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1932

Paris. 9. Januar 1932. Sonnabend

Um Material für mein Kaliajeff-Drama zu sammeln, mit Schiffrin nach einer russischen Lesehalle Ecke der Rue du Val de Grâce und Rue Nicole (Bibliothèque Turgenieff). Dort machte mich Schiffrin im überfüllten Leseraum auf einen kleinen alten Herrn mit weißem Spitzbart aufmerksam, der eilig hineinkam und in die hinteren Bibliotheksräume verschwand. Es war Burtzeff, der berühmte, fast zur mythischen Figur gewordene Sozial-Revolutionär, der Entlarver von Asew. Ich insistierte gleich, um ihn kennenzulernen.

Schiffrin sprach mit einer der Beamtinnen, und gleich darauf erschien Burtzeff wieder und ließ sich zwischen Tür und Angel, etwas ängstlich umherblickend, mit mir bekannt machen. Er gab mir einige wertvolle Winke, wo und wie ich Material finden könnte, empfahl die russische Buchhandlung von Rodstein, Rue Cujas, und nachdem er noch in einigen Katalogen nachgesehen und Titel von Werken angegeben hatte, verschwand er schnell wieder. Er sieht nach allem andren aus als nach einem großen Revolutionär mit einer so bewegten Vergangenheit. Man würde ihn für einen kleinen, peinlich ordentlichen Beamten halten, einen rond-de-cuir.

Paris. 10. Januar 1932. Sonntag

Auf Rat von Frau Rodstein, die ebenfalls Sozial-Revolutionärin ist, Burtzeff in seinem Stammlokal, dem Café du Mont St. Michel, aufgesucht. Er saß auch richtig da mit einem andren Russen, der die Offiziers-Rosette der Ehrenlegion trug. Ich ging mit Schiffrin heran und begrüßte Burtzeff, der seinen Russen gleich verabschiedete und uns bat, Platz zu nehmen. Ich setzte ihm auseinander, worum es sich für mich handelte, und fragte, ob er (selbstverständlich gegen ein angemessenes Honorar) mir seine Erinnerungen an Kaliajeff niederschreiben könnte. Er griff, wie mir schien, eifrig zu, sagte, er könne mir die genausten Einzelheiten über den Prozeß (der vor dem Senat stattgefunden hat und, wie es scheint, öffentlich war), über die Reden der Verteidiger, über die Unterredung Kaliajeffs mit der Großfürstin Sergius usw. zur Verfügung stellen. Wir verabredeten eine neue Unterredung am nächsten Montag um zwölf wieder im Café du Mont St. Michel.

Pontresina. 2. bis 24. Februar 1932

Drei Wochen in Pontresina bei strahlend schönem Wetter. Im Hotel Rosegg. Die erste Szene des ersten Aktes meines Stücks geschrieben; viel Sorgen (materieller Art).

Paris. 9. März 1932. Mittwoch

Vormittags hinüber nach 52, Avenue Kléber, wo Briand gestorben und aufgebahrt ist. Ein jeder kann hinein. Kleine Vierzimmer-Wohnung im zweiten Stock, kleinbürgerlich, fast ärmlich eingerichtet. Interieur eines kleinen, mittleren Beamten, wenig Bücher, triviale, mittelmäßige Drucke an den Wänden. Man merkt nichts von irgendwelchen intellektuellen oder künstlerischen Bedürfnissen, von Luxus gar nicht zu reden. Typisch die Wohnung eines ›kleinen Mannes‹. Sonderbar! Man fragt sich, ob er wirklich gar keine über das mittlere Niveau hinausgehenden Bedürfnisse gehabt. Ich sehe ihn noch neben mir in Genf im Hotel des Bergues in seinem Salon auf dem Sofa sitzen und mit halbgeschlossenen Augen, wie wenn er am Einschlafen wäre, zuhören, während ich ihn wegen der Stellung, die er Deutschland im Völkerbund zugestehen würde, auszuforschen suchte (Ratssitz usw.); und wie er plötzlich die Augen aufschlug und die entscheidende Antwort gab: Es wäre lächerlich, wenn Deutschland keinen ständigen Ratssitz bekäme; das sei selbstverständlich. Der Eindruck war da auch der eines sehr klugen, ja schlauen Kleinbürgers. Vielleicht war es dieses Kleinbürgertum, das den Boden abgab für das gegenseitige Verständnis von Briand und Stresemann; beides Gastwirtssöhne aus sehr kleinen Verhältnissen. Der Sarg stand im Schlafzimmer auf einem kleinen Katafalk.

Paris. 12. März 1932. Sonnabend

Briands Beisetzung. Eiskalter, ziemlich klarer Tag. Die Champs-Elysées viele Reihen tief von einer dichten Menge eingesäumt trotz der Kälte und des Windes. Um zwei war die Zeremonie angesagt. Aber zwei Stunden mußte man stehen, bis der Zug endlich nach vier vorbeikam. Die Absperrung wurde von Spalier bildenden Soldaten gesichert. Sonst war, namentlich im Zuge, von Militär so gut wie nichts zu sehen.

Zuerst kamen einige Rotten Garde Républicaine zu Pferde, dann riesige Berge von Blumen auf schwarzbespannten Wagen, dann der Sarg selbst in eine Trikolore gehüllt auf einem pomphaften Leichenwagen, der von sechs schwarzbehangenen Pferden gezogen wurde; hinterher Minister, Diplomaten, fremde Auswärtige Minister (ich erkannte Sir John Simon). Zuletzt aber, am eindrucksvollsten, lange Abordnungen von pazifistischen Vereinen, Frontkämpfern, Pfadfindern, Arbeitern mit Plakaten. Man hörte sie schon von weitem kommen, wie sie im Takt riefen: »La Paix, la Paix« und »Dés-ar-móns, dés-ar-móns« und wie die zu beiden Seiten sich drängende Menge der Zuschauer klatschte und ihren Ruf wiederholte.

Ich habe von dieser Beisetzung einen ähnlich starken Eindruck bekommen wie von denen der beiden andren großen Friedenspolitiker, Rathenau und Stresemann, obwohl in jedem Fall natürlich die äußeren Umstände ganz verschieden waren.

Paris. 13. März 1932. Sonntag

Um das Resultat der Wahl abzuwarten, mit Wilma und Christian in den Russenfilm ›Der Mongolei-Expreß‹ (den ich schon in Berlin gesehen habe), und dann um Mitternacht vor den ›Matin‹ auf dem Boulevard. Um halb eins, als letztes vorläufiges Resultat, hat Hindenburg noch nicht die absolute Mehrheit, so daß voraussichtlich eine Stichwahl nötig sein wird, aber doch einen so großen Vorsprung, daß seine Wahl am 10. April ganz sicher ist. Hindenburg achtzehn Millionen fünfhunderttausend Stimmen, Hitler elf Millionen dreihundertvierundzwanzigtausend, Duesterberg ca. zweieinhalb Millionen, Thälmann ca. fünf Millionen. Zur absoluten Mehrheit werden Hindenburg einige hunderttausend Stimmen fehlen, und vor Hitler hat er einen Vorsprung von über sieben Millionen Stimmen. Vor dem ›Matin‹ stand eine Ansammlung von einigen hundert Menschen, zum Teil allerdings Deutsche.

Berlin. 23. März 1932. Mittwoch

Mir gehen ganz sonderbare Nachrichten zu, die keinen Zweifel darüber lassen, daß auf beiden Seiten, Links und Rechts, planmäßig Vorbereitungen umfassender Art zum Bürgerkrieg getroffen werden. Ins Tragigroteske fiele, wenn sie wahr ist, die Mitteilung, daß unter Führung und auf Kosten des Kapp-Putschisten Ehrhardt kommunistische Stoßtrupps, die sich als ›Schwarze Reichswehr‹ getarnt haben, im Laufe des Frühjahrs in Schlesien auf dem Lande militärisch ausgebildet werden sollen; wobei Ehrhardt der Täuschung unterläge, daß er rechtsradikale junge Leute ausbilden lasse! Das ist fast zu komisch, um wahrscheinlich zu sein. Auf kommunistischer Seite soll man für den August einen Hitler-Putsch und als Gegenbewegung und Abwehr einen bewaffneten Arbeiteraufstand unter Führung der Eisernen Front und der dann mit dieser verbündeten Rotfront erwarten.

Berlin. 5. April 1932. Dienstag

Im Rundfunk einen Vortrag gehalten über neuere politische Literatur: Malaparte, Grabowski, Sforza usw.

Berlin. 6. April 1932. Mittwoch

Bei Georg Bernhards gefrühstückt. Bernhard meint, daß die Hitler-Bewegung ihren Höhepunkt überschritten habe und schon rückläufig sei. Das heute veröffentlichte Material, das die preußische Polizei beschlagnahmt hat, werde ihr einen schweren Schaden antun.

Berlin. 7. April 1932. Donnerstag

Am späten Nachmittag Besprechung mit Georg Bernhard über die Verwertung meiner Memoiren. Er gab mir eine Übersicht über die finanziellen Verhältnisse bei den drei großen Links-Zeitungs-Verlagen Mosse, Ullstein und ›Frankfurter‹. Mosse ganz undurchsichtig, Lachmann-Mosse bezahlt seine Schulden nicht. Ullstein haben wohl Überschuß durch ›Illustrirte‹, während ›Voss‹ wahrscheinlich großes Defizit aufweist, aber dreizehn Familien leben vom Geschäft. Simon hat kein Kapital, führt aber seine Sache umsichtig und hält noch immer ein hohes Niveau, während das bei Mosse und Ullstein nicht mehr im früheren Maße der Fall ist. Er riet mir, wegen der Memoiren mit Simon und auch nachher mit Brahn (Verlag für Kulturpolitik) zu verhandeln, sie auch journalistisch auszunützen.

Berlin. 8. April 1932. Freitag

Kundgebung der ›Eisernen Front‹ für Hindenburg im Lustgarten. Große Menschenmassen und ein Wald roter Fahnen, hinter denen die schwarz-rot-goldenen entschieden zurücktraten. Sonderbar, diese rote Demonstration für Hindenburg zu sehen. Ich mußte an das Wort denken, das er mir 1917 in Kreuznach sagte, als David und einige andre Sozialdemokraten ihm zum Geburtstag gratuliert hatten: Er sei bei den Genossen ganz populär, bald werde er sich eine rote Ballonmütze anschaffen müssen. – Nachher Besprechung über politische Verwertung des Nazi-Landesverrats.

Weimar. 10. April 1932. Sonntag

Zweiter Wahlgang für Wahl des Reichspräsidenten. Hindenburg endgültig gegen Hitler gewählt.

Weimar. 13. April 1932. Mittwoch

Abends gegen acht kam im Radio die amtliche Nachricht, daß durch Verordnung Hindenburgs auf einstimmigen Antrag der Reichsregierung die nationalsozialistischen militärischen SA- und SS-Formationen aufgelöst seien. Folge des großen Erfolgs Hindenburgs bei der Wahl am Zehnten.

Der Rathenau-Preis für dieses Jahr ist Carl Melchior und mir erteilt worden.

Weimar. 16. April 1932. Sonnabend

Allgemeine Demobilisation und Desarmierung der verschiedenen Bürgerkriegs-Armeen; radikale Liquidierung der Situation, die mich bei meiner Rückkehr nach Deutschland (siehe 23. März 1932) so überrascht und beunruhigt hatte. Wir standen in der Tat damals, vor einem Monat, unmittelbar vor dem Bürgerkrieg mit vollkommen gedrillten, organisierten, bewaffneten, mit allem Nötigen ausgestatteten Armeen von mehreren hunderttausend Mann auf beiden Seiten, die nur auf das Signal zum Losschlagen warteten. Daß diese Situation durch einen Federstrich so leicht gelöst worden ist, daß sich die SA und SS (angeblich vierhunderttausend Mann) mit solcher Lammsgeduld entwaffnen und auseinandersprengen ließen (irgendwie nennenswerten Widerstand haben sie nirgends geleistet), sieht fast verdächtig aus!

Wenn die Aktion aber wirklich mit vollem Ernst und gründlich durchgeführt worden ist, dann bedeutet sie den größten Umschwung in unserem öffentlichen Leben seit der Niederwerfung des Spartakisten-Aufstandes im März 1919. Cicero hat bei der Niederwerfung Catilinas und der Catilinarier ganz andre Machtmittel verwenden müssen, um sie kleinzukriegen, und ebenso Noske bei der Niederwerfung der Spartakisten. Die Haltung Hitlers und seiner Leute erscheint im Vergleich dazu recht jämmerlich, entspricht aber wohl dem schwächlichen, stark femininen Charakter Hitlers und seiner Umgebung; auch darin Wilhelm II. ähnlich, ein großes Maul und nichts dahinter, wenn die Sache ernst wird. Eine voll ausgerüstete Armee von vierhunderttausend Mann (so behauptet Hitler selbst, und wahrscheinlich glaubt er es auch) und dann so ohne den leisesten Widerstand bedingungslos kapitulieren! Man weiß nicht, ob es zum Lachen oder zum Weinen ist! Das der ›deutsche Wehrwille‹(?), den Hitler angeblich wieder wecken und stark machen will? Ein Jammer!

Weimar. 23. April 1932. Sonnabend

Zum letzten Mal bei Max in der Hummelstraße 2. Er zieht heute aus. Die hübsche Wohnung ausgeräumt, leere Zimmer, leere Wände, wie nach einem Todesfall. Es ist das Ende einer kurzen, aber glänzenden Epoche, der Blütezeit meiner Cranachpresse und der engen, täglichen Zusammenarbeit mit Max. Er auch tieftraurig und erschüttert. Wie viele schöne Hoffnungen und Pläne werden damit zu Grabe getragen; wieviel Menschliches unwiederbringlich zerstört!

