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1927

Am Mittwoch, dem 5. Januar, fuhr ich mit Musch nach Neapel, und am Donnerstag, dem 6. Januar, kam Goertz aus Deutschland zurück. Am Freitag, dem 7. Januar, mit Musch in Pompeji.

Am Sonntag, dem 9. Januar, während Musch auf den Vesuv fuhr, mit Goertz in Caserta. Herrlicher, ernster Park, grandios in die Landschaft hineingelegt. Vanvitelli muß eine Art von Genie gewesen sein; sein Erfindungsreichtum im Führen des Wassers durch Wasserfälle, Seen, kreuzweise sich überschneidende Strahlen erstaunlich.

In Neapel besuchte ich wieder Praun, der mir sehr düstere Möglichkeiten für mein Auge eröffnete, eine Erkrankung des Zentralnervensystems für nicht unmöglich erklärte und dringend zu einer eingehenden Untersuchung riet, die aber in Neapel und überhaupt in Italien nicht zuverlässig zu bewerkstelligen sei. Ich war sehr deprimiert.

Am Montag, dem 10. Januar, fuhr Musch nach Berlin, Goertz und ich nach Capri zurück. Pemberton riet mir, da Praun eine so beängstigende Diagnose stelle, nach Zürich zu Professor von Wyss zu fahren und mich dort untersuchen zu lassen.

Als Vorleser kommt jeden Nachmittag von vier bis sieben zu mir ein junger Deutscher, Kupffer, der hier gestrandet ist und den Pemberton beherbergt, und liest mir die deutschen Zeitungen und Sombarts ›Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus‹ vor.

Am Sonntag, dem 23. Januar, fuhr ich mit Goertz aus Capri nach Neapel auf der Reise nach Zürich. Wir blieben die Nacht in Neapel im ›Vesuvio‹, fuhren am nächsten Nachmittag nach Rom, wo wir im ›Royal‹ zu Abend aßen und das ganze Personal des Hotels sehr erfreut tat, mich nach meiner schweren Krankheit wiederzusehen. Abends um drei Viertel neun fuhren wir in einem ausgezeichnet gefederten Schlafwagen nach Mailand weiter, wo wir morgens um achteinhalb ankamen und ins ›Cavour‹ gingen. Dort badeten und aßen wir zu Mittag, und um zwei fuhren wir weiter nach Zürich, wo wir am Dienstag, dem 25. Januar, um sieben Uhr ankamen. Am Mittwoch, dem 26. Januar, ging ich zu Dr. Walter von Wyss, der mich untersuchte, mir aber mitteilte, daß er eine Lumbalpunktion nur in der Klinik vornehmen könne.

Am Donnerstag, dem 27. Januar, fuhr ich in die Klinik in der Heliosstraße; und hier nahm Wyss mittags die Lumbalpunktion und die Blutentnahme vor. Das Resultat war absolut negativ, wie er mir am Sonnabend mitteilte. Aber die Folgen der Lumbalpunktion waren sehr unangenehm. Ich bekam heftige Kopfschmerzen, Schwindel und Brechreiz, meine Temperatur sank vom 27. bis 31. ständig und fiel am Montag, dem 31. Januar, bis auf 35,8 Grad, mein Puls auf zweiundsechzig; ich fühlte mich an diesem Tage ernsthaft krank. Das war aber der Tiefpunkt. Am nächsten Tage, am 1. Februar, konnte ich schon ausgehen und suchte den Augenarzt Professor Vogt in seiner Klinik auf. Er untersuchte mich, obwohl er selbst an einem gebrochenen Bein litt, und übergab mich dann einem Assistenzarzt, der die Untersuchung auch noch am folgenden Tage fortsetzte. Mein Kopf wurde von Professor Schry geröntgt.

Zürich. 2. Februar 1927. Mittwoch

Professor Vogt teilte mir heute mit, daß mein Auge unheilbar sei, eine Behandlung sich daher erübrige.

Zürich. 6. Februar 1927. Sonntag

Mich entschlossen, nach Paris zu fahren, da mit Cres und Richart wegen des Vergil mündlich zu verhandeln nötig. Abends aus Zürich ab. Max brachte mich an die Bahn und bleibt in Zürich.

Paris. 8. Februar 1927. Dienstag

Früh besuchte ich im Louvre die ›Mona Lisa›, diese derbe, geheimnisvolle Bäuerin, und den Amenophis-Kopf, vielleicht das tiefste Bildnis eines ekstatischen Intellektuellen, das die Kunst je geschaffen hat. Daneben erscheint selbst die Mona Lisa fast flach.

Mailand. 9. Februar 1927. Mittwoch

Früh Max in Arth-Goldau getroffen. Zusammen nach Mailand weiter, wo wir nachmittags bei ziemlich tiefem Schnee ankamen und im Hotel Cavour abstiegen. Abends, da ich mir von ›Rheingold› in der Scala nicht viel versprach, in einen schlechten deutschen Film ›Faust›.

Mailand. 10. Februar 1927. Donnerstag

In der Brera tieferschüttert von Bellinis ›Pietà›; der Sohn hat ausgelitten, sie leidet noch immer, aber das Leiden ist bei ihr sozusagen ins Innere versackt, vom Herz ganz aufgeschluckt, im Gesicht nur der Reflex dieses unaussprechbaren inneren Schmerzes. Es ist eines der größten malerischen, zeichnerischen und poetischen Meisterwerke, den größten tragischen Dichtungen ebenbürtig. Nachher Leonardos ›Abendmahl›, das von der gleichen allerhöchsten tragischen Qualität ist. Hier schwebt Christus wie die ewige Natur, die durch das Fenster so selig und sonnig hereinblickt, über allem zeitlichen Leiden, während um ihn der kleine menschliche Zank tobt. Hier ist das tragische Gegenstück gegeben: der ›Ödipus auf Kolonos›, der Mensch, der sich durch das Leiden über alles Menschliche erhoben hat, bis er wie die Natur darüber lächeln kann.

Rom. 11. Februar 1927. Freitag

Früh mit Max in Rom an. Nachmittags zusammen nach Ostia, um die neuentdeckten römischen Etagenhäuser zu sehen. In der Tat ganz modern anmutende Mietskasernen und Warenhäuser. Das große elegante Warenhaus (horca) des Epagattos, mit Verkaufsräumen an breiten Umgängen um einen Zentralhof in mehreren Etagen, ist das genaue Gegenstück zu einem modernen Tietz oder Wertheim. Ebenso modern die Wohnungen in den Mietshäusern, ganz im Gegensatz zu den Häusern in Pompeji. Eine Parterrewohnung mit großen Fenstern nach dem Garten könnte sofort von einer modernen Familie bezogen werden; sie würden nicht einmal merken, daß sie in einem antiken Haus wohnten.

Rom. 15. Februar 1927. Dienstag

Vormittags bei Prittwitz in der Botschaft. Er sagt, Mussolini säße ganz fest, aber er, Prittwitz, träfe heute kaum je noch einen überzeugten Faschisten. Es herrsche eine große Enttäuschung und Verdrossenheit. Aber man akzeptiere die vollendete Tatsache des faschistischen, syndikalistischen Staates. Außerdem gewinne die republikanische Richtung im Faschismus wieder mehr Boden. Der König sei jetzt durch Mussolinis Übernahme des Oberkommandos über das Heer seiner letzten Funktion entkleidet worden. Er führe nur noch irgendwo ein Schattendasein. Aber zunächst werde ihn Mussolini wohl noch nicht offiziell beseitigen. Die Korruption sei in der faschistischen Beamtenschaft bis oben hindurch groß. Wir hätten mit unserm Schiedsvertrag zunächst alles erreicht, was wir wollten. Weiter wollten wir nicht gehen. Denn wenn wir uns zu sehr mit Mussolini einließen, würde er das nur benutzen, um uns an Frankreich zu verkaufen.

Capri. 6. März 1927. Sonntag

Peter Reinhold und seine Frau frühstückten und aßen bei mir. Mit Reinhold viel Politisches. Er habe sich mit den Sozialdemokraten überworfen, weil er sich auf den Standpunkt gestellt habe, daß Geldbewilligungen des Reichstags für ihn nur eine Ermächtigung bedeuteten, Geld in einer bestimmten Höhe für bestimmte Zwecke anzuweisen; nicht aber einen Zwang für ihn, das Geld in der genannten Höhe für den Zweck auch wirklich auszugeben. Er habe sich geweigert, Gelder, die der Reichstag aus bloßen Parteirücksichten bewilligt habe, anzuweisen; und das habe ihm die Feindschaft der Sozialdemokraten zugezogen.

Ich muß allerdings sagen, und sagte ihm auch, daß seine Theorie mir ziemlich überraschend scheine; sie würde staatsrechtlich geradezu eine Revolutionierung aller unserer bisherigen Ansichten über die Finanzgebarung in einem konstitutionell-demokratischen Parlamentsstaat bedeuten. Dieses gab er zu, blieb aber dabei: er habe recht gehabt. Geßler: Reinhold meint, er sei hauptsächlich faul und dabei wirklich uninformiert über die Dinge, die sich in seinem Ministerium zutrügen. So habe ihn Seeckt in bezug auf die Dienstleistung des Kronprinzen-Sohnes zuerst einfach anlügen können, indem er ihm meldete, an der ganzen Nachricht sei kein wahres Wort! Geßler habe ihm geglaubt. Nachher habe Seeckt die Sache zugeben müssen, und da habe Geßler durchgegriffen, weniger wegen des Vorfalles selber, als weil ihn Seeckt angelogen hatte. Seeckt habe dann kaum glaubliche, würdelose Versuche gemacht, sich zu halten, habe zum Beispiel persönlich Hindenburg vorgeschlagen, es solle ihm ein öffentlicher Verweis und einige Tage Stubenarrest zudiktiert werden. Der Präsident habe aber über den Vorschlag einfach gelacht.

Rom. 26. März 1927. Sonnabend

Bei Prittwitz gefrühstückt. Seine Frau lag mit Grippe zu Bett. Wir frühstückten daher allein. Ich sagte, ich hätte meine Ansichten über Mussolini und den Faschismus in Italien etwas revidiert. Erstens seien Elemente im faschistischen Staat, die man nicht ohne weiteres verdammen könne: so der syndikalistische Aufbau; und zweitens sei Mussolini jetzt tatsächlich Italien; wenn man sich mit Italien stellen wolle, müsse man sich mit Mussolini stellen, so wie Bismarck, sehr gegen die Neigung seiner altpreußisch-konservativen Freunde, sich mit Napoleon und dem Bonapartismus abgefunden habe.

Prittwitz stimmte mir in beiden Punkten zu: man habe in Deutschland zu schnell den ganzen Faschismus für eine reaktionäre Bewegung erklärt. Das sei er so, wie man es bei uns insgemein glaube, ganz und gar nicht, sondern ein in vielen Einzelheiten interessanter Versuch, den modernen Staat weiterzubilden. Mussolini sei zweifellos kein Scharlatan, sondern ein wirklicher Denker, der mit dem Problem des Staates ernsthaft gerungen und sich seine eigene Ansicht gebildet habe, die er in die Wirklichkeit umzusetzen sich bemühe. Bedenklich seien die Methoden, durch die er dieses Ziel verfolge, die Gewalttätigkeiten und der gänzliche Mangel an irgendwelchen Vorkehrungen zur Kontrolle der allmächtigen Beamtenschaft. Die Kontrolle bestehe lediglich in dem persönlichen Organisationstalent Mussolinis. Wenn ein andrer komme, der weniger begabt oder weniger ehrlich sei, dann werde jede Kontrolle aufhören, da jede Aufsicht von unten, von Seiten der Regierten, fehle. Ferner sei nichts vorgesehen, um die Nachfolge Mussolinis, wenn er einmal stirbt, zu regulieren. Man munkle allerdings von einem politischen Testament, das er geschrieben und in dem er eine Art von Direktorium vorgesehen habe mit militärischen und zivilen Mitgliedern, das im Falle seines plötzlichen Verschwindens die Regierung übernehmen solle; die einzelnen Mitglieder seien, wie man sage, von ihm dort benannt. Aber werde das im Falle seines plötzlichen Todes wirklich funktionieren? Die Gewalttätigkeit, der Mangel an Kontrolle und das Fehlen einer geordneten Nachfolge seien die großen Schattenseiten des Regimes.

Ich sagte: die völlige geistige Verödung Italiens unter dem Faschismus erschiene mir als Symptom tiefer Schäden der geistigen Struktur des Systems höchst beachtenswert. Prittwitz: Ja, eine ernsthafte Erörterung irgendeiner politischen oder sozialen Frage sei in Italien zur Zeit völlig ausgeschlossen. Daher diese Öde. Ich: »Die Ruhe des Kirchhofs.« Prittwitz: »Ja. Wenn Sie hier einen Bettler auf der Straße photographieren und die Photographie veröffentlichen, muß der Staatsanwalt Sie verfolgen, weil Sie das Ansehen Italiens vor der Welt herabgesetzt haben, und Sie kommen unweigerlich ins Gefängnis. Da läßt sich natürlich über soziale Schäden öffentlich nicht reden.« Ich fragte, ob der Faschismus nach Prittwitz' Ansicht wirklich etwas zur Verbesserung der Zustände in Italien täte? Prittwitz: Ja, zweifellos. So im Straßenbau, in der Aufforstung, in der Urbarmachung des Brachlandes. Hier geschieht etwas, es bleibt nicht bei bloßen Projekten wie früher. Auch für die Archäologie geschieht viel. Alles, was die Vergangenheit und frühere Größe Roms betrifft, liegt Mussolini wirklich am Herzen. Daher die verhältnismäßig großen Ausgaben für Ausgrabungen. Aber er ist kein kultivierter Mensch, nicht irgendwie tiefer gebildet. Aber ein sehr offener Kopf. Es verhandelt sich mit ihm angenehm und leicht, weil er sich überzeugen läßt und offen zugibt, daß er sich geirrt habe, wenn man ihm einen Irrtum oder eine falsche Information nachweist. Das beste Buch über den Faschismus sei das von Ludovic Naudean; das müsse ich unbedingt lesen.

Aus dem Gespräch gewann ich alles in allem den Eindruck, daß auch für Prittwitz der Faschismus ein noch ungeklärtes Problem ist, dessen Wandlungen er mit Interesse und ohne Voreingenommenheit beobachtet. So stehe auch ich dazu.

Rom. 27. März 1927. Sonntag

Prittwitz kam heute zu Tisch. Ich hatte auch Hütten eingeladen, der im ›Hotel des Princes‹ an der Piazza di Spagna abgestiegen ist; aber er sagte ab, weil er bei der Fürstin Bichette Radziwill essen müsse, kam aber vor Tisch, um sich noch persönlich für die Einladung zu bedanken. Er war wie immer amüsant und voll von Reminiszenzen. Bülow, der in der Villa Malta wie immer den Winter verbringt, hat ihn neulich, wie er erzählte, zweieinhalb Stunden bei sich behalten und über alte Geschichten mit ihm geplaudert, über Hohenlohe, Holstein, Eulenburg usw.

Das brachte das Gespräch auf Phili Eulenburg und seine Brouille mit Holstein, deren Ursache wohl jetzt nie aufgeklärt werden wird, weil alle, die darum wußten, tot sind. Hütten sagte, er wisse sie auch nicht. Er habe einmal Holstein gesagt, er solle dort in irgendeiner Sache ›an seinen Freund‹ Phili schreiben. Worauf Holstein ihm scharf erwidert habe: »Seit vierzehn Tagen ist Eulenburg nicht mehr mein Freund, und wir werden auch nie wieder Freunde sein.« Aber die Ursache des Zerwürfnisses habe ihm Holstein nicht gesagt, sondern zunächst gezögert und dann hingeworfen: »Fragen Sie Hohenlohe. Sagen Sie ihm, ich ermächtigte ihn, Ihnen die Ursache meines Zerwürfnisses mit Eulenburg mitzuteilen.« Aber als am Abend beim Diner Hutten Hohenlohe fragte, habe dieser zunächst angesetzt, als ob er ihm die Ursache mitteilen wolle, dann die Fürstin und seine Tochter Elisabeth angesehen und gesagt: »Es ist besser, Sie erfahren die Ursache nicht.« Und Hutten habe nie Weiteres erfahren. Wir sprachen dann über Eulenburg selbst, und Hutten sagte: »Eulenburg war nicht zu halten.« Er, Hutten, habe im Auftrage des Reichskanzlers von der Polizei in Berlin Recherchen anstellen lassen, und die Polizei habe gemeldet, Eulenburg habe mit einem Straßenjungen in einem Hotel in Berlin geschlafen. Ich fragte: »Wann?« Hutten: »Als er schon nicht mehr Botschafter war.« Damit sei der Fall Eulenburg erledigt gewesen.

Rom. 30. März 1927. Mittwoch

Besorgungen. Gegen Abend nach dem kleinen protestantischen Kirchhof bei der Pyramide des Cestius die Gräber von Keats und Shelley, jeder mit seinem besten Freund neben sich, neben Shelley Trelawney, neben Keats Severn. Die Inschrift auf dem namenlosen Grabe von Keats herzzerreißend, ein unaussprechbarer Schmerz erschütternd für die Ewigkeit in Stein festgehalten. Und dieser Schmerz noch dazu aus falschen Voraussetzungen! Wahrhaft shakespearisch und packend und umwerfend wie eine Shakespearische Tragödie. Die beiden Freundespaare dioskurenhaft für die Ewigkeit vereinigt, auch ganz aus den üblichen leeren Grabesformeln, den falschen Banden konventioneller Familien- und Ehezugehörigkeit als etwas Echtes, nicht zu Bezweifelndes ganz herausfallend, Denkmäler echter Gemeinschaft εισ αει.

Capri. 11. April 1927. Montag

Pasqualino, unser Küchenjunge, Alter dreizehn, ist heute verhaftet und ins Gefängnis geworfen worden, weil er angeblich ein Mädchen auf der Straße belästigt haben soll. Er schmachtet im Kerker, weil ihm der Frühling anscheinend zu heftig in seine dreizehn Jahre gefahren ist. Das heutige Regime ist ›sittlich‹, daher wird ein dreizehnjähriges Kind mit Gewohnheitsverbrechern in eine Gefängniszelle gesperrt! Moralische Hygiene. Der Polizeikommissar von Capri soll ein Streber sein, der Karriere machen will und daher Eifer markiert, um nach Rom berichten zu können, wieviele sittlich anrüchige Individuen er aus Capri fortgebracht hat.

