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1921

Genf. 11. Januar 1921. Dienstag

Die Presse, auch die deutschfeindliche ›Suisse Tribune‹, ist für mich ausgezeichnet. Abends Vortrag (englisch) in der Internationalen Frauenliga (Miß Balch). Viele Leute von den beiden Völkerbundsekretariaten. Sehr interessante Debatte. Kontinentalpolitik (Europa) wurde vom Engländer Lloyd empfohlen; auf meine Frage antwortete er, er rechne England zu Europa. Europa sei für England mächtiger als das britische Weltreich.

Berlin. 4. Februar 1921. Freitag

Premiere des ›Joseph‹ unter Straußens Leitung. Ungeheurer, fast unerhörter Erfolg. Der Saal ein wahres ›Tout Berlin‹; der Reichskanzler, Simons, Seeckt, viele Minister, alle gesellschaftlichen, künstlerischen, literarischen Spitzen, Albert Einstein usw. usw. Der Applaus am Schluß wollte nicht enden. Wir mußten immer wieder heraus. Die Durieux über alles Lob erhaben. Nachher bei Felix Deutsch.

Berlin. 9. Februar 1921. Mittwoch

Bei Colonel Roddie von der Englischen Botschaft im ›Adlon‹ gegessen. Außer mir lauter Engländer von der Botschaft oder Militärmission. Roddie gilt, wie mir Schubert sagt, als Vertrauensmann Lloyd Georges. Er sagte mir, die Pariser Beschlüsse würden uns nicht zur Unterzeichnung diktiert, sondern nur als einseitige Feststellung der Alliierten mitgeteilt werden. Er habe das von d'Abernon.

Berlin. 10. Februar 1921. Donnerstag

Lehmann-Rußbüldt fragte früh bei mir an, ob ich im Auftrage einer Pazifistengruppe mit Albert Einstein nach Amsterdam fahren wolle, um dort wegen der Pariser Beschlüsse mit dem Internationalen Gewerkschaftsbund in Fühlung zu treten. Zu den Auftraggebern gehören Eduard Bernstein, Gerlach, Walther Rathenau, Heinrich Ströbel, Hugo Simon usw. Also ›Bund Neues Vaterland‹. Ich sagte, ich würde es nur tun, wenn Simons zustimme und es wünsche.

Amsterdam. 14. Februar 1921. Montag

Früh in Bentheim Grenzkontrolle. Einstein, der zum ersten Male, wie es schien, Schlafwagen fuhr, sah sich alles äußerst interessiert an.

Im Zuge fragte ich Einstein, ob die astronomischen Folgerungen seiner Relativitätstheorie sich auf das ebenfalls gewissermaßen astronomisch konstruierte Atom anwenden ließen? Einstein verneinte dieses mit der Begründung, da spiele doch die Dimension (die Kleinheit des Atoms) eine Rolle. Ich sagte, dann sei die Dimension, das Maß, Größe und Kleinheit, etwas Absolutes, ja fast das einzige Absolute, was übrigbleibe. Einstein bejahte dieses, in der Tat sei die Dimension das Letzte, Absolute, über das man nicht hinauskomme. Er wundere sich, daß ich gerade darauf gekommen sei; denn es sei das tiefste Geheimnis in der Physik, diese Unerklärbarkeit und Absolutheit der Dimension. So sei jedes Eisenatom mit jedem andren Eisenatom genau gleich groß, woher im Weltall es auch immer stamme, während der menschliche Geist sich doch beliebig verschieden große Atome vorstellen könne. Doch in der Natur existierten nur genau gleich große Eisen- oder Wasserstoffatome.

Ich sagte scherzend, der Mensch sei also intelligenter als Gott, Gott sei dumm, ja die Dummheit, der Mangel an menschlicher Intelligenz sei eigentlich das einzige, was wir mit Bestimmtheit von Gott aussagen könnten. Der Mensch mit seiner unerschöpflich bunten Phantasie und Intelligenz ruhe in Gott wie die Perle in der Auster. Gott sei so alt, er brauche keine Intelligenz mehr. Einstein erwiderte, im Gegenteil, je tiefer man in die Natur eindringe, um so mehr Respekt bekomme man vor Gott. (Was im übrigen meinem Scherz nicht widerspricht; denn wozu sollte auch ›Gott‹ Intelligenz brauchen?)

In Amsterdam um zwölf angekommen. Eindruck einer patrizierhaften, sehr belebten mittleren Großstadt. Viel Stil und Behäbigkeit. Das ›Bourgeoise‹, das Bürgerliche, ist hier das Selbstverständliche. So auch beim Internationalen Gewerkschaftsbund, bei dem wir um drei vorsprachen. Er besitzt ein patrizierhaftes, hübsches Haus in einer vornehmen, ruhigen Wohnstraße, etwa im Stil eines gut praktizierenden Arztes oder Rechtsanwalts. Vornehmer Eingang, gute alte, etwas dunkle Möbel, bunte Glasfenster, Perserteppiche.

Fimmen, der uns empfing, bekam während unseres Besuches eine packend schöne gotische Holzfigur etwa aus dem 15. Jahrhundert (flämisch-burgundisch) zurück, die er vor einigen Tagen gekauft und zum Reparieren geschickt hatte. In seinem Arbeitszimmer steht ein prachtvoller, geschnitzter altniederländischer Schrank. Er ist Sammler, seine ›Leidenschaft‹, wie er sagte. Im übrigen ein Riese mit blondem Haarschopf, der in Arbeiterversammlungen als Genosse großen Eindruck machen muß. Sehr selbstbewußt und anscheinend klug und vorsichtig.

Ich trug ihm unsere Lage vor. Er unterbrach mich aber gleich und sagte, wir wollten doch lieber am andren Ende anfangen, bei dem, was wir wünschten. Ich sagte, unsere Wünsche gingen dahin, die Reparationsfrage aus dem engbegrenzten deutsch-französischen Rahmen herauszunehmen und wieder zu einem Teil zu machen des großen Problems des Weltwirtschafts-Wiederaufbaus oder zum mindesten des Wiederaufbaus Europas mit Einschluß von Rußland. Denn nur auf diesem breiteren Boden sei sie lösbar. Daher müßten Wirtschaftler und nicht bloß Politiker über sie beraten und sie auch in letzter Instanz entscheiden. Hierbei müßten auch die organisierten Arbeiter in maßgebender Weise herangezogen werden. Fimmen gab mir zu, daß ich theoretisch vollkommen recht hätte. Aber praktisch fehle dem Internationalen Gewerkschaftsbund die Macht, diese Forderungen im gegenwärtigen Augenblick, vor allem bei der Kürze der Zeit bis zum 1. März (Londoner Konferenz), durchzusetzen. Sie könnten bis dahin nicht einmal die nationalen Führer (Jouhaux, Thomas usw.) zu einer Konferenz zusammenbringen. Auch sei der Moment für eine Machtprobe der Arbeiterschaft sehr ungünstig, weil überall Arbeitslosigkeit herrsche. Die Unternehmer und Regierungen würden gar keine Angst vor einem Generalstreik haben. Bei aufsteigender Konjunktur würde das anders sein. Schließlich sei die Arbeiterschaft überall auch politisch gespalten.

Ich sagte, wenn sie keine Machtprobe machen wollten, sollten sie wenigstens ihren Anspruch anmelden, wie die katholische Kirche bei jeder Gelegenheit es tue. Fimmen meinte, die Kirche sei ein jahrtausendealtes Institut; der Internationale Gewerkschaftsbund erst eine sehr junge Firma, der man noch kein solches Vertrauen entgegenbringe und die erst ihre Lebensfähigkeit erweisen müsse. Die Hauptsache sei für sie vorläufig, daß sie nicht wieder auseinanderginge. Sie müsse sich erst Ansehen gewinnen, nicht Ansehen verlieren in einem ergebnislosen ›beau geste‹. Ja, wenn die französische Arbeiterschaft mächtig wäre, läge die Sache anders; sie sei aber ganz machtlos. In England stehe wiederum die Arbeiterschaft durch die Labour Party in enger Verbindung mit der Regierung, sei daher schwer gegen diese ins Feld zu führen.