Frankfurt. 25. April 1932. Montag

Vormittags von elf Uhr an bis halb zwei Besprechung in der ›Frankfurter Zeitung‹ mit Heinz Simon und seinem Verlagsdirektor Claassen über meine Memoiren. Sie meinten beide, daß bei der Flut von Nachkriegsmemoiren mein Buch etwas Besonderes, noch nicht Dagewesenes bieten müßte. Claassen sähe das in der Betonung des Persönlichen, in einer stark persönlichen Prägung (›charme‹, wie er sich ausdrückte), Simon in der Tatsache, daß bisher alle Memoirenschreiber entweder das Politische oder das Kulturelle fast ausschließlich hervorgehoben hätten, während in meiner Entwicklung beides nebeneinanderher gelaufen sei und so eine Totalität gestatte. Sie wollen sie gleich in Deutschland, England, Amerika, Frankreich, Holland herausbringen, um dadurch eine möglichst breite materielle Basis zu gewinnen.

Da wir heute mit der Besprechung nicht fertig wurden, bleibe ich noch morgen hier. Bei Simons gefrühstückt. Er war dem Ausgang der Wahlen gegenüber ziemlich ratlos. Meinte, das deutsche Volk bleibe für ihn ein Rätsel; diese Innigkeit und Zartheit in Lyrik, in Werken der Kunst des Mittelalters (Madonna aus Homburg im Liebig-Haus), und daneben diese Barbarei. Ich sagte, mit der Zeit hätte ich zwei Grund-Wesenszüge des Deutschen, namentlich des jungen Deutschen, als absolut und unveränderlich erkannt, die bei jedem, ob er links oder rechts stehe, ob Kommunist, Nazi, Sozialdemokrat oder Spießer, immer durch alle Umhüllungen und Weltanschauungen hindurchbrächen: die Flucht in die Metaphysik, in irgendeinen ›Glauben‹ (Marxismus, Kommunismus, Hitlerismus, Philosophie oder was immer), und den Trieb zum Drill, zum Strammstehen und Kommandiertwerden oder Kommandieren; im Gegensatz zum jungen Franzosen habe der junge Deutsche gar keinen Trieb zur wirklichen Unabhängigkeit, zur persönlichen, unbeschränkten Freiheit. Der junge Deutsche schlägt auch über die Stränge wie jeder junge Mensch, verlangt aber eben nach Strängen, sonst macht ihm die Freiheit keinen Spaß.

Daher ist Groeners sonst nicht gerade glückliche Idee, eine Art von Zwangs-Sportorganisation zu schaffen, vielleicht das geringere von zwei Übeln, wenn man voraussetzt, daß der junge Deutsche nach Organisation und Zwang wie nach einer Lebensnotwendigkeit dürstet. Es hat sich ja gezeigt, daß er sonst sich selber Privat-Wehrverbände oder ähnliches als Ersatz schafft. Der Deutsche ist eben aus irgendeiner inneren Unsicherheit heraus durch und durch Militarist und durch und durch Flüchtling in irgendein Jenseits oder Zukunftsparadies; und das Schreckliche ist, daß er beides miteinander vermischt! – Simons junger Neffe, der an einem Gymnasium hier Sekundaner ist, antwortete mir auf eine Frage, daß seine Klassenkollegen alle restlos Nazis seien.

Am Spätnachmittag besuchte mich Fritz von Unruh mit seiner Freundin, Frau Ergas. Natürlich drehte sich das Gespräch um den Nazi-Erfolg und den Zusammenbruch der bürgerlichen und republikanischen Parteien. Unruhs Ansicht deshalb besonders interessant, weil er der Begründer der ›Eisernen Front‹ ist, der noch in letzter Stunde diesen Zusammenbruch aufzuhalten versucht hat. Er betonte auch wiederholt sehr stark sein Verdienst um diese Gründung, auf die er offenbar stolz ist. Der Hauptgrund für die Niederlage der Republik sei, meinte er, daß sie vollkommen die Rolle der Jugend und die des Heroismus in der Politik verkannt habe. Er habe (und das stimmt) schon gleich nach dem Krieg in den Anfängen der Republik die Lebenswichtigkeit dieser beiden Faktoren für den neuen Staat erkannt und allen maßgebenden Faktoren gepredigt, insbesondere seinem Freunde, dem preußischen Kultusminister Becker, aber überall nur völlige Verständnislosigkeit und Ablehnung erfahren; man habe sie bagatellisiert, als unwichtig erklärt. So sei ihr Gewicht voll in die Waagschale der Gegenseite, der Reaktion, gefallen und habe jetzt das meiste zum Sieg der Hitlerleute beigetragen, die es verstanden hätten, sich ein Monopol auf die Jugend und die (mystische) Opfersehnsucht zu sichern.

Auch noch jetzt, als er die ›Eiserne Front‹ begründete und in der Gründungsversammlung durch seine Rede, in der er an den Heroismus appellierte, Stürme der Begeisterung weckte, habe er zunächst selbst in der ›Frankfurter Zeitung‹ von Kircher nur Hohn und Spott geerntet. Auch von den Bonzen der SPD das gleiche. Erst nachher hätten die offiziellen Parteiorgane den Wert der ›Eisernen Front‹ und der Hammerschaften erkannt, aber dann sofort ihn hinauszudrängeln versucht, was ihnen auch gelungen sei, da er sich angewidert zurückgezogen habe. Diese Leute sähen als Ziel der Politik nur das Wohlleben, das Materielle (so auch Heinz Simon), verkennten aber ganz die Rolle des Ideellen, des Glaubens, der Sehnsucht nach einem Glauben, für das man sich opfern könne; deshalb hätten sie versagt.

Von der Naziseite seien Fühler zu ihm ausgestreckt worden, nach seinem Erfolg bei Gründung der ›Eisernen Front‹, durch Steinböhmer, den Freund des Kronprinzen, ob er nicht zu den Nazis übertreten wolle, und er habe sich auch wirklich gefragt, ob es politisch nicht zweckmäßiger wäre, in die Nazibewegung einzutreten, um sie nach links herüberzuziehen. Aber natürlich komme das für ihn nicht ernsthaft in Erwägung. Dagegen schwanke er noch, ob er nicht versuchen solle, in der republikanischen Front sich als Führer durchzusetzen, um da Begeisterung und Glauben und Opfersinn zu wecken und dadurch die Jugend wieder herüberzuziehen. Ob es wichtiger sei, das zu tun oder einen Roman zu schreiben, den er vorhabe (durch dieses Schwanken selbst ist für mich die Frage im verneinenden Sinne erledigt!).

Alles in allem erweckten seine Ausführungen den Eindruck, daß er die Lage der Republik für ziemlich verzweifelt ansieht. Andrerseits sagte er aber auch, daß, wenn Hitler zur Macht käme, er in kürzester Zeit abgewirtschaftet haben würde, da er keine seiner Versprechungen erfüllen könne, und daß dann die Kommunisten die Herrschaft an sich reißen würden. Er scheint diese Entwicklung jetzt für fast zwangsläufig zu halten.

Weimar. 28. April 1932. Donnerstag

Zur Technik des Memoiren-Schreibens. Memoiren: Sinngebung der Zeit aus der Perspektive einer Persönlichkeit. Eben darum Perspektive, Rangordnung der Dinge und Geschehnisse im Hinblick auf die Persönlichkeit und ihr Drama, ihre wechselnden Situationen, ihre Tragik oder Tragikomik. Dadurch Überwindung der bloßen Chronik, der Rangordnung der Personen nach ihrer bloßen ›Berühmtheit‹; dafür Einordnung in die Situation und den dramatischen Aufbau des Ganzen; Organisierung des Stoffes. Jede Person, mag sie noch so ›berühmt‹ sein, gilt nur so viel, wie sie in diesem höchstpersönlichen Drama des Verfassers gilt, nur so viel, wie in diesem Drama ihre Rolle gewesen ist; ihr Wert für das Werk resultiert nur aus der scharfen Umreißung ihrer Besonderheit (ihres ›Charakters‹) und der Bedeutung dieses Charakters für den Fortgang des Dramas, nicht der Weltgeschichte; sie müßte ebenso interessant sein, wenn sie anonym aufträte.

Die große Mehrzahl der Memoiren, namentlich der Kriegs- und Nachkriegszeit, ist nur chronistisch, primitiv in Aufbau und Sinngebung; sie bemühen sich nicht um die organische Funktion der in ihnen auftretenden Personen im persönlichen Erleben des Verfassers. Weiße Raben sind Montaigne, Retz, St. Simon, Casanova, Goethe, Bismarck, dieser letztere, weil er alles und alle aus der Perspektive eines leidenschaftlichen Machthungers und politischen Wollens beleuchtet und umdichtet. Ehrliche und durchdachte Memoiren müßten immer tragisch wirken, Mitleid, Furcht und innere Befreiung auslösen.

Die Gefahr des Memoirenschreibers (und um so größer ist diese Gefahr, je reicher und bewegter das Leben des Schreibers gewesen ist) – die Gefahr ist die Übermacht und Zähigkeit des Stoffs, den der Verfasser zu kneten und durch seine Kunst zu bändigen hat. Meines Erachtens kann nur, wer dramatisch, und zwar leidenschaftlich dramatisch erlebt, gute Memoiren schreiben. Das ist auch der letzte Grund, warum die Memoiren des kalten Fisches Bülow trotz allen amüsanten anekdotenhaften Aufputzes und boshaften Charakterskizzen nicht gut sind und letzten Endes nur ein Gefühl des Ekels hinterlassen, als ob man eisigen Schleim geschluckt hätte. St. Simon hatte seinen leidenschaftlichen Adelsstolz, Casanova seinen leidenschaftlichen Trieb zu Liebesabenteuern, Bismarck seinen leidenschaftlichen Machthunger; sie alle haben mit ihrer Leidenschaft den Stoff geknetet und zur Form gemacht. Bülow war flach und faul und ohne Leidenschaft (außer der greisenhaften des impotenten Hasses), und deshalb hat er trotz allen feuilletonistischen Talents versagt und nur ein (noch dazu verlogenes) Aktenstück zum Archiv der Historie zusammengeschrieben (cf. 30. April 1932).

Leipzig. 29. April 1932. Freitag

Nach Leipzig, wo Steiner-Prag wegen der Presse und Stützungsmöglichkeiten gesprochen. Abends nach Berlin. – Klaus Manns ›Kind unserer Zeit‹ gelesen.

Berlin. 30. April 1932. Sonnabend

Klaus Manns Buch, obwohl es stark unter dem Einfluß von Proust und Rilke (gar nicht unter dem seines Vaters) steht, eines der persönlichsten Memoirenbücher der jüngsten Zeit. Er gibt vor allem die Dichtigkeit der menschlichen Gemeinschaft, in der er groß wird; indem er und seine einzelnen Figuren immer in dieser dichten, sehr einzigartigen Atmosphäre stecken, wird ihre persönliche, individuelle Prägung erst recht deutlich. Die einzelnen aus einer sehr dichten, scharf sich einprägenden Gemeinschaft oder Gesellschaft herauswachsen lassen, dieser sozusagen ›kollektivistische‹ Kniff der Charakterisierung, sehr wirksam. Auch sonst ist ›Kind unserer Zeit‹ ein wirklich ›bedeutendes‹ Buch, ein Buch, das etwas bedeutet, das Buch der jüngsten Generation, das mir als Ausdruck der letzten zwanzig Jahre vielleicht am kongenialsten ist. Es steht mir viel näher, bedeutet mir mehr als irgendein Werk des Vaters Thomas oder des Onkels Heinrich Mann.

Die spezifische Atmosphäre einer Zeit in eine kleine Gemeinschaft von intim erlebten Menschen verdichten und aus diesem tragkräftigen, dichten Boden die Persönlichkeiten und Ereignisse der Zeit hervorwachsen lassen. Nichts im luftlosen Raum schweben lassen im Vertrauen auf das Interesse, das es auch sonst als bedeutsames Ereignis oder historische Persönlichkeit für den Leser haben mag. Valeurs, valeurs, wie in einem Gemälde!

Berlin. 12. Mai 1932. Donnerstag

Wieland Herzfelde und Theodor Plievier kamen zum Frühstück. Auch Goertz. Plievier schreibt ein Buch über die Zeit gleich nach dem 9. November. Er überraschte mich durch sein graues Haar. Ich hatte ihn für jünger gehalten. Er will von mir Informationen und Material über die Revolutionszeit. Er und Herzfelde erzählten über die Not in den Arbeitervierteln in Berlin eine Einzelheit, die ich nicht wußte: daß es in Berlin schon zwanzig- bis dreißigtausend ›Besprisornijes‹ gebe, verwahrloste Kinder von elf bis fünfzehn Jahren, die in Rudeln lebten, vollkommen organisiert seien in kleinen Banden, zu denen man nur nach sehr komplizierten Aufnahmezeremonien, zum Teil sadistischer Art, zugelassen werde. Der Chef einer solchen Bande heiße, wenn es ein Junge sei, ›der Bulle‹, und wenn es ein Mädchen ist, ›die Kuh‹. Sie seien vollkommen amoralisch, auf alle Verbrechen eingestellt, zum großen Teil syphilitisch und kokainsüchtig.

Während wir noch am Tisch saßen, kam die Nachricht von einem unerhörten Tumult im Reichstag, der durch die Nazis hervorgerufen worden ist, indem eine Anzahl von ihnen sich auf einen Journalisten, einen Kapitänleutnant Koch, geworfen und ihn mit Fäusten und Stühlen blutig geschlagen haben, weil er die homosexuellen Briefe des Hauptmanns Röhm veröffentlicht habe. Löbe hat die Kriminalpolizei in den Reichstag gerufen und vier Nazi-Abgeordnete, unter andren den bereits als Fememörder bekannten Heines, im Reichstag verhaften lassen; ein beispielloser Vorgang. Die Erregung im Reichstag scheint ungeheuer zu sein.

Abends Vortrag von Helene Nostitz im Lyzeum-Klub über Amerika. Nachher begleitete mich der junge Bagarotti bis zum Potsdamer Platz. Unterwegs wurde ein Extrablatt des ›Tempo‹ angeboten, das den Rücktritt Groeners ankündigte. Er soll von den ihm unterstellten Generälen gestürzt worden sein, also durch eine Art von Pronunziamiento. Ein sehr bedenklicher Vorgang, mit dem Gewaltakt der Nazis im Reichstag zusammen ein Symptom für die schon ganz revolutionäre Situation in Deutschland.