Capri. 9. Mai 1927.Montag

Vormittags Inventur mit Mme. Borselli. Max mit ihr Bestandsaufnahme. Viel ist gestohlen worden. Nachmittags mich bei Pembertons verabschiedet. Mrs. Gamble in Zartblau und Rosa beklagte, daß ihr mehrere Hüte gestohlen sind. »They look like nothing, but they are expensive, you know«, sagte sie, indem sie auf ein reizendes Nichts zeigte, das sie auf dem Kopf hatte. Der Ärger bei der Abreise ist groß. Zwei Bilder sind spurlos verschwunden, viel Wäsche gestohlen, viel Tischporzellan verschwunden, zwei silberne Löffel usw. Die Mme. Borselli nimmt das alles aufs genaueste. So bleiben mir stark gemischte Gefühle von der Ca' del Sole zurück.

Ravello. 10. Mai 1927. Dienstag

Vormittags um halb neun aus der Ca' del Sole fort nach der Grande Marina hinunter. Der treue Alfonso – manchmal meine ich, das einzige anständige Wesen auf Capri – half und begleitete uns bis aufs Schiff; was nicht hinderte, daß mein Handkoffer stehenblieb. Als wir dieses merkten, waren wir schon vor Sorrent und mußten deshalb über Mittag dort bleiben und telephonieren, um den Koffer herüberschicken zu lassen. Abends um halb sechs kam er, und wir fuhren im Auto nach Ravello ab, Max, Grete Wingert und ich.

Pompeji. 12. Mai 1927. Donnerstag

Vormittags mit Max und Grete Wingert in Pompeji die übliche Rundtour. Nachmittags um viereinhalb im antiken Theater die erste Aufführung seit zweitausend Jahren: die ›Alkestis‹ des Euripides auf italienisch. Sehr schön, zum Teil, in der ersten Hälfte, erschütternde Aufführung. Die Alkestis, der Herakles, der Thanatos von ganz erstklassigen Schauspielern. Die in ein so merkwürdiges Dämmerlicht getauchte Figur des Admetos übersteigt vielleicht (wie Hamlet) die Möglichkeiten schauspielerischer Verkörperung. Die stupende Kühnheit und Genialität des Werkes noch ganz frisch und unverstaubt. Die Psyche des Admetos, der Alkestis rätselhaft und doch fest umrissen, heute wie vor zweitausend Jahren. Es ist auch im Aufbau des Werkes aus tragischen und komischen Elementen etwas Romantisches, Shakespearisches. Letzten Endes bleibt, so fühlt man, hier wie bei Shakespeare die menschliche Seele ein Rätsel, das Ereignisse, Situationen, Katastrophen hier und da erhellen, ohne je mit ihrem Licht in die letzten Urgründe zu reichen. Je mehr Licht hineinfällt, um so mehr empfindet man das Dunkle, Rätselhafte, Unauflösbare des menschlichen Inneren.

Rom. 15. Mai 1927. Sonntag

Im Auto von Neapel nach Rom. Herrliche Landschaft, groß und lieblich. Mittags in Monte Cassino. Die Aussicht von oben fast erhaben schön über die Bergwildnis und die fruchtbaren Täler. Aber das Kloster enttäuschte mich. Es ist ein ziemlich gleichgültiger, wo Effekte gesucht werden, theatralischer Barockbau, der nirgends eine Spur von echtem Gefühl verrät; mit dem Montserrat aber auch in theatralischer Eindruckskraft nicht zu vergleichen. Die Kirche nicht wie auf dem Montserrat eine unfaßbar geheimnisvolle Mysterienszene, sondern ein protziger Prunksaal, der nur dazu dazusein scheint, zu zeigen, wie reich der liebe Gott ist.

Die Fresken des Pater Desiderius, des Freundes von Maurice Denis, sind in schroffstem Gegensatz hierzu wirklich ernst und voller Ausdruck, wenn auch künstlerisch kalt und ohne feinere Qualitäten. Aber immerhin eine Art von Wunder in dieser Umgebung. Nur wurden sie mir völlig ungenießbar gemacht durch den Mönch, der uns führte und der ununterbrochen mit einer rekordbrechenden Geschwindigkeit schwatzte und, wenn ich versuchte, nicht hinzuhören und die Fresken anzuschauen, mich beim Arm packte und schüttelte, um meine Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken.

Von Monte Cassino durch die herrlichste Landschaft weiter. In Frosinone, auf der Höhe, wo ein wahrhaft grandioser Blick sich auf die Abruzzen auftut, in einer sehr sauberen kleinen Osteria einen Imbiß genommen. Dann nach Rom weiter. Gegen Sonnenuntergang kamen wir in die Campagna, einen besonders wilden, öden, großartigen Teil, links die schon in den Abendschatten blauenden Herniker Berge, fern im Westen die Öffnung nach dem Meer, über dem der rote Sonnenball stand. Vor Rom verfuhren wir uns und kamen schließlich bei Nacht durch die Porta Maggiora hinein.

Zürich. 23. Mai 1927. Montag

Mein Geburtstag. Vor einem Jahr feierte ich ihn in Weimar, zwei Tage darauf fuhr ich aus Deutschland fort.

Zweimal heute bei meinem Augenarzt Professor Vogt. Er sagt, das Auge sei vielleicht etwas besser, jedenfalls nicht schlechter als im Februar. Das Sehfeld nach der Temporalseite ein wenig erweitert. Er hält aber eine weitere Besserung für unwahrscheinlich.

Abends kam Wilma an. Mit ihr und Max im Grill Room des ›Baur au Lac‹ meinen Geburtstag bescheiden gefeiert.

Zürich. 24. Mai 1927. Dienstag

Mit Wilma und Max bei Hug Grammophonplatten gekauft. Abends in das Gastspiel des Moskauer Künstlertheaters (Prager Gruppe) im Schauspielhaus. Sie gaben Szenen aus Dickens' ›Der Lebenskampf‹. Außerordentlich das Zusammenspiel, die natürliche Gruppenbildung, das Tempo. Aber das Haus war bedauerlicherweise fast leer.

Genau heute vor einem Jahr abends bin ich aus Berlin nach Paris abgefahren; es sollte ein ganz kurzer Aufenthalt in Paris werden. Statt dessen bin ich ein ganzes Jahr durch Krankheit und Rekonvaleszenz aus Deutschland, wohin ich morgen zurückfahre, ferngehalten worden. Fast wäre ich gar nicht zurückgekehrt!

Zürich-Frankfurt. 25. Mai 1927. Mittwoch

Heute bin ich nach genau einem Jahr nach Deutschland zurückgekehrt. Um zwei aus Zürich fort, bei Basel über die Grenze. In Freiburg fiel mir sowohl wie Max die Häßlichkeit der Menschen, die sich an den Zug drängten, auf. Auch häßlicher, grauer, kalter Tag. Keine angenehme Rückkehr in die Heimat, sondern ein Gefühl des Frösteins, physisch und ästhetisch.

Leipzig. 26. Mai 1927. Donnerstag

Früh an in Leipzig mit Max. Im ›Astoria‹ abgestiegen. Vormittags in die in der Vorbereitung begriffene Buchkunst-Ausstellung. Das ganze Parterre des Museums ist ausgeräumt und für die Ausstellung zur Verfügung gestellt. Mir haben sie den Mittelplatz im Ehrensaal angewiesen, was recht schmeichelhaft ist. Aber die Vitrine sah noch bös aus. Auch konnte ich heute noch nicht die Böcke zum Auflegen meiner Bücher bekommen. Deshalb entschloß ich mich, statt nach Weimar zu fahren, hierzubleiben. Abends mit Max bei Kippenbergs gegessen.

Leipzig. 27. Mai 1927. Freitag

Den ganzen Tag mit Max an der Fertigstellung meiner Vitrine gearbeitet. Zwischendurch die Ausstellung besichtigt. Das unbedingt Interessanteste, Neueste und künstlerisch Wertvollste haben die Sowjetrussen ausgestellt. Ein paar mir bisher gänzlich unbekannte Künstler haben ganz Ausgezeichnetes dort; so Alexander Tychler, Ivan Efimov, Alexej Kravtschenko. Die Ausstellung ist durch die Sowjetregierung zusammengestellt und hergeschickt. Daneben am besten typographisch die Niederländer: de Roos, Enschede, die Typengießerei Tetterode in Amsterdam, deren Erasmus-Type ganz ausgezeichnet ist, ebenso die Typen der Silver-Presse.

Die Engländer haben nicht geschickt ausgestellt: von den wirklich erstklassigen Pressen ist nur die Vale Press (Ricketts) vertreten. Dove's Press, Hornby usw. fehlen, dafür viel Mittelgut. Interessant sind die Belgier, namentlich ihre Illustratoren, vor allem Cantri. Recht gut die Tschechoslowaken. Ansätze zu guten Büchern sind auch bei den Polen und Jugoslawen. Auf die negative Seite fallen die Italiener und Franzosen. Den absoluten Tiefpunkt der Ausstellung bilden die französischen Einbände, die zu einer wahren Schreckenskammer zusammengestellt sind. Die Italiener stehen auf dem Nullpunkt; sie zeigen gar nichts, was irgendwie beachtenswert wäre. Ganz gut ist ihre National-Ausgabe von d'Annunzio und ein Druckblatt von Mondadori in Mailand. Die deutsche Abteilung ist eher enttäuschend. Neu und gut ist nur Koch, das heißt seine geschriebenen Wandsprüche, die wirkliches Pathos haben. Sonst drängen sich eine Reihe zweitklassiger Buchkünstler wie Matthéy, Gruner, Steiner-Prag in großen eigenen Kojen gar zu sehr in den Vordergrund, was ihrer wahren Bedeutung für das deutsche Buch gar nicht entspricht. Dadurch ist das Bild der Entwicklung des deutschen guten Buches vollkommen gefälscht. Namentlich, da zum Beispiel der Pan, die Großherzog-Wilhelm-Ernst-Ausgabe, die Insel-Bücherei, der Insel-Verlag als solcher überhaupt fehlen. Niemand könnte aus der Ausstellung entnehmen, welche Rolle der »Pan«, die »Insel«, die »Blätter für die Kunst« oder Leute wie Peter Behrens, Rudi Schröder, Poeschel, ich selbst bei der Herausbildung eines guten deutschen Buchtypus gespielt haben. Der erzielte und von der Ausstellungsleitung (Steiner-Prag) gewollte Eindruck, daß die paar Leipziger Buchkünstler, Matthéy, Gruner, Steiner-Prag usw., die entscheidenden Schritte getan haben, ist eine grobe Täuschung, die eigentlich über das erlaubte Maß hinausgeht. Kippenberg ist daher mit Recht ärgerlich.

Max reiste um acht ab. Kippenbergs und van de Velde, der heute abend aus Brüssel angekommen ist zur Eröffnung der Ausstellung, aßen bei mir im Hotel. Kippenberg äußerte sich sehr unverblümt über die Ausstellung.

Leipzig. 28. Mai 1927. Sonnabend

Eröffnung der Buchkunst-Ausstellung. Feierlicher Akt in der Aula der Universität. Gerhart Hauptmann sprach, launig und gut. Viele auswärtige Vertreter, unter andren Krestinski, der aus Berlin herübergekommen war. Ludwig Stein war auch da und begrüßte mich mit großer Herzlichkeit.

Nach dem Festakt Besuch der Ausstellung und Festessen in der »Harmonie«. Kippenberg sagte mir, es sei das allgemeine Urteil, daß ich mit meiner Vitrine den Vogel abgeschossen habe; sie sei die beste in der ganzen deutschen Abteilung. Beim Bankett fiel unangenehm auf die Rede des italienischen Delegierten Bemporad, der taktloserweise ein Loblied auf den Faschismus einflocht. Sehr sympathisch wurde die Rede des Franzosen, Hellen, aufgenommen. Abends war Festvorstellung des »Biberpelz« im Schauspielhaus in Gegenwart von Hauptmann.

Leipzig. 29. Mai 1927. Sonntag

Sammy Fischer und Frau luden mich zum Frühstück im Hotel mit Gerhart Hauptmanns ein. Hauptmann war begeistert von meinem Vergil und schlug mir vor, eine Luxusausgabe seines neu herauskommenden »Till Eulenspiegel« zu drucken; er würde, wie er sagte, großen Wert darauf legen, wenn ich das unternehmen wolle. Allerdings müsse er mich, ehe ich mich dazu entschlösse, in das Werk einführen. Er skizzierte mir gleich einiges, so das große Konzil in Wittenberg, lud mich aber ein, ihn, sei es in Bad Liebenstein, wo er sich gegenwärtig aufhält, oder in Agnetendorf in nächster Zeit zu besuchen, damit er mir den Till vorlesen könne. Dazu brauche er allerdings drei Tage, die ich ihm schenken müsse. Ich sagte im Prinzip zu.

Vorher, am Vormittag, Verhandlung bei Kippenberg über den Druck von »Rilkes Briefe an Rodin« auf der Cranach-Presse; auch von einem Band früher Prosa von Rilke. Ich schlug vor, die Briefe in meiner Johnston-Kursive und im Aldus-Format als kleinen, sehr preziösen Band zu drucken, was Kippenberg mit Freude annahm. Allerdings ließ er sich wie immer eine Hintertür offen, er müsse erst noch die Erlaubnis des Rodin-Museums einholen.

Abends aß ich bei Kippenbergs mit van de Velde. Bei dieser Gelegenheit den Plan vorgebracht, eine Ausgabe des Petron mit Holzschnitten von Marcus Behmer herauszubringen. Kippenberg nahm die Idee geradezu mit Begeisterung auf und will Behmer einladen, in der nächsten Zeit zu einer Besprechung nach Leipzig zu kommen. Auch möchte er, daß ich den »Vathek« mit Illustrationen von Behmer drucke. Er wiederholte immer wieder, daß meine Ausstellung die beste sei. Auch van de Velde sagte mir dasselbe.

Weimar. 30. Mai 1927. Montag

Nach Weimar zurückgekehrt nach über einem Jahr. Mit van de Velde und Guseck nachmittags hinübergefahren. Das Haus ist in der Zwischenzeit umgebaut, der Garten neu angepflanzt worden. Es war eine große Freude, es wiederzusehen. Abends bei mir mit van de Velde und Guseck gegessen und nachher auf der neuen Gartenterrasse gesessen.

Weimar. 31. Mai 1927. Dienstag

Den ganzen Tag mit van de Velde und Westberg an den Plänen für den weiteren Umbau des Hauses Cranachstraße 15 gearbeitet. Abends nach Tisch lange allgemeines Gespräch mit van de Velde. Von den Russen, deren Ausstellung ich lobte, meinte er: »La Russie liquide une situation; elle ne construit pas une nouvelle situation.« Die große Erneuerung der Welt, die sich ankündige, würden wohl andre bringen. Er sprach von seinem Cours de l'Histoire de l'Architecture, den er in Gent hält. Je mehr er sich in die Geschichte der Architektur vertiefe, um so deutlicher erkenne er, daß es immer nur eine Architektur gegeben habe, die unter der Hülle der verschiedenen aufeinanderfolgenden Stile immer das gleiche gewollt habe. Voll Bewunderung sprach er aber vor allem von der Gotik.

Bad Liebenstein. 2. Juni 1927. Donnerstag

Van de Velde reiste morgens nach Brüssel zurück. Ich fuhr nachmittags nach Liebenstein zu Hauptmanns. Von Eisenach im Auto durch das grüne, waldreiche Mittelgebirge, immer mit herrlichen Ausblicken auf ferne, zartgeschwungene Gebirgszüge. In Liebenstein empfing mich Hauptmann auf der Freitreppe des »Kaiserhofs« und geleitete mich in mein Zimmer. Gleich nachher gingen wir spazieren; zuerst zur Villa des Augenarztes Wiser, wo seine Frau im Garten auf einem Liegebett mit verbundenen Augen lag, dann in den Park, wo wir Frau Dehmel trafen, die ich seit vielen Jahren nicht gesehen hatte.

Das Gespräch mit Hauptmann wendete sich, anknüpfend an den Meininger, den kleinen Höfen und ihrer Bedeutung für die deutsche Kultur zu. Ich führte aus, daß mir diese mindestens zweifelhaft geworden sei. Der Knick in der deutschen Literatur um 1780, die von der bürgerlichen und sozialen Einstellung Lessings, der »Räuber«, des »Clavigo« fortgeführt und zum »historischen« Drama Schillers und zur »klassischen« Epoche Goethes hingeführt habe, sei doch zum großen Teil durch die unumgängliche Rücksicht auf die Gefühle und Gesinnungen des Weimarer Hofes verursacht worden und habe uns um die bürgerliche und politische Dichtung betrogen, auf die wir nach solchen Anfängen Anspruch hatten; dafür seien die historischen Dramen Schillers oder der »Wilhelm Meister« kein voller Ersatz. Hauptmann, dem dieser Gedankengang neu schien, stimmte zu und fügte hinzu, deshalb hätten wir keinen deutschen Roman.

Über Dehmel äußerte er sich mit einer kaum verhüllten Antipathie. Er habe zwei Dinge bei ihm immer peinlich empfunden: seine Eitelkeit und seine Rauhbeinigkeit, die in seiner Dichtung zu ganz geschmacklosen, ja ekelhaften Dingen geführt habe. Er, Hauptmann, habe zwar der Sozialdemokratie nie eigentlich parteimäßig sehr nahegestanden. Aber einmal habe er als junger Mensch einen sozialdemokratischen Ausflug mitgemacht. Dehmel sei auch dabeigewesen. Und als nach dem Mittagessen ein Fangspiel, »Fanchon«, gespielt wurde, hätten er und Ledebour mit Verwunderung zugesehen, wie Dehmel sich mit der Dame, die er haschte, jedesmal auf der Erde gewälzt habe. Dehmel habe darin irgendeine Kraftäußerung gesucht. Am Ende des Krieges sei Dehmel einmal zu ihm gekommen und habe ihn um seine Unterschrift unter ein Manifest gebeten, in dem aufgerufen wurde zum Weiterkämpfen nach dem Waffenstillstand. Er, Hauptmann, habe abgelehnt zu unterschreiben, da er die völlige Aussichtslosigkeit eines solchen Unternehmens einsah. Da sei Dehmel aufgestanden und habe, ohne ein Wort zu sagen, das Zimmer verlassen. Auch habe Dehmel es ihm sehr übelgenommen, daß er gleich nach dem Kriege nach der Schweiz gegangen sei und dort einen Vortrag gehalten habe. Dieses Unberechenbare, Plötzliche und Fanatische in Dehmels Wesen sei immer wieder hervorgebrochen.

