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1930

Berlin. 21. Januar 1930. Dienstag

Abends Diner beim Staatssekretär Abegg; eine Abfütterung an kleinen Tischen in einer Wohnung, deren Möbel aus den neunziger Jahren stammen (Stil ›gute Stube‹) und deren Wände mit allermodernsten Bildern bedeckt sind. Der Kontrast ist wie jede sinnlose Disharmonie schmerzlich. Unter andren hängt dort auch mein Porträt von Liebermann, das ich seit vierzehn Jahren zum ersten Mal wiedersah. Diskussion mit Nowak (dem Verfasser von ›Versailles‹ usw.); er hat etwas Schauspielerhaftes. Norah Siemens wanderte wie Klytämnestra aussehend zwischen altem Gerümpel und expressionistischen Bildern herum.

Berlin. 23. Januar 1930. Donnerstag

Nostitzens und Vollmoeller frühstückten bei mir bei Savarin. Vollmoeller erzählte prickelnd farbige Geschichten von der Marchesa Casati. Eine, die von Barbey d'Aurevilly hätte erfunden sein können. Von ihrem schönen, alten, in einem großen Garten gelegenen Louis-XV.-Hotel im Faubourg St. Germain ruft sie eines Nachts um drei den Kardinal-Erzbischof von Paris an und bittet, er möge sofort zu ihr kommen, sie müsse ihm unverzüglich eine sehr wichtige Mitteilung machen; es gehe um Leben und Tod ihrer Seele. Der Kardinal, der geweckt wird, weigert sich, mitten in der Nacht sich zu bemühen, und beauftragt schließlich nach längerem Parlamentieren einen Priester, der irgendeine Stellung bei ihm einnimmt, hinzugehen. Der Priester fährt vor, klingelt, wird eingelassen und durch eine Allee des dunklen Gartens auf das Haus zugeführt. Mitten in der Allee tritt ihm plötzlich völlig nackt, in jeder Hand einen Leuchter mit mehreren Kerzen emporhebend, die Casati entgegen und will eine lange Litanei aufsagen. Der Priester, ganz entsetzt, macht kehrt und flieht, als ob er eine Verkörperung des Bösen gesehen hätte, und am nächsten Tage erstattet der Kardinal eine Anzeige bei der Polizei gegen die Casati wegen Attentat à la pudeur und Gotteslästerung. Die Sache endet damit, daß die Casati auf sechs Monate in eine Nervenheilanstalt verschwindet.

Berlin, 1. Februar 1930. Freitag

Frühstück bei Schwabachs im ›Esplanade‹ mit meiner alten Feindin aus dem Jahre 1914, Lady Cunard. Damals, nach unserem sechswöchigen Krieg, den Margot Asquith, Mechthilde Lichnowsky usw. vergeblich zu beenden suchten, weil ich von der Cunard eine förmliche Entschuldigung für ihr unqualifizierbares Benehmen bei der ›Joseph‹-Probe verlangte, fiel sie mir schließlich beim Herzog von Westminster in einem dunklen Korridor um den Hals, bat weinend um Vergebung und bettelte darum, daß ich eine Einladung bei ihr annehmen solle. Ich versprach ihr ein Frühstück, zu dem sie mich bat, die Gäste zu bestimmen. Ich wählte Margot Asquith und Mrs. Astor, die dem Friedensfrühstück auch beiwohnten, vierzehn Tage vor Kriegsausbruch.

Den Frieden vermittelt hatte die Gräfin Greffulhe, die aus Paris nach London kam und bei unserer ersten Unterredung im Piccadilly-Hotel mir sagte, ich müsse mich absolument mit der Cunard aussöhnen, und, als ich nicht sehr willig auf ihr Drängen reagierte, mich fragte: »Vous la détestez donc bien?« und als ich antwortete: »Non, mais enfin ...«, mir lebhaft das Wort abschnitt: »Allons, oui, vous la détestez; mais quand on déteste tellement une femme on est bien près de l'aimer!« Also heute war die Cunard plötzlich wieder da (sie ist irgendwie mit Frau v. Schwabach verwandt) und sah nur noch böser aus als damals; sie hat einen wahrhaft megärenhaften Ausdruck bekommen – früher saß das alles noch unsichtbar unter der Haut –, war aber ganz liebenswürdig, als ob nie etwas zwischen uns gewesen wäre.

Berlin. 8. Februar 1930. Freitag

Begrüßungsabend der Maximilian-Gesellschaft im ›Esplanade‹. Gundolf redete über die Droste-Hülshoff, an der er nur ein gutes Haar ließ: die ›Judenbuche‹.

Berlin. 13. Februar 1930. Mittwoch

Diner bei Theodor Wolffs. Molnar, Emil Jannings, Flotow, Kardorff usw. Molnar, ein fröhlich aussehender Greis mit weißen Haaren und frischem Gesicht. Jannings meinte, das Sprechtheater sei zum Aussterben verurteilt; der Tonfilm werde es töten. Nur noch einige subventionierte Theater in Weltstädten würden bestehen können. Wenn jemand die besten Sänger und Schauspieler der Welt für ein paar Mark im Kino sehen und hören könne, werde er nicht in irgendein Provinztheater gehen, um dasselbe Stück, von mittelmäßigen Kräften gespielt, sich anzusehen.

Berlin. 12. März 1930. Mittwoch

Frühstück auf der Französischen Botschaft bei Margerie mit der Herzogin von Gramont (geborene Ruspoli), die ich führte, dem Ehepaar Thurn und Taxis (sie eine Tochter der Pauline Metternich und recht grobschlächtig und wenig aristokratisch aussehend), den Etienne de Beaumonts und Chanel, der berühmten Schneiderin, von der mir Beaumont erzählte, daß sie im vorigen Jahr siebzehneinhalb Millionen Francs Steuern bezahlt habe. Angefangen hat sie, wie man sagt, als Freundin eines älteren Herrn, der ihr sein Vermögen vermacht hat.