Um das Bild der Situation in Deutschland zu vervollständigen, wäre nachzuholen, daß vor ein paar Tagen die Stadtverordneten-Versammlung in Frankfurt a. M. Fritz von Unruhs Stück ›Zero‹ mit einer Nazi- und rechtsradikalen Mehrheit kurzerhand vom Spielplan abgesetzt hat; offenbar eine Rache für die Begründung der ›Eisernen Front‹ durch Unruh. An Unruh telegraphiert und Heinz Simon geschrieben, was nun geschehen solle? Man könne doch diese Ohrfeige nicht einfach einstecken! Ich schlüge vor, den Versuch zu machen, dem Stück jetzt die weiteste Verbreitung zu sichern, indem man die ›Eiserne Front‹ einspanne und an möglichst vielen Orten Aufführungen des Stückes durch Subskriptionen auf Billetts von Seiten der ›Eisernen Front‹ sichere.

Berlin. 16. Mai 1932. Pfingstmontag

Wieland Herzfelde in Wannsee besucht; bei ihm und seiner Frau Kaffee getrunken. Er erzählte, daß das Radio heute die Nachricht verbreitet habe, daß gestern japanische Offiziere den japanischen Ministerpräsidenten Inukai ermordet und überall in Tokio Bomben geworfen hätten. Es handelt sich um eine Verschwörung der extremen Nationalisten, die einen Krieg gegen China und Rußland forcieren wollen. Ein erschreckendes Symptom der Spannung in Ostasien, die unübersehbare Folgen haben kann. Wie überhaupt die letzten Tage in der Ermordung Doumers, dem Pronunziamiento der Reichswehr-Generäle, dem Krawall im Reichstag die weltenweite Verbreitung und die Explosivkraft dieses durch die Weltkrise hervorgerufenen politischen Hochdrucks für alle Augen erkennbar gezeigt haben. Wir nähern uns dem Punkt, wo eine verheerende Explosion erfolgen muß, wenn nicht schleunigst die Spannung vermindert wird. Aber wie?

Herzfelde meinte, er glaube nicht an die Möglichkeit, die Wirtschaftskrise in absehbarer Zeit zu mildern. Es müßte ein Wunder geschehen, wenn wir über die nächsten Monate hinwegkommen sollten. Ich sagte ihm, der Titel von Plieviers Buch ›Der Kaiser ging, die Generäle blieben‹ werde von Tag zu Tag aktueller. In der Tat sind wir jetzt wieder fast schon da, wo wir vor vierzehn Jahren unter Ludendorff waren; in einem großen Bogen hat die Entwicklung, die durch Noske und Ebert eingeleitet wurde, so wie Plievier sie schildert, zur Herrschaft des Militärs über Deutschland zurückgeführt; und an der Spitze steht merkwürdigerweise wieder derselbe Mann, Hindenburg.

Berlin. 22. Mai 1932. Sonntag

Zum Avus-Rennen mit Max und Uschi. Es sollen über zweihunderttausend Menschen draußen gewesen sein. Interessant war zu beobachten, wie aus einem gänzlich unbekannten jungen Mann plötzlich der Liebling einer riesigen Menschenmenge wird. Das geschah dem jungen Brauchitsch, der auf einem deutschen Mercedes-Wagen über den bisherigen deutschen Liebling Caracciola, der heute einen italienischen Wagen fuhr, siegte. Plötzlich war Brauchitsch in aller Munde; je mehr sich das Rennen zwischen ihm und Caracciola zuspitzte, um so mehr wurde er umjubelt; als er im letzten Augenblick vorkam und siegte, raste die Menge. Motive: ein deutscher Wagen, mehr noch Brauchitschs Jugend, daß er ein hübscher Junge ist, dann ein Outsider, also Überraschungsmotiv. Nachher aßen wir in der Wochenend-Ausstellung am Funkturm. Der Tag wurde durch den tragischen Tod des jungen Fürsten Lobkowitz verdüstert.

Berlin. 28. Mai 1932. Sonnabend

André Gide ist hier. Jenny de Margerie rief an und sagte, Gide wolle mich sehen, ob ich nicht mit ihm und ihr nach Pichelswerder hinausfahren und Erich Mendelssohns Villa besichtigen wolle. Ich ging zu Margeries in die Hohenzollernstraße hinüber und traf Gide auf der Straße, der mir fast um den Hals fiel. Wir fuhren dann hinaus und an den neuen Siedlungen bei Onkel Toms Hütte vorbei, die Mme. de Margerie Gide zeigen wollte: la cité magique nannte sie sie, und auch Gide empfing offenbar einen starken Eindruck von dieser neuen deutschen Siedlungs-Architektur. Er seufzte über die Zurückgebliebenheit Frankreichs. Warum hätten die Franzosen vollkommen den Sinn für Architektur verloren, während er plötzlich in Deutschland aufgeblüht sei? Ich sagte, man könne diese Architektur nicht verstehen, wenn man sie nur als Architektur, abstrakt, sozusagen als ›l'art pour l'art‹ betrachte. Sie erkläre sich nur als Teil eines neuen Lebensstils, einer neuen Auffassung vom Sinn und Zweck des Lebens, die sich diese Lebensformen schaffe. Übrigens sei jede Architektur, wo und wann auch immer, Ausdruck der herrschenden Lebens- und Weltanschauung gewesen; daher die scheußliche, mickrige und protzige Architektur der Jahrhundertwende, die genau das spießbürgerliche Lebensideal jener Zeit widerspiegele.

Von der Schönheit der Landschaft und der Anpassung an die Landschaft der Mendelssohnschen Villa waren Gide und ich gleichermaßen betroffen. Wir gingen durch den Garten und durch das Haus, in das die wirklich göttlich schöne Havellandschaft überall kunstvoll hineinkomponiert ist, und genossen diese wunderbare Symphonie aus Raumgestaltung, See und Kiefernwald aus vollen Zügen.

Nachher fuhren wir zum Tee zu Helene Nostitz, wo Gide den amerikanischen Journalisten Knickerbocker sehen wollte. Knickerbocker, ein drahtiger, kleiner rothaariger Amerikaner mit einem jugendlichen, verknitterten Gesicht, fing gleich an, mich zu interviewen und nach meiner Meinung über die Weltkrise auszufragen. Er schreibt ein Buch darüber, in dem er untersuchen will, ob sie sich nur quantitativ von früheren großen Wirtschaftskrisen unterscheidet oder auch qualitativ. Ich sagte ihm, nach dem Wort irgendeines älteren Sozialphilosophen gebe es einen Moment, wo Quantität in Qualität umschlage; und ich fürchtete, daß bei der jetzigen Krise dieser Moment bereits eingetreten sei, das heißt, daß sie sich durch ihre ungeheuren Ausmaße bereits qualitativ von früheren Krisen unterscheide.

Ich fuhr dann allein weiter nach Wannsee, wo ich bei Wieland Herzfeldes zu Abend aß. Vorher machten wir einen Spaziergang, bei dem ich Max Liebermann und Frau traf; ihn, den ich seit mehreren Jahren nicht gesehen hatte, fand ich recht alt und gebrochen.

»Ich bin fünfundachtzig«, sagte er mir. Sie luden mich ein, sie doch einmal in Wannsee zu besuchen.

Berlin. 30. Mai 1932. Montag

Brüning ist heute zurückgetreten, oder richtiger, von Hindenburg entlassen worden. Hintertreppen-Einflüsse haben ihren Willen durchgesetzt wie zu Zeiten Eulenburgs und Holsteins. Damit ist eine wesentliche Verschärfung der Weltkrise eingetreten. Merkwürdigerweise hat die Berliner Börse auf die Demission Brünings, wahrscheinlich in Erwartung der Segnungen des Dritten Reichs, mit einer teilweisen scharfen Hausse reagiert: die Aktien sind gestiegen, die festverzinslichen Werte gefallen. Inflations-Perspektive. Der heutige Tag bedeutet das vorläufige Ende der parlamentarischen Republik.

Berlin. 31. Mai 1932. Dienstag

Straßenunruhen heute in Berlin beim Aufziehen der Matrosen-(Skagerrak-) Wache vor dem Präsidentenpalais in der Wilhelmstraße und an der Ecke meiner Straße am Kanal vor dem Reichswehrministerium. Mehrere tausend Nazis versuchten die Wache bei ihrem Marsch durch die Straßen zu begleiten, indem sie Hitler-Lieder sangen und Heil-Rufe ausstießen. Goebbels hielt von einem Lastauto in der Wilhelmstraße eine Ansprache. Als die Schupo die Menge zurückzuhalten und die Bendlerstraße abzusperren versuchte, wurde sie mit Steinen bombardiert und antwortete mit dem Gummiknüppel und schließlich mit scharfen Schüssen. Eine Frau wurde durch die Schulter geschossen und fortgetragen. Menschen liefen an meinen Fenstern vorbei. Mein Diener, der kleine Friedrich, war unten und kam ganz aufgeregt zurück; unser Portier, ein fanatischer Nazi (Schlöttke), habe gesagt, die Nazis würden sich den Schupo, der auf die Frau geschossen habe, ›kaufen‹.

Abends meldete das Radio, daß Hindenburg dem früheren Abgeordneten Papen das Kanzleramt angeboten habe.

Berlin. 3. Juni 1932. Freitag

Mit Max nach dem Tiefen See und dann nach dem Scharmützelsee gefahren, wo in Saarow zu Abend gegessen. Zarte blaue Farbe des Scharmützelsees. Liebliche Landschaft mit viel Laubwald, was in der Mark selten ist. Eher wie einer der holsteinischen Seen. Abends bei der Rückkehr nach Berlin Nachricht, daß der Reichstag aufgelöst ist. Papen hat nach der katastrophalen Aufnahme seiner Regierung in der Presse und den schroffen Absagen von SPD und Zentrum nicht gewagt, sich noch vor der Auflösung dem Reichstag vorzustellen.

Berlin. 4. Juni 1932. Sonnabend

Regierungserklärung Papens. Ein kaum glaubliches Dokument, ein miserabel stilisierter Extrakt finsterster Reaktion, gegen das die Erklärungen der kaiserlichen Regierungen wie hellste Aufklärung wirken würden. Die Sozialversicherung soll abgebaut, der ›Kulturbolschewismus‹ bekämpft, das deutsche Volk durch Rechristianisierung (lies Muckertum) für den außenpolitischen Kampf gestählt und auf der Grundlage des extremen Rechts-Junkertums ›konzentriert‹ werden; alle andren Richtungen und Parteien, Sozialdemokratie, liberales Bürgertum, Zentrum, werden als nicht ›national‹ und moralisch zersetzend angeprangert. Ein Regierungsdokument solch politischer Dummheit und Ungeschicklichkeit, so finsterer Reaktion ist seit der Regierung Polignac 1830 nicht veröffentlicht worden. Es trägt deutlich den Stempel des Generalstabes, in seiner psychologischen Verblendung.

Berlin. 9. Juni 1932. Donnerstag

Spätabends nach dem Theater soupierte ich bei Richard Kühlmann in der Wilhelmstraße mit dem Herrn v. Schnitzler von der I.G., seiner Frau Lily Schnitzler und deren Bruder Mallinckrodt. Dieser kam direkt von Reichskanzler Papen, bei dem er den Abend verbracht hatte. Die Beurteilung Papens war allerseits wohlwollend geringschätzig: ein anständiger Kerl, nicht sehr klug. Ich fragte Mallinckrodt, ob nach der Wahl die Nazis sich bereitfinden würden, Minister in das Kabinett Papen zu entsenden? Kühlmann schnitt die Antwort ab, indem er sagte, die Nazis hätten niemanden, den sie zum Minister machen könnten. Kühlmann machte mir einen etwas unheimlichen Eindruck, aufgedunsen, mit gläsernen Augen, lallte, als ob er beschwipst wäre, folgte kaum der Konversation.

Berlin, 11. Juni 1932. Sonnabend

Der deutschamerikanische Kunsthändler Weyhe aus New York besuchte mich. Er schildert die Lage in Amerika schwarz in schwarz. Er habe alle seine Kunden verloren. Kein Mensch drüben kaufe mehr ein teures Buch. Rockefeller und Ford verlören allmählich ihr ganzes Vermögen. Kuhn Loeb seien schwer getroffen. Er selbst mache vielleicht jetzt seine letzte Europareise. Früher sei er immer auf dem Schiff erster Klasse gefahren, diesmal zweiter usw.

Papen hat seine erste Rede gehalten und dabei von der ›gottgewollten‹ organischen Entwicklung gesprochen wie Bethmann-Hollweg. Die Zeitungen bringen seine Photographie (das ›8-Uhr-Blatt‹ unter dem Titel ›Der neue Kanzler-Typ‹): er sieht aus wie ein verbiesterter Ziegenbock, der ›Haltung‹ anzunehmen versucht, dazu im seidengefütterten schwarzen Sonntagsrock. Eine Figur aus ›Alice in Wonderland‹.

Berlin. 13. Juni 1932. Montag

Theodor Wolff besucht. Er erzählte, er habe gestern beim Rot-Weiß – Turnier hinter Papen gesessen und ihn beobachtet. Er habe sich in einer lächerlichen Weise in seiner neuen Reichskanzlerwürde gesonnt; sei herumscharwenzelt, hier einer Dame und da einer Dame die Hand küssend, eitel, selbstgefällig. Schleicher habe einen kleinen Abenteurer nötig gehabt, einen Mann ohne Format oder Hintergrund, aber eitel und dumm, den er jeden Augenblick wieder fortschicken könne. Ich sagte, ganz so sei Schleichers Rechnung doch nicht gewesen, denn er habe angenommen, daß Papen einen Teil des Zentrums mit sich ziehen werde. Wolff stimmte zu. Er meinte dann, Schleicher erzählte zu viel und zu vielen, daß er Hitler erledigen wolle. Natürlich erfahre das Hitler auch. Man frage sich, was Schleicher mit diesen Indiskretionen eigentlich bezwecke. Ob er Hitler damit beruhige, daß er das sagen müsse, um sich gut Wetter zu schaffen, oder was eigentlich?