Dagegen versprach Fimmen, den Versuch zu machen, zwei Dinge durchzusetzen: einmal, das Internationale Arbeitsamt in Genf dazu zu bringen, seinen Anspruch anzumelden, in London gehört zu werden; und sodann die Heranziehung von Arbeitervertretern bei den englischen und französischen Delegationen in London. Auch in Livorno beim italienischen Gewerkschaftskongreß würde er etwas in unserem Sinne in Form einer Resolution zu erreichen suchen. Im übrigen könnten wir beruhigt sein, daß er und Oudegaast alles tun würden, um uns Deutschen und den deutschen Arbeitern zu helfen. Voraussetzung sei, daß er möglichst schlagendes Material über die Lage in Deutschland und die voraussichtliche Wirkung der Pariser Beschlüsse so bald wie möglich erhalte. Keine dicken, gründlichen Untersuchungen, die niemand lese, sondern kurze, schlagende Ziffern. Ein Muster solcher gut verwendbaren, überzeugenden Darstellung sei Walther Rathenaus Artikel im ›Berliner Tageblatt‹ über ›Arbeitsschrecken‹. Fimmen ließ dann noch Tee servieren, zeigte das Haus, machte etwas den großen Herrn und lud uns ein, abends mit ihm und Oudegaast im Weinrestaurant Pollmann zu essen.

Bei Pollmann Oudegaast kennengelernt, der das Hauptgewicht auf den Rat legte zu unterzeichnen, was von uns verlangt werde, und es dann zu interpretieren. Briand und Lloyd George wüßten ebensogut wie wir, daß das Verlangte unmöglich sei. Briand wolle nur seine öffentliche Meinung und die Kammer beruhigen. Dieses sei auch nötig; sonst komme Poincaré, und das sei das Ende Europas.

Oudegaast ist älter und macht einen viel mehr politikerhaften Eindruck als Fimmen, der moderner erscheint. Oudegaast betonte auch, daß er im Gegensatz zu Fimmen an die Wirksamkeit ökonomischen Druckes ohne politische Macht nicht glaube. Die Politik sei der Schlüssel auch zur ökonomischen Macht. Oudegaast gehört offenbar einer etwas älteren Generation an als Fimmen.

Amsterdam. 15. Februar 1921. Dienstag

Früh mit Einstein im Reichsmuseum. War von der ›Nachtwache‹ zuerst enttäuscht und dann überwältigt, völlig sprachlos vor Erregung. Diese Nähe des Märchens, des Wunders im Alltäglichen sonst nur noch bei Dostojewski.

Berlin. 20. Februar 1921. Sonntag

Mittags gefrühstückt beim General Malcolm mit Lord und Lady d'Abernon. Nach dem Frühstück führte Malcolm d'Abernon und mich ins Rauchzimmer und ließ uns allein.

Ich entwickelte d'Abernon, daß wir nach meiner Ansicht fast ebensoviel Interesse wie Frankreich am Wiederaufbau Nordfrankreichs hätten, daß aber für England der Wiederaufbau der Kaufkraft Deutschlands und Osteuropas ebenso oder noch wichtiger sei. Auch die Reparationsfrage sei nur in diesem Zusammenhange zu lösen. Solange Deutschland so elend und arm sei, könne es wenig oder nichts zahlen. Wieviel es überhaupt zahlen könne, hänge ganz davon ab, wie stark seine Kaufkraft und Wirtschaft im ganzen wieder gehoben würden. Beide Fragen, die Frage der Wiedergutmachung und die der Wiederherstellung der deutschen Kaufkraft, seien meines Erachtens unlösbar verbunden. Wir könnten die Summe, die wir zu zahlen imstande seien, überhaupt irgendeine Summe, erst nennen, wenn wir wüßten, ob und wie unserer Wirtschaft geholfen werden solle. Dieses sei eine unerläßliche und untrennbare Vorbedingung für jenes.

D'Abernon sagte, dieses Argument sei wesentlich anders, als was man bisher von deutscher Seite gehört habe. Dieses scheine ihm eine mögliche Basis für die Londoner Verhandlungen.

Berlin. 21. Februar 1921. Montag

Mittags bei Simons, der gestern aus Süddeutschland zurückgekehrt ist. Ich berichtete ihm über mein gestriges Gespräch mit d'Abernon. Simons meinte, dieser Konnex der deutschen Wiedergutmachungszahlungen mit der Hilfe der Alliierten für die deutsche Wirtschaft sei nichts Neues, im Gegenteil, der Gesichtspunkt, unter dem die Brüsseler Konferenz berufen worden sei. Brüssel sei aber durch Paris sabotiert worden, und jetzt wolle d'Abernon offenbar zu Brüssel zurück. Er betreibe dieses scheinbar mit großer Energie, denn er habe sich heute morgen bei ihm, Simons, zu heute nachmittag angesagt, wahrscheinlich, um ihm das zu wiederholen, was er gestern mir gesagt hat. Simons meinte aber, wir hätten eher ein Interesse daran, nicht zu schnell mit den Engländern eins zu werden, wenigstens zu warten, bis die Amerikaner mit in die Kombination hineinkämen. Auch würden die Franzosen furchtbar schreien, wenn wir unsere Leistungen von Gegenleistungen abhängig machen. Aber ungefähr so denke auch er sich die Verhandlungen in London.

Genf. 26. Februar 1921. Sonnabend

Um sechs bei Albert Thomas in seiner Privatwohnung. Ich legte ihm meinen Standpunkt dar, den ich als den auch von Gerlach, Breitscheid, überhaupt der Linksparteien Deutschlands bezeichnete: Ehrliche Anerkenntnis der Zahlungspflicht Deutschlands, in Deutschlands eigenem wirtschaftlichen Interesse, da Deutschland den wirtschaftlichen Wiederaufbau Frankreichs brauche; aber Verurteilung der Pariser Beschlüsse, weil sie die Frage, wie Frankreich sein Geld erhalten solle, ganz aus dem Auge ließen, politische und militärische Gesichtspunkte in den Vordergrund rückten, statt den technisch-wirtschaftlichen Maßnahmen die Hauptaufmerksamkeit zu schenken. Deshalb sei er als Direktor des Internationalen Arbeitsamts und als einer der Hauptfunktionäre des Völkerbundes legitimiert und verpflichtet einzugreifen, ehe es zu spät sei. In vierzehn Tagen könne Foch an der Ruhr stehen; die Lage sei ähnlich gefährlich und furchtbar wie im Juli 1914. Jeder müsse seine Pflicht tun.

Thomas begann, offenbar etwas verlegen, daß er einen ›großenTeil‹ meiner Ansichten teile. Aber Simons habe durch seine Reden in Süddeutschland ›coupé les bras‹ denen, die heute noch etwas tun möchten. Er sehe nicht, wie man im Augenblick eingreifen könne. Briand werde stürzen, wenn er in London die geringste Konzession mache. Poincaré sei ›d'une activité trépidante‹ und warte nur auf Anzeichen von Nachgiebigkeit Briands.