Als ich dem alten Hutten-Czapski, der sie zu Tisch führte und mich fragte, wer seine Tischdame gewesen sei, antwortete: eine Putzmacherin, stolperte er fast vor Befremdung, aber als ich hinzufügte: »Eine Putzmacherin, die im vorigen Jahre siebzehn Millionen Francs Einkommensteuer bezahlt hat«, beruhigte er sich sofort und meinte nur: »Na, dann ...« Mich interessierte sie als Freundin von Diaghilew. Sie war bei Diaghilews Tod in Venedig, sagte, er sei sehr friedlich und glücklich gestorben, ohne sich von seinem Zustande Rechenschaft zu geben, im Gegenteil, er habe bis zuletzt allerlei Pläne gemacht, über die er sehr glücklich gewesen sei. Ich verabredete mit ihr, daß ich zu Lifars Premiere bei Cochran nach London fahren und sie dort treffen werde.

Die Gramont erinnerte mich in ihrem Aussehen (sie ist sehr hübsch) und in ihrer Aussprache merkwürdig an die Karsawina. Margerie hatte uns nebeneinander gesetzt, vielleicht weil wir beide Opfer ihrer Stieftochter (die zwanzig Jahre älter ist als sie) Clermont-Tonnerre in deren skandalösen und lügnerischen Memoiren sind.

Leipzig. 14. März 1930. Freitag

Früh um sieben aus Weimar nach Leipzig zur Jury für die Auswahl der fünfzig bestgedruckten deutschen Bücher des Jahres 1929. Siebenköpfige Jury, zu der außer mir Poeschel, Klingspor, Fedor v. Zobeltitz, der Gewerkschaftler Dreßler, Steiner-Prag usw. gehörten. Die Sitzung war in der Deutschen Bücherei und dauerte den ganzen Tag von neun Uhr morgens bis sieben Uhr abends, nur mit einer Frühstückspause. Es war nicht ganz leicht, fünfzig Bücher zu finden, die wir mit Anstand prämiieren konnten. Auch stellte sich deutlich die Überlegenheit der Privatpressen über die Verlagswerke heraus. Wenn wir nicht grundsätzlich die Verlagswerke als die wichtigeren in den Vordergrund geschoben hätten, hätten wir eine viel größere Anzahl von Privatdrucken prämiieren müssen.

Am Schluß der Sitzung hielt Poeschel eine kleine Ansprache an mich und sagte, er habe den Auftrag, mir im Namen der Jury mitzuteilen, daß sie einstimmig den ›Hamlet‹ als das schönste deutsche Buch des Jahres befunden habe; sie würden dafür sorgen, daß dieses Votum auch in der Öffentlichkeit bekanntwerde. Poeschel sagte mir privatim, der ›Hamlet‹ habe ihm eine schlaflose Nacht bereitet, so habe er sich über ihn aufgeregt. Er begreife nicht, wie wir die Zweifarbendrucke von einem einzigen Holzstock gemacht hätten. Da Poeschel wohl der beste deutsche Drucker ist, will das allerhand heißen, wenn er mir das sagt. Außer dem ›Hamlet‹ wurde der Cranachpressen-Druck der ›Zwei Novellen‹ von Goertz als eins der fünfzig besten Bücher prämiiert.

London. 27. März 1930. Donnerstag

Bei Emery Walker im Athenaeum gefrühstückt. Er machte mich mit Henry Newbolt bekannt. Abends Premiere von Cochrans 1930 Review im London Pavilion. Eingestreut in die Varieténummern sind zwei Balletts, in denen Lifar und die Nikitina, die Überreste des Diaghilewschen Balletts, tanzen; das zweite, ›Night‹, Musik von Sauguet, von Lifar selbst inszeniert, Proletarierstimmung, etwas ›Goya‹haft, ist schön und bedeutend. Eine durchsichtige Hauswand trennt Tänzer und Tänzerin, der Tänzer ein Arbeiter, die Tänzerin eine reichgeputzte junge Frau. Effekt der durchsichtigen Wand, hinter der der Tänzer bald auftaucht und bald verschwindet und durch die die Tänzerin vergeblich durchzukommen versucht. Spukhaft.

Im Parkett traf ich Bernard Shaw und seine Frau, die mich mit Lord Berners bekannt machten, der die Musik zum ersten Ballett von Lifar, ›Luna Park‹, geschrieben hat. Shaw lachte, als er mich sah, und sagte: »I was going to write to you, I owe you an apology; I have ›taken your name in vain‹ in my new book, in which I am collecting all I said during the war; but I will show it you before I publish it.«

London. 2. April 1930. Mittwoch

Zum Tee zu Teddy Craig, wo Martin Shaw kennengelernt, der den ›Masque‹ von Purcell für meine Presse herausgeben soll. Er schlug anstelle von ›Diocletian‹ Purcells ›Fairy Queen‹ vor, eine Bearbeitung von Shakespeares ›Sommernachtstraum‹.

Unterwegs erblickte ich plötzlich ein Haus, das ich als das erkannte, in dem Grandmama gelebt hat und gestorben ist und in dem Wilma geboren wurde (140,Westbourne Terrace). Ich erkannte es im Vorbeifahren gleich wieder, obwohl ich es seit 1882 nicht gesehen habe. Auf dem Rückwege ließ ich halten, ging darum herum und konnte noch jedes Zimmer genau bestimmen, die große Halle, die drei Salons, oben das Zimmer, in dem Großmama gestorben ist, nach vorne mein Schlafzimmer, nach hinten das von Aunt Rosie usw. Es war ein sehr eigenartiges Gefühl, Wehmut und Freude gemischt.

Mit Shaw und Teddy Craig verabredet, daß wir uns am 2. Mai zehn Uhr dreißig im British Museum treffen wollen, um Purcell und alte Musikdrucke zu studieren.