Berlin. 24. Juni 1932. Freitag

Zehnter Todestag Walther Rathenaus. Vormittags Feier der Reichsregierung (Papen-Hitler!) im Rathenau-Haus. Gerhard Mutius hielt im Auftrag der Regierung die Gedenkrede und versuchte, Rathenau für die ›nationale Bewegung‹ zu reklamieren. Unter den nicht sehr zahlreich Erschienenen waren Löbe, Severing, Meißner (in Vertretung Hindenburgs), Köpke vom A. A., Bücher, Dessoir, Redslob. Brecht leitete die Versammlung mit einer Ansprache ein, die das einzig richtig Empfundene und Ergreifende war. Köth sprach nach Mutius über die Kriegsrohstoff-Abteilung.

Ich sprach nachmittags im Rundfunk und abends im Reichstag bei der Feier der republikanischen Verbände. Luppe leitete die Versammlung, Brecht sprach wieder ein paar kurze Worte. Neben mir auf der Regierungsbank saß Löbe.

Berlin. 25. Juni 1932. Sonnabend

Das Reich kracht in allen Fugen; die Aufhebung des Uniformverbots hat in Bayern zu einer offenen Revolte gegen das Reich geführt, die bayrische Regierung weigert sich, ihr Uniformverbot aufzuheben. Weil ein paar tausend dumme Jungens sich im Glanz von Uniformen sonnen wollen, wird das Werk Bismarcks, die Einheit des Reichs, aufs Spiel gesetzt. Es wäre grotesk, wenn es nicht so traurig wäre.

Berlin. 27. Juni 1932. Montag

Wie ich schon in meiner Rede im Reichstag sagte, haben die Kämpfe zwischen den radikalen Bewegungen (Kommunisten und Nazis) viel mehr innere Verwandtschaft mit den Religionskriegen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts in Deutschland, Frankreich und England als mit den politischen Kämpfen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts. Es sind erbitterte und bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Weltanschauungen, die einen Kompromiß ausschließen, während bei politischen Kämpfen gerade Kompromisse gesucht werden. Daher die Erbitterung und der Haß.

Berlin. 28. Juni 1932. Dienstag

Frau v. Ossietzky telephonierte heute nachmittag an Guseck, vor ihrem Hause in einer stillen Straße in Friedenau patrouillierten ununterbrochen Nazitrupps auf und ab. – Allmählich etablieren die Nazis im Westen von Berlin einen regelrechten Straßenterror.

Berlin. 1. Juli 1932. Freitag

Abends holte mich François-Poncet in seinem Wagen ab zum Essen im »Haus am See« in Wannsee. Internationales Publikum. Viel Englisch sprechendes. Am Nebentisch der italienische Botschafter mit seiner Frau. François-Poncet und ich aßen allein, und die Unterhaltung dauerte von acht bis kurz vor Mitternacht. Es wurde so ziemlich alles durchgesprochen, was mit Politik zusammenhängt.

Notizen über einiges: Papen sei schon erledigt. Er habe in Lausanne nicht bloß eine »gaffe« gemacht (das »Matin«-Interview), sondern zwei; und der zweite Fehler sei noch katastrophaler gewesen als der erste: nämlich daß er Herriot gesagt habe, Deutschland könne nur zahlen, wenn gewisse politische Klauseln des Versailler Vertrages revidiert würden; worauf Herriot sofort eingehakt und geantwortet habe: »Aha! Also Sie zahlen nicht, nicht weil Sie nicht können, sondern weil Sie nicht wollen.«

Schleicher: undurchsichtig, sehr liebenswürdig; was hinter seiner Höflichkeit stecke, nicht zu durchschauen. Aber er (Poncet) müsse doch bekennen, daß Schleicher der einzige aktive deutsche Staatsmann sei, der ihm jemals die volle Wahrheit gesagt habe, während andre (er zielte damit offenbar auf Brüning) ihm zwar auch die Wahrheit, aber immer nur einen Teil der Wahrheit gesagt hätten. Neurath: eng und nicht sehr intelligent.

»Le plus sérieux« sei Bülow. Allerdings sehr zurückhaltend, aber intelligent. Mit ihm könne man etwas anfangen. Seit einiger Zeit zeige Bülow auch Verständnis für seinen (Poncets) europäischen Wiederaufbau-Plan, der eine planmäßige, auf den Bedarf zugeschnittene Regulierung und Kontingentierung der europäischen Produktion durch europäische Kartelle vorsieht. Als ich einwandte, daß Bülow schon vor dreizehn Jahren, 1919, meinen Völkerbundsplan, der auf der gleichen Idee beruhte, enthusiastisch begrüßt habe (in der ›Deutschen Nation‹), meinte Poncet, bis vor einem Jahr habe Bülow aber nicht viel Verständnis für solche Ideen gezeigt. Jetzt aber sei das anders.

Brüning: für ihn hat Poncet offenbar nicht viel übrig. Er habe die enge Mentalität eines katholischen Pfarrers. Ein Jesuit. Im Herzen ›ein wilder Chauvinist‹. Als ihn Laval im September nach Paris eingeladen hatte, habe er zunächst abgesagt und sei erst auf Drängen von Henderson und Stimson hingefahren. Später, im November und Dezember, habe er sich dem wiederholten Drängen Poncets, doch die Reparationsfrage mit ihm eingehend zu besprechen, immer entzogen. Dann den Zusammentritt der Konferenz von Lausanne im Februar durch sein Interview verhindert. Brüning habe immer nach England und Amerika gesehen, sich nie direkt mit Frankreich an einen Tisch setzen wollen. Alles in allem hatte ich den Eindruck, daß Poncet Brüning recht ungünstig beurteilt.

Sehr ausführlich äußerte sich Poncet über den gegenwärtigen Stand der Reparationsfrage und der Konferenz von Lausanne. Die Reparationen seien tot. Deutschland habe einen ungeheuren, unverhofften Vorteil erzielt. Und schlimmstenfalls werde in wenigen Monaten die Endlösung erfolgen. Jetzt seien schon ganz andre Dinge aktuell: der europäische Wiederaufbau vor allem (siehe oben), über den er für die französische Regierung ein fünfzig Seiten langes Exposé ausgearbeitet habe, auf Grund dessen die deutsch-französische Wirtschafts-Kommission zusammengerufen worden sei. Aber bisher habe diese so gut wie nichts geleistet. Er setze aber seine Bemühungen fort. Nur sei er von Anfang an in Berlin auf Mißtrauen und Feindseligkeit gestoßen. Es sei nicht zu glauben, was die Zeitungen über ihn geschrieben hätten. Unter andrem habe ein Blatt behauptet, daß er an der Ruhr ein minderjähriges Mädchen vergewaltigt habe! So was sei doch unerträglich! Er habe nun einmal eine feine Haut, und solche Angriffe verletzten ihn aufs tiefste. Er könne nicht darüber einfach hinwegsehen.

Auch empfinde er bei den Politikern, mit denen er zu tun habe, immer Mißtrauen und Mißgunst. Dabei sei sein ganzes Wirken von jeher auf eine enge deutsch-französische Zusammenarbeit gerichtet gewesen. Ja, es sei eine Art von Fatum, das ihn immer wieder seit seinem vierzehnten Lebensjahr nach Deutschland zurückführe. In Deutschland sei er zum ersten Mal zum geistigen Leben erwacht. Deutschland sei das Land, das ihn immer am meisten angezogen habe. Er würde nie einen andren Botschafterposten als den Berliner angenommen haben. Denn er fühle, daß das Schicksal ihn bestimmt habe, hier sein Lebenswerk zu vollbringen. Ich formulierte: »Vous avez plus qu'une ambassade, vous avez une mission«, was ihn offenbar sehr befriedigte. Eine deutsch-französische Zusammenarbeit, ein deutsch-französisches Bündnis (er sagte ausdrücklich ›alliance‹) sei der Eckstein, auf den das neue Europa aufgebaut werden müsse.

Berlin. 4. Juli 1932. Montag

Bei Helene Nostitz im Garten Tee. Gerhard Mutius, Herbert Hindenburg, eine Fürstin Trubetzkoi, Goertz, Clauss usw. ›Alte Gesellschaft‹. Von dort zur Demonstration der ›Eisernen Front‹ im Lustgarten. Ein sonderbarer Kontrast, nach der gepflegten Teegesellschaft im sommerlichen Garten das Meer wehender roter Fahnen und die unabsehbare Menschenmenge, die nicht bloß den Lustgarten, sondern auch die Schloßfreiheit, den Schloßplatz vor dem Marstall und die Straßen hinter dem Alten Museum bis zur Nationalgalerie und der Börse füllte. Es müssen weit über hunderttausend Menschen gewesen sein; jedenfalls die größte Demonstration, die ich im Lustgarten gesehen habe. Politisch sehr bezeichnend und wichtig, daß auch KPD-Abteilungen mit Sowjetfahnen (Hammer und Sichel) mitdemonstrierten und daß das neue Einheitsfront-Abzeichen, die beiden roten Fahnen auf silbernem Grunde, sehr verbreitet war. Stark massenaufpeitschend wirkte der neue Kampfruf ›Freiheit‹ mit emporgereckter Faust, von hunderttausend Menschen ausgestoßen. Es waren auch viele Jugendliche da. Die Jungen sind eben doch nicht alle bei den Nazis!

Berlin. 8. Juli 1932. Freitag

Die Reparationen sind in Lausanne heute endgültig zu Grabe getragen worden. Papen selbst verkündete es um sieben Uhr im Rundfunk in einer großsprecherischen, ziemlich schäbigen Rede, in der er nicht ein Wort des Dankes für seine Vorgänger Rathenau, Stresemann und Brüning oder für Macdonald fand, der der Hauptmacher des Abkommens gewesen ist.

Berlin. 12. Juli 1932. Dienstag

Während wir Sonntag in der schönen Landschaft herumfuhren, sind wieder siebzehn Tote und fast zweihundert Verwundete dem hemmungslosen und organisierten Terror der Nazis zum Opfer gefallen. Es ist eine Tag für Tag und Sonntag für Sonntag fortlaufende Bartholomäusnacht.

Berlin. 14. Juli 1932. Donnerstag

Bei Nostitzens in Zehlendorf zu Abend. Die Atmosphäre im Nostitzschen Hause ist ganz nationalsozialistisch durchsetzt. Helene erzählte mir, daß ihre Schwägerin Marie Hindenburg, eine geborene Engländerin, eine eifrige Nationalsozialistin geworden sei und in der Partei emsig mitarbeite. Kritiken an den Nazis wird hier mit verlegenem Schweigen begegnet.

Der junge russische Tänzer Koschelnikow, der im Hause zu Gast wohnt, kam von einem Tee beim Berliner Universitätsprofessor Carl Schmitt (Staatsrechtler). K. erzählte, Schmitt habe sich ganz mit dem Nationalsozialismus abgefunden. Er habe aber die Regierung Papen als sehr schädlich für die Nazis bezeichnet. Sie hätten gewünscht, Brüning als Gegner weiterzubehalten. Die Regierung Papen unterminiere sie. Sie hätte ihnen in den sechs Wochen ihres Bestehens schon ernstlich Abbruch getan. Die Wiederzulassung der Nazi-Uniform sei für die Nazis schädlich gewesen, weil sie die Bevölkerung gegen sie aufreize. Ja, Schmitt sei so weit gegangen, zu behaupten, daß das frühere Verbot nur erlassen sei, um die Uniform nach kurzer Zeit wieder zulassen zu können und dadurch eine besonders provokatorische Wirkung hervorzurufen (! ?). Alfred Nostitz protestierte gegen diese Unterstellung, die er auf Schmitts sprunghafte Phantasie zurückführe. Koschelnikow blieb aber dabei, daß Schmitt das behauptet habe. Er, Koschelnikow, habe Schmitt gefragt, warum die Nazi-Führer nicht offen erklärten, daß die Papen-Regierung planmäßig gegen sie arbeite? Schmitt habe geantwortet, man sage das nicht, um die Jungen in der Partei nicht zu entmutigen, die noch immer die Papen-Regierung als eine Übergangs-Regierung zu einer rein nationalsozialistischen ansähen.

Helene sprach von ihrem Buch über ihren Onkel Hindenburg, das bei Reissner herauskommt; sie habe doch Bedenken, ob sie die Figur ganz dargestellt habe. Ich sagte, die Figur des Feldmarschalls, die schon mythisch sei, würde trotzdem durch die Ereignisse immer wieder umgemodelt. Es werde seinem Monument immer wieder ein neues Stockwerk hinzugefügt. Augenblicklich werde sie wieder einmal aufgestockt.

Berlin. 16. Juli 1932. Sonnabend

Vormittags besuchten mich Wieland Herzfelde und seine Frau und trugen mir einen Plan zu einer Anti-Nazi-Plakatpropaganda vor, die die lahme und talentlose Propaganda der verschiedenen republikanischen Parteien ergänzen sollte. Sie würde nicht von einer Partei ausgehen und auch nicht für irgendeine Partei werben, sondern man gegen die Nazis gerichtet sein. Verantwortlich zeichnen müßte ein noch zu bildendes außerparteiliches Komitee. Hauptsächlich Bildplakate, für die Arbeiten von Hartfield, George Grosz, Käthe Kollwitz zur Verfügung stehen müßten. Die ganze künstlerische und literarische Arbeit würde unentgeltlich Herzfelde und seine Frau leisten. Den Druck und die Plakatierung müßten die großen republikanischen Organisationen wie Reichsbanner, Eiserne Front leisten. Ich versprach, sofort diese Idee bei den Führern der SPD und Staatspartei zur Sprache zu bringen.