Offenbar sind Briand und Leute wie Thomas von Poincaré terrorisiert. Ich sagte, selbst wenn Deutschland in London unterzeichne, stehe das Abkommen auf recht schwachen Beinen, nämlich auf der Annahme, daß die jetzige militärische und politische Situation, die Übermacht Fochs, zweiundvierzig Jahre anhalten werde. Das sei aber absurd. Was wir gemeinsam wollen müßten, sei, die Wiedergutmachung für Frankreich auf solide Beine stellen, nämlich auf ein von Frankreich und Deutschland und der ganzen Welt mit Einschluß der Arbeiterschaft als vernünftig und vorteilhaft angenommenes freiwilliges Übereinkommen.

Thomas wurde sichtlich sicherer und zustimmender. Er arbeite in diesem Sinne schon seit acht Tagen. Jetzt eben komme er aus Paris, habe mit Briand gesprochen. Ich sagte, dann müsse er aber doch sehen, daß diese Sache vor den Völkerbund gehöre (gemäß Artikel 3 und 11) und daß er als Leiter des Arbeitsamts die Zuziehung der internationalen Arbeiterschaft fordern müsse.

Ich erkenne als Hauptrichtlinien des Thomasschen Denkens: 1. Gefühl der Machtlosigkeit (relativ) des Völkerbundes und der Arbeiterschaft. 2. Furcht vor dem Sturz Briands und der Machtergreifung Poincarés. 3. Erkenntnis der unzuverlässigen Grundlagen der Pariser Beschlüsse und eventueller Londoner Diktate (Veränderlichkeit der militärischen und politischen Machtverhältnisse). 4. Mißtrauen gegen die öffentliche Meinung in Deutschland, gestärkt durch Simons' Redefeldzug. (Er sagte mir: Simons komme ›dans de bien mauvaises conditions‹ nach London; er habe seinen persönlichen Kredit, der sein bester Trumpf gewesen sei, durch seine ›hetzerischen‹ Reden so gut wie aufgebraucht. Ich suchte ihn natürlich zu beruhigen und aufzuklären.) 5. Dämmernde Einsicht in die Notwendigkeit, für ihn persönlich und für die Arbeiterschaft, einzugreifen. 6. Große Angst vor diesem Eingreifen: Umsehen nach einer Rückenstärkung. 7. Angst auch vor dem Chaos, das Fochs Einmarsch zur Folge hätte.

Gut, daß ich gleichzeitig auch an Branting schreiben lasse, um vielleicht den Staat Schweden als Bundesmitglied des Völkerbundes mobil zu machen gemäß Artikel 3 und 11. Schließlich kommt doch vielleicht eine Gruppierung zustande, die Lloyd George und Briand und Thomas den Rücken genügend wärmt und stärkt, damit sie ihren wilden Leuten gegenüber Mut zeigen. Was fehlt, ist heute auch bei den Gegnern nicht die Erkenntnis (siehe auch d'Abernon), sondern der Mut, das heißt die Bereitwilligkeit, ihre Stellung zu opfern, genau wie unseren ›Staatsmännern‹ von Wilhelm II., Bülow und Bethmann. Dreiviertel aller Katastrophen, der großen und der kleinen, entspringt aus Feigheit. Die Feigheit ist die subtilste und die tragischste aller menschlichen Eigenschaften, der allgegenwärtige Kitt und zugleich Sprengstoff der menschlichen Gesellschaft. Der Mensch ist Mensch durch Feigheit, er ist aber nur Mensch, auch durch Feigheit.

Ravenna. 14. Mai 1921. Sonnabend

San Vitale: überwältigender Eindruck majestätischer Großräumigkeit auf kleiner Fläche. Das Geheimnisvolle des überirdisch Fürstlichen. Darin mischt sich die Melancholie des einsickernden Wassers, grünen, durchsichtigen Sumpfwassers, das nixenhaft Teile des Fußbodens, der Mosaiken bedeckt.

Grabmal des Theoderich. Mächtig, viereckig (tête carrée), etwas Hindenburg. Denkmal des frühesten germanischen Militarismus und des ersten Versuchs, eine germanische Weltmonarchie, die später als Reich Karls des Großen gelang, aufzurichten.

Nachmittags auf Däublers Rat nach Porto Corsini, wo zwar wenig, das an das klassische Italien erinnert, aber eine unbeschreiblich zarte und blaue See, die abends irisierend märchenhaft wurde.

Würdeloses Grabmal Dantes. Dagegen schönes, giotteskes Freskobildnis daneben in San Francesco, sehr jugendlich und idealisiert, aber so, wie er der Beatrice gegenübergetreten sein könnte. Daneben Fragment einer herrlichen giottesken Kreuzigung.

Ravenna. Rimini. 15. Mai 1921. Pfingstsonntag

Ganz früh vor der Abfahrt noch einmal San Vitale besucht. Noch stärker als gestern erschüttert von der Gesamtwirkung in ihrer grandiosen und bis ins Feinste (Licht, Farbe) gehenden Einheitlichkeit.

Auf dem Wege nach Rimini Halt bei Sant' Apollinare in Classe; sehr gestört von zwei unermüdlich schwatzenden Kustodinnen. Die gewaltige Raumwirkung packt aber unwiderstehlich. Als das Licht durch Alabasterfenster golden einfiel wie in der Grabkapelle der Galla Placidia und alles vielfarbig und mit Mosaiken bedeckt war, muß die Wirkung mystisch hoheitsvoll gewesen sein.

Wenn man diese Basilika (eine der reinsten und schönsten) mit Santo Spirito von Brunelleschi in Florenz vergleicht, so erkennt man, daß an die Stelle der Pracht der Geist und an die Stelle des Mystisch-Zeremoniellen die Musik der Rhythmen beim großen Florentiner getreten ist. Sant' Apollinare muß den Geist wie ein Opiumrausch umnebelt haben, als es in seiner geheimnisvollen Großräumigkeit und Beleuchtung vollendet war. Santo Spirito befreit den Geist zu neuen Taten. Aber trotzdem bleiben San Vitale und Sant' Apollinare höchste Kunstwerke, denen gegenüber von einer ›Dekadenz‹ der spätrömischen Kunst (im Sinne eines Kunstverfalls) zu reden geradezu unsinnig ist. Im Gegenteil: Die römische Kunst hat gerade hier vielleicht erst ihren eigenen, einzigen Höhepunkt erreicht, nicht unter Augustus, wo sie zum größten Teil nur eine Adaptation der griechischen war.

In Rimini enttäuschte mich der Tempio Malatestiano von L. B. Alberti (1450), eine Bastardgeburt aus Gotik und Frührenaissance, ohne jeden eigenen Reiz.

Nachmittags im Auto zurück nach Bologna, da man uns abriet, nach San Marino hinaufzufahren, weil dort ›Bolschewisten‹ hingeflüchtet seien, die Autos anhielten und erst vor wenigen Tagen einen Arzt aus Rimini erschossen hätten. Sonst ist heute trotz des Wahltages alles überall ganz ruhig.

Die zwei großen Knicke in der Geschichte des Christentums: seine Erklärung zur Staatsreligion durch Konstantin mit der Folge, daß es den ganzen Pomp des römischen Kaiserreiches übernahm (Ravenna), und das Auftreten Franz von Assisis, wodurch wenigstens etwas von Christi Geist in die Welt eindrang (Assisi). Ravenna und Assisi die beiden großen, weltgeschichtlichen Gegenpole.