Später gesellte sich Frau Hauptmann zu uns, und wir gingen plaudernd noch bis acht spazieren. Zum Essen ließ Hauptmann eine ›kalte Ente‹ bereiten und sprach ihr gehörig zu, wie auch nach Tisch zwei Flaschen Sekt.

Er erzählte, er habe die Freude, daß eine von ihm umgearbeitete Version des ›Hamlet‹ von Wiech in Dresden im Herbst aufgeführt werde. Er habe auf diese Bearbeitung auch schon ein Copyright herausgenommen. Er skizzierte dann seine Änderungen, die den von Abschreibern, wie er meinte, völlig verfälschten vierten und fünften Akt in die ursprünglich von Shakespeare gewollte Gestalt bringen sollen. Ich schlug ihm vor, mir seine Zusätze und Änderungen für meine Hamlet-Ausgabe mit den Craigschen Holzschnitten zu geben; ich würde sie in Rotdruck in den Text beziehungsweise als Anmerkungen einfügen. Er sagte mit großem Elan zu; er bestätigte diese Zusage wiederholt. Er spricht angeregt und gehaltvoll, nach dem Sekt mit etwas schwerer Zunge, und hört gut zu, ist durchaus nicht präpotent oder rechthaberisch. In seinem langen hellgrauen Gehrock (einen Smoking trägt er nicht, weil er ihm nicht stehe) sah er dem Geheimrat von Goethe erstaunlich ähnlich.

Bad Liebenstein. 3. Juni 1927. Freitag

Hauptmann suchte mich um zehn in meinem Zimmer auf und lud mich ein, zu ihm herüberzukommen, um uns ›in die Arbeit zu stürzen‹, das heißt, den ›Till Eulenspiegel‹ vorzunehmen. Er hat einen sehr großen, hübschen Salon, in dem er viele Bücher bibliothekmäßig aufgestellt und alles für seine Arbeit eingerichtet hat. Auch einige große Blumenkörbe standen herum. Er nahm das Manuskript, eine riesige Handschrift, in der die Hexameter in winziger Schrift von einem Abschreiber in zwei Kolumnen geordnet nebeneinanderstehen, von der ersten Zeile an vor und las mir das Vorspiel und die ersten beiden Abenteuer vor; mit leiser Stimme, um sich zu schonen, aber mit meisterhafter Klarheit und Betonung.

Er sagte, er habe zwar den Hexameter zur Grundlage genommen, sich auch an dessen Skandierung gehalten, aber eigentlich sei der Vers des ›Till‹ etwas Eigenes, Neues. Dies bestätigte sich auch, als er vorlas. Nichts von der festen, starren Versform des Goetheschen Hexameters ist übriggeblieben. Die Verse, namentlich des Vorspiels, das er erst vor kurzem gedichtet hat, klangen, wie er sie vorlas und gliederte, mehr wie rhythmische Prosa und erinnerten stellenweise an Hölderlins Hyperion-Rhythmen oder Hymnen. Der Effekt ist reich und voller Abwechslung, so daß ich eigentlich befürchte, daß beim Lesen für das Auge die strenge Form des Hexameters etwas irreführend wirken wird. Er hat als großer Sprachkünstler, der er ist, aus der deutschen Sprache die ihr eigenen Rhythmen herausgeholt und zu etwas dem Hexameter Ähnlichem zusammengefügt. Er sagte aber, der Hexameter sei ihm nicht etwas Zufälliges, Gleichgültiges, sondern ein für dieses Werk notwendiges Instrument gewesen, das allein ihn auf gewisse Dinge gebracht habe. Meine Betonung der Eigenartigkeit seines Verses und die Bemerkung, daß er wie rhythmische Prosa klänge, schienen ihm nicht ganz sympathisch; ich glaubte einen Schatten in seiner Stimmung zu bemerken.

Bei den ersten beiden Abenteuern unterbrach er sich wiederholt und brummte, dieses oder jenes sei ›viel zu lang‹, übersprang auch manches und erklärte mir, dies seien die ersten Anfänge des ›Till‹ gewesen, wo ihn der Stoff noch so beschäftigt habe, daß er nicht genug auf die Form geachtet habe. Aber das sei die Arbeit dieses Sommers für ihn, diese älteren Teile zu reinigen und in die richtige Form zu bringen; das werde er auf den Fahnen machen, wie er es bei jedem seiner Werke gehalten habe. Mein Eindruck war entschieden dem Werk günstig, das möglicherweise Hauptmanns ›Faust‹ werden wird und, wie mir scheint, neben dem ›Quint‹ sein bedeutendstes und tiefstes Werk.

Mit Hauptmanns gefrühstückt. Nachmittags Konsultation für mein Auge beim Augenarzt Grafen Wiser. Er meinte, die Sache sei nicht schlimm; er könne mich, wie er glaube, in absehbarer Zeit kurieren, wenn ich seine Brillen trüge. Bei ihm Frau Dehmel und Frau Hauptmann getroffen, die beide seine Patientinnen sind. Als ich mit Frau Hauptmann gegen halb sieben nach dem Hotel ging, kam uns Gerhart Hauptmann etwas blaß und ›défait‹ entgegen und sagte, er habe heute nachmittag geglaubt, er müsse sterben; plötzlich habe er solche Schmerzen im Magen und Blähungen bekommen, daß er das Gefühl gehabt habe, er werde platzen. Er habe Abführmittel, Zäpfchen usw. verwendet, aber nichts habe geholfen; anderthalb Stunden lang habe er die gräßlichsten Schmerzen gehabt. Jetzt sei ihm aber wieder wohl.

Inzwischen trat Sigmund Feldmann, der bei Hauptmanns zu Besuch angekommen ist, aus dem Hotel, und er, Hauptmann und ich blieben im Hotelgarten allein. Ein junges Ding von siebzehn Jahren, schlank und blond, schwebte vorüber, und Hauptmann vergaß ganz seine Todesangst. »Ob ich mich doch noch einmal verlieben soll? Ich hätte dazu fast Lust. Aber das Drum und Dran ist so peinlich; sich von einem Menschen trennen, mit dem man durch die Jahre fast zu eins zusammengewachsen ist, um einem jungen, unbekannten Menschen zu folgen ... Nein, lieber nicht.« Aber er verfolgte das junge Mädchen etwas wehmütig mit den Augen, bis die ahnungslose Frau Hauptmann aus dem Hotel wieder herankam. Worauf wir alle vier einen Spaziergang machten durch das Dorf und bis an den Waldrand dahinter.

Wir gingen am Waldsaum in einer echt Grimmschen Märchenlandschaft, der tiefe Wald, die langgezogenen, schön geschwungenen Hügel, die blaue Ferne, eine fast unwahrscheinliche deutsche Romantik. Und richtig kamen uns aus dem Walde vier Grimmsche Märchenkindchen entgegen, kleine blonde Wesen von drei bis fünf Jahren, von denen das jüngste, ein bildhübscher kleiner Junge mit Augen wie blaue Gebirgsseen, von den drei andren, älteren auf einem Wägelchen gefahren wurde. Das Bild war so reizend in der märchenhaften Landschaft, daß wir stehenblieben und die Kleinen anredeten und nach ihren Namen fragen. Der erste, ältere Junge (etwa fünfjährig) sagte, er heiße Siegfried, sein kleiner Bruder auf dem Wägelchen Wilfried, der kleine Freund dahinter nannte seinen Namen: Gerhard, was Hauptmann sehr belustigte: er schien einen Augenblick zu argwöhnen, der Kleine habe ihm nur ein Kompliment machen wollen, beugte sich nieder und streichelte ihn. Dann lief und fuhr die kleine Gesellschaft weiter dem Dorfe zu.

Ich brachte die Rede wieder auf Hauptmanns Bearbeitung des »Hamlet«. Er bezeichnete als den Kernpunkt, daß er den Aufstand gegen den König nicht auf Laertes, sondern auf Hamlet zurückführt. Nicht Laertes, sondern Hamlet sagt die Worte: »Du schnöder König, gib mir meinen Vater wieder.« Hamlet hat sich mit Fortinbras verbündet und kommt mit diesem zurück, um seinen Vater zu rächen und sein Erbe zurückzuerobern. Erst dadurch würden die beiden letzten Akte verständlich. Auch werde Hamlet von dem Anschein befreit, daß er bloß ein schlapper Zauderer und Räsoneur sei. Goethe sei dieser Vertauschung der Rollen zwischen Laertes und Hamlet bereits nahegekommen, habe aber nicht die letzte Konsequenz gezogen. Ich war von Hauptmanns Argumenten stark beeindruckt. Ich glaube, er kann recht haben. Jedenfalls bot ich ihm an, bei meinem Hamlet-Druck seine Änderungsanregungen in Rotdruck zu bringen, was er mit Dank annahm.

Für seinen »Till« schlug ich ihm vor, die Hexameter nicht als Verse, sondern fortlaufend wie Prosa zu drucken, wie Schröders Hexameter in meinem Vergil, nur mit dem Zeichen am Schluß jeder Zeile, die den Hexameter kenntlich macht. Hauptmann schien den Gedanken erwägenswert zu finden und sagte, er wolle ihn sich durch den Kopf gehen lassen.

Abends aß Feldmann mit uns. Die Rede kam auf Fritz von Unruhs Nike-Buch. Hauptmann war zuerst zurückhaltend, ging dann aber immer mehr aus sich heraus, verurteilte scharf die Indiskretionen des Buches, meinte aber, wenn man sich diese wegdenke, sei es doch ein sehr bemerkenswertes Werk. Ganz meine Ansicht.

Bad Liebenstein. 4. Juni 1927. Sonnabend

Um zehn Uhr früh wieder bei Hauptmann in seinem großen Arbeitszimmer im Hotel. Er setzte die Vorlesung des »Till« dort fort, wo er gestern aufgehört hatte, bei dem Abenteuer mit dem erschossenen Angler und dem jungen Soldaten, beginnend mit der Szene nachts, wo der junge Soldat, der den Angler erschossen hat, an Tills Lagerfeuer kommt. Ich war tief erschüttert von dieser Szene. Bei Frau Dehmel in ihrem Hotel, »Herzog Bernhard«, gefrühstückt. Sie erzählte, daß sie und die drei Kinder von Dehmel noch immer ganz bequem von den Einnahmen seiner Werke leben könnten. Über Dehmels politische Stellung nach Ende des Krieges sagte sie zu meiner Überraschung, er sei ganz links eingestellt gewesen; er habe kommunistisch gewählt, korrigierte dieses dann aber dahin, er sei wohl ›unabhängig‹ gewesen. Dieses trotz seines Aufrufs zum Kampf bis zum Äußersten. Er habe eben die Unterschrift unter den Frieden von Versailles für einen Fehler gehalten.

Nachmittags setzte Hauptmann seine Vorlesung des ›Till‹ fort. Er las die Szenen auf dem Schloß in Sibyllenort beim König von Sachsen und Eulenspiegels Höllenfahrt. Bei der Stelle, wo Eulenspiegel sich das Blut auf dem Marktplatz von Lauban abwischt, sich vom Rot reinigt, bemerkte er, alles im ›Eulenspiegel‹ habe ›einen doppelten Boden‹.

Nachmittags kam Tesdorpf, das Urbild des Till, mit seiner Frau aus Köln hergefahren. Tesdorpf ist ein großer, ziemlich schlanker Mensch, Mitte der Dreißig, nicht hübsch, aber mit blendend weißen Zähnen und einem fast ständigen lustigen Lächeln. Er und Hauptmann duzen sich, und Frau Hauptmann nennt ihn ›ihren fünften Sohn‹. Er war Fliegerleutnant im Kriege, ist jetzt Vertreter einer großen englischen Firma, hat keinen festen Wohnsitz, sondern fährt ständig in seinem Auto in Deutschland herum, um die Vertreter seiner Firma zu kontrollieren. Sein Plan, sagte er, sei, sobald er genug Geld habe, einen Zweimast-Schoner zu kaufen und mit seiner Frau und einem einzigen Mann Bemannung ganz auf diesem Schoner zu leben. Im Winter in irgendeinem Hafen des Mittelmeers, in der guten Jahreszeit auf dem Meer herumschweifend, nie irgendwo zu Hause.

Abends gaben Hauptmanns ein Diner, zu dem sie außer Tesdorpfs, Feldmann und mir noch Frau Dehmel und Miß James, die Gesellschafterin einer Prinzessin Schönburg, eingeladen hatten, eine rührend magere und blonde alte englische Miß, die seit über vierzig Jahren in Deutschland lebt, aber noch immer schlecht Deutsch spricht. Nachher kamen Kanitz, der frühere Landwirtschaftsminister, und seine Schwester, die Gräfin Wiser. Hauptmann war sehr lustig und nicht zu Bett zu bekommen. Er meinte, nur so bleibe man jung, indem man mitmache und sich nicht schone. Er trank viel, blieb aber vollkommen nüchtern und klar.

Bad Liebenstein. 5. Juni 1927. Pfingstsonntag

Morgens setzte Hauptmann seine Vorlesung des ›Till‹ fort, und nachmittags las er mir wieder von viereinhalb bis siebeneinviertel vor; für beide Teile eine ziemlich große Anstrengung. Morgens die Episode des Strolches und verkommenen Pfarrers Nasa; eine äußerst saftige, vollblütige Figur. Nachmittags der Dom und das Konzil in Wittenberg. Hauptmann selbst sagte, diese sei viel zu lang, er werde sie stark zusammenstreichen. Überhaupt habe diese Vorlesung ihm sehr genützt. Er sehe jetzt genau, was noch zu machen sei, wo das Werk noch gereinigt und gefeilt werden müsse.

Abends wieder ziemlich großer Tisch mit Hauptmanns. Tesdorpfs, Dr. Feldmann, nachher Kanitz und seine Schwester, die Gräfin Wiser. Es wurde spät, und ich ging um zwölf, während Hauptmann noch als blauäugiger, weißhaariger Olympier vierschrötig auf seinem Sessel blieb.

Bad Liebenstein. 6. Juni 1927. Pfingstmontag

Vormittags las mir Hauptmann den Schluß des ›Till‹ vor, die letzten Abenteuer nach dem Konzil, Baubo, Cheiron und Eulenspiegels Tod. Ich sagte ihm, ich vermißte am Schluß Eulenspiegels Lachen, sein Lachen auch über den Tod und die letzten Dinge. Eigentlich müßte sich Eulenspiegel buchstäblich ›totlachen‹. Hauptmann sagte, das sei unbedingt richtig; er hätte das auch schon geplant, aber zunächst wieder fallengelassen; suchte in seinen Notizen und las mir daraus die Stelle vor. Dann fragte er, ob ich gemerkt hätte, welche Figur in die des Admetos hineinspiele. Ich blieb die Antwort schuldig. Er sagte: Goethe; er habe das auch durch die ›seligen Knaben‹ andeuten wollen.

Wir besprachen dann noch den Druck auf meiner Presse, wobei Hauptmann äußerte, der ›Eulenspiegel‹ werde noch um ein knappes Viertel gekürzt werden. Er wolle mir sagen, daß die Vorlesung auch ihm von großem Nutzen gewesen sei, weil er gemerkt habe, wo Längen oder Wiederholungen seien.

Dann verabschiedeten wir uns. Hauptmanns fuhren mit Kanitz und Wiech zu einem von Wiser veranstalteten Picknick, das ich abgesagt hatte, weil ich bei der eisigen Witterung und dem Regen keinen Schnupfen riskieren wollte. Ich fuhr um zwei nach Weimar zurück, wo ich abends um sieben eintraf.

Weimar. 9. Juni 1927. Donnerstag

Kippenberg, der zur Goethe-Tagung in Weimar ist, bei mir gefrühstückt. Verlags-Angelegenheiten besprochen, Druck der Rilke-Briefe, des Rilke-Prosabandes, ›Till Eulenspiegel‹, ›Hamlet‹, vielleicht eine Novelle ›Agnes‹ mit einer Einleitung von Paul Valéry.

Weimar. 11. Juni 1927. Sonnabend

Vormittags in die Goethe-Tagung im Theater, wo Wundt redete über die Wirkung von Goethes Persönlichkeit. Seine nicht sehr tiefe Rede verstärkte aber doch in mir die Zweifel am Wert der ›deutschen Weltanschauung‹ und ›deutschen Philosophie‹, die schließlich mit ihrem übersteigerten Individualismus, Historismus, Nationalismus, mit der Überbewertung des Organischen gegenüber dem Vernünftigen zum Weltkrieg und zu allem Elend und Barbarismus unserer Zeit geführt haben. Wundt natürlich sonnte sich im ungetrübten Licht dieser Weltanschauung!

Berlin. 14. Juni 1927. Dienstag

Diner bei Sammy Fischers mit Gerhart Hauptmanns, Einsteins, Hugo Simons, Jessner, dem Ehepaar Kerr, dem Staatssekretär Hirsch usw. Nach Tisch Gespräch mit Hauptmann und Einstein, das von meinem Brief an Hauptmann ausging. Hauptmann sagte, er habe die Anregung mit der Sterbeszene dankbar aufgenommen. Er werde den Tod Eulenspiegels unbedingt hinzufügen. Allerdings sei er über das Wie noch nicht ganz im klaren; er habe verschiedene Gestaltungen im Auge. Meine Anregung, daß Eulenspiegel sich über ›die letzten Dinge‹, die ihm Cheiron eben gezeigt hat, ›totlachen‹ solle, bezeichnete er als ›sehr kühn‹ Einstein gegenüber.