Berlin. 18. Juli 1932. Montag

Gestern hat es wieder fünfzehn Tote und dazu zahlreiche Verwundete im ganzen Reich gegeben, allein in Altona zwölf Tote. Die Nazis sind mehrere tausend Mann stark in zweifellos provokatorischer Absicht in ihren neuen blanken Hitler-Uniformen durch die elendesten Straßen Altonas marschiert, und es ist dann passiert, was vorauszusehen war, die Arbeitslosen und Luden, zum Teil wohl auch Verbrechergesindel, haben sie überfallen. Schuld hat aber hier wie immer der Provokateur. Die Erschütterung über diesen neuen blutigen Sonntag ist allgemein und groß.

Um ein Uhr läßt die Reichsregierung durch den Rundfunk ein allgemeines Demonstrationsverbot für das ganze Reich verkünden. Die eigentliche Ursache des Blutvergießens, die provokatorische Nazi-Uniform, hütet sie sich aber anzurühren.

Berlin. 20. Juli 1932. Mittwoch

Vormittags um zehn Uhr fünfzehn bei Abegg im Ministerium. Er teilte mir mit, daß Papen sich zum Reichskommissar ernannt und unter sich als Kommissar für Preußen den Oberbürgermeister Bracht von Essen sich geholt habe. Severing und Hirtsiefer waren eben in einer Besprechung mit Papen; Abegg wußte daher noch nicht, wie sich die preußische Regierung verhalten werde. Abegg war aber der Ansicht, daß Papens Streich unzweifelhaft verfassungswidrig (mithin ein Staatsstreich) sei.

Mittags kam durch den Rundfunk die Regierungserklärung und die Mitteilung, daß über Berlin und Brandenburg der militärische Ausnahmezustand verhängt, die vollziehende Gewalt an einen General von Rundstedt übergegangen sei und daß der neue Reichskommissar Papen den preußischen Ministerpräsidenten Braun sowie Severing und Grzesinski abgesetzt habe. Severing hat daraufhin erklärt, daß er seine Absetzung nicht annehme und nur der Gewalt weichen werde.

Hier nebenan, vor dem Reichswehrministerium, stehen Doppelposten mit Karabinern vor dem Eingang. Im Innern sollen Maschinengewehre aufgefahren sein. Das preußische Staatsministerium Wilhelmstraße 63 ist seit Mittag militärisch besetzt.

Nachmittags um fünf kam ein Herr Krone aus dem preußischen Ministerium des Innern im Auftrage Abeggs zu mir. Er teilte mir mit, daß Abegg von Papen abgesetzt sei, seine Absetzung aber nicht als rechtsgültig anerkenne und weiter amtiere. Krone sagte, man befürchte für heute nacht den Generalstreik. Die Art und Weise, wie Severing, Braun, Abegg usw. abgesetzt worden sind – Abegg zum Beispiel durch einen einfachen Telephonanruf: »Hier Reichsregierung: Sie sind hiermit Ihres Amtes enthoben« –, bezeichnete Krone mit Recht als denkbar formlos und ungeschickt. Als Badt heute zur Vertretung Preußens vor dem Reichsgericht nach Leipzig fliegen wollte, wurde ihm auf dem Flugplatz gesagt, daß das Flugzeug, das die preußische Regierung ständig zur Verfügung hat, von der Reichsregierung beschlagnahmt sei; der preußischen Regierung war die Beschlagnahme gar nicht erst mitgeteilt worden.

Berlin. 22. Juli 1932. Freitag

Der bisherige Kommandeur der Berliner Schupo ist heute nacht um vier von Reichswehr aus dem Bett geholt und zum zweiten Mal verhaftet worden; ebenso der Ortsvorsitzende des Reichsbanners in Charlottenburg.

Der Rundfunk gibt mittags bekannt, daß im Berliner Polizeipräsidium Personalveränderungen bevorstehen, die sicherstellen sollen, daß die Stellen, die über kulturelle Fragen zu entscheiden haben, ›auf dem Boden der christlichen Weltanschauung und Kultur stehen‹, während die Stellen, die sich mit linksradikalen Dingen befassen, sich einwandfrei von linksradikalen Tendenzen distanzieren. Mit andren Worten, wir steuern mit vollen Segeln in eine Epoche Metternichscher Reaktion hinein.

Berlin. 31. Juli 1932. Sonntag

Reichstagswahltag, Schicksalstag! Schwüles, schweres Wetter, früh bewölkt, gegen Mittag aufhellend. Um elf in der Kaiserin-Augusta-Straße neben dem Reichswehrministerium gewählt. Helene Nostitz rief vormittags an; klagte auch über Beunruhigung und gedrückte Stimmung. – Nachmittags Fahrt in meinem Wagen mit Max und Uschi nach Altenhof am Werbellinsee über Lanke, Finow, Bernau usw. Im Norden Berlins ziemlich starke Beflaggung, wobei SPD und KPD zusammen ein leichtes Übergewicht über Hakenkreuz zu haben schienen. Auf den Dörfern sehr wenige Flaggen, so ziemlich halb und halb, und der Anschein größter Ruhe.

Abends bei Hilferdings mit Georg Bernhards und Oscar Meyers. Bis halb drei Wahlresultate gehört und aufnotiert. Die fortlaufende Sensation des Abends das Anwachsen der Kommunisten, daneben die Zunahme des Zentrums und das vollkommene Debakel der Staatspartei. Überraschend, wenn auch erwartet, der Stillstand der Nazibewegung, die in einigen Wahlkreisen sogar Stimmen verloren hat. Die SPD hat sich gerade noch zur Not behauptet und ist der KPD gegenüber in rückläufiger Bewegung. Zu den Wahlresultaten im Rundfunk ein beschämend schlechtes Konzert, Zirkusmusik, die in ihren Spitzenleistungen etwa das Niveau einer zweitklassigen Kurkapelle erreichte.

Berlin, 1. August 1932. Montag

Die Rechte hat keine Mehrheit im neuen Reichstag; ihren 230 (Nationalsozialisten) plus 37 (Deutschnationale) plus 7 (Volkspartei) plus 6 (Splitter) = 280 Sitzen stehen 327 Sitze des Zentrums und der Linken gegenüber. Die Kommunisten sind mit 89 Sitzen (gegenüber 78 früher) wieder die drittstärkste Partei. Die Nazis, deren Gros eine Mehrheit von fünfzig bis sechzig Prozent erwartet hatte, sind schwer enttäuscht.

In Königsberg haben sie heute früh den früheren Regierungspräsidenten (Volkspartei) in seiner Wohnung überfallen und angeschossen, zwei kommunistische Arbeiter in ihren Wohnungen ermordet, gegen die Häuser der SPD-Zeitung und der staatsparteilichen Hartungschen Zeitung Attentate verübt, kurz eine Aktion unternommen, die im kleinen von dem eine Anschauung gibt, was sie im großen und viel gründlicher im ganzen Reich nach einem Sieg vorhatten.

Es hat vorige Nacht wieder fünfzehn Tote und viele Verletzte im latenten Bürgerkrieg gegeben.

Berlin. 5. August 1932. Freitag

Die Attentate, Bombenwürfe, Morde gehen in Ostpreußen, Bayern, Holstein weiter. Jetzt ist auch amtlich festgestellt, daß die Brandstiftungen und Bombenwürfe in Königsberg von Nationalsozialisten, und zwar von Mitgliedern des Nazi-Sturms zwölf, verübt worden sind. Die Reichsregierung hat gestern darüber eine Kabinettssitzung abgehalten, aber zunächst energische Gegenmaßregeln ›in Aussicht‹ gestellt. Offensichtlich zögert sie, es mit den Nazis zu verderben.

Weimar. 7. August 1932. Sonntag

Nachmittags bei Frau Förster-Nietzsche. Das Nietzsche-Archiv ist jetzt, wie sie selbst sagt, ›mitten in der Politik‹. Zu seinem Vorsteher haben sie einen Nazi-Professor Emge aus Jena berufen, einen Professor der Rechtsphilosophie, der sogar als Nazi-Minister in der thüringischen Regierung in Aussicht genommen ist. Im Archiv ist alles vom Diener bis zum Major hinauf Nazi. Nur sie selbst ist noch, wie sie sagt, deutschnational.

Sie erzählte, wie Hitler sie besucht hat nach der Premiere von Mussolinis Stück im National-Theater. Während mehrere italienische Korrespondenten bei ihr saßen, habe er sich melden lassen und sei mit einem riesigen Blumenstrauß und begleitet von seinem Stabe bei ihr eingetreten. Es habe sich in Gegenwart der Italiener eine lebhafte politische Konversation entsponnen, bei der Hitler sich, wie sie sagt, in einer für ihr Gefühl unvorsichtigen Weise über Österreich und den Anschluß geäußert habe. Er habe betont, daß er den Anschluß nicht wünsche, weil Wien keine rein deutsche Stadt sei. Sie habe das nicht für richtig gehalten, daß er das vor den Ausländern sagte. In seinem Gefolge befand sich unter andren auch Schulze-Naumburg.

Ich fragte sie, welchen Eindruck Hitler menschlich auf sie gemacht habe? Ob er nach ihrem Gefühl Format habe? Sie sagte: aufgefallen seien ihr vor allem seine Augen, die faszinierend seien und einen durch und durch blickten. Aber er habe mehr den Eindruck eines religiös als politisch bedeutenden Menschen auf sie gemacht. Den Eindruck, daß er ein großer Politiker sei, habe sie nicht gehabt. Winifred Wagner, die mit dem italienischen Botschafter Orsini-Baroni während der Goethe-Feiern bei ihr war, stehe auch den Nazis sehr nahe. Kurz, diese ganze Schicht des intellektuellen Deutschlands, das in der mehr goethischen, romantischen Periode seine Wurzeln hat, ist ganz Nazi-verseucht, ohne zu wissen warum. Das Nietzsche-Archiv hat von seinem Faschismus wenigstens einen materiellen Vorteil, indem Mussolini ihm, wie Frau Förster erzählte, gegen Ende des vorigen Jahres zwanzigtausend Lire überwiesen hat. Am nächsten Donnerstag hat sich die ›Kaiserin‹ Hermine bei ihr zum Tee angesagt; es wird ein ›Dichtertee‹, wie sie sagt: Börries Münchhausen liest Gedichte vor, und Walter Bloem ehrt das Fest durch seine Gegenwart. Man möchte weinen, wohin Nietzsche und das Nietzsche-Archiv gekommen sind!

Noch eins: daß dieser alten, sechsundachtzigjährigen Frau der mächtigste Mann Deutschlands und die Frau des früheren Kaisers heute den Hof machen. Letzteres fast grotesk nach der Einstellung S. M. zu Nietzsche vor dem Kriege! Sie erzählt noch zu diesem Umschwung, daß die Offiziere des in Weimar garnisonierenden Reichswehr-Divisionsstabes ihr bei ihrer Herversetzung offiziell einen Antrittsbesuch machen. Wie war es in meiner Jugend in Potsdam, als ich mit Bernhard Stolberg und meinem Kreise Nietzsche las? Stolberg wurde deshalb von seinem Vater aus Potsdam fortgeholt und sechs Monate mit einem Pfarrer eingesperrt. Damals war Nietzsche Revolutionär und fast ebensosehr vaterlandsloser Geselle wie die Sozis.

Das Gespräch, das in der kleinen guten Stube im ersten Stock vor sich ging, mit dem Blick durch die offene Verbindungstür nach dem Ecksofa, auf dem ich zum letzten Mal Nietzsche wie einen kranken Adler sitzen sah, machte mir einen tiefen Eindruck. Geheimnisvolles, undurchsichtiges Deutschland.

Théoule bei Cannes. 14. August 1932. Sonntag

Früh in Marseille in der Zeitung die Nachricht, daß Hindenburg in seiner Unterredung mit Hitler gestern nachmittag es abgelehnt hat, ihn zum Kanzler zu machen, und daß daraufhin die Verhandlungen zwischen den Nazis und der Regierung abgebrochen worden sind. Die entscheidende Unterredung zwischen Hindenburg und Hitler hat nur dreizehn Minuten gedauert. Was nun? Bürgerkrieg oder ruhmloses Abbröckeln der Nazibewegung? Sicher ist nur, daß wir in die finsterste Reaktion hineinsteuern. Wer reaktionärer von den beiden Konkurrenten ist, die Nazis oder die Schleicher-Clique, ist schwer zu unterscheiden. Zu hoffen ist nur, daß diese beiden Haufen von Finsterlingen jetzt, da sie entzweit sind, sich gegenseitig aufreiben.

Théoule. 18. August 1932. Donnerstag

Mit Géraud auf seinem Motorboot nach den Îles de Lérins. Auf dem Rückwege, etwa fünfhundert Meter vom Ufer, sprang ich ins Wasser, um an Land zu schwimmen. Bald merkte ich aber, vielleicht weil ich überhitzt war, daß ich nicht mehr weiterkonnte, vermochte aber Géraud, der noch im Boot saß, ein Zeichen zu geben. Er sprang mir nach und bugsierte mich kunstgerecht nach Hause, sonst wäre ich wohl ertrunken.

Théoule. 21. August 1932. Sonntag

Tanzlokal der hiesigen Fischer und Arbeiter. Vorne Kneipe. Dahinter eine Treppe hinunter in den Hof, wo ein schmaler Schuppen mit schrägem Dach, nach vorne offen, innen und außen weiß getüncht, das Holzwerk, Fensterrahmen und Läden rot, als Tanzboden dient. Papiergirlanden und das saubere Weiß und Rot geben einen festlichen Anstrich. Links führt eine rotgestrichene Treppe in obere, geheimnisvolle Räume. Die Matrosen, Fischer, Arbeiter, Mädchen tanzen auf den Fliesen des Schuppens, die Fischer und Matrosen meist mit bloßen Füßen. Viele sehr gut; moderne Tänze, Zweischritt, Walzer; einige von den Matrosen tanzen besser als die meisten Tänzer in eleganten Tanzdielen, losgelassener in den Hüften, graziöser, ausdrucksvoller. Alles in allem ein harmloses, lustiges Völkchen, scheinbar ganz apolitisch im Gegensatz zu unseren bis in die jüngsten Jahrgänge politisch überheizten Leuten.