Paris. 10. April 1930. Donnerstag

Nachmittags zum Tee bei Etienne de Beaumonts, die ein wirklich fürstliches Palais im Faubourg St. Germain (2, Rue Duroc) bewohnen, das vom Architekten von Versailles, Brongniart, für seine eigene Familie gebaute Haus; nachher Spanische Botschaft und seit hundert Jahren (depuis le retour de l'émigration) Familiensitz der Beaumonts. Der große Salon von geradezu riesigen Ausmaßen, ganz in reichstem Louis-XIV.-Stil in Weiß und Gold mit Ausblick auf einen Louis-XIV.-Garten, ist eine Sehenswürdigkeit. Der Graf und die Gräfin waren allein und zeigten mir das ganze Haus, Schlafzimmer und alles. Sie haben zahlreiche Bilder, Pastelle und Zeichnungen von Picasso, die in die Louis-XIV.-Umgebung nicht besonders gut, aber jedenfalls besser als moderner Kitsch hineinpassen. Ich sagte ihnen, daß ich vergeblich versucht hätte, Picasso zu erreichen. Sie sagten, auch sie sähen ihn seit einem Jahr nie mehr, obgleich sie seine intimsten Freunde seien. Wenn man ihn einlade, nehme er zwar an, aber zehn Minuten vor Tisch käme eine Absage, die Kinder hätten Scharlach oder die Frau sei ›indisposée‹ usw. Auf Briefe antworte er prinzipiell nicht, und am Telephon lasse er sich verleugnen. So gehe es allen seinen Freunden. Niemand wisse, was er eigentlich treibe.

Paris. 12. April 1930. Sonnabend

André Gide nachmittags besucht. Er plant einen längeren Aufenthalt in Deutschland und sprach viel von der deutschen Gesamtausgabe seiner Werke. Er empfahl und schenkte mir die Übersetzung von Samurai-Liebesgeschichten, die tout à fait étonnantes seien. Dann gingen wir zusammen in die Buchhandlung von Gallimard. Er sprach auch viel von seinem Aufenthalt in Weimar vor dem Kriege, als er bei mir wohnte, und von seinen Eindrücken am dortigen kleinen Hof. Er will darüber schreiben, peut-être pour une publication posthume.

Banyuls. 14. April 1930. Montag

Früh an in Port-Vendres. Von dort im Auto nach Banyuls (Hotel Soler), wo Brief von Maillol vorgefunden, er sei erkältet und erwarte mich nach dem Frühstück. Ich fand ihn in einem vom Kaminrauch ganz erfüllten Zimmer mit einem starken Schnupfen, aber sonst munter. Er sagte, bis vor ein paar Tagen sei er trotz schlechten, kalten Winters gesund gewesen, habe sich aber am Tage, nach dem seine Statue fertig geworden sei, erkältet.

Ich brachte vorsichtig meine Wünsche in bezug auf den Horaz vor. Er sagte zunächst weder ja noch nein, klagte nur über viel Arbeit, daß er keine Minute Zeit habe; er solle das Debussy-Denkmal für St. Germain, ein André-Chénier-Denkmal für Carcassonne, ein Kriegerdenkmal für Banyuls machen. Auch müsse er die Radierungen zu Ronsard für Vollard fertigstellen. Ich sagte ihm, Vollard sei ganz unfähig, ein ›Buch‹ zu machen; es sei jammerschade, daß er, Maillol, der doch wisse, was ein Buch sei, sich zu solchen Halbheiten hergebe. Ich zeigte ihm dann meine Probeseiten Horaz in der Johnston-Kursiv und hielt die Ronsard-Radierungen daneben; sagte, wenn ich so etwas drucken würde, würde es doch ganz etwas andres, als wenn Vollard einen ganz gleichgültigen Druck daneben setze.

Maillol stimmte zu und meinte: warum ich denn den Ronsard nicht für Vollard drucken wollte? Ich sagte: ich würde gern mit Vollard den Ronsard herausbringen, wenn ich auch meine prinzipiellen Bedenken gegen Radierungen als Buchschmuck nicht aufgeben könne. Schließlich kam ich mit Maillol überein, daß er an Vollard schreiben solle und wir versuchen würden, Vollard dazu zu bringen, den Ronsard mit mir zu machen. – Ich zeigte Maillol den ›Hamlet‹, den er lobte, aber, wie mir schien, ohne große Begeisterung.

Abends bei Maillols gegessen mit Mme. Maillol und Lucien. Das Wetter ist schlecht; anwachsender Sturm, der mir gerade ins Fenster bläst. Maillol erzählt, daß er als ganz junger Mensch, ehe er nach Paris ging, in Banyuls eine kleine Zeitschrift ›La Figue‹ herausgegeben habe, in der er Illustrationen im Stile des damaligen Modezeichners ›Cham‹ gemacht habe. Er habe etwa zwanzig Nummern dieser Zeitschrift herausgegeben; jetzt sei keine mehr zu finden. Vor ein paar Jahren habe er noch eine Nummer in Banyuls in seinem Keller gefunden und verbrannt.

Er ließ dann durch Lucien ein paar Almanache von Cham aus den siebziger Jahren holen, die er damals gesammelt hat, und zeigte die Karikaturen (Holzschnitte) von Cham und Grévin, indem er betonte, wie ausgezeichnet sie auch noch nach seinem heutigen Urteil seien. Der ganze Toulouse-Lautrec stecke in einigen der Kokotten-Karikaturen Chams.

Banyuls. 15. April 1930. Dienstag

Mit Maillol, der noch immer erkältet ist (der Sturm und die Kälte halten unvermindert an) nach seinem Atelier außerhalb der Stadt. Es ist ein kleines Landhäuschen, eine Art ›Laube‹, an einem steilen Abhang, zu dem man über Geröll hinaufklettert; aber die Aussicht auf das Gebirge ist schön und das Innere komfortabel. Er zeigte mir Zeichnungen von sich und seinem Modell, einer jungen Pariserin, nach der er seine letzte Figur gemacht hat und in die er offenbar stark verschossen ist. Die Zeichnungen, die stark von ihm beeinflußt sind, sind gut. »Elle a du talent, cette jeune fille. Elle écrit, mais elle ne veut pas écrire pour vivre. Je voudrais lui trouver du travail pour qu'elle ne soit plus modèle, pour qu'elle ne pose plus que pour moi. Mais n'en dites rien à ma femme; elle ne peut pas la supporter. Elles étaient amies, et voilà que ma femme ne veut plus la voir. Je m'intéresse beaucoup à cet enfant. « Also wieder das in Maillols Leben übliche Eifersuchtsdrama.