Rom. 10. Juni 1921. Freitag

Früh im Vatikan bei Monsignore Giuseppe Migone, Privatsekretär und Vertrautem des Papstes. Ich hatte eine Empfehlung für ihn vom jungen Bartolomeo Migone in Florenz. Er kannte meine ›Richtlinien‹, die ihm Bartolomeo Migone auf italienisch geschickt hatte. Will mich beim Papst zu einer Audienz anmelden und empfahl mir, Monsignore Cerretti zu besuchen, der die auswärtigen Angelegenheiten im Kardinal-Staatssekretariat bearbeitet und in der nächsten Zeit als Nuntius nach Paris geht. Er will mich auch bei Cerretti anmelden. Migone erklärte sich mit meinen Ideen einverstanden, namentlich mit der von mir betonten Notwendigkeit, ein Gegengewicht gegen den überschäumenden, die Kultur mit dem Untergange bedrohenden Nationalismus zu schaffen. Er stimmte zu, daß an dieser Aufgabe, als Ausgleich und Gegengewicht zu wirken, auch das Papsttum und die katholische Kirche sich beteiligen müßten.

Rom. 11. Juni 1921. Sonnabend

Vormittags um elf im Vatikan bei Monsignore Cerretti, dem Migone mich vorstellte. Cerretti ist, wie Migone mir sagte, der Hauptmitarbeiter des Kardinal-Staatssekretärs Gasparri in der internationalen Politik und geht im Juli als Nuntius nach Paris. Ich hatte den Eindruck eines hellen matter-of-fact-Italieners, eines lebhaften, fest zupackenden Realisten mit einer nur sehr dünnen Hülle kirchlicher Salbung. Wir sprangen ohne weitere Einleitung gleich in medias res, in die Frage des Völkerbundes, deren ganz besondere Bedeutung gerade für Deutschland ich schilderte.

Cerrettis Äußerungen zum Genfer Völkerbund waren durchweg unverhohlen skeptisch; und als ich dieses Institut zuerst erwähnte, umspielte seine Lippen ein sehr deutliches ironisches Lächeln. Er hielt mir dann einen längeren, zusammenhängenden Vortrag über die Politik des Vatikans. Als Wilson die Frage zuerst aufwarf, habe der Vatikan die Idee mit Freuden ergriffen. Als sich dann aber die Ereignisse entwickelten, die besiegten Mittelmächte nicht aufgenommen wurden, der ›Völkerbund‹ sich als ein Bündnis der Siegerstaaten entpuppte und dementsprechend verschiedentlich Entscheidungen rein politischer Art von zweifelhafter Gerechtigkeit fällte, schließlich Amerika ablehnte, ihm beizutreten, habe auch der Vatikan allmählich das Interesse für diesen Völkerbund, der als eine leere Attrappe sich erweise, verloren, und damit sei auch der Wunsch, in ihn aufgenommen zu werden, hier immer mehr geschwunden.

Rom. 12. Juni 1921. Sonntag

Im Auto mit Prittwitzens und Schöns nach Palestrina und Subiaco. Die alten Städte auf den Höhen bieten überall eigenartige Bilder. Sonst ist die Campagna jetzt, nach dem feuchten Frühjahr, so grün, so gut bebaut, namentlich mit Getreide, und ermangelt so ganz der südlichen Vegetation, der Pinien oder Zypressen, daß sie viel weniger südlich wirkt als Toscana. Man könnte sich oft, bis auf das kristallklare, starke Licht, in Mitteldeutschland glauben.

Der Sacro Speco in Subiaco ist mit den vielen übereinandergelegenen Kirchen und Höhlen, den Erinnerungen an Sankt Benedikt und den heiligen Franz und deren Reichtum an früher Malerei eines der merkwürdigsten Denkmäler Italiens. Das Porträt des heiligen Franziskus, angeblich noch zu seinen Lebzeiten gemalt, wirkt trotz offenbarer Restaurierungen wahr und überzeugend, namentlich die sehr schönen, kristallhellen, sanft-fanatischen Augen.

Rom. 16. Juni 1921. Donnersta

Früh um neuneinhalb bei Nitti (Via Alessandro Farnese 18, hinter der Engelsburg). Ein etwas dicklicher Süditaliener mit dunklen Augen, kurzgeschorenem weißem Haar und einer sehr klar disponierenden, eindringlichen Redeweise. Offenbar auch schlau und nicht ohne Eitelkeit. Durch und durch ›politician‹ (soll nach Lucidi noch schwächer von Charakter als Giolitti sein), auf praktische politische Erfolge mehr als auf dauernde Wirkungen eingestellt, aber mit einer gewissen Weitsicht, die ihn von gewöhnlichen Maschinenpolitikern vorteilhaft unterscheidet.

Er tat, als ob er sehr offen mit mir spräche. Frankreich wolle nicht die Wiedergutmachung, sondern die ›Desorganisation‹ Deutschlands aus Furcht vor einem militärischen Wiedererstarken des geeinten Deutschlands. Frankreich habe französische diplomatische Vertreter in jeden einzelnen deutschen Bundesstaat schicken wollen und nach Berlin nur eine Militärmission, keinen Botschafter, und versucht, ihn, Nitti, zu bestimmen, für Italien dasselbe zu tun. Er habe sich aber absolut geweigert, weil es weder im Interesse Italiens noch mit der internationalen Moral zu vereinigen sei, Deutschland auseinanderzureißen. Ferner habe Frankreich alles vorbereitet, um den Kaiser nach Curaçao zu deportieren. Auch diesen Plan habe er, Nitti, abgelehnt. Er habe auf Lloyd George großen Einfluß gehabt und auch in dieser Frage, bei der dieser wegen seiner Wahlversprechungen besonders stark gebunden war, auf ihn einzuwirken vermocht. Lloyd George sei überhaupt ›beaucoup plus modéré‹, als wir glaubten. Ebenso habe er sich geweigert, mit Frankreich ein Bündnis einzugehen. Italien habe mit Frankreich kein Bündnis, sondern wolle frei bleiben. Deutschland und nur Deutschland könne Europa retten; wenn Deutschland zugrunde gehe, werde ganz Europa mit zugrunde gehen. Deutschland sei letzten Endes auch heute noch viel stärker als Frankreich. Frankreich sei sehr schwach, weil es keine Männer und keine Geburten habe. Dabei besitze es ›das größte Kolonialreich der Erde‹, seitdem Englands Hauptkolonien sich als Dominions frei gemacht hätten, könne aber mit diesen Kolonien nichts anfangen, weil es nicht die Kraft dazu habe.

Gesamteindruck: ein ziemlich durchschnittlicher, aber sehr klarer, namentlich klar ordnender und abwägender Kopf, ein ebenfalls nur durchschnittlicher, durch politische Kleinarbeit sehr biegsam und vielleicht unzuverlässig gewordener Charakter. Kein großer Mann, aber einer, der vielleicht eine große Rolle mit Erfolg spielen könnte.

Rom. 22. Juni 1921. Mittwoch

Zwei Stunden vor Rom aufgestanden. Maremma. Wieder wie in der Campagna gegen Palestrina durchaus nordischer Eindruck, an England erinnernd. Gruppen von Laubbäumen auf weiten Stoppelfeldern, Heumieten, vereinzelte weiße Landhäuser des Adels oder reicher Gutsbesitzer, umgeben von Parks mit grünen Laubkronen. Kleine Herden weißer Büffel stehen oder liegen auf den abgeernteten Feldern. Aber nirgends sieht man die charakteristische Staffage südlicher Landschaften: Zypressen, Pinien, Wein oder Ölbäume; sie fehlen so vollständig wie in Devonshire oder Ostpreußen. Auffallend ist nur die große Seltenheit von Bauernhäusern oder Dörfern: die Einsamkeit der Gegend. Großwirtschaft, Latifundien.

Sanft senkt sich diese menschenleere, mit Heumieten und Baumgruppen bestandene wellige Ebene zum blauen Meer, auf dem einzelne Segel in der Ferne weiß leuchten: Latium, das ›breite Flachland‹, das Getreideland, die weite Kornkammer am Meer, auf dem der lateinische Bauer, der römische Kleinbesitzer und Krieger zur Rasse wurde, die eine Welt schuf. Man empfindet eine Art von Ehrfurcht vor dieser Erde, die so geheimnisvoll und göttlich fruchtbar gewesen ist, die wie ein Zipfel nordischen Wiesen- und Weizenlandes, vielleicht geschwängert von nordischen Göttern, in die blaue Flut des Mittelmeers hineingrünt.

