten – die Lebensanschauung möge im übrigen welche immer sein, die des Heiden oder des Christen, des Juden oder des Freidenkers – wird ein gutes Heim nur von jenen Eltern geschaffen, die eine religiöse Ehrfurcht vor der Heiligkeit des Heims empfinden.

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