Ich versprach Maillol, wenn er mich mit ihr zusammenbrächte, mich darum zu bemühen, ihr Arbeit zu verschaffen, und fragte, ob sie nicht vielleicht beim Schneiden der Holzstöcke für den Horaz helfen könnte, wenn er ihr die Technik beibringe. Maillol griff den Gedanken gleich mit Befriedigung auf. Das Mädchen ist drei Monate hier in Banyuls bei Maillol gewesen und hat sogar bei Maillols gewohnt, ist aber vor kurzem abgereist. Sie soll aber wieder nach Marly kommen.

Er erzählte dann, daß er der Gemeinde Banyuls ein Denkmal für die Toten des Weltkriegs angeboten habe unter der Bedingung, daß es auf dem kleinen, meerumspülten Felsen beim Institut für Meeresforschung errichtet werde, daß aber der Bürgermeister sich diesem Plan widersetze; dabei hätten sie nur dreißigtausend Francs zusammengebracht, und sein Denkmal sei dreihunderttausend wert; also ein glattes Geschenk.

Ich sagte: der kleine Demeter habe mir hier in Banyuls ein Stelldichein gegeben, um meine Büste zu vollenden. Maillol meinte, er hätte nach dem Kriege gern meine Büste gemacht. »Quand je vous ai vu après la guerre, vous aviez une tête comme Napoléon. Il aurait fallu vous voir par les grands plans.« Ich notiere das in aller Bescheidenheit.

Banyuls. 16. April 1930. Mittwoch

Der Sturm ist heute noch wütender als gestern; das ganze Haus zittert. Maillol nachmittags in seinem Hause besucht, da er wegen des Windes nicht in sein Atelier geht. Er zeigte mir die neue Nummer der Zeitschrift ›Formes‹, in der Jules Romains einen Artikel über ihn geschrieben hat. »C'est assez bien; mais il ne conclut pas.« Romains faßt seinen Gegensatz zu Rodin als einen bewußten und gewollten auf und bemängelt leise seine ›Primitivität‹, indem er ihm gut zuredet, weniger ›primitiv‹ zu sein. Maillol meinte: er habe sich in seinen Anfängen um Rodin überhaupt nicht gekümmert. Und was seine ›Primitivität‹ (das heißt seinen Archaismus) anbelange, so sei er nicht absichtlich primitiv, sondern versuche so vollendet, wie er könne, zu gestalten. »Je ne peux pas construire une figure comme Phidias; si je le pouvais, je le ferais; mais je construis aussi bien que les sculpteurs d'Olympie.«

Er sprach dann wieder ausführlich über sein kleines Modell, die Lucile Passavant heißt; hob ihr Talent hervor. »Je lui ai dit que si eile travaillait, elle n'aurait pas besoin de montrer son cul à tous les sculpteurs de Paris. D'abord ça a trés bien marché avec ma femme, elles étaient amies. Mais maintenant ma femme est jalouse, il n'y a plus rien à faire. Je vous ferai diner avec la petite à Paris; mais je dois être discret. Tout de même, je devrai la faire venir à Marly pour faire les bras du monument Debussy (zu dem sie Modell gestanden hat).« Anscheinend steht Lucien seiner Mutter in der Gegnerschaft gegen die Kleine bei.

Abends bei Maillol gegessen, der sehr erkältet eingewickelt saß. Er fragte mich nach Capri aus, ob es schön wäre, ob man da ein kleines Haus in einem kleinen, ruhigen Ort finden könne. Und sagte dann überraschend: »Parce que j'aurais bien envie de me retirer pour un temps quelque part tranquillement, sans ma famille

Banyuls. 17. April 1930. Donnerstag

Nach dem Frühstück bei Maillol zum Abschied. Er klagte noch heftiger als gestern über die Eifersucht seiner Frau. »Ma femme me fait plus de mal que mon rhume.« Sie lasse ihm keine Ruhe mehr. Er wolle, sobald sie in Marly seien, fortgehen, irgendwohin, wo er vor ihr Ruhe habe. Er halte es nicht mehr aus. »Je ne dis pas qu'elle n'a pas raison; mais c'est insupportable.« Ich lud ihn ein, auf ein paar Wochen nach Deutschland zu kommen, zu mir nach Weimar und nach Berlin; was er halb und halb annahm.

Berlin. 27. April 1930. Sonntag

Um eins mit dem Nordexpreß nach London abgereist. Im Zuge meine Radiorede über ›Deutsche Jugend‹ für London ausgearbeitet.

London. 28. April 1930. Montag

Früh an. Im ›Metropole‹ abgestiegen. Miß Matheson im BBC besucht und ihr meine Rede vorgelesen. Sie schlug einige Änderungen vor (stilistisch, das heißt more colloquial), die ich vornahm. Abends um neun Uhr fünfundzwanzig im BBC (2, Savoy Hill) im Radio gesprochen. Nachher zu Bett, sehr müde, da die Überfahrt gestern nacht in dichtem Nebel und, weil das Nebelhorn alle paar Minuten tutete, an Schlaf nicht zu denken war.

London. 30. April 1930. Mittwoch

Briefe von Bekannten und Unbekannten über meinen Radiovortrag erhalten. Ein Verrückter ist dabei (natürlich), der ganz in Rot tippt; unter den Unbekannten ein ergreifender Brief einer Mrs. Cartwright, die ihren einzigen Sohn im Kriege verloren hat. Unter den Bekannten ein Brief von Lady Ottoline Morrell (geborene Cavendish-Bentinck, Tochter des verstorbenen Herzogs von Portland), die ich zum letzten Mal vor zwanzig Jahren bei Conder, der sie oft gemalt hat, gesehen habe, damals eine blendend schöne, elegante Frau, schlank und aristokratisch. Wer weiß, wie sie jetzt aussehen mag!

London. 5. Mai 1930. Montag

Gegessen bei Dame Adelaide Livingstone, der sehr reizenden Frau, die einige Jahre lang nach dem Kriege in Berlin die ›War Graves Commission‹ vertreten hat. Außer mir nur eine Verwandte von ihr, eine Mrs. Borden, eine Amerikanerin, und der Oberst Roddie, der ebenfalls in den schlimmsten Nachkriegsjahren in Berlin an der Botschaft war.