Théoule. 23. August 1932. Dienstag

Große Hitze. Vormittags in Cannes. Das Todesurteil, das das Gericht in Beuthen gegen fünf Nazi-Mörder gefällt hat, scheint nach den hiesigen Zeitungen eine ungeheure Erregung in der ganzen Nazi-Partei ausgelöst zu haben, die sich offenbar bis jetzt für über den Gesetzen erhaben gehalten hat, auch wenn sie die schwersten Verbrechen beging. Hitler persönlich hat an die Mörder telegraphiert, um ihnen seine Sympathie auszusprechen und es für eine ›Ehrensache‹(!) zu erklären, daß sie begnadigt würden. Diese Leute sollen jetzt in die Regierung hinein!

Paris. 26. August 1932. Freitag

In den französischen Zeitungen, sowohl denen von Paris wie auch in den Provinzblättern, wie ›Eclaireur de Nice‹, ›Petit Marseillais‹, steht die deutsche Innenpolitik, das Duell Schleicher-Hitler, im Mittelpunkt ihres Nachrichtendienstes; zwei, drei Spalten jedesmal nur über Hitler, Papen, Schleicher. Die französische Politik und französischen Politiker treten demgegenüber ganz zurück.

Der Durchschnittsfranzose, le Français moyen, wird heute über deutsche Innenpolitik ausführlicher und farbiger informiert als über seine eigene. Die Franzosen haben offenbar ein Gefühl, als ob sich in ihrer nächsten Nachbarschaft ein Vulkan aufgetan hätte, dessen Ausbruch jeden Augenblick ihre Felder und Städte verwüsten könnte und dessen kleinste Regungen sie daher mit Staunen und Angst verfolgen. Ein Naturereignis, dem sie fast hilflos gegenüberstehen. Deutschland ist heute wieder (leider!) wie im Kriege der große internationale Star, der in jeder Zeitung, in jedem Kino die Massen fasziniert aus einer Mischung von Furcht, Nichtverstehen, widerwilliger Bewunderung, in die sich auch nicht wenig Schadenfreude mischt; die große tragische, unheimliche, gefährliche Abenteurerfigur, die sogar Rußland auf der internationalen Bühne an die Wand gespielt hat. Etwa die Rolle, die Frankreich während der Dreyfus-Affäre spielte. Aller Augen sind auf sie gerichtet in banger Erwartung dessen, was kommen wird.

Trübe Elemente wie das Nacktbaden (›le nudisme‹), die Animierkneipen mit hübschen Jungens statt Mädchen, die Umwertung der moralischen Werte bei der deutschen Jugend spielen in dem fast krankhaften Interesse für Deutschland eine Rolle. Und, wie gesagt, auch die letzte Zuflucht des Verängstigten und Machtlosen, die Schadenfreude. Man wittert eine neue Welt, die für Frankreich noch unmittelbarere Gefahren heraufbeschwören könnte als die bolschewistische, und hofft dunkel, daß sie vielleicht doch noch vor ihrer Geburt im Mutterleib zugrunde gehen wird.

Die Rolle, die in der französischen Phantasie vor und gleich nach dem Kriege Rußland spielte, ist heute auf Deutschland übergegangen. Der Franzose hat sich von der Bühne ins Parkett begeben, von wo aus er das deutsche Drama mit angsterfüllter Spannung verfolgt. Er empfindet die Ohnmacht des Zuschauers vor einer antiken, etwas zu blutrünstigen, etwas widerlichen Tragödie, die ihn zugleich abstößt und anzieht. Frage: Was ließe sich für Deutschland politisch aus dieser Situation gewinnen?

Deutsche Tonfilme in deutscher Sprache, wie ›Mädchen in Uniform‹ und ›Emil und die Detektive‹, laufen hier schon seit Wochen täglich vor ausverkauften Häusern. ›Mädchen in Uniform‹, wie ich meine, schon neunzehn Wochen!

Paris. 27. August 1932. Sonnabend

Nachmittags in der großen Manet-Gedächtnisausstellung im Pavillon de l'Orangerie in den Tuilerien. Dominierender Eindruck der der Sauberkeit dieser Kunst, die ausschließlich fast mit einer naiven Ehrlichkeit nur einem Gott, dem der reinen Farbe, dient. Man kommt sich wie gebadet vor; als ob man aus dem Schmutz des Alltags auf irgendeine Höhe, wo die Luft rein und der Himmel klar ist, emporgezaubert worden sei. Damit sind aber auch die Grenzen abgesteckt, die Grenzen jedes Puritanertums, hier vernebelt durch den Charme Pariser Geistigkeit und Erotik. Das zarte Licht der Île-de-France versilbert dieses Puritanertum, leiht ihm einen falschen Schein von Leichtsinn und Boheme.

Was die Erotik betrifft, so wirken diese Akte und Frauengesichter auf uns Heutige merkwürdig grob und undifferenziert. Es würde uns schwer, uns in eine dieser Manetschen Frauen zu verlieben. Nur die Luft, die sie durch die Farbe um sich bereiten, riecht nach Liebe; das Parfüm sticht einem in die Nase, die Frau selbst bleibt ziemlich gleichgültig und sozusagen › vertretbarer Gegenstand‹. Die Vergöttlichung dringt nicht bis unter die Haut, sie bleibt in der Oberfläche stecken. Wie anders bei Maillol, dessen Kopie meiner hockenden Figur ich mit Wehmut einen Augenblick im Garten sah. – Lisette!

Paris. 28. August 1932. Sonntag

Nachmittags Maillol in Marly besucht. Ich fand ihn lesend im Schatten seines Gartens, strahlend vor Zufriedenheit und, wie mir schien, Gesundheit. Für seine Zufriedenheit waren verschiedene Umstände und Geschehnisse maßgebend. Erstens ist seine Frau fort, sie ist mit Lucien in Chamonix. »Je suis bien tranquille ici maintenant; ma femme est à Chamonix! Malheureusement elle revient dans huit jours. Quand elle est ici, elle m'injurie toute la journée. Elle est folle; je ne comprends même pas ce qu'elle me dit.«

Sehr beglückt ist er auch über das Totendenkmal, das er auf der Insel im Meer vor Banyuls macht; ein niedriger, grabartiger Bau auf der Spitze der felsigen Insel, aus graublauem Stein, mit drei Reliefs, in der Mitte die Figur des toten Kriegers, die ich in klein besitze, hier auf Lebensgröße in Stein vergrößert. Er zeigte Photographien. Zugleich auch Aufnahmen von dem Fest, das sein Heimatstädtchen Banyuls ihm zu Ehren im April veranstaltet hat. Dieses hat ihn ganz besonders erfreut. Man sieht ihn inmitten der Mädchen und Fischer, man sieht ihn tanzen, man sieht vier Hammel, die im Walde am Spieß gebraten werden, man sieht die Reigen der Mädchen. »C'était tout à fait grec«, sagte er. Das ist für ihn das höchste Lob.

Ich fragte ihn, ob er schon in der Manet-Ausstellung gewesen sei. Er sagte, nein, noch nicht, er wolle hingehen; aber er habe schon mehrere Manet-Gedächtnisausstellungen gesehen, zuerst habe er ihn geliebt, später gehaßt ... Maintenant ... ? Ich sagte etwas von Manets Frauen, daß ich sie, abgesehen von der Farbe, uninteressant fände, ohne Suggestionskraft. Maillol: »Ce n'est que de la peinture! Pour avoir un Gauguin de Tahiti je ferais n'importe quel sacrifice, je vendrais ma dernière chemise; pour avoir un Manet, je ne vendrais même pas mes vieux souliers.«

Wir sprachen natürlich auch von der Krise. Er meinte, er persönlich könne sich nicht beklagen, er habe vor einigen Tagen erst eine große Figur nach Amerika verkauft, und Druet hätte vor kurzem auch eine Figur von ihm verkauft. Aber sonst sei es allerdings für die Künstler schlimm. Lucien habe nichts verkauft. »Le monde est tombé dans un trou. Ce que je ne comprends pas, c'est que le génie de l'homme ne suffise pas à le sortir de ce trou.« – Er ist in einer tieferen Wirklichkeit als der unserer gespensterhaften Tageskämpfe verwurzelt.

Er erzählte, daß gestern abend die Passavant (jetzt Mme. Nicolas) mit ihrem Mann bei ihm in Marly gegessen habe, und strahlte dabei über das ganze Gesicht. Die Passavant sei schon etwas früher, ohne ihren Mann, gekommen und habe geweint, als sie das Atelier wiedersah. Von ihrem Mann sagte Maillol, er sei ein sehr netter junger Mensch und die Passavant mit ihm glücklich, was ihn sehr freue. Ich fragte nach Bonnard. Maillol: man sehe ihn nicht mehr, seine Frau, die Marthe, lasse keinen Besuch zu, sondern werfe jeden hinaus, der zu ihm wolle, auch die ältesten Freunde. »Sa femme est encore plus folle que la mienne.«

Von Louveciennes den Blick über das Seinetal nach Paris. Im strahlenden Sonnenschein eine glückselige Landschaft. In den Wäldern bei St. Cloud viele Ausflügler, meistens en famille, Vater, Mutter und Kind oder Kinder, im Sonntagsstaat auf dem Rasen liegend. Der Gegensatz zu Deutschland ist auffallend. Bei uns tun sich sonntags die jungen Leute zusammen und wandern, spielen, baden, vom bourgeoisen Sonntagsaufputz sieht man selten eine Spur mehr, sondern schöne, kräftige Körper, unbekleidet oder halbbekleidet. Hier herrscht dagegen noch der kleinbürgerliche Stil in Kleidung und Sonntagsvergnügen durchaus vor.

Berlin, 1. September 1932. Donnerstag

Diner beim amerikanischen Kupferkönig Guggenheim im Restaurant Hiller mit Helene Nostitz, von einer Baronin Rebay (Malerin) arrangiert. Frau von Ihne, Wanda Prittwitz (jetzt Frau v. d. Marwitz) mit ihrem Mann und einige andre (auch der mir sehr unsympathische Maler Bauer).

Wanda Prittwitz, die ich zuletzt vor dreißig Jahren im Salon ihrer Mutter gesehen hatte, saß neben mir. Sie erzählte beglückt, daß alle ihre Verwandten Nazis seien; das Schöne an der ›Bewegung› sei, daß alle diese jungen Leute, ob hoch oder niedrig, sich als Kameraden fühlten; es sei ein wunderbarer Geist der Kameradschaft unter ihnen. Sie selbst sei nicht Nazi, sondern nach wie vor deutschnational, aber allerdings auch Antisemitin; das sei ich doch wohl auch? Ich antwortete: Nein, denn sonst würde ich nicht heute abend hier bei Juden zu Gaste sein. Sie war so doof, daß sie nicht einmal die Spitze fühlte, sondern ruhig weiterschwärmte. Die Rebay, deren Vater im Kriege General war und die bis zum Jahre 1918 in Straßburg gelebt hat, sich als Elsässerin fühlt, hat auch starke Sympathien für die Nazis, macht ihnen allerdings zum Vorwurf, daß sie das Bauhaus in Dessau aufgelöst haben, meinte aber, die ›Bewegung› sei doch darin großartig, daß sie das gewöhnliche Volk dazu erziehe, daß es auch Opfer bringen müsse, während im Kriege nur ›unsere Kreise› Opfer gebracht hätten. Ich sagte, immerhin seien doch auch einige Millionen gewöhnlicher Leute gefallen und einige hunderttausend verhungert; von meinen Bekannten sei niemand verhungert.

Die Frau Guggenheim, die eine außerordentliche schöne Galerie von Primitiven und ganz modernen ›abstrakten› Bildern haben soll, sagte mir, sie liebe beide Richtungen, ›obwohl man sie natürlich nicht auf ein Niveau setzen könne, das gehe schon daraus hervor, daß die Primitiven so viel teurer seien›.

Weimar. 12. September 1932. Montag

Mit Max in der Presse an ›Daphnis und Chloe› gearbeitet.

Papen hat heute Hals über Kopf, ohne seine angekündigte große Programmrede gehalten zu haben, den Reichstag aufgelöst im Augenblick, als dieser zu Anfang der Sitzung über die Mißtrauensanträge und die Aufhebung der Notverordnung abstimmen wollte, ja, als bereits die Abstimmung im Gange war; ein Advokatenkniff, der eine nackte Vergewaltigung der Volksvertretung darstellt!

Um sieben Uhr dreißig sprach Papen im Radio: er wende sich, da ihm im Reichstag entgegen der Verfassung das Wort verweigert worden sei, ans deutsche Volk. Es folgte eine aufgeregte, ungeschickte, verlogene Rede voller Wiederholungen, die in der unverschämten Behauptung, hinter ihm stünden alle guten Deutschen, an Hochstapelei und Schwindel grenzte. Die Mischung aus hohlem Pathos und Unbeherrschtheit wirkte widerlich, zu welchem üblen Eindruck auch noch das dick aufgetragene salbungsvolle Christentum beitrug, das zum aufgeregten, barschen Kommandoton in Gegensatz stand. Sachlich blieb übrig, daß dieser Leithammel uns hinter Bismarck und Stein in den aufgeklärten Absolutismus des achtzehnten Jahrhunderts zurückführen will.

Berlin. 19. September 1932. Montag

Die englische Antwort auf die von der deutschen Regierung gestellte Forderung nach ›Gleichberechtigung› wird heute veröffentlicht. Sie ist ebenso wie die französische fast ganz negativ und enthält eine äußerst scharfe Kritik der deutschen Regierung, die durch die Geltendmachung ihrer Forderung in diesem Augenblick die Überwindung der Weltwirtschaftskrise gefährde.