Den Tag zum größten Teil auf dem Forum mit Hülsens ausgezeichneter Monographie. Auf dem Rückwege durch die Via Bonella unerwartet auf gewaltige Mauern und Säulen gestoßen, die ich in Ermangelung des Baedekers nicht benennen konnte und die ich zu Hause als die des Forums des Augustus und des Tempels des Mars Ultor feststellte. Sie machten in ihrer Anonymität auf mich den Eindruck einer überwältigenden Kraft und Größe.

Wie Jahrmarktsbuden erscheint im Vergleich zu diesen den Stempel der Ewigkeit tragenden Bauten alles Moderne. Man fühlt, daß, was die Römer schufen, die Festigkeit und Größe besaß, um als Fundament für Jahrtausende zu dienen; daß ähnliche Qualitäten dem römischen Recht, dem römischen Staatsbegriff, der römischen Kirche ihre Dauer verbürgen. Eins allein fehlt ihnen: das Herz, die direkte Beziehung zum einzelnen Menschen, zum eigentlichen Kern, der im Staatsbürger, im Civis drinsteckt und ihm Wärme und Impuls gibt. Das unterscheidet zum Beispiel solche gewaltigen, gigantischen Bauten wie die Reste des Mars-Ultor-Tempels von den Bauten eines Brunelleschi oder Michelangelo, von Santo Spirito in Florenz oder von Bramantes und Michelangelos Peterskirche. Hierin besteht der Schritt vorwärts, den die Kolossalbauten des Christentums über die Kolossalbauten des römischen Kaiserreichs machen.

Mittags Besuch im halb abgebrochenen Palazzo Caffarelli. Der Eintritt ist verboten. Große Schutthaufen liegen bis zum ersten Stockwerk. Aber der Guardiano führte mich con molta cortesia gegen ein Trinkgeld hinein und zeigte mir in den durchstoßenen Renaissancemauern zutage kommende mächtige Quadermauern des Tempels des Jupiter Capitolinus: die vier Ecken des Tempels, die seine gewaltigen Dimensionen zeigen, sind auch schon freigelegt. Über dem Schutthaufen, in der halb abgebrochenen Fassade zeigte der Guardiano einen Eisenträger: der Thronsaal Wilhelms II; alles, was davon übrigbleibt, als Alteisen schwebend in halber Höhe mitten im Tempel des Jupiter Capitolinus.

Auch ein Stück Weltgeschichte: dieser billige, schnell hochgeführte Thronsaal des letzten deutschen Kaisers auf den Ruinen des ältesten und heiligsten Tempels des alten römischen Kaiserreichs, der unter diesem kurzlebigen Überbau tausendjährig jetzt wieder hervorkommt. Aber vielleicht wird man es, und wenn auch nur im Zusammenhang mit dem Weltkrieg, nicht vergessen, daß Wilhelm II. auf den Ruinen des Capitolinischen Jupitertempels gethront und mit der Weltherrschaft gespielt hat wie gegenüber auf dem Palatin Caligula und Nero: letzterer allerdings mit mehr artistischem Talent und besseren Manieren.

Rom. 23. Juni 1921. Donnerstag

Vormittags auf dem Esquilin. Gärten des Fürsten Brancaccio, in die ich zufällig hineingeriet; ein von hohen Mauern umschlossener, riesiger, schattiger Park, ohne Kunstwerke, ohne Geschichte, sozusagen geheim und vergessen mitten in der Ewigen Stadt.

Drunten am Abhang San Pietro in Vincoli Michelangelos Moses, zu dem man sich die Sklaven und Giganten in der Akademie in Florenz hinzudenken muß als Träger und geistige Ergänzung: als die dumpfe, sich selbst nicht verstehende, daher unfreie, daher tragische Macht; während Moses die durch Geist und Gefühl erleuchtete, klar sehende und wollende, dadurch frei gewordene Kraft ist.

Das Problem der Macht, der mit sich selbst, um sich selbst und um ihre eigene Rechtfertigung und Erlösung ringenden Macht, scheint mir im Mittelpunkt von Michelangelos Denken zu stehen. Um diesen Kampf drehte sich für ihn die Weltgeschichte, diese Tragödie war der rote Faden, der alle die großen, mächtigen Persönlichkeiten, mythische und wirkliche, weltliche und heilige, miteinander verband. Wozu die Macht? Was mit all den ungeheuren Kräften anfangen? Die Tragödie des Überschusses von Kraft. Daher sind alle seine Figuren ringende Titanen. Sie suchen die Brücke von ihrer ungeheuren Macht zum menschlichen Herzen, zur Heiligkeit und Weisheit.

Tolstoi, der jede Gewalt ablehnt, der auf die Kraft verzichten will, weil er nicht weiß, was man damit anfangen soll, weil er keine Brücke von ihr zur Heiligkeit oder zur Weisheit sieht, gibt eine späte, müde Antwort auf die Frage Michelangelos, eine Antwort, die übrigens Michelangelo bekannt sein mußte, die er aber ablehnte. Der Moses ist Michelangelos entgegengesetzte, noch grandiosere Antwort; die Antwort nicht der Renaissance, sondern des tieferen, christlich-modernen Geistes: Kraft und Macht sind gut, denn es führt ein Weg von ihnen zur Heiligkeit und zur Weisheit, das heißt zum Menschen, zu einem höheren und tieferen Menschen. Hier ist auch einer der Drehpunkte von Nietzsches Denken.

Mittags frühstückten Prittwitz und Lucidi bei mir. Nachher mit Lucidi beim Kardinal-Staatssekretär Gasparri im Vatikan. Er hat Aussehen und Manieren eines kleinen, dicken, ziemlich vulgären Geschäftsmannes; trotz roter Strümpfe, roter Kardinalsmütze und des im roten Blut der Märtyrer gefärbten Damastes seiner Wandbehänge nichts von einem Kirchenfürsten. Er könnte, so wie er ist, hinter einem Ladentisch stehen. Nicht einmal eine Spur von Kirchlichkeit.

Für den Genfer Völkerbund hatte er nichts als unverhüllten Hohn. Er rechnete uns die Gehälter von Bourgeois und den andren Würdenträgern von Genf vor: Bourgeois sechshunderttausend Francs, der italienische Vertreter dreihunderttausend usw., usw., und meinte, diese Herren betrachteten jetzt den Völkerbund als die schönste Erfindung aller Zeiten! Sie wollten nicht, daß man irgend etwas daran ändere. Für den Vatikan sei die Frage des Eintritts erledigt durch Artikel X, den er nie annehmen könne, denn er könne unter keinen Umständen irgendeinem Volk den Krieg erklären, ›à moins qu'un peuple ne fasse une guerre de religion‹. Die Siegerstaaten hätten einfach einen Bund zur Wahrung ihrer Siegesfrüchte gegründet. Argentinien sei bereits daraus fort. Peru sei im Begriff ›de partir‹. Der peruanische Vertreter habe ihm gesagt, er habe an seine Regierung berichtet, das für den Völkerbund ausgegebene Geld sei ›aus dem Fenster geworfen‹.