Roddie sprach freundlich von meinem Rathenau-Buch und erzählte, daß er drei oder vier Tage vor Rathenaus Ermordung bei diesem im Grunewald gegessen habe. Als er vorfuhr, sei er von zwei Männern in Zivil angehalten worden, die ihn fragten, zu wem er hinwolle. Er habe sich legitimiert und sei dann durchgelassen worden. Als er ins Haus trat, habe er im Zimmer rechts vom Eingang Musik gehört und dann beim Hineingehen Rathenau gesehen, der bei einer Kerze am Flügel saß und spielte. Rathenau sei aufgesprungen und habe sich entschuldigt. Roddie habe ihm dann gesagt, er freue sich, gesehen zu haben, daß Rathenau jetzt Maßregeln ergriffen habe, um sich zu schützen. Rathenau sei plötzlich sehr erregt gewesen, ans Telephon geeilt, habe irgendeine Stelle angerufen und kategorisch verlangt, daß der Polizeischutz aufhöre; er verbitte sich, daß seine Gäste durch Polizei belästigt würden. Nachher, als Roddie fortging, sei der Polizeischutz verschwunden gewesen.

London. 9. Mai 1930. Freitag

Edward Johnston in Ditchling besucht. Er zeigte mir seine Entwürfe für die Versalien meiner Kursivschrift und erklärte mir die Prinzipien, nach denen er sie konstruiert habe. Es sei die erste Schrift, die er ganz neu, ohne Anlehnung an eine frühere Schrift, entworfen habe.

Abends Empfang auf der Deutschen Botschaft bei Sthamers. Großes Gedränge. Ich wanderte in der Menschenmenge von Raum zu Raum, von dem ein jeder für mich voll von geschichtlichen Erinnerungen, Gespenstern, ist, Gespräche mit Metternich, Frühstück mit Richard Strauß bei Metternich, wo Strauß die kriegslüsternen Äußerungen von S.M. zum Entsetzen von Metternich wiedererzählte, Frühstück mit Bernard Shaw bei Lichnowsky, die Picassos der Fürstin Lichnowsky, die das Entsetzen der russischen Botschafterin Benckendorff erregten, Mechthilde Lichnowsky in ihrem Boudoir auf dem Fußboden hockend, das Katastrophen-Diner mit dem König und Arthur Nicolson bei Lichnowsky, dann die erste Zeit nach dem Kriege, als ich zum ersten Mal wieder in London war, die Ruhrzeit und meine täglichen Beratungen mit Sthamer, Dufour, Bernstorff, zuletzt noch meine Verhandlungen im vorigen Jahr mit Snowden und Sthamers Verärgerung über Snowdens Ton ihm gegenüber: das alles zog im Gedränge an mir vorüber, und schließlich das lange Gespräch mit Stresemann, als er mir den Botschafterposten in London anbot und offenbar Schubert meine Ernennung vereitelte, um den Posten für sich offenzuhalten.

London. 10. Mai 1930. Sonnabend

Vormittags im British Museum Musikbücher mit Teddy Craig und Martin Shaw angesehen; Vorbereitung für die Ausgabe des ›Sommernachtstraums‹ mit Purcells Musik und Intermezzi und mit Illustrationen von Gordon Craig.

London. 11. Mai 1930. Sonntag

Bei Leonard und Virginia Woolf zum Tee in Tavistock Square. Sie sind heute von einer achttägigen Autotour in Devonshire und Cornwall zurückgekehrt, wo sie die Bücher ihrer Hogarth Press bei den Sortimentern abzusetzen versucht haben. Leonard Woolf schimpfte heftig auf die Buchhändler in den kleinen Städten, die nichts von Büchern verstünden, sich dafür gar nicht interessierten und überhaupt hoffnungslos seien. Den Absatz der Rilke-Übersetzung Vita Nicolsons, Zahl der Exemplare, Prospekte, Sortimenter-Rabatt, mit ihm besprochen. Er glaubt, in England hundertfünfzig Exemplare absetzen zu können.

Mit ihm nach Hampstead zu Delisle Burns. Dort trafen wir den Inder Shastri, einen Freund Gandhis, einen indischen Gentleman von ziemlich heller Hautfarbe, der perfekt Englisch spricht. Er sagte, Gandhis passive Resistenz sei vollkommen zusammengebrochen; er habe nach Illusionen gehandelt, daß seine civil disobedience in wenigen Tagen die indische Regierung zur Kapitulation zwingen werde und daß, wenn er seinem Volke nur einige wenige ›einfache‹ Begriffe und Maximen beibringe, es sich nach seinen Wünschen und Plänen verhalten werde. Er habe ganz übersehen, daß diese scheinbar so einfachen ethischen Regeln gar nicht einfach seien, sondern aus höchst komplizierten Gedankengängen abgeleitete, für den gewöhnlichen Mann schwer zu begreifende Gebote seien, die eine jahrzehntelange Erziehung zur Voraussetzung hätten. Diese Erziehung fehle dem indischen Volk vollkommen; und deshalb habe Gandhi auf Sand gebaut und sei seine Bewegung gleich zusammengebrochen und in einfache ›mob violence‹ ausgeartet.

Burns und Woolf, der Sekretär des advisory board der Labour Party ist, luden Shastri ein, vor diesem in den nächsten Tagen seine Ansichten vorzutragen und zur Debatte zu stellen. Dieser meinte übrigens, daß in Indien eine Periode fortdauernder Unruhen bevorstünde, die fünfzehn bis zwanzig Jahre dauern könne. Das Haus des Delisle Burns, ein hübsches, einfaches, kleines Landhaus aus dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, steht ganz in der Nähe des sehr ansprechenden kleinen Hauses, in dem Keats gelebt hat.