Berlin. 20. September 1932. Dienstag

Der niederschmetternde Eindruck der englischen Note verstärkt sich. In der Wilhelmstraße scheint sie verständnislose Überraschung und Bestürzung hervorgerufen zu haben. Eine Regierung, die sich innerhalb von acht Tagen zwei vernichtende Niederlagen holt, zuerst in der Innenpolitik (fünfhundertdreizehn gegen zweiunddreißig Stimmen!) und dann in der von ihr selbst als die entscheidende bezeichneten Frage der Außenpolitik, aber trotzdem noch an der Macht klebt, ist in der Geschichte wohl noch nicht dagewesen. Papen läßt sich aber auch weiterhin tagtäglich in den Zeitungen lächelnd und selbstzufrieden bei jeder Theaterpremiere, Tennisveranstaltung, Modenschau, Rennsensation abphotographieren. ›Un inconscient›, wie die Franzosen einen solchen Windhund und Gecken bezeichnen. Er macht ganz den Eindruck eines deutschen Gramont, des Mannes von 1870, der ›leichten Herzens› sein Land in die Katastrophe hineinmanövrierte. Bac-Spieler und Herrenreiter als Außenminister sind doch wohl nicht das Richtige.

Berlin. 21. September 1932. Mittwoch

Rebhuhn-Essen bei Georg Bernhards. Der bisherige preußische Finanzminister Klepper, der am 20. Juli mit hinausgeworfen worden ist, Heinrich Mann, Hugo Simons, Misch von der ›Voss›, Geheimrat Demuth, ein Herr Manasse. Als ich Frau Klepper, die neben mir saß, meine Verwunderung über das Verhalten Severings am 20. Juli aussprach, daß er ohne weiteres klein beigegeben und nicht die Schupo alarmiert und die Linden abgeriegelt habe, sagte sie, genau dasselbe sage ihr Mann, ich solle doch mit ihm darüber sprechen. Ich redete daher nach Tisch Klepper darauf an und sagte ihm, wie ich mir die Sache gedacht hätte.

Klepper antwortete mit sehr interessanten, ja sensationellen Enthüllungen. Die Sache sei noch viel blamabler. Er, Klepper, hätte sich eine Informationsquelle im Reichswehrministerium gesichert und von dieser schon vierzehn Tage vor dem 20. Juli erfahren, was geplant sei. Er habe sich mit dieser Person gleich in ein Auto gepackt, sei zu Hirtsiefer gefahren und habe mit diesem Gegenmaßregeln besprochen. Sein Vorschlag sei gewesen, im Falle die Reichsregierung einen Gewaltstreich gegen Preußen führe, die Schupo zu alarmieren und die Reichsregierung zu verhaften oder mindestens das preußische Innenministerium durch Schupo in Verteidigungszustand versetzen zu lassen. Hirtsiefer sei damit einverstanden gewesen, und sie seien dann zusammen an Severing herangetreten. Dieser habe erklärt, er habe auch seine Informationsquellen, deren Auskünfte ganz anders lauteten; ein Gewaltstreich, wie ihn Klepper befürchte, käme gar nicht in Frage. Klepper fragte ihn darauf: Angenommen aber, die Reichsregierung führe doch einen solchen Streich, was er dann tun werde? Worauf Severing antwortete: Dann werde er sich schon richtig verhalten, aber er fasse keine Eventual-Entschlüsse. Da sie Severings Charakter damals noch überschätzten, hätten er und Hirtsiefer sich mit dieser Antwort zufriedengegeben.

Als nun am 20. Juli Papen in der Konferenz mit Schleicher, Severing, Hirtsiefer und Klepper diesen erklärte, daß er sie abzusetzen beabsichtige, habe er, Klepper, vorgeschlagen, daß die drei preußischen Minister sich zunächst einmal untereinander beraten sollten, ehe sie eine Antwort erteilten. Hirtsiefer habe dem zugestimmt, Severing aber zu seiner Überraschung abgelehnt und sich mit einer platonischen Erwiderung an Papen begnügt, die Papen und Schleicher mit sichtlicher Erleichterung zur Kenntnis genommen hätten; denn beide seien offenbar sehr unsicher gewesen und hätten ganz etwas andres erwartet. Severing habe dann für die Galerie seine theatralische Erklärung abgegeben, er ›werde nur der Gewalt weichen›, tatsächlich habe er aber Bracht gebeten, die Gewalt nicht um sechs Uhr nachmittags, sondern erst um halb acht anzuwenden, da er um sechs noch eine Konferenz habe (!!!); was dann zu der klassischen Anekdote sich kristallisiert habe, Bracht habe Severing gefragt: »Wann befehlen Herr Minister die Gewalt?«

Severings Verhalten sei nur daraus zu erklären, daß er ein ›kleiner Mann›, ein ›Proletarier› sei, der doch noch immer einen Heidenrespekt vor den ›Herren› habe und um Gottes willen nichts tun wolle, was die Konventionen der Herrenkaste verletze. Er, Klepper, habe sich nachher gefragt, ob er nicht die Situation hätte retten können, wenn er von sich aus den Widerstand organisiert hätte. Aber allerdings, die Polizeigewalt, auf die es ankam, stand ihm als Finanzminister nicht zu. Wenn Severing die Linden abgeriegelt und sich ernsthaft zur Wehr gesetzt hätte, wäre auch nach Kleppers Meinung nichts passiert, die Reichsregierung wäre sofort in Verhandlungen eingetreten (Klepper bestätigt also, was ich schon immer gesagt habe.)

Heinrich Mann, der bei dem Gespräch schweigend dabeistand, meinte nachher, die Sozis seien an der Verachtung des Geistes gescheitert; die Zurückdrängung der Intellektuellen und die Vorherrschaft der Gewerkschaften habe sich gerächt; um Widerstand zu leisten, hätte Severing der Intellekt gefehlt.

Später am Abend kam im größeren Kreise das Gespräch auf den historischen Empfang Hitlers durch Hindenburg am 13. August. Misch erzählte: Es sei nicht richtig, daß die ganze Unterredung im Stehen stattgefunden habe. Zuerst hätten alle gesessen. Klepper fügte hinzu, zwischen Schleicher und Hindenburg sei ein Stichwort verabredet gewesen: sobald Hitler das Wort ›Führung› aussprach, solle Hindenburg ihn unterbrechen: »Also, Sie beanspruchen die alleinige Führung im Staate; die aber kann ich Ihnen nicht übertragen!« und ihn verabschieden. Misch wiederum ergänzte: Ja, in diesem Augenblick sei Hindenburg aufgestanden und habe auf seinen Stock gestützt dagestanden, während Hitler in großer Verwirrung auseinanderzusetzen versuchte, daß er keinen Putsch plane; worauf Hindenburg mit dem Finger gedroht und gesagt hätte: »Herr Hitler, ich schieße!« Damit sei die Unterredung zu Ende gewesen. Jedenfalls eine hübsche Anekdote für spätere Geschichtswerke; vielleicht ist sie sogar wahr.

Berlin. 27. September 1932. Dienstag

Rudi Schröder kam zum Frühstück und blieb bei mir als Wohngast. Ich sprach mit ihm wegen einer Beteiligung Martin Bodmers in Zürich an der Cranachpresse. Nach dem Frühstück kam Goertz, und Schröder las uns dann aus seinen neu übersetzten Horaz-Oden vor. Mit ihm nachmittags zu Helene nach Zehlendorf, von wo uns Goertz im Wagen abholte. Abends aß Ludwig Wolde bei mir mit Schröder. Schröder las wieder vor. Beide sprachen äußerst geringschätzig von Hitler, Schröder geradezu beleidigend. Schröder meinte, Gott sei Dank, daß dieser Schwindel jetzt geplatzt sei.

Berlin. 13. Oktober 1932. Donnerstag

Henry Bidou und Jenny de Margerie nach dem Frühstück die neue Arbeiter-Bank am Märkischen Ufer (Architekt Wurzbach) gezeigt. Bidou, der ein Buch über Berlin schreibt, sehr beeindruckt von der Innenarchitektur des Gebäudes. Ich setzte ihm auseinander, daß die neudeutsche Architektur aus der Arbeiterbewegung hervorgewachsen sei, aus dem neuen Lebensstil des deutschen Arbeiters, der viel Wasser (zum Baden), Licht und Blumen verlange. Wenn man sie nicht in diesem Zusammenhang sehe, könne man sie überhaupt nicht verstehen. Ich sagte ihm: »Une architecture ne s'enseigne pas, eile se produit.«

Berlin. 31. Oktober 1932. Montag

Gide frühstückte bei mir. Er ist ganz erfüllt vom Gedanken an Europa und eine deutsch-französische Versöhnung. Ist aber sehr pessimistisch. Herriots Abrüstungsplan sei nicht ernst gemeint, nur für die Galerie eingebracht und in der Hoffnung, daß er verworfen werde. Und doch sei eine Verständigung zwischen den beiden Völkern, dem deutschen und dem französischen, durchaus möglich (entgegen einigen von mir geäußerten Zweifeln, die mir seit einiger Zeit immer stärker aufsteigen). Deutschland sei Frankreich um dreißig Jahre voraus (Architektur, Volksgesundheit, Sport, Weltanschauung); Berlin auch Paris in bezug auf Theater, Leben usw.

Er brachte mir einen Artikel des ›Journal des Débats› mit, der eine monarchistische Restauration in Deutschland voraussagt, meinte, das sei wohl nur eine Propagandaarbeit, um die französische Bourgeoisie zu erschrecken und für neue Rüstungsausgaben mürbe zu machen, was aber meine Ansicht sei? Ich sagte, in der nächsten Zeit glaubte ich nicht an eine Restauration, auch später scheine sie mir unwahrscheinlich, aber selbst wenn sie käme, würde sie nur kurz sein, die Monarchie könnte in Deutschland nicht dauern, weil die großen Massen des deutschen Volkes durchaus revolutionär und antikapitalistisch seien. Überhaupt sei die Krisis, die wir durchmachten, weniger eine politische als eine ethische und religiöse: sie sei viel umfassender und gefährlicher als eine politische oder selbst eine soziale Krisis. Sie gleiche mehr der Geburt einer neuen Religion und eines neuen Menschen als der einer neuen Staatsform. Gide hörte interessiert zu und stimmte bei.

Berlin. 6. November 1932. Sonntag

Reichstagswahl; die fünfte große Wahl in acht Monaten. Vormittags SPD gewählt. Mittags kamen Max und Uschi zum Frühstück, und wir fuhren nachher im Wagen durch die verschiedenen Stadtteile. Überall das Bild einer fast schläfrigen Sonntagsruhe bei naßkaltem, trübem Wetter. Die Beflaggung im Westen und Zentrum ist sehr dünn, aber die Fahnen, die heraushängen, sind in dieser Gegend fast ausschließlich Hakenkreuz; offenbar hat die Partei einen Befehl herausgegeben, der das Flaggen obligatorisch macht. In Neukölln und Moabit (Wedding) ist reichlicher geflaggt, und hier überwiegen die ›Drei Pfeile› und Hammer und Sichel.

Vom Verkehrsstreik, der andauert, merkt man nur negativ etwas, indem fast keine Straßenbahnen und überhaupt keine Autobusse zu sehen sind. Das Eigenartige an diesem Verkehrsstreik ist, daß die Nazis und Kommunisten zusammengehen, während die sozialdemokratischen Gewerkschaften ihn mißbilligen und abseits stehen. Er hat jedenfalls die Wahlchancen der Nazis verbessert, die der SPD und der Papen-Anhänger (Deutschnationalen) verschlechtert.

Berlin. 7. November 1932. Montag

Die hervorstechenden Resultate der Wahl sind, daß die Nazis fünfunddreißig Sitze (fast zwei Millionen Stimmen) verloren, die Kommunisten stark gewonnen, daß neunzig Prozent der Wähler gegen die jetzige Regierung gestimmt haben und daß Nazis und Zentrum zusammen nicht mehr die Mehrheit haben, sondern die Deutschnationalen brauchen.

Abends mit Jenny de Margerie in einen Vortrag des jungen französischen Schriftstellers Drieu La Rochelle, der ein Buch geschrieben hat ›L'Europe contre les patries›. Der Vortrag, der sich sehr breit mit nebensächlichen Erscheinungen wie Dada, André Breton und Aragon beschäftigte, ziemlich leer. François-Poncet, mit dem ich fortfuhr, war bissig und giftig absprechend. Nachher Souper und Empfang bei Margeries, wo das ganze Personal der Französischen Botschaft, Roger Martin du Gard, Alexandro Shaw, Philippe Barrès (der Sohn von Maurice, jetzt Korrespondent des ›Matin› in Berlin), Helene Nostitz, Gagarin, die Gräfin Redern usw.

Martin du Gard ist berauscht von Berlin, das er zum ersten Mal kennenlernt. Vor allem fasziniert ihn in Berlin die Straße, ›la Rue de Berlin›; die Menschen, die er auf der Straße sehe, wären ganz anders als in Paris, sie hätten Zukunft in den Augen. In Deutschland werde der neue Mensch, der Mensch der Zukunft geschaffen. Der Russe sei zu weit von Europa entfernt, zu wenig Individuum; der Westen, Frankreich, England und Amerika, hätten nicht den Idealismus, den inneren Auftrieb, der zu einer Neuschöpfung nötig sei. In Deutschland werde der Mensch entstehen, der die Synthese zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Individualismus und Sozialismus verkörpern werde.

Er sagte, er lehne hier alle gesellschaftlichen Einladungen ab, studiere nur die Straße, namentlich im Norden und Osten. Gide, mit dem er eng befreundet ist, sei jetzt auch ganz beherrscht von seinem Interesse für Deutschland, nachdem er eine Zeitlang nach Westen, nach England, geblickt habe; aber jetzt habe er sich dem Osten zugewendet, Deutschland und darüber hinaus Rußland. Aber in Rußland täusche er sich. Deutschland sei das Land der Zukunft. Martin du Gard ist auch von der Schönheit der deutschen Rasse sehr beeindruckt; die schönen jungen Menschen und jungen Mädchen; ein Wiederaufleben von Griechenland. Nachher längere Konversation zu vieren zwischen ihm, François-Poncet, Shaw und mir.