Ich weiß nicht, wie das Gespräch dann auf Astrologie kam. Hauptmann nahm diese Einstein gegenüber in Schutz oder, richtiger, fragte Einstein, was er davon halte, offenbar in der Erwartung, daß Einstein ihr doch irgendeine Bedeutung beimessen werde. Aber Einstein lehnte sie absolut und so schroff, wie bei seiner konzilianten Natur denkbar, ab. Das kopernikanische System habe endgültig mit der anthropozentrischen Anschauung, wonach sich der ganze Himmel um die Erde und die Menschheit drehe, aufgeräumt. Das sei wohl der stärkste Stoß, den die Weltanschauung des Menschen überhaupt jemals erhalten habe. Die Erde sei dadurch sozusagen provinzialisiert worden, nur noch ›Provinz‹, statt Haupt- und Mittelpunkt zu sein, geworden. Damit sei auch die Passion Christi, die Kreuzigung, in ganz neues Licht gerückt. Hauptmann verharrte bei der Astrologie. Nächstens werde Einstein ein Buch von Johannes Schlaf bekommen, das nachweise, daß das ganze kopernikanische System falsch sei (etwas lächelnd sagte das Hauptmann): Na, wenn das auch, objektiv betrachtet, vielleicht Unsinn sei, so müsse man doch zugeben, daß die Phantasie in der Gestaltung unserer Weltanschauung auch eine Rolle spiele, daß dieser subjektive Faktor sich nicht ganz ausschalten lasse. So auch das Wort; die Formulierung irgendeiner Anschauung in Worten verleihe ihr ein Rückgrat, eine Festigkeit.

Einstein: Gewiß; er lese gerade Lévy-Bruhls Buch über primitives Denken, Dämonen überall. Wahrscheinlich sei der Glaube an die Einwirkung von Dämonen überhaupt die Wurzel unseres Kausalbegriffs. (Er wollte offenbar damit sagen, der Weg sei vom Dämonenglauben zur Astrologie [Einwirkung der Gestirne] und von dieser über das kopernikanische Weltsystem zur rein kausal-mechanischen Naturanschauung gegangen.)

Kerr, der mit seiner vulgären kleinen Frau dabeisaß, unterbrach immer wieder das Gespräch mit Witzeleien, die geistreich sein sollten, aber nicht einmal komisch waren; besonders machte er sich über den lieben Gott lustig. Ich versuchte ihn zur Ruhe zu bringen und sagte dabei, er solle doch Einstein nicht unnötig verletzen, der tief gläubig sei. »Was,« sagte Kerr, »nicht möglich! Da muß ich ihn doch gleich mal fragen. Also, lieber Professor, Sie sollen tief religiös sein?« Mit großer Würde und Gelassenheit antwortete Einstein: »Gewiß, wie man es nehmen will. Wenn man mit unseren beschränkten Mitteln in die Natur einzudringen versucht, so findet man hinter allen für uns noch erkennbaren Zusammenhängen etwas ganz Feines, Ungreifbares, Unerklärliches; die Ehrfurcht vor diesem jenseits des für uns Greifbaren Waltenden ist meine Religion; insofern bin ich in der Tat religiös.« Vorher hatte er auf meine Äußerung, daß seine Entdeckungen ähnlich umwälzend wie die des Tycho Brahe und Kopernikus auf unsere Weltanschauung gewirkt hätten, abwehrend und sehr bestimmt, ja etwas gereizt geantwortet: »Meine Erkenntnisse sind gar nicht so umwälzend!«

Hauptmann sagte mir beim Essen über den Tisch weg, als ich seine Ähnlichkeit mit Goethe streifte: »Ja, ich bin ja auch ein Sohn von Goethe.« Auf meine etwas verwunderte Frage: »Wie soll ich das verstehen?« milderte er es allerdings dahin, er sei vom gleichen Stamme. Auch mit Alexander von Humboldt bestehe diese Blutsverwandtschaft. Benvenuto (sein Sohn) habe einmal, als er vier Jahre alt war und von seiner Bonne an der Berliner Universität vorbeigeführt wurde, auf die Sitzfigur Alexander von Humboldts hingezeigt und gesagt: »Da sitzt ja Pappi!« Diese enge Verwandtschaft mit Goethe und Alexander von Humboldt scheint bei Hauptmann eine Art von mystischem Glaubenssatz geworden zu sein.

Berlin. 19. Juni 1927. Sonntag

Vormittags besuchte mich Marcus Behmer, um den ›Petron‹, den ich von ihm illustrieren lassen will, zu besprechen. Erste Besprechung, nach einem ziemlich eingehenden Briefwechsel darüber. Da er mir schrieb, daß er wieder viele Akte in der freien Natur sehen müsse, um Figuren gut zeichnen zu können, riet ich ihm, nach Phaleron bei Athen zu gehen, wo Tausende von Knaben den ganzen Tag nackt am Strand herumlaufen. Er schien von der Idee begeistert, bemerkte jedoch: »Aber wie mache ich es mit den weiblichen Akten, die man im ›Petron‹ doch auch nicht ganz vermeiden kann. Ich kann keine weiblichen Akte zeichnen; sie sagen mir nichts.« Nebenbei bemerkte er auch, daß ihm Plastik nichts sage. Er muß vor dem ›Petron‹ für Kippenberg ein ›Rumpelstilzchen‹ und den ›Vathek‹ machen, so daß wir übereinkamen, daß er erst im nächsten Mai nach Phaleron gehen und die Vorarbeiten zum ›Petron‹ aufnehmen soll. Er ist äußerlich ein ungeheuer dicker, weichlich aufgedunsener Kerl mit einem femininen Schimmer.

Baden-Baden. 3. Juli 1927. Sonntag

Früh aus Frankfurt fort nach Baden-Baden über Mainz, Worms und Speyer. Wir aßen in Speyer im ›Wittelsbacher Hof‹ im Saal, wo 1924 drei Separatistenführer, Heinz-Orbis und zwei Begleiter, ermordet worden sind. Eine der Kugeln, die sie niederstreckten, steckt noch in der Holzverkleidung. Der Oberkellner, der uns bediente, war bei der Ermordung im Saal zugegen und schilderte uns die Szene, die an die grausigsten der Französischen Revolution erinnert. Die drei Separatisten am Tisch zechend. Plötzlich treten ein paar junge Leute ein mit den Worten: »Hände hoch! Es gilt nur Heinz-Orbis und seinen Gesellen, die andern haben nichts zu befürchten!«, und schon knallen die Schüsse, die drei Separatisten liegen tot auf dem Boden, einer der Mörder dreht das Licht aus, sagt: »Eine Viertelstunde noch bleibt jeder hier im Saal; wer hinausgeht, wird erschossen«, und dann verschwinden die Mörder spurlos in die Nacht hinaus.

Zürich. 5. Juli 1927. Dienstag

Vormittags im Auto mit Max von Basel nach Zürich. Heute vor einem Jahr war die Krisis in meiner Krankheit, der Temperatursturz und Kollaps, aus dem ich nur durch ein Wunder wieder aufgewacht bin.

In Zürich Wyss besucht. Kokoschka-Ausstellung. Sein Talent besteht im Erfassen des Feinsten und Zartesten des menschlichen Ausdrucks, namentlich in Augen, Mund, Händen. Das umkleidet und markiert er aber mit einer durch nichts damit zusammenhängenden Knotigkeit und Brutalität.

Sils Maria. 7. Juli 1927. Donnerstag

Nietzsche-Haus und Nietzsche-Gedenkstein; beide so, wie man sie sich nur wünschen könnte. Das kleine, bescheidene Häuschen stand offen, wir gingen von Zimmer zu Zimmer und durch das ganze Haus, ohne jemanden zu sehen. Es ist wohl vermietet und harrt der Sommergäste, die noch nicht angekommen sind. Der Nietzsche-Stein am See auf Chasté mit der Zarathustra-Stelle ›Tief ist die Mitternacht...‹ war verklärt vom Rauschen der Baumwipfel und der Wellen, die ans Ufer schlugen; ringsherum Wald und blühende Wiesen und die erhabene, großartig-herbe Zarathustra-Landschaft.

Frau Förster geschrieben und Edelweiß aus den Zarathustra-Bergen geschickt.

Chur. 15. Juli 1927. Freitag

Im Dom stieß ich auf das Grab oder richtiger die Grabplatte von Jürg Jenatsch, die jetzt an der Wand aufgestellt ist: Georgius Jenacius, eine Inschrift und ein grobes, in Stein gehauenes Wappen. Das veranlaßte mich, Conrad Ferdinand Meyers ›Jürg Jenatsch‹ in einer Buchhandlung zu kaufen und zu lesen.

Zu meiner Überraschung entdeckte ich ein ganz großes Buch. Vielleicht kann es erst unsere Zeit, können erst wir, die wir Weltkrieg und Revolution erlebt haben, seine ganze Tiefe und Wahrheit erkennen. Jeder Nationalist und Fememörder müßte gezwungen werden, es zu lesen, damit er sein eigenes Antlitz im Spiegel sehe. Mit leidenschaftlicher Glut hat Conrad Ferdinand Meyer hier für alle Ewigkeit avant la lettre, aber erschreckend wahr das Gesicht des ›nichts als Nationalisten‹ in Erz geätzt.

Jürg Jenatsch ist ein Ungeheuer, aber ein Monstrum, das seiner Zeit weit voraus ist, dessen Nachkommenschaft im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert die Welt beherrschen sollte. Der Gegensatz Jenatsch (fanatischer Nationalist) und Rohan (Ehren- und Friedensmensch) ist der, der heute, und gerade heute, den Weltlauf formt. Es ist geradezu unheimlich, wie Meyer in diesen beiden Figuren alles zusammengefaßt und gestaltet hat, was uns heute bewegt und tief aufwühlt. Hätte er nichts andres geschrieben, er würde einen Platz für sich einnehmen als einziger großer politischer Dichter deutscher Sprache. In der Figur von Jenatsch, ihrer gigantischen Unbedenklichkeit, ihrem verbrecherischen guten Gewissen, ihrem fanatischen Machtwillen, ist der Typ vorweggenommen und vollkommen rund und tief hingestellt, der den Weltkrieg geboren hat; nur daß die eigentlichen Akteure des Weltkriegs viel kleiner, spießiger, talentloser waren, degenerierte Exemplare dieser Drachenbrut.

Bei Rohan scheint Meyer von ferne an Napoleon III. gedacht zu haben, bei Jenatsch vielleicht ein wenig an Bismarck. Aber ist dieser Typ des ›nichts als Patrioten‹ wirklich hier in Graubünden geboren worden, haben wirklich die grauen Felskolosse dieser Berge diesen Drachen auf die Welt losgelassen? Um das zu beantworten, müßte man Geschichte und Charakter des wirklichen Jürg Jenatsch kennen. War schon er wirklich, wie Meyer ihn schildert, der Mann mit dem robusten Gewissen zu jedem Verrat und jedem Verbrechen im Interesse nicht seines Königs, nicht seiner Religion, nicht seiner eigenen Person, sondern im Interesse seines Vaterlandes und seines Volkes? Ein Geschöpf der kalvinistischen Demokratie.

San Bernardino. 20. Juli 1927. Mittwoch

Vormittags langen Spaziergang hinauf in der Richtung des Monte Uccello. Nachher Feuchtwangers ›Jud Süß‹ zu Ende gelesen. Von andrem Niveau als der ›Jürg Jenatsch‹, aber doch ein sehr bemerkenswertes Buch. Die Figur des Juden selbst ist groß und tief gesehen, rund und mit allen Licht- und Schattenseiten des großen jüdischen Strebens.

San Bernardino. 21. Juli 1927. Donnerstag

Der Basler Maler Pellegrini besuchte mich vormittags und lud mich zum Nachmittag zu einem Bocciaspiel mit dem Chefredakteur der ›Basler Nachrichten‹ Oeri ein. Er erzählte, er bereite eine Rechtfertigung Hodlers vor. Die Vorwürfe, die gegen ihn im Kriege erhoben worden seien, seien ungerecht; in das Schriftstück, das man ihn unterschreiben ließ, seien nachträglich, ohne sein Wissen, die verfänglichen Sätze hineingesetzt worden. Ich sagte, heute sei die Sache doch längst verjährt und vergessen. Pellegrini: Nein, durchaus nicht; er habe in München im Glaspalast eine Hodler-Ausstellung veranstalten wollen; man habe aber abgewinkt, man könne das nicht riskieren, die Stimmung gegen Hodler sei noch zu stark.

Abends saß ich wieder mit Dürr und Willes bei Minghetti zusammen. Dürr entwickelte sehr einleuchtend und fesselnd die Anschauung, daß Conrad Ferdinand Meyer, Jacob Burckhardt, Gottfried Keller, Bachofen, Jeremias Gotthelf, Nietzsche, Gobineau, alle die großen Geister, die um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in der Schweiz gewirkt haben (Gobineau war Gesandtschaftsrat in Bern), durch das Schauspiel, das ihnen der Sieg der schweizerischen Demokratie bot, in eine Abwehrstellung gegen die Demokratie hineingedrängt und zur aristokratischen Weltanschauung bekehrt worden seien. 1831 habe in der Schweiz ein kulturfeindlicher Nivellierungsprozeß eingesetzt, der bis etwa 1875 fortdauerte und bei allen diesen Männern in verschiedenen Mischungen Abscheu, Furcht, Haß, Verachtung hervorrief. Es sei der halbgebildete Kleinbürger, der seine Halbbildung für Kultur hielt, an die Macht gelangt und habe namentlich in Basel und Genf, aber auch in Zürich und andren Kantonen die alten, hochkultivierten aristokratischen Patrizier-Geschlechter beiseite geschoben. Die Schweiz habe in diesen Jahren die Entwicklung von ganz Europa vorweggenommen. Auch seien in den verschiedenen Kantonen auf demokratischer Grundlage vielfach kleine Tyrannen, kleine ›Mussolinis‹ auferstanden, Fazy in Genf, Escher in Zürich usw., die ein hartes, rücksichtsloses Regiment im Interesse der kleinen Bourgeoisie geführt hätten. Seitdem sei die Schweiz konservativ geworden. Ich sagte: trotzdem sei ich der Ansicht, daß Europa und insbesondere Deutschland nur auf der Basis der Demokratie weiterleben könnten; man müsse Mittel und Wege finden, ihre Schwächen und Schäden zu mindern. Dürr stimmte dem bei und meinte, die beiden Heilmittel seien Hebung des Wohlstandes der breiten Schichten und Vertiefung ihrer Kultur.

Für mich war nun auch von großem Interesse, die Wurzeln der Nietzscheschen ›Übermenschen‹-Vorstellung und feindlichen Einstellung zur Demokratie bloßgelegt zu bekommen; daß sie nicht rein ideellen Ursprungs sind, sondern der Niederschlag von politischen Erlebnissen und parteipolitischen Stimmungen, die von seiner schweizerischen Umgebung und wohl besonders von Jacob Burckhardt ihm übermittelt wurden.

Bemerkenswert schien mir die Einstellung dieses sehr typischen Schweizers zum italienischen Faschismus. Nur Pellegrini, der Künstler, trat für ihn ein, fand, daß er doch im ganzen gut sei. Wille meinte, vielleicht sei es für Italien vorteilhaft, wenn er noch einige Jahre das Volk in seine Zucht nehme. Oeri und Dürr lehnten ihn ab. Oeri, weil er die Geistesfreiheit unterdrücke. Dürr sagte: er fürchte, daß er das Beste, was am italienischen Volk sei, verderben werde. Das italienische Volk sei durch eine vieltausendjährige Erfahrung feige geworden. Der Faschismus versuche auf diese Feigheit von außen einen künstlichen Heroismus zu pfropfen; das werde mißlingen. Aber der Versuch werde die besten Eigenschaften des Italieners, seine Naivität, seine Liebenswürdigkeit, seine Urbanität, seine Feinheit, zerstören.

Ich mußte gegenüber Pellegrini und Wille wieder gegen den törichten Mythus ankämpfen, daß Mussolini den italienischen Eisenbahnen und der italienischen Post Ordnung beigebracht habe. Oeri, der mit bei der Genua-Konferenz 1922 unter Facta, vor Mussolini, in Genua war, bestätigte mir, daß schon damals die Eisenbahnen in Italien genauso pünktlich gewesen seien wie heute; und die italienische Post ist heute ebenso unzuverlässig wie je. Alles in allem schien die Stimmung, trotz des spießigen schweizerischen Konservativismus, für Mussolini eher unfreundlich. Man empfindet ihn vor allen Dingen als eine Gefahr für die europäische Befriedung, wenn nicht für den europäischen Frieden.

Berlin. 31. Juli 1927. Sonntag

In den letzten Tagen mehrere Stücke des Plautus im Original gelesen. Ich kannte ihn nicht. Erstaunt über die Frische, Schlagkraft, Knappheit, Formsicherheit des Dialogs sowie über dessen Witz, Phantasie, Farbigkeit, Modulationsreichtum. Am meisten überraschte mich die ›Asinaria‹. In ihr paaren sich eine dämonische Verworfenheit mit einer wütenden Verhöhnung der Oberschicht, der Bourgeoisie, des Herrenstandes, die wie das Grollen eines nahenden sozialen Gewitters klingt, in der man schon Spartakus vorausspürt. Nirgends in der antiken Literatur entsinne ich mich eines so beißenden Geruchs nach Sklavenschweiß und Galle.

Berlin. 3. August 1927. Mittwoch

Kippenberg besuchte mich morgens überraschend und aß abends bei mir. Er floß über von Begeisterung für die neuste französische Literatur: Maurois (Ariel), Morand (Buddha vivant), Mauriac, Valéry usw. Ihnen gelinge, was das intellektuelle Publikum heute suche, was unsere Schriftsteller aber nicht könnten, ›die Durchgeistigung der Wirklichkeit‹. Er will in großem Umfange Übersetzungen dieser neusten Franzosen herausbringen und telephonierte von mir aus an Roland de Margerie, den er um Rat und Beistand bitten wollte. Abends erzählte er, daß er mit Margerie verabredet habe, dieser solle ihn immer sofort auf jede bemerkenswerte französische Neuerscheinung aufmerksam machen. Nebenbei bemerkte er, daß die alten Klassiker, wie Balzac, Dostojewski, selbst Goethe, jetzt ›tot‹ seien; kein Mensch kaufe mehr Goethe. Seinen Dostojewski habe er, bis auf die ›Brüder Karamasow‹, die noch gingen, verramschen müssen. Auch Rowohlt habe seinen Balzac ›verramscht‹. Am überraschendsten war mir gerade von Kippenberg, dem Goethe-Enthusiasten, das Zugeständnis, daß Goethe nicht mehr ›gehe‹.