Alles dieses sagte Gasparri mit unverhohlener Schadenfreude, breit über sein dickes, öliges Gesicht lächelnd und mit beiden Händen auf die Knie klopfend. Er fügte hinzu: Zu Anfang sei die Rede gewesen von der Aufnahme des Papstes in den Völkerbund; aber Frankreich habe eingewendet, ›que le Saint Siège n'etait pas une nation‹; worauf irgend jemand erwidert habe, ›qu'en effet, ce n'etait pas une nation, mais une puissance!‹ In dieser skeptischen und ablehnenden Haltung des Vatikans gegen Genf ist offenbar auch viel dépit, viel ›Verärgert-und-auf-die-Füße-getreten-worden-sein‹ und vielleicht auch einiger Kirchenhaß gegen die Erfindung des Teufels, des kalvinistischen Pastors und Professors Wilson.

Als ich Gasparri meine Ideen, ›die von ähnlichen Kritiken wie den seinigen ausgingen‹, auseinandersetzte, meinte er, jedenfalls werde eine solche Reform des Völkerbundes sehr lange auf sich warten lassen; ›que le Vatican ne pouvait pas se lancer dans la lutte‹, daß er aber selbstverständlich meine Bestrebungen ›mit seiner Sympathie begleite‹. Er sagte dieses ohne jede Salbung, ja sogar ziemlich brüsk, und betrachtet mich offenbar als einen Idealisten, der Kardinälen und andren ernsthaften Männern von weltlicher und realistischer Geistesverfassung ihre Zeit stiehlt.

Um gerecht zu sein, muß man berücksichtigen, daß die Kirche grundsätzlich den natürlichen Menschen für schlecht hält. Aber was mir mißfällt, ist der ›ton canaille‹, in dem die politischen Organe sich der Völkerbundidee gegenüber gefallen. Sie könnten erklären: ›Die Kirche ist der Völkerbund‹, und hinweisen auf die greuliche weltliche Mißgeburt. Aber dieses säuerliche, grobe Witzeln ohne Positivität ist unwürdig.

Rom. 24. Juni 1921. Freitag

Mit Däubler, den ich zufällig traf, nach der Villa Hadriana hinaus. Gewaltiger Eindruck von den fürstlichen Lebensformen, von der Umsetzung gewaltiger Macht in ein wunderbar verfeinertes Einzeldasein, in die Gebärden und Genüsse eines menschlichen Gottes. Die große Mauer der Poikile; zweihundert Meter strichgraden Genußwillens wie eine große Handschrift in die Landschaft hineingesetzt, und drum herum unter Baumgruppen und in Feldern zerstreut die Reste des raffiniertesten, sinnlichsten Lebens, von den höchsten philosophischen und künstlerischen Genüssen bis zu den Bädern, in denen die Spielgenossen und Nachfolger des Antinous, die ausgesucht schönsten Knabenkörper des Riesenreichs auf den Kaiser warteten, und bis zu »Canopus«, wo vor den Augen des Kaisers die Orgien gefeiert wurden. Das volle Aufblühen einer menschlichen Pflanze in allen ihren Fibern und Färbungen aus den Wurzeln unbeschränkter Macht.

Rom. 25. Juni 1921. Sonnabend

Um zwölfeinhalb Privataudienz beim Papst. Er empfing mich allein unter vier Augen, so daß die Möglichkeit zu einer kurzen Berührung der Fragen, die mich interessierten, gegeben war. Aber auch er ließ eine gerade deshalb um so schärfere absichtliche Abwendung von der Völkerbundfrage erkennen. Wich aus, indem er sagte: »Ce n'est pas ici (das heißt im Vatikan) que nous pouvons traiter cette question.« Betonte, die Hauptsache sei, »qu'il fallait pacifier les esprits, que la guerre n'était pas encore terminée, qu'il fallait mettre fin à la guerre.« Er fragte mich, vielleicht aus Höflichkeit, ob und was ich zur Frage des Völkerbundes geschrieben habe, und gab mir zum Schluß für meine Wirksamkeit seinen apostolischen Segen.

Rom. 26. Juni 1921. Sonntag

Offenbar sind hier die Bande zwischen Vatikan und äußerster Linken zahlreich und ziemlich eng. Treves meinte: hinter diesen beiden Parteien stehe das eigentliche Volk (offenbar mit verschiedener geistiger Einstellung, aber mit gemeinsamen materiellen Interessen). Das ist ja auch meine Kombination.

Rom. 1. Juli 1921. Freitag

Meinen Nietzscheaufsatz wieder vorgenommen. Abends Nietzsches ›Genealogie der Moral‹. Literarisch hinreißend, geschichtlich sehr brüchig. Seine Darstellung des Kampfes zwischen Rom und ›Judäa‹ als eines ›Sklavenaufstandes‹ gegen ›die Starken und Vornehmen, wie sie stärker und vornehmer bisher auf Erden nie dagewesen, selbst niemals geträumt worden sind‹, ist nur richtig, wenn man vornehm = mächtig setzt ohne Rücksicht auf den Zweck, zu dem die Macht gebraucht wird.

An diesem ›Wozu?‹ geht Nietzsche ganz vorbei. Aber der Ausgangspunkt des Kampfes war gerade die (richtige oder falsche) Ansicht, daß Macht an sich nichts bedeute, was ihre Kosten wert sei, das Gefühl des Unbefriedigtseins durch die Macht, und zwar durch die größte Machtanhäufung, die es je auf Erden gegeben hat (wie Nietzsche ganz richtig sagt), bei den Mächtigen selbst.

Der ›Sklavenaufstand‹ spielte bei der Ausbreitung des Christentums nur insofern eine Rolle, als er diesem Gefühl der Mächtigen einen geistigen Rückhalt bot. Aber das Wesentliche, das, was weltgeschichtlich wirkte, war nicht das Ressentiment der ›Sklaven‹ (Juden), sondern die Enttäuschung der ›Herren‹ (Römer), die mit der größten Machtanhäufung der Geschichte experimentiert und sie unfruchtbar gefunden hatten. Ohne diese Enttäuschung der Herren der Welt über die Früchte ihrer Macht wäre der christliche ›Sklavenaufstand‹ ergebnislos verpufft wie so viele andre; nicht einmal die Evangelien und Paulusbriefe wären auf uns gekommen. Die obskure Sekte wurde weltgeschichtlich infolge der Enttäuschung der Mächtigen, die an den Früchten der Macht verzweifelten. Sie hatten erprobt, daß große Macht keineswegs notwendig den Menschen bereichert, daß aber hierauf allein alles ankommt. Die Bereicherung des Menschen, die Veredelung und Rettung seiner ›Seele‹ erschien ihnen, gerade weil sie mächtig waren, aus ihren Erfahrungen von der Macht heraus, als das Wesentliche; deshalb (und nicht aus Ressentiment, nicht weil sie ›Sklaven‹ waren, sondern gerade umgekehrt, weil sie ›Herren‹, enttäuschte Herren waren) wurden sie Christen.

Nietzsche stellt die Dinge auf den Kopf und hat natürlich keine Erklärung dafür, wie dieser »Sklavenaufstand« gegen die größte Macht der Welt triumphieren konnte. Kann keine Erklärung hierfür haben anders als die eines Wunders. Um die paar orientalischen Wundertäter und die ihnen anhängende Plebs hätte sich der römische Staat auch sicher nicht viel gekümmert. Eine Gefahr wurde die Abkehr vom römischen Machtideal vom vergöttlichten Imperium und Imperator erst, als die Vornehmen, die Träger der römischen Staatsmacht, die Hohlheit des Idols erkannten. Erst dann wird es zu Verfolgungen gekommen sein. Und wie bald das geschah, bezeugt Tacitus, bezeugt die wahrscheinlich doch wahre Tradition vom Märtyrertod der Apostel Petrus und Paulus.