Paris. 16. Mai 1930. Freitag

Nachmittags nach Marly; Maillol besucht. Im Garten waren Mme. Maillol und Maillols Schwester, Mme. d'Espie, eine Frau von über Siebzig, der man noch ihre frühere Schönheit und ihren Charme ansieht; sie ist noch heute reizend. Mme. Maillol begleitete mich ins Atelier, wo, wie sie sagte, ›il a modèle‹, und er mich mit seinem ›Modell‹ Lucile Passavant, die sich eben wieder anzog, bekannt machte. Ich fand sie nicht sehr schön, etwas rundlich, ziemlich roh geschminkt, aber intelligent; und Maillol zeigte mir kleine Tonfiguren, die sie modelliert hat und die zweifellos eine wirklich künstlerische Begabung zeigen.

Da Mme. Maillol nicht von meiner Seite wich, um uns nicht allein zu lassen, sagte ich Maillol, ich möchte mir den Bronzeguß seiner Riesenfigur für Puget-Théniers, der im Schuppen stand, ansehen, und ließ Mme. Maillol mit der Passavant im Atelier stehen. Maillol folgte mir auf dem Fuß in den Schuppen und meinte: Voyez-vous comme ma femme est insupportable; elle ne veut pas que je vous parle seul. Je n'en peux plus. Elle me fait des scènes perpétuelles usw. Ich hatte schon Mme. Maillol im Garten gesagt, daß Maillol, der immer noch kränkelt, eine Luftveränderung guttun werde; was sie bejahte. Ich schlug nun Maillol nochmals, wie schon in Banyuls, vor, er solle mit mir nach Weimar kommen, was er sofort mit sichtbarer Erleichterung und Freude annahm; er war nur enttäuscht, als ich ihm sagte, wir könnten erst nächste Woche reisen, da ich erst noch nach London müsse. Er schien dabei als selbstverständlich vorauszusetzen, daß die Passavant mit nach Weimar kommen würde, und natürlich, daß seine Frau dieses nicht erfahre; dabei zwinkerte er mir mit einem Auge zu.

Es ist also eine regelrechte Flucht aus der Ehe, die bei einem siebenundsechzigjährigen Mann etwas Tragisches hat, bei der ihm Hilfe zu leisten ich aber keine Bedenken trage, weil seine Frau ihm dreißig Jahre lang mit ihrer irrsinnigen Eifersucht im Wege gestanden ist und ihn verhindert hat, jemals ein annehmbares weibliches Modell zu haben. Er hat sich mit allerlei zufälligen Photographien und Heften von Nacktzeitschriften begnügen müssen. Wenn er jetzt endlich diese Drangsalierung satt bekommen hat und etwas Freude und Freiheit sich erobern will, so kann man ihm nur recht geben. Mme. Maillol hat es sich nur selber zuzuschreiben.

Ich lud Maillol morgen nach Paris zum Frühstück ein und sagte, er solle, wenn er wolle, Fräulein Passavant mitbringen, damit wir die ›mise au point‹ von Maillols Holzschnitten durch diese besprächen. Maillol war offenbar hocherfreut, auf diese Weise ohne Aufsicht durch seine Frau die Passavant sprechen zu können. Als wir zusammen in den Garten zurückkehrten, wo die Passavant mit Mme. Maillol und Mme. d'Espie zusammensaß, konnte ›Clotilde‹, wie Maillol seine Frau nennt, ihre Verstimmung und schlechte Laune nicht mehr verbergen, weil ich die Passavant eingeladen hatte, in meinem Auto nach Paris zurückzukehren.

Im Auto sagte mir die Passavant, sie sei zuerst mit Mme. Maillol sehr gut ausgekommen, dann habe diese plötzlich die Eifersucht gepackt und sie sei unausstehlich geworden. Elle écoutait aux portes usw. Ich machte der Passavant Komplimente über ihre kleinen Tonfiguren, sie erzählte, ihre Mutter sei Malerin, habe aber als fast Vierzigjährige einen zwanzigjährigen Mann geheiratet, das Leben sei dadurch im Hause für sie als junges sechzehnjähriges Ding unerträglich geworden, sie sei deshalb auf und davon gegangen, habe sich irgendwie durchgeschlagen, bis sie bei Maillol als Modell gelandet sei. Sie ist mir nicht unsympathisch, gehört aber zu dem Typus von kleinbürgerlichen, dicklichen, geschminkten Pariserinnen, den ich als äußere Erscheinung nicht mag.

Paris. 17. Mai 1930. Sonnabend

Um zwölf kamen Maillol und die Passavant ins Hotel zum Frühstück. Maillol strahlte. Er meinte, aufatmend: »Une journée de liberté! Pourquoi est-ce qu'on ne peut pas toujours être tranquille comme ça; pourquoi y a-t-il des gens qui rendent la vie embêtante«, wobei er ganz offenbar an seine Frau dachte. Er sprach viel über das Talent der Passavant. Wenn sie nur wolle, könne sie eine französische Renée Sintenis werden. Wir besprachen Näheres über die Reise nach Weimar. Ich sagte Maillol, ich schlüge ihm vor, daß wir gegen Ende der nächsten Woche, nach meiner Rückkehr aus London, führen; mir sei es aber angenehmer, wenn er und ich allein führen. Er könne ja Fräulein Passavant nachkommen lassen; dagegen könne ich nichts einwenden. Aber wenn sie mit uns führe, würde mir das nicht angenehm sein, auch sei es für ihn, falls seine Frau darauf bestehe, ihn an die Bahn zu begleiten, empfehlenswerter, Fräulein Passavant nicht gleich mitzunehmen. Er sah das ein und sagte so zu. Wir fuhren nach dem Frühstück zu Zay, Instrumente kaufen, und ich setzte die beiden, die wie ein junges Brautpaar strahlten, dann in einem Kino ab, wo sie sich ›Die Nacht gehört uns‹ ansehen wollten.