Er kam dann auf Rilke und schlug mir vor, auf der Cranachpresse eine Gesamtausgabe von Rilke in fünf bis sechs Bänden zu drucken, in etwa 500 Exemplaren. Diese solle in ihrem Inhalt genau der gewöhnlichen Insel-Ausgabe entsprechen. Dazu sollten aber etwa zwei besondere ›Supplement-Bände‹ kommen mit Werken, die nicht in der gewöhnlichen Ausgabe wieder abgedruckt würden.

Berlin. 11. August 1927. Donnerstag

Verfassungstag. Fahrt durch die innere Stadt (Linden, Alexanderplatz, Leipziger Straße usw.). Die Regierungsgebäude alle beflaggt, auch die Omnibusse, Elektrischen, Untergrund, die großen privaten Geschäftshäuser, Warenhäuser, Hotels und Banken meistens nicht oder nicht in den Reichsfarben. An den andren Privathäusern mäßige Beflaggung in Schwarz-Rot-Gold. Aber alles in allem wohl mehr Flaggen als in den früheren Jahren nach Aussage von Guseck usw. Abends im ›Fürstenhof‹ am Potsdamer Platz ließ ich den Direktor kommen und fragte, warum er nicht geflaggt habe? Er erging sich in Beteuerungen, es sei nicht seine Schuld, er habe sich für die Beflaggung eingesetzt, aber durch Beschluß des Aufsichtsrats der ›Hotelgesellschaft‹, der der ›Fürstenhof‹ gehört, sei die Beflaggung in den Reichsfarben am Verfassungstage ausdrücklich untersagt worden. Ich machte ihn auf den schlechten Eindruck aufmerksam und sagte, ich werde einen Beschwerdebrief an die Hoteldirektion richten, da ich mich als alter Gast des Hotels durch ihr Verhalten verletzt fühle. Der Direktor: ich möge das ja tun; ich würde ihm damit helfen, seinen Standpunkt durchzudrücken.

Abends in den amerikanischen Kriegsfilm ›What price Glory?‹,den besten Kriegsfilm, den ich bisher gesehen habe; den einzigen, der den Mut gehabt hat, den Krieg so zu zeigen, wie er wirklich ist, ganz rund, von allen Seiten, ohne irgend etwas zu vertuschen. Bei einzelnen Bildern brach das Publikum in stürmisches Klatschen aus.

Berlin. 14. August 1927. Sonntag

Bilanz des Verfassungstages: mein Eindruck ist, daß einerseits Schwarz-Rot-Gold bei einem wachsenden Teil des Volkes, bis in die Kreise der Deutschen Volkspartei (Rede Kardorffs), als vorläufig unumstößliche Tatsache anerkannt wird; daß aber andrerseits nach wie vor die große Mehrheit der captains of industry, der Finanzgewaltigen, der Beamtenschaft, der Reichswehr, des Richterstandes, der großen und mittleren Grundbesitzer (Junker), der Universitätsprofessoren und Studenten der Republik feindlich gegenübersteht.

Berlin. 15. August 1927. Montag

Wieland Herzfelde, denich sprach, fragte ich, ob Harry Domela seine sehr gut geschriebenen, zum Teil erschütternden Memoiren, die der Malik-Verlag herausgebracht hat, ganz selbst geschrieben hat. Herzfelde sagte, er selbst und Domelas Rechtsanwalt hätten ihm dabei geholfen; aber das Wesentliche daran stamme doch von Domela selbst.

Berlin. 23. August 1927. Dienstag

Vorige Nacht um Mitternacht sind Sacco und Vanzetti hingerichtet worden. Der Entrüstungssturm in allen Ländern ist beispiellos; eine Massenbewegung wie beim Kriegsausbruch. Obwohl dieses Verbrechen sich von Tausenden, die fortgesetzt von der Gesellschaft unter dem Deckmantel der Zivilisation begangen werden, kaum unterscheidet, so ist es doch gut, daß einmal von Zeit zu Zeit durch irgendeinen zur Sensation sich auswachsenden Skandal die träge Masse fühlt, was fortlaufend an Greueln neben dem Glanz und Kitsch der modernen Kultur und hinter diesem Schleier verborgen sich abspielt.

Das ist das Typische und Historische an solchen durch irgendeinen Zufall ins Bewußtsein und Gefühlsleben der Allgemeinheit eindringenden ›Fällen‹, daß sie das sonst dumpf Hingenommene plötzlich wie einen Dolch in Millionen von Seelen hineinstoßen und diese durch den Schmerz, durch das Mit-Leid zum Erwachen bringen: so der Dreyfus-Fall, der Tod des Giordano Bruno, des Sokrates, die dadurch zu Wendepunkten in der Geschichte geworden sind. Ein solcher Fall im größten Ausmaße und mit unabsehbaren Wirkungen ist die scheußliche Abschlachtung von Sacco und Vanzetti, der wie der Blutfleck der Lady Macbeth untilgbar der amerikanischen Zivilisation im Bewußtsein der Menschheit anhaften wird.

Nachher holte ich Wieland Herzfelde in seinem Verlag zur Fahrt nach Babelsberg zu Becher ab. Ich fand Herzfelde überarbeitet, aber tief erfreut durch den fast beispiellosen Erfolg der Erinnerungen von Harry Domela. Er sagte mir, er habe von dem Buche, das erst am 3. August, also vor drei Wochen, erschienen ist, bereits siebzehntausend Exemplare verkauft.

Becher fanden wir im ›kleinen Schloß‹ im Park von Babelsberg hochherrschaftlich installiert; er sieht sehr wohl und schon stark bürgerlich aus. Vom früheren Helden Jüngling und Morphinisten ist nichts mehr zu sehen, sondern nur ein recht wohlgenährter, breiter, ja schon etwas fetter junger Mann, der mit ruhigen, unbekümmerten Augen durch eine goldene Brille einen anschaut. Auch er fand das Buch von Domela sehr bedeutend. Wir unterhielten uns über die Ursache des gewaltigen Erfolges. Becher meinte sehr richtig, es sei in der Verkleidung einer Sensation ein wirkliches Märchen mit dem uralten Thema des Aufstiegs des Bettlers zum Königssohn. Außerdem sei es glänzend geschrieben, nicht für den Leser oder den Kritiker, sondern, wie jedes gute Märchen, für den Hörer als echte ›Erzählung‹, ohne viel Ballast an Betrachtungen und Stimmungen.

Herzfelde fügte hinzu, er erzähle der Näherin, dem Kleinbürger, dem Arbeiter von der Welt und den Menschen, von denen sie am liebsten was erfahren, die für sie wie eine Märchenwelt hinter verschlossenen Türen in unerreichbarer Ferne liegt: dem Adel, den Korpsstudenten, der Potsdamer Hofgesellschaft usw. Es sei in der Tat ein modernes Märchen, mit erschütternden und glänzenden Einzelheiten übersät.

Allerdings, meinte Herzfelde, auch er messe sich einen Anteil am Erfolge bei, weil er diesen Erfolg richtig vorbereitet, ›organisiert‹ habe. Aber das ändere nichts an der Tatsache, daß das Buch diesen gewaltigen Erfolg durchaus verdiene und daß seine Wirkung in der Diskreditierung des längst Überlebten, aber irgendwo in der Provinz tot Fortbestehenden voraussichtlich verheerend sein werde. Der Hotelbesitzer Kossenhaschen aus Erfurt sei zu ihm gekommen, habe zuerst versucht, ihm die Publikation, soweit sie ihn betrifft, abzukaufen, dann einen Rechtsanwalt mitgebracht und gedroht, weil alles, was Domela erzähle, geschwindelt sei, schließlich aber beim Sekt unter Tränen zugegeben, alles sei wahr, aber wenn es veröffentlicht werde, sei er in seiner Existenz vernichtet. Schließlich hat Kossenhaschen dann, nachdem er alles durchgelesen hatte, schriftlich bestätigt, daß alles, was Domela von seinem Verkehr mit ihm geschrieben hat, wahr sei. Herzfelde zeigte mir die Urkunde. Ja, es sei noch vieles wahr, was Domela gar nicht erzählt oder bei der Niederschrift vergessen hatte. So eine köstliche Geschichte, wie er mit Kossenhaschen in Erfurt nachts am Kaiser-Wilhelm-Denkmal vorbeikomme und Kossenhaschen, um dem vermeintlichen Prinzen zu schmeicheln, vor dem Denkmal den Hut zieht und sich verbeugt und dabei dem Prinzen mit bewegten Worten seine tiefe Verehrung für ›Wilhelm den Großen‹ bekennt.

Paris. 1. September 1927. Donnerstag

Im Zug vormittags durch das Maastal von Lüttich bis Namur, wo ich 1914 so furchtbare Stunden erlebt habe. Die Brücke, über die ich in Lüttich damals einritt, in Lüttich, das brannte, die andre zwischen Seille und Andenne, über die ich die Haufen aschgrauer Geiseln abführen sah, die lange Chaussee am rechten Maasufer, über die wir von Namur abrückten, eilten wieder an meinen Augen vorbei, und ich versuchte mich in die Ereignisse von 1914 zurückzuversetzen. Aber ich war erstaunt, wie blaß sie geworden sind; wie Gespenster, ganz schwach und unwirklich geistern sie für mich in der festen, unzerstörbaren Wirklichkeit der Landschaft, die geblieben ist, während jene Schrecken und auch die Toten, ach, wie schnell, verflogen sind.

Paris. 2. September 1927. Freitag

Abends aß Jacques bei mir, und wir gingen in den amerikanischen Film ›Ben Hur‹, eine Geschichte für die ›Gartenlaube‹ mit einer widerlichen Mischung von Jesus (einem unsichtbaren, aber als Film-›Deus ex machina‹ von Zeit zu Zeit sentimental eine Hand hineinreckenden Jesus), von Süßlichkeit, falscher Antike und Zirkusattraktionen. Letztere allerdings gut: namentlich ein erstaunliches Wettrennen von Viererzügen.

Paris. 3. September 1927. Sonnabend

Gladkows ›Zement‹ zu Ende gelesen. Ein prachtvolles Buch; ein historischer Roman großen Stils aus der jüngsten Vergangenheit. Kein Buch hat mir eine so sinnlich greifbare Vorstellung der kommunistischen Revolution gegeben wie dieses.

Paris. 4. September 1927. Sonntag

Nachmittags in Marly bei Maillol, den ich seit anderthalb Jahren nicht gesehen hatte. Er sah gesünder und froher aus als 1926. Zeigte Jacques und mir im Atelier seine neuen Arbeiten, vor allem die Vergrößerung einer älteren Statuette von einer Frau, die sich mit beiden Händen das Haar auf dem Kopf zusammendreht; er hat aus dieser Vergrößerung eines seiner Meisterwerke gemacht. Mir gab er die Bronze seines Entwurfs zu einem Kriegerdenkmal, den sterbenden Krieger. Er schien glücklich und guter Dinge.

Paris. 6. September 1927. Dienstag

Vormittags um elf kam nach Verabredung Maillol, der mich gebeten hatte, mit ihm einen Platz im Tuilerien-Garten für sein Cézanne-Denkmal zu suchen. Man hat ihm einen Platz in der Ecke der Terrasse links an der Seine und Place de la Concorde angeboten, den er mit Recht ablehnt, weil der Eiffelturm den Hintergrund bilden würde: »Voyez-vous ma statue toute petite avec la Tour Eiffel lui sortant du ventre!« Der Platz, den er bevorzugt, ist auf der Terrasse oberhalb des Eingangs rechts, weil der Platz begrenzt und von Bäumen eingerahmt ist.

Nachher frühstückten wir im Café de la Paix. Er erzählte mit Stolz, daß er Autofahren lerne; mit fünfundsechzig Jahren sei das keine Kleinigkeit. »Mais vous verrez, l'année prochaine, si vous venez à Banyuls je vous conduirai.« Dann kam er auf seine Anfänge in Paris. »J'étais tout seul; je ne connaissais personne. Sans cela, j'aurais peut-être continué à faire de la peinture. Mais je n'arrivais pas à faire ce que je voulais en peinture, et je n'avais personne pour me donner des conseils.« Aber er habe doch damals eine Anzahl von Frauenköpfen gemalt, die gut gewesen seien. Nur seien die meisten von diesen verschollen; er wisse nicht, wo sie jetzt seien. Namentlich einer, eine junge Frau mit einem Blumenkranz auf dem Kopf, sei, wenn er sich richtig darauf besinnen könne, gut gewesen. Ich sagte, ich hätte einen Frauenkopf von ihm in Weimar, den er mir selbst, vielleicht vor zwanzig Jahren, verkauft habe. Er wußte es nicht mehr und sagte, er könne sich absolut nicht erinnern, was für ein Frauenkopf das sein könne.

Er erzählte, er habe damals in seiner Not Theaterdekorationen für das Puppentheater von Maurice Bouchor gemacht; eine Dekoration, ein Bordell, für ein Stück von Hroswitha und ein byzantinisches Bad, in dem er die Mosaiken in der Manier von van Gogh gemalt habe. Dieses habe Puvis de Chavannes sehr bewundert, so daß er sich Maillol habe vorstellen lassen und ihn beglückwünscht habe. Puvis de Chavannes und auch Renan seien regelmäßige Zuschauer in Bouchors Puppentheater gewesen. Nur habe Bouchor alle Plätze verschenkt und sei schließlich in Vermögensverfall geraten. Erst später lernte Maillol Gauguin kennen. Er habe damals auch einen Wandteppich auf Bestellung für dreihundert Francs gemacht, wobei er noch die Wolle und eine Arbeiterin bezahlen mußte, und habe trotzdem von den dreihundert Francs sechs Monate gelebt: ça c'est du génie, vivre six mois de trois cent francs!

Im Tuilerien-Garten sah er sich das garstige Denkmal für Perrault von einem gewissen Pech an; ein Denkmal im Stil unseres Eberlein mit einem gestiefelten Kater als Sockelfigur. Er überlegte: »Mais je connais cet homme: Ah, mais oui, c'est l'ami de... qui, quand celui-ci lui montra un Gauguin, le trouva affreux, en disant: ›Ces bougres-là ne savent rien; ils mettent une tache de couleur parce que ça fait bien.‹ C'est done que d'après eux il faut mettre de la couleur de façon à ce qu'elle ne fasse pas bien!«

Ich brachte ihn nach dem Frühstück im Auto nach Marly und fuhr dann zu Paul Valéry, um ihn zu bitten, Vergils ›Georgica‹ für mich zu übersetzen. Sein Salon, in dem ich zuerst wartete, ist sehr ›vieille France‹, mit schönen alten Möbeln, die harmonisch ausgesucht sind, und einigen guten modernen Bildern. Valéry, mit sorgfältig gescheiteltem silbergrauem Haar und in einem eleganten schwarzen Straßenanzug mit der Rosette der Ehrenlegion, paßt in diese Umgebung hinein wie ein alter Marquis. Er erkundigte sich nach Helene Nostitz, erzählte von seinem Gang mit ihr durch die Berliner Museen, une visite un peu au galop, und sprach befriedigt über seinen Berliner Aufenthalt.

Meine Bitte schlug er mir ab. Er sei erstens zu beschäftigt, und zweitens lägen ihm die ›Georgica‹ nicht; er verstehe nichts von Landwirtschaft, kenne nur das Meer und Weinberge. Das gehe so weit, daß er erst durch Mallarmé das Getreide als solches erkennen gelernt habe. Mallarmé habe bei dieser Gelegenheit sogar eines seiner schönsten Worte geprägt. Es sei 1898 gewesen, er bei Mallarmé auf dem Lande zu Besuch, Ende Juli oder Anfang August, wo das Getreide schon golden wurde. Valéry fragte Mallarmé, als sie durch ein Getreidefeld gingen, quelle était cette herbe? Mallarmé: Mais, mon cher, c'est du blé. Und dann nach einer Pause, nachdem er das goldene Korn betrachtet hatte und offenbar an die bevorstehende Konzertsaison in Paris dachte, für die er sich sehr interessierte: ›C'est le premier coup de cymbales de l'automne.‹

Valéry sagte dann, wenn es sich um ein kürzeres lateinisches Werk handele und eines, das ihm liege, würde er gern mit Maillol und mir zusammenarbeiten: zum Beispiel etwa Ciceros ›Somnium Scipionis‹ würde ihn interessieren; vielleicht mit Ergänzungen aus Macrobius' Oden, auch einzelne seiner eigenen Gedichte, wenn Maillol dazu Illustrationen machen wolle. Ich sagte: warum dann nicht eine Gesamtausgabe seiner Werke, de grand luxe! Zu etwa dreihundert bis fünfhundert Francs den Band. Er rechnete nach und meinte: es könnten drei oder vielleicht im ganzen auch fünf Bände werden. Er sei vollkommen frei, soweit es sich um Veröffentlichungen handele, wo der Band mehr als fünfzig Francs koste. Die Idee schien ihm sehr gut und durchaus ausführbar. Er konzentriere sich überhaupt auf Luxus-Ausgaben, weil er gefunden habe, daß sie mehr einbrächten, und er schließlich doch von seiner Feder leben müsse. Ich rechnete ihm vor, daß, wenn wir die Buchhändler umgehen und direkt an Subskribenten liefern könnten, ich ihm den ganzen Buchhändlergewinn zuführen könnte, also fünfundzwanzig bis dreißig Prozent. Er versprach, mir eine Liste von Subskribenten zu geben, die die Buchhändler ganz überflüssig machen würden. Ich versprach, bei meinem nächsten Besuch in Paris, im Dezember oder Januar, ihm mit ausführlichen Vorschlägen, auch in bezug auf eine Illustration, aufzuwarten. (Kogan, von dem mir Maillol heute sehr lobend sprach? Maillol selbst? Vielleicht Bonnard?)