Rom. 3. Juli 1921. Sonntag

Tags gearbeitet. Abends vor Sonnenuntergang auf dem Forum. Früh gehe ich meistens auf einen Augenblick in Santa Maria degli Angeli, das mir eine nie versiegende Erquickung bietet. Ich finde überhaupt, daß ich nirgends in der Welt so viel Lust zur Arbeit, so viel Anregung und Stimmung und Heiterkeit für die Arbeit habe wie in Rom. Vielleicht werde ich einmal ganz meine Arbeitszeiten nach Rom verlegen. Es gibt nur zwei Städte, die als Städte wert sind, daß man in ihnen ein ganzes Leben zubringe, London und Rom: London, die unerschöpfliche Gegenwart, Rom, die unerschöpfliche Geschichte.

Neapel. 14.-16. Juli 1921

Jeden Morgen im Museum und nachmittags bei geschlossenen Läden im Halbdunkel des südlichen Mittags an meinem Nietzscheaufsatz gearbeitet.

Neapel. 17. Juli 1921. Sonntag

Die Tage sind hier heiß; aber jede Nacht ist wie ein neuer Frühling, frisch, jung, balsamisch steigt sie mit dem Nachttau aus dem Meere empor, alles mit einer fremdartigen Anmut übergießend. Der Erde ist jede Schwere genommen. Auch ist bis in die späte Nacht noch alles auf den Straßen; ein zeitloser Leichtsinn befällt die Menschen, sie tanzen, singen, spielen Gitarre, kichern im Mondlicht und im blauen Schatten wie die Zikaden. Diese tags schmutzige, träge Stadtbevölkerung bekommt nachts jetzt im Sommer etwas Hellenisch-Göttliches, hat Weinlaub im Haar und eine Heiterkeit ohne Schwere, wie Trunkenheit von Ambrosia in der Seele. In solchen Nächten kann man wie den Schlaf den Tod vergessen.

Pompeji. 21. Juli 1921. Donnerstag

Den ganzen Tag in Pompeji herumgewandert. Vor allem Privathäuser; von denen mir am meisten sagten die der ›Amorini Dorati‹, der Fontana Grande und Fontana Piccola, des Fauns, meines Freundes, des Bankiers Caecilius Jucundus, des Marcus Lucretius, des ›Tragischen Dichters‹, des Ti. Claudius Verus (del Centenario) (dieses mit sehr suggestivem Harem: mit kleinen, reizend dekorierten Speisezimmern für galante Soupers und obszön ausgemaltem Vergnügungsraum; gleich anstoßend sehr luxuriöses, mehrräumiges Bad); natürlich auch das genugsam bekannte Haus der Vettier. Die absolute Natürlichkeit und Ungeniertheit im Sinnlichen. Alles das ist noch heute genauso, nur krankhaft und verlogen.

Gesamteindruck von Pompeji: daß hier eine Höhe und ein gesundes, quellenhaftes Sprudeln der Kultur erreicht war, zu denen wir noch nicht einmal wieder die ersten Stufen erklommen haben trotz ›Humanismus‹ und Kunstgeschichte, die immer absichtlich um den Kern herumgehen; die gesunde und natürliche sexuelle Sinnlichkeit, die alles Sexuelle ohne jede Einschränkung als gegeben und deshalb kultivierbar und in den Gesamtbau des gesellschaftlichen Lebens einreihbar annimmt. Das Erstaunlichste ist, daß wir eine lückenlose und allgemeine Kulturhöhe in einer kleinen Provinzstadt sehen und schließen müssen, daß die ganze antike Welt mit Hunderten solcher und noch viel höherer Kulturstätten bedeckt war.

Sorrent. 24. Juli 1921. Sonntag

Gutes Hotel und Zimmer. Viele Menschen. Unter andren der Tenor Caruso mit einer ungeheuer großen und starken amerikanischen Frau. Er sieht aus wie Napoleon auf St. Helena. Immer finster und nachdenklich. Starker durchgearbeiteter neapolitanischer Typus.

Sorrent. 25. Juli – 8. August 1921

Ruhig gearbeitet. Meistens nachmittags baden am Capo di Sorrento (wo ich übrigens meinen Ring von Lettré verlor). Der arme Caruso ist in Neapel am 2. August gestorben. Ungeheurer Eindruck dieses Todes hier. Er war der ›representative man‹ von Neapel, der vergöttlichte neapolitanische Santa-Lucia-Sänger, der typische Neapolitaner. Den Himmel Neapels hatte er in seiner Stimme um die Welt getragen. Ganz Neapel hat ihn mit mehr als königlichen Ehren zu Grabe getragen. Die Zeitungen behaupten, er habe zweihundert Millionen Lire hinterlassen.

Paris. 11. Dezember 1921. Sonntag

Früh in Paris an, das ich am Dienstag vor dem Kriege, am 28. Juli 1914, verlassen hatte. Wilma und die Kinder an der Bahn. Merkwürdig, wie sieben so furchtbare Jahre für den unmittelbaren Eindruck (das heißt den nicht reflektierten) so vollkommen ausgelöscht sein können! Ich empfand, als ob ich wie früher von einer kurzen Abwesenheit zum Altgewohnten zurückkehrte. Nur die Menschen sind etwas düsterer, unfreundlicher geworden, wenn mich mein erster Eindruck nicht täuscht. Es ist, als ob etwas auf ihnen lastete. Aber sonst ist alles erstaunlich gleich geblieben. Berlin hat sich unendlich viel mehr verändert. Abends großes Bankett von Marc Sangnier gegeben zum Abschluß seines Kongresses. Mehrere hundert Teilnehmer von 21 verschiedenen Nationen. Ich saß rechts neben Sangnier und hielt auch die erste Rede nach ihm. Die größte Zuvorkommenheit und Freundlichkeit, ohne jede Kühle, herrschte gegenüber uns Deutschen. Meine Rede wurde immer wieder durch geradezu frenetischen Beifall unterbrochen.

Paris. 12. Dezember 1921. Montag

Abendgesellschaft bei Mme. Ménard-Dorian: etwa fünfzig bis sechzig linksradikale Politiker usw.: hauptsächlich ›Ligue des Droits de l'Homme‹. Ferdinand Buisson, der Senator d'Estournelles de Constant, die Deputierten Marc Sangnier und Moutet (der Verteidiger von Caillaux), der alte Professor Aulard, der General Sarrail, Henri Lichtenberger, Victor Basch, Grumbach usw.

Die Sache ging in Form einer Art von Kollektivinterview oder Disputation vor sich. Ferdinand Buisson übernahm den Vorsitz, d'Estournelles de Constant begrüßte uns (das heißt die deutschen und österreichischen Delegierten, Redlich, Tiedge, den Studenten Meskau aus Berlin, mich) und forderte mich dann auf zu sprechen. Ich sprach ungefähr zehn Minuten und offenbar zur Zufriedenheit der Versammlung, denn ich wurde fortgesetzt mit »très bien«, »ah, c'est bien ça« und andren Beifallsbezeigungen unterbrochen.

Nach mir redete Redlich über Österreich, ohne viel Eindruck zu machen, wie mir schien. Er ging zu sehr ins Detail und redete zu lange.

Dann wurde den Rest des Abends mit mir ein peinliches Verhör vorgenommen, an dem sich vor allem Aulard, Victor Basch, Grumbach beteiligten. Aulard fragte mich nach dem Eintritt Deutschlands in den Völkerbund, worauf ich meine übliche Antwort gab: nicht gegen Frankreich, wenn Frankreich zustimmt, sofort.

Meine Ausführungen und vor allem auch meine Haltung in Sachen des Völkerbundes und meine Zurückweisung von Lefèvre, Barthou usw. wurden zustimmend und mit Beifall aufgenommen. Als letzter Fragesteller hielt Grumbach eine sehr energische und etwas zweideutige Rede, die bald für, bald gegen, aber letzten Endes doch mehr für Deutschland klang. Ich sprach dann das Schlußwort. Nachher drängte sich alles um mich und beglückwünschte mich.