Brüssel. 19. Mai 1930. Montag

Vormittags bei van de Velde in seinem Institut in der Abbaye de la Cambre, einem alten Kloster, das ihm von der Regierung zur Verfügung gestellt worden ist für seine Schule. Er führte uns herum, zeigte uns die verschiedenen Abteilungen (sechzehn Professoren, Druckerei, Theaterschule usw.). Viele Ausländerinnen als Schülerinnen, eine Polin, eine Rumänin usw. Nachmittags in der Schule Aufführung eines flämischen Bauernstücks nach einer Novelle von de Woestijne, ›La Mort du Paysan‹; das heißt, die Novelle wurde durch einen Radioapparat zu Gehör gebracht, und die Figuren erschienen in phantastischen Masken und Kostümen und machten die die Handlung ausdrückenden Bewegungen in einer Art von monumentaler Stilisierung. So entstanden zeitweise schöne, ja grandiose Gruppierungen wie die in mittelalterlichen plastischen Grablegungen oder Kreuzigungen. Besonders die Erscheinung der ›Mutter‹ und die des ›Todes‹ wirkten erschütternd und großartig. Ein Grammophon spielte die Begleitmusik. Störend war das Radio, die Stimme der Vorleserin im Radio, die ganz unstilisiert und nüchtern neben den monumentalen Bildern einherlief.

Abends bei van de Velde in seinem neuen Haus in Tervueren gegessen. Das Haus ist sehr hübsch, nicht unbeeinflußt von Le Corbusier, aber im echten van de Veldeschen Geist gebaut, das heißt Heiterkeit (sérénité) als Stimmung durchgehend. Nach Tisch kamen die verheirateten van de Veldeschen Kinder, die Zwillinge Tyl und Tylla, mit ihren Ehehälften. Interessant war mir, daß alle, auch van de Veldes, darin einig waren, daß Paris langweilig geworden, Berlin dagegen heute die Stadt sei, in der man sich amüsieren könne. Ich höre das jetzt allerseits.

London. 24. Mai 1930. Sonnabend

Abends ›Othello‹ im Savoy-Theater gesehen, mit dem Mulatten Robeson als Othello, Maurice Brown als Jago, Sybil Thorndike als Emilia und einer bildhübschen und reizenden jungen Schauspielerin Peggy Ashcroft als Desdemona. Bis auf die Ashcroft und Robeson, der ein würdevoller, leidenschaftlicher Othello war, war die Aufführung mäßig, die kleineren Rollen wie Cassio, Rodrigo, Brabantio, der Herzog an Besetzungen in kleinen deutschen Stadttheatern erinnernd, drollig unzulänglich. Das Nationaltheater in Weimar ist im ganzen besser. Ich wundere mich jetzt weniger darüber, daß Maurice Brown es den Londonern vorzuführen wagen wollte; es hätte sich durchaus neben Aufführungen wie der heutigen von ›Othello‹ sehen lassen können. Maurice Brown als Jago war anständig, aber durchschnittlich, so etwa wie ein mittelguter Jago an einem kleinen deutschen Hoftheater. Er ist offenbar kein bedeutender Schauspieler.

Das Savoy-Theater, das eben umgebaut worden ist, gilt für das modernste Theater in London. Mir fiel auf, daß die Drehbühne oder irgendwelche Vorrichtungen hinter den Kulissen während der tragischsten Szenen zwischen Othello und Desdemona und Desdemona und Emilia (so während des kleinen traurigen Liedes der Desdemona) laut und vernehmbar knarrten, so daß die Stimmung gestört wurde. Das Theater selbst ist im weniger guten Sinne ›modern‹, in einem ›modernen‹ Stil, den wir in Deutschland fast schon überwunden haben, lauter Flitter und sinnlose ›moderne‹ Ornamente, ein Stil für eine Tanzbar dritten Ranges, so etwa, wie bei uns vor zehn Jahren ›modern‹ gebaut wurde.

In der Architektur sind London und auch noch Paris mindestens ein halbes Menschenalter hinter Berlin, Hamburg, Frankfurt, Stuttgart zurück.

Paris. 30. Mai 1930. Freitag

Aristide Maillol kam zum Frühstück. Er erzählte, daß, seit unserem letzten Zusammensein, il s'était passé des histoires tragiques chez lui. Seine Frau, die an den Türen horcht und durch Schlüssellöcher guckt, hat ihn und die Passavant in seinem Atelier bei irgendwelchen Zärtlichkeiten überrascht, worauf sie wie eine Furie hereingestürzt ist und ›a déchire tous mes dessins‹, das heißt, die großen Aktzeichnungen nach der Passavant, die Maillol an die Wände seines Ateliers geheftet hatte, unter andren auch eine große Rötelzeichnung, die ich bewundert hatte. Dann hat sie einen tiefroten Kopf bekommen, comme si elle était congestionnée, und ist in Ohnmacht gefallen. Worauf Maillol und seine siebzigjährige Schwester Mme. d'Espie ihr vier Stunden lang Wasser ins Gesicht gießen und ihr die Hände streicheln mußten, bis sie wieder zum Leben erwachte. »Mais ce qu'il y a de plus étonnant, c'est que depuis ce temps, elle est douce comme un agneau. Depuis trente ans elle n'a jamais été aussi douce.« Maillol schien hiervon entzückt. Mir kommt diese plötzliche Sanftmut etwas verdächtig vor. Er fügte hinzu, qu'elle n'avait pas à se plaindre. Er liebe sie trotz allem noch immer. »Je fais l'amour avec elle comme un jeune homme.«

Wir besprachen dann die Einzelheiten von Maillols ›Flucht‹ nach Weimar. Er hat Schwierigkeiten mit dem Visum der Passavant, da diese noch nicht einundzwanzig ist und weder von ihrer Mutter noch vom Vater ›anerkannt‹ ist. Maillols Gießer Roudier, der Beziehungen im Ministerium hat, bemüht sich darum. Sie hätten, wie Maillol sagt, sogar ›une pièce fausse‹ anfertigen müssen. Wir verschoben daher unsere Abreise auf Dienstag abend. Die Passavant soll vorausfahren und in Reims einsteigen. Dieser ›depart pour Cythère‹ ist etwas stürmisch und schwierig und entbehrt mit dem siebenundsechzigjährigen Liebhaber nicht einer gewissen Komik. Ich brachte nachher Maillol ins Café de la Paix, wo ihn die Passavant erwartete. Er meinte dabei, wir sollten einige Vorsicht anwenden, denn seine Frau sei in Paris et pourrait rôder autour du café, um ihn zu bespitzeln.