Als Übersetzer für die ›Georgica‹ empfahl er mir André Gide, weil dieser sich immer für die Landwirtschaft interessiert habe. Infolge seiner materiellen Abhängigkeit vom Luxusmarkt interessiert sich Valéry auch lebhaft für dessen Fluktuationen. Er sagte, dieser sei seit dem vorigen Jahr ›coulé à pic‹. Er merke es an seinem eigenen Fleische. In bezug auf seine Produktion sagte er: seit fünf Jahren arbeite er nicht mehr, was ihn interessiere, sondern nur noch, was andre ihm in Auftrag gäben. So habe er, der gar keine kritischen Fähigkeiten sich zutraue, nach und nach eine ganze Geschichte der französischen Literatur in lauter kleinen Vorreden geschrieben. Er sei noch auf Jahre hinaus mit solchen Aufträgen vollgestopft. Bis 1917 habe sich niemand um ihn gekümmert. Dann sei er plötzlich Mode geworden; und seitdem sei er nicht mehr sein eigener Herr. Ich bemerkte, um ihm zu schmeicheln: »C'est la rançon de la gloire.« Er: »Voilà ce que tout le monde me dit; mais je me suis promis plusieurs fois d'étrangler celui qui me répéterait le mot.«

Alles in allem mein Eindruck: der von einem altfranzösischen Grandseigneur, einem Sophisten mit einem Händler in einem, ziemlich harmonisch gemischt und durch Geist und Bosheit gewürzt; lauter Form und Verstand als schillernde Kruste über einem schwer definierbaren, vielleicht absichtlich verschleierten Abgrund von Unklarheit. Bei unseren deutschen Zelebritäten sind die Wolken meistens außen drum herum, und der Kern ist manchmal erschütternd simpel; bei Valéry sind die Wolken drinnen, und die Umhüllung ist lauter Klarheit und Glanz. Der deutsche ›große Mann‹ gleicht einem kreißenden Berg, wenn auch nur eine Maus schließlich herausschlüpft, Valéry einer gleißenden Schlange, in deren Inneres hineinzusehen uns versagt ist. Bei unseren ›Größen‹ ist außen drum herum oft scheinbar ein weltenträchtiges Chaos und drinnen nur eine kleine, bescheidene Nachtlampe; bei den Franzosen wie Valéry draußen ein blendender Regenbogen und dahinter im Innern man weiß nicht was, vielleicht auch nur ein Nachtlicht, aber unendlich kunstvoll wie der Schatz des Rhampsinit vor der Neugier Unberufener gesichert. Gegensatz männlich teutonischen Auftrumpfens (etwas naiv und tölpelhaft) und weiblicher Verführungskünste. Man vergleiche Spengler mit Renan (ohne irgendwie den Wert, den ganz ungleichen Wert, beider in Parallele stellen zu wollen). Das Traditionelle, Unoriginelle ist beim Deutschen (mittleren ›Genies‹) meistens der Inhalt, der ›letzte Schluß‹, zu dem er kommt, beim Franzosen gleichen Niveaus die Form, die Hülle, in die er seine mehr oder weniger neuen Gedanken kleidet.

Paris. 14. September 1927. Mittwoch

Greens ›Adrienne Mesurat‹ gelesen. Ein Meisterwerk; die erschütterndste Tragödie der Einsamkeit, einer Einsamkeit, die bis zur Unerträglichkeit, bis zum Wahnsinn gesteigert wird durch den Druck einer seelenlosen Intimität.

Paris. 15. September 1927. Donnerstag

Die unglückliche Isadora Duncan ist gestern abend im Auto von ihrem eigenen Shawl, der sich in ein Hinterrad verwickelt hatte, erdrosselt worden. Ein tragisch-schicksalhafter Tod: der Shawl, der im Tanz ein so wesentlicher Teil ihrer Kunst war, hat ihr den Tod bereitet. Ihr Requisit und Sklave hat sich an ihr gerächt. Selten ist eine Künstlerin so tragisch umwittert gewesen und so aus ihrem eigensten Lebensschicksal heraus tragisch geendet: ihre beiden kleinen Kinder in einer Autokatastrophe umgekommen, ihr Mann, Jessenin, durch Selbstmord geendet, sie selbst jetzt in dieser Weise durch ihr eigenes Requisit, fast wie aus Rache, umgebracht.

Am Abend vor dem Tode ihrer Kinder war ich in ihrer Loge im Russischen Ballett; sie lud mich zum nächsten Tag zum Frühstück nach Neuilly ein, ich mußte absagen, weil Hermann Keyserling im Saal war und ich mich mit ihm verabredet hatte. Die Kindchen sollten mir nach dem Frühstück vortanzen. Ich habe immer das Gefühl gehabt, als ob auch hier das Schicksal seine Hand im Spiele hatte, daß die Kinder, wenn ich das Frühstück angenommen hätte, nicht umgekommen wären.

Arme Isadora; ich habe sie als Tänzerin in ihren Anfängen nicht geschätzt, fand sie linkisch, dilettantisch und bildungs-philisterhaft. Durch Craig wußte sie es. Später lud sie mich einmal nach Neuilly ein, tanzte mir vor, und als ich ihr meine ehrliche Bewunderung aussprach, meinte sie in ihrem amerikanischen Französisch (das eine gewisse Formverwandtschaft mit ihrer kalifornischen Auffassung von griechischer Kunst hatte): »Oui, quand vous m'avez vue (sprich: vou) avant j'étais vertueuse (sprich: vörtouöse), je ne savais pas danser: mais maintenant..!«

In Paris kam sie einmal auf den Jour zu Mme. Metschnikow, der Frau des berühmten Gelehrten. Die alte Metschnikow war umringt von gleichaltrigen Damen; sie kannte Isadora nicht und ging ihr, als sie sich anmelden ließ, in ihrem Salon entgegen mit der Frage: »Que puis-je faire pour vous, Mademoiselle?« Worauf Isadora, wie aus der Pistole geschossen: »Je voulais vous demander, Madame, si vous permettriez que Monsieur Metschnikow me fasse un enfant?« Tableau, Ohnmacht von Mme. Metschnikow, Bemühungen der alten Damen um sie. Schließlich kommt die alte Metschnikow wieder zu sich und fragt, noch halb entseelt: »Mais pourquoi, Mademoiselle: connaissez-vous le Professeur Metschnikow?« »Oh, non, Madame! Mais je pensais que si le Professeur Metschnikow me faisait un enfant, celui-ci aurait la tête du Professeur et les jambes de moi, et que ce serait tres bien.«

Einmal traf ich sie in ihren allerersten Anfängen bei Luise Begas in Berlin bei Schnee und Tauwetter. Wir begegneten uns im Vorzimmer, als sie gerade kam und ich fortging. Ich glaube, ich sah sie damals zum ersten Mal. Sie trug einen weiten lila Mantel, der von den Schultern bis zur Erde reichte, eine Art von Kutte, und darunter bloße Füße, die allerdings in Gummischuhen steckten. Sie zog die Gummischuhe im Vorzimmer aus und schritt dann, zu meiner großen Überraschung (damals war das ganz neu) barfuß in den Salon hinein.

Nachher protegierte sie die Gräfin Harrach, damals die schönste Frau am Berliner Hof und die Freundin der äußerst prüden Kaiserin. Diese ließ die alte Spitzemberg kommen und fragte sie, ob das Barfußlaufen der Damen nicht unsittlich sei? Die Spitzemberg, die mir die Sache am nächsten Tage erzählte, beruhigte sie, und so wurde eine Art von christlichem Damenverein zur Unterstützung Isadoras gegründet, der florierte, bis plötzlich eines Tages die Tatsache nicht mehr zu verkennen war, daß die Vestalin in allernächster Zeit ein Kind erwartete; worauf der Verein unter Blitz und Donnergetöse auseinanderflog und Isadora Berlin verlassen mußte.

Arme Isadora! Sie befreite sich nie von etwas Spießig-Schulmeisterhaftem, so sehr sie durch freie Liebe und Vaterwahl das Enge und Puritanerhaft-Amerikanische in ihrer Kunst zu überwinden suchte. Und doch war sie eine Künstlerin und waren in ihr bürgerliches Schicksal, Kunst und Tragik ebenso unaustilgbar verflochten wie ihre kalifornische Spießigkeit. Der Tanz, wie wir ihn heute als große Kunst schätzen, auch das Russische Ballett, wäre ohne sie nicht denkbar gewesen. Sie hat eine Saat gesät, die aufgegangen ist. Ihr Tod hätte den Vorwurf zu einem Blatt von Holbeins Totentanz abgeben können.

London. 18. September 1927. Sonntag

Abends um sieben in London an, wo sie mich im Hotel wie eine Art Gast aus dem Jenseits begrüßten, allerdings auch in das alte Zimmer stecken wollten, in dem ich vor einem Jahr krank lag. Dieses lehnte ich ab und bekam ein andres, helles Zimmer nach der Themse.

London. 21. September 1927. Mittwoch

Vormittags im British Museum Belleforests Hamlet-Erzählung aus seinem Cinquième tome des Histoires, 1582, gelesen (in Max Mottkes ›Shakespeare's Hamlet-Quellen›). Sein Schluß (Hamlet erschlägt den König und wird an seiner Stelle König) entspricht viel mehr der Version von Gerhart Hauptmann als dem üblichen Shakespeare-Text.

Douglas Cockerell frühstückte mit mir im ›Cecil›; Gill, der heute früh zum Frühstück abgesagt hatte, kam nach dem Frühstück.

Paris. 23. September 1927. Freitag

Nachmittags von London nach Paris bei strömendem Regen, der auf See und im ungedeckten Bahnhof von Calais sehr unangenehm war. Bei der Ankunft in Paris in den Abendzeitungen Nachricht vom Tode von Maltzan in einer Flugzeugkatastrophe bei Gera. Der plötzliche Tod eines im Aufstiege begriffenen Menschen wirkt immer erschütternd; und für Maltzan, mit dem ich viel zusammen gearbeitet habe, in Genua, in Genf, in Berlin, empfinde ich das Mitleid, das menschlich natürlich ist.

Wenn ich ihn aber als Politiker charakterisieren will, kommt mir immer wieder das Wort Condottiere in den Sinn. Er stellte alles, alle Beziehungen, Tradition, ja selbst die Interessen Deutschlands unter einem unwiderstehlichen Karrierendrang zurück hinter seinem persönlichen Interesse. Er war immer auf persönliche Erfolge aus, dabei ganz skrupellos, in einem seltenen, selbst bei Politikern seltenen Maße verlogen, ein Schmeichler widerlichster Art, der jedem süße Worte hinten bis zum Erbrechen hineinwürgte. Seine gute Seite war eine aus seinen übrigen Charaktereigenschaften folgende Vorurteilslosigkeit. Er war kein Reaktionär, obwohl er im Amt die traditionellen Kreise der alten Adelsbürokratie bevorzugte.

Das Traurigste für ihn ist, daß er wohl keinen Freund, niemanden unter seinen näheren Amtskollegen oder Bekannten hinterläßt, der ihm aufrichtig nachtrauern wird. Unter gewissen für ihn günstigen Umständen hätte er ein zweiter Kühlmann werden können, aber mit weniger Klugheit und noch weniger Skrupeln. Alles in allem ist sein Tod für die deutsche Politik kein Verlust, so hart das klingen mag.

Paris. 26. September 1927. Montag

Um zwei kam Eric Gill zu mir ins Hotel, um sich Geld zu holen, da er ohne Geld gestern aus London abgereist war, um seinen kleinen Jungen in Frankreich zur Schule zu bringen. Wir besprachen nochmals alles, und er versprach, im April nach Weimar zu kommen, um am ›Hohen Lied› bei mir zu arbeiten. Den Boccaccio will er im Herbst anfangen. Ich schlug ihm vor, mit mir zu Maillol nach Marly hinauszufahren. Er lehnte es ab, weil er hier nachmittags in irgendeiner Akademie Aktstudien machen wolle, bat mich aber, Maillol als großem Künstler seine Bewunderung auszusprechen.

Als Beitrag zu seiner eigenartigen Erotik vermerke ich, daß er mich vor seinem zehnjährigen Jungen fragte, wo man hier in Paris erotische Photographien kaufen könne. Auch meinte er, es sei höchste Zeit, daß man gegen den Moralismus, der uns alle vergifte, Kunst schaffe, Kunstwerke mache, die ihn erschütterten. Ich fragte lachend, was sein Freund, der Abt von Ash, zu dieser Ansicht sagen würde? Gill: Er würde sie mißbilligen; aber alle Kunst sei eine Auflehnung gegen die alltägliche Moral, bestehe aus zwei Elementen, einem moralischen und einem antimoralischen, das mit dem ersteren im Kampfe stehe.

Ich fuhr zu Maillol nach Marly allein hinaus; fand ihn mit einer leichten Grippe das Haus hütend, aber angeregt und lustig vor. Ich zeigte ihm Gills Buch. Er betrachtete die Radierungen, fand sie ›pas mal, mais trop faciles›. Er radiere zu Ronsard jetzt ganz ähnliche Vorwürfe, Liebesakte usw., aber er begnüge sich nicht mit so billigen Kompositionen, bloßen Umrissen, davon könne er aus dem Handgelenk Tausende machen; er mache sich die Sache aber nicht so leicht, sondern suche sie zu schattieren, ihnen einen Körper zu geben. Er zeigte mir dann eine Anzahl von Zeichnungen, Entwürfen zu seinen Illustrationen zu Ronsard. In der Tat sind die Vorwürfe und Stellungen denen von Gill notgedrungen sehr ähnlich, da es nicht unzählige Positionen gibt, in denen der Liebesakt vollzogen werden kann; seine haben aber eine viel größere Intimität und erotischere Atmosphäre als die etwas kalten Erotica von Gill. Ich sagte ihm Paul Valérys Wunsch, eine Gesamtausgabe seiner Werke bei mir in Weimar drucken zu lassen mit Illustrationen von Maillol. Zu meiner Überraschung sagte Maillol nicht nein, im Gegenteil, er beauftragte mich, Valéry mitzuteilen, daß er die Sache in Erwägung ziehen werde, weil er sich freuen würde, mit Valéry etwas zu machen und außerdem bei dieser Gelegenheit Valérys Werke, die unerreichbar seien, zu bekommen. Also eine nur wenig verklausulierte Zusage. Außerdem versprach er indirekt wieder, die ›Georgica› zu machen, indem er mir Jammes als Übersetzer ablehnte und lieber die alte Übersetzung von Clement Marot haben wollte. Wir verabredeten, daß ich im Januar nach Banyuls kommen und vorher mit Paul Valéry Näheres verabreden solle. Er schenkte mir eine sehr schöne neue Lithographie, die Petiet herausgegeben hat.

Paris. 27. September 1927. Dienstag

Bei Paul Valéry, mit dem die Gesamtausgabe seiner Werke besprochen. Er rechnete mir vor, daß es sechs bis sieben Bände würden; etwa drei Bände in je zwei Jahren, so daß der Druck sich auf ungefähr drei Jahre verteilen würde. Er war sehr besorgt, daß es nicht mehr als im ganzen je dreihundert Exemplare würden.

Ich fand ihn ganz allein, ohne Bedienung, in seiner hübschen Wohnung, er machte selbst die Tür auf, mit einem Hexenschuß, den er sich auf einer viertägigen Erholungsreise nach La Baule geholt hat, und sehr nervös. Er sprach so überstürzt schnell und leise, daß ich ihm kaum folgen konnte: er wisse nicht, où donner de la tête: er müsse nach Wien, England, Spanien und Gott weiß wohin noch, außerdem einen Berg literarischer Verpflichtungen erfüllen, habe Familiensorgen, kurz, er flog nur so! Ich hatte das Gefühl von einer subtilen Mischung von befriedigter Eitelkeit, Schauspielertum, Überreiztheit, ausgezeichneter gesellschaftlicher Form. Er überschätzt offenbar den Wert der ›Geltung› und ist auch in erheblichem Maße Geschäftsmann. Daß er Geld verdienen will und muß, betont er mit naiver Überdeutlichkeit. Er ist wie ein Schiffbrüchiger, der eben erst ans Land gestiegen ist, überschwenglich besorgt und glücklich zu gleicher Zeit.

Wir besprachen die Reihenfolge der Bände (zuerst Eupalinos und l'Ame et la Danse, dann als Band II Monsieur Teste, Band III Poésies [wo er neue Stücke einfügen will], IV Maîtres et Amis, V Variété, VI oder VII Rhumbs). Dann Maillols Holzstöcke. Er will nächste Woche zu Maillol nach Marly hinausfahren (si je trouve le temps), um den Buchschmuck mit ihm zu besprechen. Da ich sagte, daß es mir noch nie gelungen sei, seine Gedichte zu bekommen, schenkte er mir ›Charmes›, ›Album de vers anciens› und ›La jeune Parque›.

Helene erwähnte er wieder und ließ sich ihr besonders empfehlen; er hat offenbar das Gefühl, daß sie mir irgendwie nahesteht. Über den Preis pro Band seiner Werke, sagte er, ließe sich erst sprechen, wenn der Markt wieder besser geworden oder jedenfalls leichter als jetzt zu bearbeiten sei. Vor zwei Jahren habe man jeden Preis fordern können. Jetzt hielten die Leute die Taschen zu; er merke es zu seinem Schaden am eigenen Leibe. Man müsse zwischen der Charybdis des zu teuren Buches und der Szylla des zu billigen die im Augenblick der Publikation richtige Mitte steuern.

Berlin. 29. September 1927. Donnerstag

Früh in Berlin an. Telephonat von Grete Hauptmann vorgefunden, die mich auf die Rathenau-Feier heute abend aufmerksam macht und mich auffordert, mit ihnen hinzugehen. Nachher rief Gerhart Hauptmann selbst an und lud mich zum Frühstück ein, was ich aber nicht annehmen konnte. Er fügte dann noch hinzu, auch er habe von Domelas Buch einen sehr starken Eindruck gehabt. Er hätte es gerade halb durchgelesen gehabt, als mein Brief kam.

Ich holte nachmittags Hauptmanns im ›Adlon‹ zur Rathenau-Feier ab und traf in der Halle den alten Fürsten Bülow, der sich einige Zeit mit Hauptmanns und mir unterhielt. Er sieht trotz seiner achtzig Jahre noch recht munter aus; er hat sich ja auch nie viel Sorgen gemacht. Im Auto kam Hauptmann nochmals auf Domela zurück; lobte die Zeichnung der Figuren und den Durchschnitt durch das deutsche Leben, den er gebe. Allerdings könne man wohl zur Zeit noch nicht mit ihm verkehren; er müsse fünf, sechs Jahre weiter gute Sachen produzieren, dann werde man seine Streiche als Pubertätserscheinungen vergessen. Er brauche aber eine starke Hand, die ihn führe.