Paris. 13. Dezember 1921. Dienstag

Frühstück bei Marc Sangnier. Sehr elegant, mehrere Lakaien, prachtvoller Blumenschmuck auf dem Tisch: Botschafterstil.

Nach dem Frühstück hatte ich ein längeres Gespräch mit dem alten Buisson (achtzigjährig), Präsident der »Ligue des Droits de l'Homme«. Was ich ihm von meiner Redetournee in Deutschland und von der Aufnahme bei den Arbeitern sagte, interessierte ihn sichtlich auf das lebhafteste. Bis dahin etwas greisenhaft teilnahmslos, lebte er förmlich auf, seine Augen blitzten, er sagte ein über das andere Mal: »Mais c'est très important, ce que vous dites là, mais il faudrait qu'on sache ça en France.«

Paris. 14. Dezember 1921. Mittwoch

Nachmittags Mayer besucht, den ich noch nicht kannte. Ein großer, dicker Fabrikant katholisch-süddeutscher Prägung mit etwas kleinstädtisch-kulanten Bewegungen. Er gab mir zu, daß die Stimmung gegen Deutschland noch nie, seit dem Frieden, hier so günstig gewesen sei wie jetzt. Aber Marc Sangnier sei ein Einspänner. Überhaupt solle man nichts überschätzen (worin er unbedingt recht hat). Briand nahm er in Schutz. Poincaré sei nicht so stark oder bedeutend, wie er aussehe. Nur Barthou sei ein ganz gefährlicher Kerl, der vielleicht noch zu überstehen sein werde. Mayer scheint innerpolitisch ganz gute technische Urteilsfähigkeit zu haben, ohne selber sehr bedeutend zu sein.

Nachher bei Hoesch: reinstes A. A. ›Friedensware›. Scheint nur wegen seines Einkommens den Posten hier bekommen zu haben. Fabrikantensohn, gold-auflackiert (eine Generation nach Mayer). Wahrscheinlich ganz fleißig, soweit ihn allerlei angenehme Abhaltungen nicht behindern. Kühlmanns Maître des plaisirs in Bukarest. Er erinnerte mich daran, daß er 1914 als Attaché in London für mich diplomatische Verhandlungen mit Nijinski geführt habe; erfolglose übrigens.

Paris. 20. Dezember 1921. Dienstag

Albert Thomas früh bei Mme. Ménard-Dorian gesprochen. Er schien über die allgemeine europäische Situation sehr erregt. Die Unterredungen der leitenden Staatsmänner (heute sind wieder einmal Lloyd George und Briand in London zusammen) drehten sich immer nur um Einzelheiten. ›Ce qui nous a manque, depuis l'armistice, c'est un plan, un plan d'ensemble.› Es zeige sich, zunächst bei uns in Deutschland, ›une dissociation entre la vie economique et l'État›. Man müsse einen plan d'ensemble aufstellen, der von den wirtschaftlichen Faktoren ausgehe, sie aber ›sous le contrôle de l'État, des États› stelle.

Paris. 22. Dezember 1921. Donnerstag

Früh Miß Marshall an den Zug nach London gebracht. Nachmittags bei Jean Cocteau, der mich sehr freundschaftlich begrüßte und die Notwendigkeit betonte, die geistigen Bande zwischen Frankreich und Deutschland neu zu knüpfen. Das sei ›entre gens bien élevés‹ leichter als zwischen Bohèmes. Herwarth Walden habe hier nicht glücklich gewirkt.

Paris. 23. Dezember 1921. Freitag

Vormittags nochmals bei Cocteau, um Zimmer, Direktor der ›Revue Rhénane‹ in Mainz, zu treffen. Zimmer läßt ganz offen erkennen, daß er vom Auswärtigen Amt in Paris subventioniert ist (Referent Tirard). Ich sagte ihm gleich, daß ich mit Bestrebungen zur Loslösung der Rheinprovinz nichts zu tun haben könne und wolle: zum Beispiel mit Bestrebungen, wie die von Maurice Barrès oder auch die von Dorten oder Smuts sind. Er leugnete jede solche Absicht; sie wollten überhaupt nicht politisch, sondern nur geistig wirken, ›servir de trait d'union‹ auf geistigem Gebiet. Cocteau gebrauchte den Vergleich von ›deux trottoirs roulants qui marchent à des vitesses différentes‹. Man könne nur auf einem von den beiden fahren. Politik und Geist dürften nicht vermischt werden. Ich sagte: soweit es sich um geistigen Austausch unter Ausschluß jeder politischen Absicht und unter gleicher Berücksichtigung deutscher Dichter durch Übersetzungen usw. handele, wolle ich ihm behilflich sein, in Deutschland bei Dichtern und Publikum Gehör zu finden. Er bat mich um einen Artikel, den ich etwas unbestimmt zusagte.

Nachher hatte mich Poncet zum Frühstück bei Lapérouse eingeladen in einem Séparée (Le Cabinet Lafontaine) mit Colrat (Unterstaatssekretär des Innern) und Robert Pinaud vom Comité des Forges. Colrat ist eine Art von französischem August Müller, polternd und reaktionär (›schwerer Vater‹) ohne merkliche Intelligenz, aber sehr ehrgeizig und wohl, weil er den Mund immer voll nimmt, nicht zu übergehen. Pinaud viel erfahrener, klüger, höflicher, diplomatischer, aber ebenso reaktionär. Alle drei absolut anti-sozial.

Resultat: Bei diesen Briand, Loucheur und der Großindustrie nahestehenden Leuten herrscht 1. die Einsicht, daß eine Verständigung mit Deutschland notwendig ist; 2. keine sentimentale Abneigung gegen eine solche Verständigung; 3. das Gefühl, daß sie diese Verständigung in Frankreich erst durchdrücken können, wenn a) Deutschland eine Zeitlang die Reparationsleistungen pünktlich erfüllt hat, b) das Mißtrauen, das Deutschland politisch (Schwäche der republikanischen Parteien und Regierung, Stärke der Reaktion) und finanziell hier erregt hat (Verschleierung seiner wahren Exportziffern, Kapitalverschiebungen, unordentliche Staatsfinanzen, ungenügende Steuereintreibung), von sich aus beseitigt hat. Sie haben offenbar wirklich Angst vor der Zukunft, die sonst ihnen als Politikern und Industriellen und dem ganzen Lande als solchem bevorsteht.

Nachher kurz bei einem Russen Brjanchaninoff, der ein Projekt für einen neuen Völkerbund ausgearbeitet hat, Präsident der ›Russischen Liga für Völkerbund‹ ist und an mich geschrieben hat. Ein Mystiker, der eine Weltregierung durch Weise aus allen Ländern als Ziel sieht. Eine Frau, eine Prinzessin Gortschakoff, empfing. Er entwickelte mir seine Idee einer ›Internationale blanche‹, ni rouge, ni dorée. Er scheint sich in seinen Ideen mit Keyserling zu berühren und sprach von ihm.

Paris. 25. Dezember 1921. Sonntag

Früh an Mamas Grab, das ich mit weißen und rosa Rosen und Mistelzweigen hatte bedecken lassen. Wilma und Géraud mit.

Paris. 26. Dezember 1921. Montag

Tee nachmittags mit Wilma bei Jouves. Ich erzählte ihm meine Unterredung mit Cocteau und Zimmer. Obwohl er gegen Zimmers Verbindung mit der Propaganda Bedenken äußerte, fing er Feuer beim Gedanken an die Anthologie jüngster französischer Dichter, die die ›Insel‹ machen soll, und bot sich an, die Auswahl zu treffen. Ich versprach, an Kippenberg für ihn zu schreiben.


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