Shaw hat heute mit Papen gefrühstückt. Bei Papen sei er sich noch nicht im klaren, ob er bloß leichtsinnig oder auch noch bis zu einem gewissen Grade fähig sei. Aber sein Eindruck sei doch der des überwiegenden Leichtsinns; ein Klubmensch, dem es immer gut gegangen sei und der sich gar keine Vorstellung von wirklichen Schwierigkeiten mache. Vom Ausgang der Wahlen habe er sich befriedigt gezeigt und Shaw nach seinem Eindruck von Deutschland gefragt. Er, Shaw, habe geantwortet: Deutschland komme ihm vor wie ein großes, mit den modernsten Instrumenten ausgestattetes chemisches Laboratorium, wo alles auf das beste organisiert sei; nur gebe es in diesem Laboratorium zwei oder drei kleine Retorten, mit denen er nicht hantieren möchte, weil sie das ganze Gebäude in die Luft sprengen könnten. Papen habe darauf bloß gelacht. Brüning, den Shaw ebenfalls gesprochen hat, sei dagegen sehr besorgt gewesen; er fürchte zwar keinen Gesamt-Putsch, aber sehr ernste lokale Aufstände.

Poncet wendete sich gegen das Kriegsgeschwätz in Frankreich, das unsinnig, aber aus der logischen Mentalität der Franzosen zu erklären sei. Der Franzose sei noch immer Cartesianer und könne sich nicht vorstellen, daß aus den gleichen Ursachen nicht die gleichen Wirkungen folgen müßten. Weil heute in Deutschland die Männer von 1914 an der Macht seien, folgere er logisch, daß auch die gleichen Ereignisse wie 1914 eintreten müßten. Aber die Weltgeschichte wiederhole sich nicht.

Philippe Barrès, der ein großer, langer schwarzer Kerl ist, der seinem Vater ähnlich sieht, natürlich Nationalist, sagte mir, er stehe in enger Verbindung mit den Leuten vom Scherl-Verlag, die mit dem ›Matin‹ geschäftliche Arrangements hätten.

Berlin. 14. November 1932. Montag

Abends Feier der Genossenschaft deutscher Bühnenangehörigen für Gerhart Hauptmann in der Ausstellungshalle am Kaiserdamm. Es müssen an die zehntausend Menschen gewesen sein. Nach sehr mittelmäßigen Reden von Sahm, Zuckmayer und dem alten Wallauer und einer ergreifend schönen Aufführung des Schlusses der ›Götterdämmerung‹ mit der Leider als Brünhilde sprach Hauptmann schön, bescheiden und zu Herzen gehend. Es folgte die große Ansprache des Hans Sachs aus dem dritten Akt der ›Meistersinger‹ und dann ein ungeheurer, beängstigender Sturm der Menge auf Hauptmann, der durch eine Kette von Saalbeamten geschützt und hinausgebracht werden mußte.

Berlin. 15. November 1932. Dienstag

Nachmittags bei Max Reinhardt in Bellevue und ihm von meinem Stück gesprochen und meinem Wunsch, Frau Thimig für die Rolle der Großfürstin zu gewinnen, weil sie die einzige Schauspielerin sei, die gleichzeitig die strahlende Reinheit des Herzens und die große Dame glaubhaft machen könne. Er war vom Sujet, das er übrigens kannte, sehr eingenommen, sagte, der Sturz des Zarentums schreie geradezu nach einem Shakespeare, auch für die Regie von höchstem Reiz. Er schlug vor, ich solle die fertigen Szenen am Freitag nachmittag um sechs ihm und Frau Thimig vorlesen. Außerdem habe er einen jungen Schauspieler Clausen, der für die Rolle des Kaliajeff wie geschaffen sei. Ich müßte ihn mir im ›Prinzen von Homburg‹ ansehen. Ich bat ihn, auch Clausen zur Vorlesung heranzuziehen. Der Anfang ist also aussichtsreich. Namentlich da Reinhardt noch hinzufügte, was dem Berliner Theater fehle, seien die Dramatiker und das Publikum; es sei ein wundervolles Instrument, wie es in solcher Vollendung vielleicht noch nie dagewesen sei; aber niemand wolle es benutzen.

Abends Festvorstellung von ›Gabriel Schillings Flucht‹ im Staatstheater, zu der die Reichsregierung eingeladen hatte. Hauptmann mit Bracht und Grete Hauptmann in der Ersten-Rang-Proszeniumsloge, in der früheren Hofloge alle Botschafter, Rumbolds, François-Poncets usw. mit dem Reichsinnenminister Gayl und seiner dicken Frau, in den Rängen und im Parkett Leuchten der Politik, Kunst und Literatur. Ich hatte einen Platz in der zweiten Reihe des Parketts hinter Einsteins, Kardorffs, Heinrich Mann; neben mir Hugo Simon, in der Reihe dahinter Nostitzens; auf der andren Seite neben mir Fulda und Seeckt.

Das Stück wirkt veraltet, das Problem geht uns nichts mehr an. Albert Einstein antwortete Simon, der sich in der Pause nach dem ersten Akt zu ihm vorbeugte und fragte, wie er das Stück fände: »Na, wenn schon!«, die treffendste Formulierung des Gefühls, das es auslöst! Selbst Lady Rumbold, die eher Edwardian ist, sagte mir nach Schluß, das Stück habe auf sie einen veralteten Eindruck gemacht, solche Probleme interessierten heute nicht mehr, wir hätten ›other sorrows‹. Aber die Aufführung war bis auf Werner Krauß, der in der Hauptrolle versagte, quallig und oberflächlich war, hervorragend; und die Bergner wirkte auf mich als der russische Vamp Hannah Elias wie eine ganz große Künstlerin, mit der Duse vergleichbar, obwohl ich sie bisher nie gemocht habe.

Die ganz große Tragikomödie spielte sich aber außerhalb und diesseits der Bühne ab, der Streit zwischen der rechtmäßigen und der kommissarischen preußischen Regierung, welche von beiden heute Hauptmann die große goldene Staatsmedaille zu überreichen das Recht hätte. Heute früh hat ihm die rechtmäßige Regierung Braun im Hotel Adlon die Urkunde (allerdings ohne Staatssiegel, das die kommissarische Regierung verwahrt) überreichen lassen; heute abend nach Schluß der Vorstellung wurde ein ganz kleiner Kreis von Leuten in den winzigen Teesalon der Kaiserin geladen, um zuzusehen, wie die kommissarische Regierung ihm die Medaille selbst und eine zweite mit Siegel versehene Urkunde überreichte. Statt auf der Bühne vor sämtlichen geladenen Gästen, was das Natürliche und eigentlich Selbstverständliche gewesen wäre, wurde vor dieser zweimal gesiebten Auslese von höchstens dreißig bis vierzig Menschen, offenbar aus Angst vor Störungen, diese sonderbare Zeremonie von Bracht vorgenommen. Ich stand dabei neben Schillings und Helene Nostitz, etwas weiter der alte Sam Fischer mit Frau und Familie. Von den großen Berühmtheiten, die den Saal geziert hatten, war, soweit ich sehen konnte, keiner anwesend.

Bracht las von einem getippten Manuskript, das vor ihm auf dem Tisch lag, mit einem Auge die gewundene Rede ab, wobei er sich die Hände wusch und in halb devoter Haltung Bewunderung für den Meister markierte, eine für einen wenn auch nur auf Abruf diktatorische Funktionen in Anspruch nehmenden Herrn höchst subalterne Gestalt, in Haltung und Ton etwa wie die des Bürgermeisters von Elsterwerda, wenn er den Landesfürsten an der Dorfgrenze empfängt. Man merkte ihm die Verlegenheit und das nicht ganz reine Gewissen in jeder Bewegung seiner Schultern und Hände an. Damit das Satyrspiel nicht fehle, schloß er, der Hauptschuldige neben Papen an dem Wirrwarr und der unerhörten Spaltung in Preußen, mit dem Zitat von Hauptmann: ›Der deutschen Zwietracht mitten ins Herz!› Hier hätte es im großen Saal selbst aus dieser Versammlung erlauchter Gäste nicht an einer gewissen merkbaren Bewegung gefehlt, und deshalb war es ganz weise, daß Bracht seine Rede nur vor einer allerkleinsten Korona hielt. Hauptmann antwortete taktvoll und diplomatisch.

Nachher war Souper und Nachfeier im »Adlon«, wo Max Reinhardt, Theodor Wolff, Jessner, Hermann-Neiße, mit dem und Hugo Simon ich an einem kleinen Tisch saß. Hauptmann ging noch in eine Nachtvorstellung von »Michael Kramer« und kehrte erst nach eins zurück. Ich verabschiedete mich um halb drei, während alles noch im vollsten Gange war. – Vorher noch länger mit Hauptmann gesprochen, der überglücklich und sehr frisch schien. Benvenuto war nicht zu sehen, dagegen Ivo mit seiner netten Frau und seinem Sohn Harro, einem hübschen blonden achtzehnjährigen Jungen, der noch in Salem auf der Schule ist. Auch Binding wiedergesprochen, den ich seit unserer gemeinsamen Studentenzeit nicht gesehen hatte.

Berlin. 17. November 1932. Donnerstag

Frühstück bei Hugo Simon mit Ivo Hauptmann und einem Herrn v. Bülow, einem Neffen des früheren Reichskanzlers, der bei Krupp ist oder war. Ivo erzählt, daß der preußische Ministerialdirektor Badt heute früh bei seinem Vater war und ihn in ziemlich zudringlicher Weise bestürmt hätte, öffentlich für die rechtmäßige preußische Regierung einzutreten. Gerhart Hauptmann habe abgelehnt, weil er sich prinzipiell nicht in die Tagespolitik einmischen wolle.

Abends mit Max und Uschi in die Vorstellung des ›Prinzen von Homburg‹ im Deutschen Theater, zu der mir Max Reinhardt Karten geschickt hatte, damit ich Clausen sehe, der für die Rolle des Kaliajeff in Frage kommt. Er spielte den Prinzen temperamentvoll mit blauen Augen und goldblondem Haar, aber ohne Zwischentöne, ohne Charme, das Verträumte, Jenseitige der Figur trat ganz zurück hinter Ausbrüchen, die nichts Gestaltendes hatten. Altes Hoftheater und Unreife. Ich sehe ihn noch nicht als Kaliajeff.

Berlin. 18. November 1932. Freitag

Papen ist gestern abend zurückgetreten mit dem gesamten Kabinett. Endlich! Dieser ewig lächelnde, leichtsinnige Dilettant hat in sechs Monaten mehr Unheil angerichtet als in so kurzer Zeit irgendein Kanzler vor ihm. Am schlimmsten ist vielleicht, daß er den alten Hindenburg heillos bloßgestellt hat.

Abends gegen sechs ging ich mit Max nach den ›Kammerspielen‹ zu Reinhardt in sein Büro und las ihm und Helene Thimig den ersten Akt und den Anfang des zweiten meines Stückes vor. Reinhardt nahm das Stück an unter dem Vorbehalt, daß er es noch seinen beiden Direktoren vorlegen müsse; er zweifle aber nicht daran, daß auch sie es auf seine Empfehlung hin annehmen würden. Sie hätten auch noch genügend Platz dafür auf ihrem Spielplan im nächsten Frühjahr, da sie bisher erst ein paar Stücke angenommen hätten. Er fand die zweite Szene des ersten Aktes ausgezeichnet; die einzige Kritik, die er aussprach, war gegen die Sprache Kaliajeffs in der ersten Szene gerichtet; er fand, was er sagt, richtig, nicht aber, wie er es sagt. Die Form sei zu rhetorisch, zu gebunden, die Sätze zu abgerundet; so hätten die Revolutionäre zur Zeit der großen Französischen Revolution gesprochen, heute sprächen sie anders, kürzer, sachlicher, unrhetorischer. Ich machte zwar den Einwand, daß gerade Kaliajeff tatsächlich so gesprochen habe, war aber innerlich gleich überzeugt, daß Reinhardt dramatisch und theatralisch recht hat. Ich muß die Szene umarbeiten.

Ich sagte Reinhardt zu, das Stück bis etwa Ende Januar fertigzustellen. Frau Thimig schien von ihrer Rolle (der der Großfürstin) stark gepackt. Auf meine direkte Frage antwortete sie, sie würde sie sehr gern spielen. Wegen Clausen äußerte Reinhardt selbst, nachdem er die erste Szene gehört hatte, Zweifel, ob er der richtige Mann für die Rolle sei. Frau Thimig meinte, er habe gar kein Fluidum (was gerade für den Kaliajeff unentbehrlich ist). Reinhardt blieb aber doch dabei, daß Clausen nach seiner Meinung der einzige unter den jungen Schauspielern sei, der Aussicht auf eine große theatralische Laufbahn habe.

Berlin. 2. Dezember 1932. Freitag

Heute ist Schleicher von Hindenburg mit der Regierungsbildung betraut worden. Endlich ist das Gespenst Papen, das bis zuletzt drohte, verscheucht worden. Es ist vom Ekel des deutschen Volkes ausgespien worden, zur tiefen Betrübnis des alten Hindenburg.

Berlin. 23. Dezember 1932. Freitag

Ich ging zu Ullsteins und sprach mit Kuli, der die ersten hundert Seiten meines Manuskripts gelesen hat, ebenso wie Schaeffer. Er sagte, er sei ›entzückt‹, ebenso ließ mir Schaeffer telephonisch ähnliches sagen. Kuli: Ullsteins seien im Prinzip mit der Annahme des Werks für ihren Verlag einverstanden. Als er mir eine Proposition machen wollte, hielt ich ihn auf und sagte, über das Materielle verhandelte ich persönlich nicht gern; ich werde einen Vertreter schicken. Ich sagte Kuli, ich glaubte, daß ich das Material nicht in einem Bande zusammenfassen könne, es würden wohl zwei nötig sein. Er war auch hiermit einverstanden.


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