Berlin. 30. September 1927. Freitag

In Tollers Stück ›Hoppla, wir leben‹ im Nollendorfplatz-Theater. Von Piscator inszeniert. Eine geballte und wirksame Theatralisierung der Nach-Revolutionszeit in Deutschland. Ohne tiefere poetische oder psychologische Qualitäten, aber durchweg spannend und scharf gesehen. Piscators Inszenierung eine Mischung von Film und Bühne, stark russisch beeinflußt, aber interessant und vielleicht, ebenso wie Tollers Stück, der Keim von etwas Neuem.

Weimar. 5. Oktober 1927. Mittwoch

Frau Förster-Nietzsche besucht. Sie war selbstverständlich ganz erfüllt von der bevorstehenden Nietzsche-Tagung, bei der Spengler einen Vortrag halten soll. Ich sagte ihr, es sei unsicher, ob ich daran teilnehmen könne, da ich mich gerade zu den Tagen bei Hauptmanns in Agnetendorf angesagt habe. Sie machte dazu ein etwas betroffenes Gesicht, bat mich aber nur, zu sehen, ob Hauptmann nicht zu der Tagung hierherkommen könne. Sie sprach dann von ihrem ›lieben Freund Mussolini‹, der der Trost ihres Alters sei: er habe sie erst vor kurzem durch den Konsul Mann herzlich grüßen lassen. Ich schwieg dazu aus Höflichkeit. Ganz im Gegensatz zu dieser Mussolini-Liebe bekannte sie sich dann als Anhängerin der ›Vereinigten Staaten von Europa‹, die ihr Bruder als erster gefordert habe.

Weimar. 12. Oktober 1927. Mittwoch

Frau Förster, die mich zum Sonnabend zum Frühstück mit Oswald Spengler zusammen eingeladen hatte, unter einem Vorwande abgesagt. Da sie aber schrieb und wissen wollte, welcher ihrer Gäste mir unangenehm sei, antwortete ich ihr wahrheitsgemäß, daß ich vorzöge, nicht im kleinen Kreise mit Spengler zusammenzutreffen, weil seine politischen Kampfmethoden und seine geistige Überheblichkeit mir seine Bekanntschaft unerwünscht machten. Ich sagte mich gleichzeitig bei ihr morgen zum Tee an und lud ihren Vetter, den Major Oehler, zum Frühstück ein.

Weimar. 13. Oktober 1927. Donnerstag

Nachmittags bei Frau Förster, die den Fall Spengler milde nahm, aber ihre Freundschaft mit Spengler betonte. Sonst war sie wie immer, liebevoll und nett; leider fühlt man aber das Kleinbürgerliche, das so gar nicht zu Nietzsche paßt, durch alles hindurch. So, wenn sie immer wiederholte, sie sei ›Auslandsdeutsche‹ (seit dreißig Jahren ist sie aus Deutschland nicht mehr hinausgekommen), und deshalb könne sie nicht anders als deutschnational sein. (Als sie in Paraguay war, gab es natürlich noch gar keine Deutschnationale Partei, und die alten Konservativen wollten die Werke ihres Bruders samt und sonders einstampfen, ja,die ›Kreuzzeitung‹ forderte, daß die Polizei sie sogar aus den Privat-Bibliotheken herausholen solle.) Es tut einem weh, solchen Unsinn von der Schwester Nietzsches im Nietzsche-Archiv anhören zu müssen!

Weimar. 15. Oktober 1927. Sonnabend

Beginn der Nietzsche-Tagung nachmittags in der ›Erholung› mit dem Vortrag von Spengler über ›Nietzsche und das zwanzigste Jahrhundert‹. Der Saal war überfüllt, so daß mir erst ein Stuhl hineingetragen werden mußte. Viele standen. Dafür wurde Spenglers Vortrag zu einem Debakel. Ein dicker Pfaffe mit einem fetten Kinn und brutalem Mund (ich sah Spengler zum ersten Mal) trug eine Stunde lang das abgedroschenste, trivialste Zeug vor. Ein junger Arbeiter in einem Arbeiterbildungsverein, der sich bemüht hätte, seine Kollegen mit Nietzsches Weltanschauung bekannt zu machen, hätte es besser gemacht. Nicht ein eigener Gedanke. Nicht einmal falsche Diamanten. Alles einförmig seicht, glanzlos, platt, langweilig.

Ja, Spengler hat es fertiggebracht, Nietzsche langweilig zu machen. Nur ein paar drollige falsche Behauptungen erheiterten die trübe Stunde. In England hätten die Philosophen über den Staat nie nachgedacht, ›weil England kein Staat sei‹! (Hobbes' ›Leviathan‹ usw. inexistent; oder wahrscheinlich hat Spengler nie von Hobbes und seinen Nachfolgern gehört.) Ferner: Wenn jemand im neunzehnten Jahrhundert sich für Erkenntnistheorie interessierte, so sei das ein Anachronismus, eine ›Mode von vorgestern‹ gewesen, ›wie wenn sich jemand heute statt einer modernen Einrichtung Barockmöbel oder Louis-XV.-Möbel fabrizieren läßt‹ (Mach, Wundt, Spencer, die ganze Wissenschaft der Sinneswahrnehmungen, Physiologie, Psychologie inexistent, von Spengler exkommuniziert). Ferner: Kant und die Guillotine seien parallele Erscheinungen (diesen Geistesblitz wiederholte er mehrmals, wohl aus Furcht, irgend jemand möchte diese kostbare Erleuchtung überhört haben). Kurz: die große Kanone ist zerplatzt, oder richtiger, da sie keinen Schuß abgefeuert hat, sie ist einfach ins Nichts auseinandergefallen.

Alles war nach dem Vortrag offenbar konsterniert. Frau Kippenberg, neben der ich saß und die vorher fast beleidigt war, als ich sagte, Spenglers Vortrag interessiere mich nicht, ich sei nur aus Höflichkeit gegen Frau Förster gekommen, meinte nachher, mein Urteil, ›der Vortrag eines unbegabten Primaners‹, sei noch viel zu milde. Riezler, der mich anrief, tobte am Telephon: es sei ›unerhört‹, ›ein wahrer Skandal‹. Heinrich Simon von der ›Frankfurter Zeitung‹ ebenso.

Abends aßen Simon und Riezler bei mir und hatten sich noch immer nicht über Spengler beruhigt. Ich hätte den Major Oehler gerne gefragt, wo Spenglers ›Ballungen‹, die er mir versprochen hatte, geblieben seien? Für das Nietzsche-Archiv ist es eine bedauerliche Blamage, diesen halbgebildeten Scharlatan haben sprechen zu lassen. Der Vortrag war so seicht, daß selbst Frau Förster an ihrem Spengler Zweifel bekommen haben muß. Vielleicht ist er der erste Nietzsche-Pfaffe. Aber Gott bewahre uns vor dieser Spezies. Nach Tisch kam Gordon Craig. Riezler erzählte sehr anschaulich die Ermordung von Mirbach Goertz und mir, während Simon mit Craig auf dem Sofa über Craigs Theaterkunst sprach. Er streifte dabei verschiedene mir nicht bekannte Einzelheiten. So, daß Helfferich nicht freiwillig Moskau verlassen habe, also nicht davongelaufen sei, wie Joffe mir damals höhnisch andeutete, sondern daß ihn Hintze abberufen habe, weil Helfferich eine antibolschewistische Politik trieb, die mit der in Berlin gewünschten (von Stresemann und mir beeinflußten) in Widerspruch stand.

Berlin. 17. Oktober 1927. Montag

Generalprobe von Gerhart Hauptmanns ›Dorothea Angermann‹. Hauptmanns hatten mich dazu eingeladen. An der Tür traf ich Helene, mit der und Grete und Benvenuto Hauptmann ich in der dritten oder vierten Parkettreihe vor Hauptmann und Reinhardt saß. Reinhardt jünglinghaft. Die Regie hat er offenbar mit der größten Sorgfalt geführt, wie ein großer, berühmter Arzt die Behandlung am Krankenbett eines Königs. Das Stück ist nämlich stellenweise sehr schwach, so im ersten, dritten und vierten Akt, die mehr oder weniger Massenartikel sind. Dafür sind der zweite und der letzte Akt allerbester, bitterster und menschlichster Hauptmann. Die Figur des Pastors ist ebenso alt, bösartig und vollblütig wie der Werhahn im ›Biberpelz‹: aus derselben Welt und Epoche. Hier ist eine an Sternheim und George Grosz erinnernde Giftigkeit in der Satire verbunden mit einer überzeugenderen Fleischlichkeit. Sobald der Pastor auf die Bühne kommt, dehnt sich das Werk, wird groß, überlegen, im höchsten Sinne des Wortes ›komisch‹. Allerdings spielte Werner Krauß die Rolle auch hinreißend, mit einer hinreißenden Borniertheit, wenn es so was geben kann, wie ein ins Geniehafte entrückter Ochse. Auch die Thimig als Dorothea war ergreifend, namentlich im Sterben.

Nachher aßen wir, das heißt Helene, der Dr. Feldmann, der Maler Bloch und der Kapitän Bremer (den ich früher schon einmal bei Rathenau getroffen hatte), bei Hauptmanns im ›Adlon‹. Grete Hauptmann sagte mir, Hauptmann habe den Tod Till Eulenspiegels geschrieben; es sei die ergreifendste Szene der Dichtung geworden. Ich merkte übrigens, daß es ihr nicht angenehm war, auch nur im entferntesten daran erinnert zu werden, daß ich diese Szene durch meinen Brief angeregt hatte. Sie betonte (übrigens natürlich mit Recht), was er aus dieser Todesszene gemacht habe, sei so ergreifend. Auf meine Bemerkung an Hauptmann, es müsse ihn doch mit Freude erfüllen, eine Figur wie den Pastor Angermann aus den Tiefen seiner Phantasie so lebenswarm ins Licht emporsteigen zu sehen, wie ihn Werner Krauß gestalte, meinte er etwas müde: eigentlich habe er daran keine so große Freude mehr, so viele Figuren seien schon vorhergegangen, die teils tot, teils scheintot, teils wieder belebt worden seien, daß er etwas abgebrüht sei.

Weimar. 22. Oktober 1927. Sonnabend

Gefrühstückt bei Frau Förster-Nietzsche. Sie fragte mich, wie ich Spenglers Vortrag gefunden hätte? Ich sagte ihr ohne Umschweife die Wahrheit, die sie ohne Gegenrede anhörte. Dafür sagte ich ihr, was richtig ist und was sie sichtlich erfreute, daß die Nietzsche-Tagung im übrigen einen guten Widerhall gehabt habe. Sie selbst hat trotz ihrer einundachtzig Jahre gut durchgehalten, sieht aber etwas zarter und müder als sonst aus. Sie erzählte viel aus ihrer Zeit in Paraguay und von den Greueln der Herrschaft des Diktators Lopez; Geschichten, die wie von Hudson oder Cunningham Grahame klangen: Erschießungen ganzer Kompanien, die Schätze auf Befehl des Diktators vergraben hatten, damit niemand am Leben sei, der den Ort verraten könnte, eine englische Geliebte des Lopez, die später zurückkehrt, um einen Schatz zu heben, erkannt wird und als Küchenjunge verkleidet fliehen muß, eine Gesellschaft englischer Abenteurer, die sich die Erlaubnis erwirken, im Urwald nach Kautschuk zu suchen, die spurlos verschwinden und von denen es heißt, sie hätten nach den Schätzen des Lopez gesucht und seien mit einer eisernen Truhe voll Gold, die sie aus einem Urwaldsumpf gehoben hätten, abgezogen.

Dann erzählte sie auch, daß sie sich jetzt mit Bayreuth ganz ausgesöhnt habe. Im vorigen Jahr, während der Festspiele hier für Siegfried Wagner, habe zuerst die Gräfin Gravina vorgefühlt und dann die ganze Familie Wagner bei ihr Besuch gemacht; sie habe für sie ein Frühstück gegeben, und bei diesem sei die Versöhnung dann feierlich besiegelt worden, indem sich alle um den Tisch herum die Hände gegeben hätten und sie die ›Sternenfreundschaft‹ ihres Bruders vorgelesen habe. Siegfried habe sie dann ganz offiziell nach Bayreuth eingeladen in die Wagnersche Familienloge. Sie könne ihm nicht böse sein; sie sehe ihn immer noch als kleinen Jungen, der ihr erklärt habe, er liebe sie mehr als alles in der Welt.

So klingt die große, welterschütternde Fehde Richard Wagner-Nietzsche, der ›Fall Wagner‹, am Kaffeetisch aus; niedlich und ganz im Stil der beiderseitigen Epigonen. Damit auch die Hofatmosphäre, die für Bayreuth so bezeichnend ist, nicht fehle, hat die ›Fürstin von Albanien‹ der Szene beigewohnt und gerührt von der Versöhnung Kenntnis genommen. Alles das ist unendlich spießig und einige tausend Gefühlsmeilen vom Ausklang der ›Götterdämmerung‹ entfernt, und erst recht vom ›Zarathustra‹. Aber wer weiß, ob sich Richard Wagner mit Nietzsche nicht auch an einem Kaffeetisch versöhnt hätte? Allerdings Nietzsche mit Richard Wagner wohl kaum.

Weimar. 23. Oktober 1927. Sonntag

Ein guter Witz, den mir Hilferding von Carl Fürstenberg erzählt: Louis Hagen führt Fürstenberg durch seinen neuerworbenen Herrensitz und zeigt ihm die einzelnen Säle, von denen jeder in einem andren alten Stil eingerichtet ist: Louis XVI., Louis XV., Louis XIV. Schließlich kommen sie in ein Zimmer, das mit einfachen altmodischen Plüschmöbeln ausgestattet ist. Louis Hagen meldet: das Wohnzimmer aus meinem Elternhaus. »Ach so,« fragt Fürstenberg, »wohl im vorchristlichen Stil?«

Leipzig. 31. Oktober 1927. Montag

Nachmittags im Wagen nach Leipzig gefahren bei warmem, hellem Herbstwetter. Bei Kippenbergs gegessen und Fragen der Presse, Rilke-Ausgabe, besprochen.

Maximilian Harden ist gestern gestorben. Er war einer meiner ältesten Bekannten. Seit dem Erscheinen meines Mexiko-Buches, 1897, sind wir nie ganz außer Fühlung gekommen. Auch gehörte ich zu den wenigen, mit denen er sich nie überworfen hat. Ich fand in ihm immer einen ganz besonders höflichen, aufmerksamen, eifrigen und klugen Berater und Partner bei gelegentlichen Zusammenkünften. Auch war er von unantastbarer Ehrlichkeit; er hätte nie um irgendeinen Vorteil irgendeine Ansicht vertreten oder bekämpft. Allerdings spielte ihm seine fanatische Oppositionswut manchmal böse Streiche, ja, sie verwirrte seine Gesinnung gelegentlich ebenso arg wie nur irgendeine Bestechung; so in der Moltke-Affäre. Er konnte daher ebenso gemeingefährlich werden wie eine käufliche Größe. Das letzte Mal sah ich ihn an dem Abend vor anderthalb Jahren, als er mit Max Reinhardt, Vollmoeller, Oscar Fried und Goertz bei mir in Berlin soupierte, als die Josephine Baker nachher tanzte. Er war an dem Abend ganz besonders witzig und amüsant im Gespräch mit Fried über Antisemitismus. In meinem weiteren Bekanntenkreis reißt sein Tod eine schmerzliche Lücke.

Leipzig. 1. November 1927. Dienstag

Vormittags im Insel-Verlag mit Kippenberg das Nähere zur Rilke-Ausgabe verabredet. Als ich ins Hotel zurückkam, traf ich vor der Tür Moissi, der hier ein Gastspiel gibt. Wir sprachen über Harden, mit dem auch Moissi befreundet war. Insbesondere auch über den fanatischen Haß Hardens auf Rathenau in den letzten Jahren seines Lebens; ein Haß, der nach der jahrelangen intimen Freundschaft unerklärlich schien. Moissi meinte, Harden hätte es Rathenau tödlich verdacht, daß er seinen großen Lebenswunsch, aktiv in die Diplomatie überzugehen, als Gesandter oder Botschafter, nach dem Umsturz nicht erfüllt habe. Vielleicht. Aber es muß noch irgendeine persönliche Kränkung dazugekommen sein, sonst hätte Harden seinen Haß nicht so einseitig auf Rathenau konzentriert.

Weimar. 6. November 1927. Sonntag

Abends ›Jonny spielt auf‹ von Křenek im Theater. Ein abendfüllender Sketch, in dem Gutes, Gleichgültiges und Kitschiges durcheinanderwirbeln. Musikalisch nicht sehr schöpferisch, aber ganz begabt. Nachher soupierten Craigs mit mir im ›Fürstenhof‹. Craig, der in bester Stimmung war, sprach sich scharf gegen die Piscatorschen und andren Neuerungen im Theater aus. Neuerungen im Theater seien prinzipiell schlecht, und das Publikum habe recht, wenn es sie verwerfe. Wir besprachen als weiter von Craig zu illustrierende Werke den ›Kaufmann von Venedig‹ und die ›Mandragola‹ von Machiavelli oder ›La Spiritata‹ von Grazzini.

Weimar. 11. November 1927. Freitag

Meinen ›Rathenau‹ niederzuschreiben angefangen.

Berlin. 13. November 1927. Sonntag

George Grosz vormittags bei mir. Illustration ›Till‹, eventuell ›Asinaria‹, begonnen. Gestern abend hergefahren. Heute nachmittag Musik bei Helene. Arrau spielte meisterhaft Chopin und Busoni. Große Gesellschaft. Däubler, wie ein Löwe mit weißer Mähne aussehend, Leonhard Frank, merkwürdig ähnlich Paul Valéry, Oscar Fried, der von Triumphen in Mailand und Anfreundung mit Toscanini erzählte, dann Margeries, Frau Stresemann, Zechs usw.

Eigentlich war ich hergekommen, um Kurt Weill wegen meines Balletts zu sprechen; aber dieser war zu einer Probe nach Leipzig gefahren und kommt erst morgen wieder. Viénot überbrachte mir Grüße von André Gide, den ich wiedergrüßen ließ.

Mit Zech über Walther Rathenau. Auch er hat die Erfahrung gemacht, daß Rathenau nicht diskutieren konnte. Er erzählte von einem Abend bei seinem Schwiegervater Bethmann kurz nach der Einleitung des unbeschränkten U-Boot-Krieges. Rathenau hatte nur Bethmann und Helfferich zu Tisch eingeladen; sonst waren nur noch Zechs anwesend. Nach Tisch kam das Gespräch auf den U-Boot-Krieg. Helfferich stützte sich auf Statistiken, um zu beweisen, daß er erfolgreich sein werde. Rathenau widersprach. Aber wurde, als Helfferich sich nicht überzeugen ließ, heftig und aufgeregt, so daß Helfferich, der eiskalt blieb, schließlich recht zu behalten schien. Das bestätigt alle meine Erfahrungen mit Rathenau.

Berlin. 14. November 1927. Montag

Bei Helene zum Tee, wo Kurt Weill wieder nicht erschien. Er hatte aber aus Leipzig angerufen, er komme, um mich noch zu sehen, mit dem Auto herüber und werde um sieben bei mir sein. In der Tat kam er um halb acht zu mir, und wir besprachen das Ballett. Er sagte, er möchte es gern machen, hätte aber inzwischen von seinem Verleger den Auftrag zu einer großen Oper angenommen und schon Vorschuß darauf bekommen. Er müsse daher erst seinen Verleger fragen, ob dieser ihn für das Ballett zwei bis drei Monate sozusagen beurlauben wolle. Er will die Musik zum Ballett hauptsächlich singen lassen, hinter der Bühne, und nur ganz wenige Instrumente verwenden, Flöte, Saxophon. Ich erzählte ihm von den Sardañas und ihren eigenartigen Instrumenten, spielte ihm einige auf dem Grammophon vor. Er hörte aufmerksam zu und erklärte diese Musik, die er noch nie gehört hätte, für sehr bemerkenswert. Schließlich verabredeten wir, daß er mich in Weimar besuchen soll.

Berlin. 20. November 1927. Totensonntag

Trauerfeier für Harden im Deutschen Theater. Mäßig besetztes Haus; ich schätze zu drei Vierteln. Deutsch las miserabel wie ein unbegabter Sekundaner den ›Prometheus› von Goethe. Eysoldt sprach sehr schön ein Zarathustra-Kapitel. Von den Reden war bemerkenswert nur die von Emil Ludwig, der in einer hohen Fistelstimme geistreiche Aperçus gab, die sich darum drehten, daß Harden Einsamkeit nötig gehabt habe, aber trotzdem politisch führen wollte, was ihn in einen unlösbaren, tragischen Widerspruch verwickelt habe. Auch keinen Freund habe er in seiner Nähe geduldet, sondern, sobald die Freundschaft enger wurde, einen Ausweg aus ihr, meistens durch wütende Feindschaft, gesucht.

Ludwig berührte in diesem Zusammenhang auch kurz den Haß Hardens gegen Rathenau, ohne den tiefsten schicksalhaften Grund zu streifen: den notwendigen Haß des ganz aus Intellekt bestehenden Harden (Voltaire) gegen den vom Intellekt fort zur ›Seele‹ strebenden Rathenau (Rousseau). Daneben sind die äußeren Anlässe dieser Feindschaft fast gleichgültig. Als Abschluß der öffentlichen Wirksamkeit Hardens war diese Feier so undramatisch wie möglich. Während die Rathenaus, der ein Stubengelehrter war, die Bestattung eines Volkstribunen größten Formats war, war die Hardens, der Volkstribun sein wollte, die eines mittleren Literaten. Sic transit gloria mundi.

Berlin. 21. November 1927. Montag

Auf Verabredung Besprechung mit Frau Lili Deutsch über Walther Rathenau. Im ganzen war, was Frau Deutsch über ihn sagte, mehr skeptisch als bejahend und der Unterton Enttäuschung. Sie sagte: Grundtrieb bei Rathenau war der Wille zur Macht, alles andre darum herum nur Rankwerk, auch die Menschen; alle seien sie für ihn ›nur Episode‹ gewesen, auch sie selbst. Die Briefe, die er an sie geschrieben habe, hätte er ebensogut an eine andre schreiben können, obwohl sie der Mensch gewesen sei, der ihm am nächsten gestanden habe.

Sie sprach dann sehr ausführlich über ihr Verhältnis, das nie bis zum Letzten gediehen sei. Sie spreche darüber sehr offen mit mir; aber tatsächlich sei eine bestimmte Grenze nie überschritten worden, obwohl er sehr leidenschaftlich gewesen sei. Vielleicht käme so etwas nur zwischen Juden vor, diese kühle Zurückhaltung trotz starker Leidenschaft. Auch habe in ihr Verhältnis immer die AEG hineingespielt, Walther Rathenaus Angst vor einem Skandal und was der für seine Stellung bedeuten könne. Darüber sei er nie hinausgekommen, so stark sei seine Leidenschaft nicht gewesen.

Natürlich sei Rathenau weit überlegen gewesen und habe es Harden zu fühlen gegeben. Das habe Hardens Neid und Eifersucht geschürt. Rathenau sei ein Mensch gewesen, der buchstäblich alles gewußt habe. Sein Verstand sei phänomenal gewesen, viel größer, als er zu zeigen wagte. Er habe mit dem Verstande weit in die Zukunft gesehen. Wirtschaftlich sei er der Zeit weit vorausgeeilt. Seine bleibende Bedeutung liege nur in seinen wirtschaftlichen Ideen. Die würden noch einmal grundlegend werden. Ganz falsch sei es, die Gefühlsseite bei ihm in den Vordergrund zu rücken, das ›Reich der Seele‹ usw. Gefühle habe er in Wirklichkeit gar keine gehabt. Er habe immer nur Sehnsucht nach Gefühlen gehabt. Dieses wiederholte sie immer wieder: das Gefühlsleben habe bei ihm keine entscheidende Rolle gespielt, nur der Verstand und der Wille zur Macht über andre Menschen. Sein Werben um Menschen sei nur um seines Machtwillens gewesen; so habe er um Große geworben, wie den Kaiser, Bülow, Dernburg, aber auch um ganz Kleine, Unscheinbare, um seinen Machtwillen an ihnen auszulassen, so sei Lotte K. ein kleines puckliges Persönchen gewesen, eine ›Vorwärts‹-Redakteurin, deren Werbungen er angenommen habe, weil er damals (nach der Revolution) beim ›Vorwärts‹ einen Stein im Brett haben wollte, Wilm Schammer, der Redakteur eines antisemitischen Winkelblättchens in Nikolassee, den er für sich gewinnen wollte.

Die Reise mit Dernburg nach Afrika sei eine ›Katastrophe‹ für Rathenau gewesen. Dernburg habe sich auf das taktloseste gegen ihn benommen, ihn immer zurückgesetzt, nicht zur Geltung kommen lassen usw. Sie glaube, daß Rathenau eigentlich Monarchist gewesen sei; sein Ideal wäre gewesen, es unter der alten kaiserlichen Regierung zur Macht zu bringen. Wirtschaftlich sei er dann allerdings ganz radikal geworden. Während der Revolution, als einmal wieder geschossen wurde, habe er zu ihr gesagt: »Eigentlich müßten wir auf den Barrikaden stehen; aber ich kann nicht, ich kann den Geruch der kleinen Leute nicht vertragen.« In der Tat hätten seine Sinne ihn zurückgehalten. Er habe üble Gerüche, Schmutz usw. nicht vertragen können. Aber eigentlich hätte er ein Tolstoi werden wollen. Sie habe ihm, wenn er so etwas äußerte, gesagt, er solle das doch lassen, es sei schon Tolstoi nicht gelungen, ihm werde es noch weniger gelingen.

Sie sagte dann wörtlich: »An Rathenau war alles unecht; nur der Machtwille nicht und sein Innenleben. Er war ein sehr sinnlicher Mensch; aber ich weiß bis heute nicht, wie es bei ihm mit der Erotik bestellt war. Er wußte, daß solche Dinge dem ›Fortkommen‹ hinderlich sind, und hielt sie deshalb im Zaume. Er war in einer Welt groß geworden, wo nur von Geld, Karriere, Macht die Rede war, einer fürchterlichen Welt. Als er mich kennenlernte, sagte er mir: ›So jemand ist mir noch nicht vorgekommen, der nichts will.‹ Und die ›Mechanik des Geistes‹ gab er mir mit den Worten, das ganze Buch sei nur eine Umschreibung unseres Verhältnisses.« Er sei durch und durch Romantiker gewesen. Auch sein Wille zur Macht sei ein Stück Romantik gewesen. Auch seine Bewunderung für den blonden, edlen Germanen. Diese Romantik habe mit seinem Judentum zusammengehangen. Feine Juden seien oft Romantiker. Als sie einmal schwerkrank gewesen sei, habe er ihr gesagt: »Wenn Sie wieder wohl sind, fahren wir nach Granada und Sevilla, dort gehören wir hin, dort ist unsere Heimat« (er meinte, bei den Mauren und Arabern). Auch sein Drang zu belehren sei eine jüdische Eigenschaft gewesen, aus dem Talmud stammend. Sie sei bei ihm sehr hervorstechend gewesen.

Zum Schluß versprach sie mir, Rathenaus Briefe an sie zu schicken und ein Konvolut von Briefen von Harden an Rathenau, das sich erst vor kurzem vereinzelt vorgefunden und noch niemand seitdem gelesen habe.

Berlin. 23. November 1927. Mittwoch

Bei Deutschens gefrühstückt. Nachher wieder langes Gespräch mit Frau Deutsch über Walther Rathenau. Von der Mutter Rathenaus sagte sie, es sei eine harte, böse Frau gewesen. Fortwährend Szenen zwischen ihr und dem Vater und auch dem Sohn. Rathenau sei manchmal von Tisch fortgelaufen, weil er die Szenen nicht aushalten konnte. Auch hätten ihm die Eltern keine belletristischen Interessen gestattet. Sie hätten ihm nicht erlaubt, Shakespeare zu lesen, und als sie ihn nachts bei der Lektüre eines Shakespearischen Dramas ertappten, bestraft. Seine ganze geistige Kultur hätte Walther sich selbst erobert; namentlich in Bitterfeld habe er ungeheuer viel gelesen. Er habe fortwährend an sich gearbeitet. Alles sei unwahr gewesen, Demokratie, Republik, Patriotismus; er habe immer nur sich gewollt. Allerdings sei er tief verwurzelt gewesen in der deutschen Kultur und habe von Deutschland nicht losgekonnt; das sei echt gewesen.

Zu Rathenaus Todesahnungen erzählte Frau Deutsch: Bald nachdem er Außenminister geworden war, habe er ihr gesagt, Wirth sei zähneschlotternd zu ihm gekommen und habe ihm erzählt: ein katholischer Priester sei zu ihm gekommen und habe ihm gesagt, er müsse ihm nach schweren Gewissenskämpfen unter Verletzung des Beichtgeheimnisses mitteilen, ihm habe eins seiner Beichtkinder gebeichtet, der nächste, der drankomme, werde Rathenau sein; er werde nächstens ermordet. Der Priester sei dann noch zu Pacelli gegangen und habe sich von diesem die Absolution geholt für die Verletzung des Beichtgeheimnisses.

Rathenau habe ihr das ziemlich ruhig erzählt und sie gefragt, was er tun solle? Und sie habe gesagt: Nichts. Insofern sei sie auch etwas mit schuld an seiner Ermordung. Dann habe sie ihm doch geraten, sich Schutz gewähren zu lassen. Er habe das auch einige Zeit getan; aber dann sei ihm der Schutz lästig geworden, er habe es nicht vertragen, immer Leute um sich zu haben, die ihn auf Schritt und Tritt bewachten und bespitzelten, und er habe den Schutz wieder abbestellt. Er sei überhaupt so gewesen, daß er ihr nie gesagt habe, was er tat oder wo er hinging; das sei immer in tiefes Stillschweigen gehüllt gewesen.

Am späten Nachmittag bei Rathenaus Schwester, Edith Andreae. Bei ihr kommt man in eine noch kühlere, ganz verstandesmäßige Atmosphäre. Sie erzählte und erzählte willig und viel. »Stellen Sie mir Fragen«, sagte sie. Ich fragte zunächst nach der Mutter. Im Gegensatz zu Lili Deutsch schilderte sie die Mutter als eine hochkultivierte Frau; schöngeistig, sentimental, romantisch, ausübend musikalisch, als junge Frau blendend schön, fanatisch ›rein›, so daß sie nie einen Mann angesehen habe. (Eine Photographie von ihr als junge Frau bestätigte dieses; sie hat einen ausgesprochen südländischen, spanischen Typ. Nachmanns hatten spanische Vorfahren.) Sie sei in einem reichen Hause mit Dienerschaft, Equipage, allem Luxus aufgewachsen und in der viel ärmlicheren Berliner Wohnung ihres Mannes zunächst unglücklich gewesen. Dort sei es recht knapp zugegangen, da der Vater Emil für einen Freund gutgesagt und viel Geld dadurch verloren hatte. Auch hätte sie sich als Süddeutsche schwer in die Berliner nüchterne Atmosphäre hineingefunden. Walther sei ihr ganzer Trost gewesen. In den Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn habe sie sich immer bedingungslos auf Seiten des Sohnes gestellt. Alle geistigen Anregungen habe Walther als Kind von ihr empfangen. Sie sei zwar romantisch gewesen, aber mit der Zeit auf Grund übler Erfahrungen mißtrauisch und hart geworden, im Gegensatz zu ihrem genialen, immer vertrauensseligen und übersprudelnden Mann.

Der Vater habe den zweiten Sohn Erich, der eine liebenswürdige, offene Natur wie der Vater gehabt habe, bevorzugt. Als Walther fünfzehn war, sei sie, Edith, geboren worden; die Mutter habe durch ihre Geburt schwer gelitten und sei jahrelang nachher leidend gewesen. Schließlich habe Erich Gelenkrheumatismus und einen Herzfehler bekommen, an dem er später gestorben ist. Das habe eine große Wandlung in der Mutter herbeigeführt, die sich von da an mehr zurückgezogen habe.

Ich fragte: Wie Walther wieder zu seinem Vater zurückgefunden habe, wieso es zwischen beiden nicht zu einer Katastrophe gekommen sei, Walther nicht Selbstmord verübt habe? Edith Andreae: Dafür, daß es zu keiner Katastrophe kam, habe die Mutter gesorgt, die sich dem Vater gegenüber immer auf Seiten des Sohnes gestellt habe. Die Brücke zwischen dem Vater und Walther habe der Tod Erichs 1902 gebildet. Erich sei auf einer Reise mit dem Vater in Assuan gestorben. Dieser Tod habe Emil Rathenau völlig zerschmettert. Er habe gar nicht mehr seine Gedanken sammeln können, in Aktionärversammlungen plötzlich zu weinen angefangen, weil er Erichs Sarg vor sich sah, keine Generalversammlungsrede mehr halten können, alle Zahlen vergessen; kurz, es sei ein völliger geistiger Zusammenbruch gewesen.

Da habe Walther eingegriffen, dem Vater seine Reden ausgearbeitet, alles mit ihm durchgesprochen, sei plötzlich wie der Vater seines Vaters geworden. Allmählich habe sich der Vater so an ihn gewöhnt, daß er nichts mehr ohne ihn machen konnte. Erst dadurch sei das innige Verhältnis zwischen ihnen entstanden. Der Tod von Erich habe die Brücke zwischen beiden gebildet. Walther habe im Vater das gesehen, was er gern werden wollte, einen Menschen von höchstem Geist, der doch völlig unproblematisch war. Für den Vater habe es keine Probleme gegeben. Entweder er konnte eine Sache so vereinfachen, daß er sie ganz klar erfaßte, oder er schob sie beiseite, sie interessierte ihn dann nicht mehr. Die tausendfach gebrochenen Facetten vereinigten sich ihm wieder zum reinen weißen Strahl. Gerade diese Unkompliziertheit habe Walther an seinem Vater fasziniert, weil die gerade war, was ihm fehlte. Dahin wollte Walther hinaus aus seiner Kompliziertheit.

Die Mutter zog sich nach Erichs Tod ganz in sich zurück, wurde hart, mißtrauisch, eifersüchtig auf Walther, so eifersüchtig, daß sie sogar auf Edith und ihr Verhältnis zu Walther eifersüchtig wurde. Wenn Bruder und Schwester sich sprechen wollten, mußten sie sich vor der Mutter verstecken. Sie verabredeten geheime Zeichen, um sich ein Stelldichein zu geben, trafen sich in der Garderobe heimlich, gingen heimlich zusammen in die Siegesallee wie ein Liebespaar, damit die Mutter nichts merke. Das habe bis zum Tode von Walther gedauert. Dann sei wieder eine völlige Wandlung mit der Mutter vor sich gegangen. Sie sei förmlich aufgeblüht, habe sich wieder für alles interessiert, sei breit und gütig geworden. Ganz von sich aus habe sie gesagt, sie wolle an die Mutter des Mörders Techow schreiben, habe geschrieben und den Brief nicht einmal ihrer Tochter gezeigt.

Rathenaus Romantik. Edith Andreae: Er sei durch und durch Romantiker gewesen, ›Eichendorff‹! Seine Schwärmerei für den blonden Germanen sei reine Romantik gewesen. Sie habe ihn immer damit aufgezogen: »Wenn du Siegfried oder Hermann den Cherusker träfest, würdest du davonlaufen; sie hätten dir zu schmutzige Hände.« Auch seine Liebe zu Deutschland sei romantisch gewesen. Der Krieg hätte ihn vernichtet, weil ›seine Geliebte‹ gestorben war. (Auch Lili Deutsch sagte mir, der Krieg habe Rathenau tatsächlich vollkommen gebrochen.) Erst durch den Krieg habe er auch wieder an seinem Judentum gelitten. Als junger Mensch, als er nicht Leutnant werden konnte, habe es schon einmal einen kleinen Stoß gegeben. Aber erst der Krieg habe Rathenau sein Judentum schmerzlich zu fühlen gegeben. Er wollte Deutschland, seiner ›Geliebten‹, helfen, und da wurde ihm sein Judentum wie ein Klotz zwischen die Beine geworfen.

Weimar. 11. Dezember 1927. Sonntag

Mit Max in Hindemiths ›Cardillac‹. Gute Aufführung. Die Musik hat Format und Struktur. Es ist neben Alban Bergs ›Wozzeck‹ die stärkste moderne deutsche Oper, die ich kenne.


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