Nachmittags in der Gropius-Ausstellung im Salon des Artistes Décorateurs im Grand Palais. Sie macht hier beträchtliches Aufsehen und ist ohne Zweifel viel interessanter als das daneben ausgestellte französische Kunstgewerbe. Mir schien der Gesamteindruck der einer gewissen Ärmlichkeit, nicht ideell, aber materiell, Arme-Leute-Kunst.

Paris. 3. Juni 1930. Dienstag

Mit Maillol bei Wilma im Hotel Royal Condé zu Abend gegessen mit Jacques. Nachher brachte Jacques Maillol und mich an die Bahn, wo auch noch Lucien Maillol und Colin waren. Um zehn nach Frankfurt abgereist. Nachts um zwölf hörte ich, wie Mlle. Passavant, die nach Reims vorausgefahren war, in den Schlafwagen einstieg und mit Maillol sprach.

Frankfurt. 4. Juni 1930. Mittwoch

Früh um zehn in Frankfurt an und mit Maillol und der Passavant im ›Frankfurter Hof‹ abgestiegen. Um elf unsere Expedition durch Frankfurt mit einer Fahrt zum Römer und nachher zum Dom begonnen. In den alten Gassen zu Fuß herum. Maillol war, wie schon früh im Zuge vom Rhein, auch hier sehr beeindruckt. Dann in das Städelsche Institut, wo uns Swarzenski herumführte. Den stärksten, ja einen überwältigenden Eindruck auf Maillol machte die Athena des Myron. Er meinte, es sei die schönste Antike, die er je gesehen habe. »J'ai pleuré en la voyant«, sagte er nachher. Am stärksten hätte ihn das Gewand ergriffen. »Je saurais bien faire une tête comme celle de l'Athena, mais jamais je ne pourrais faire des plis profonds. Comment ont-ils fait ça, je ne comprends pas.« Er meinte damit selbstverständlich den Ausdruck dieser Falten.

Nach Tisch fuhr ich mit Maillol zum Stadion, wo wir auf der Terrasse über den Schwimmbassins saßen und dem Bade- und Sonnenbetrieb zusahen. Maillol war begeistert über die unbefangene Nacktheit. Er wies immer wieder auf die schönen Körper von Mädchen und jungen Männern und Knaben hin: »Si j'habitais à Francfort, je passerais mes journées ici à dessiner. Il faut absolument que Lucien voie cela.« Ich erklärte ihm, daß dieses nur ein Teil eines neuen Lebensgefühls, einer neuen Lebensauffassung sei, die in Deutschland nach dem Kriege siegreich vorgedrungen sei, man wolle wirklich leben, Licht, Sonne, Glück, seinen eigenen Körper genießen. Es sei eine nicht auf einen kleinen, exklusiven Kreis beschränkte, sondern eine Massenbewegung, die die ganze deutsche Jugend ergriffen habe.

Eine andre Äußerung dieses neuen Lebensgefühls sei die neue Architektur, die neue Wohnkultur. Um ihm diese zu zeigen, fuhr ich mit ihm und der Passavant zur Römerstadt. Maillol war fast sprachlos vor Erstaunen. »Jamais je n'ai vu cela. C'est la première fois que je vois de l'architecture moderne qui est parfaite. Oui, c'est parfait, il n'y a pas une tache. Si je savais écrire, j'écrirais un article.« Wir wanderten zu Fuß in der Römerstadt herum; und immerfort steigerten sich die Ausdrücke seiner Bewunderung. »Jusqu'à présent, tout ce que j'ai vu d'architecture moderne était froid; mais ceci n'est pas froid, au contraire.« Ich erklärte ihm nochmals, daß diese Architektur nur der Ausdruck des gleichen neuen Lebensgefühls sei, das die jungen Leute zum Sport und zur Nacktheit treibe und daher ihre Wärme beziehe, so wie mittelalterliche Bauten aus katholischer Weltanschauung. Nur wenn man diese neue deutsche Architektur in das Ganze einer neuen Weltanschauung hineinstelle, könne man sie verstehen.

Wir fuhren dann nach Königstein weiter, wo wir mit Heinz Simon (von der ›Frankfurter‹) zu Abend aßen.

Weimar. 5. Juni 1930. Donnerstag

Um drei Viertel sieben aus Frankfurt mit dem FD-Zug nach Weimar. In Erfurt ausgestiegen, wo ich Maillol den Dom zeigte. Dann im Auto nach Weimar. In die Presse, wo Max gesehen. Nachher frühstückten Maillol und die Passavant mit Max und mir im Gartenpavillon. Abends fuhren wir alle zusammen nach Berka und aßen dort in der ›Wilhelmsburg‹, Maillol erzählte sonderbare Geschichten vom Charakter seines Sohnes Lucien, der ganz verändert aus dem Kriege heimgekehrt sei. Während er früher seinem Vater vertraut habe, habe seitdem jede Intimität aufgehört und einer heftigen Auflehnung Platz gemacht. Als im vorigen Winter einmal sein Vater ein Bild von ihm gut gefunden und gelobt habe, habe Lucien es noch am selben Tage mit Fußtritten zerstört, rageusement. Ich mußte an das eigenartige Verhältnis zwischen Craig und seinem Sohn denken.

Weimar. 7. Juni 1930. Sonnabend

Früh auf der Presse gearbeitet. Nachmittags fuhr ich mit Maillol und der Passavant nach Oberhof, wo wir unsere Winter-Wirtin Frau Davoff besuchten und im Golf-Hotel aßen. Die weite, ernste Landschaft machte auf Maillol offenbar tiefen Eindruck. Er sagte, er möchte diesen Sommer auf kurze Zeit mit der Passavant in Oberhof verweilen. Bei Mondschein zurück. Die Passavant zitierte einen französischen Vers: »... par un clair de lune Allemand ...«

Weimar. 8. Juni 1930. Pfingstsonntag

Mit Maillol und der Passavant in den ›Rosenkavalier‹, den sie nicht kannten.

Weimar. 9. Juni 1930. Pfingstmontag

Maillol und die Passavant frühstückten mit mir im Gartenpavillon. Maillol brachte seine Zeichnung zum ersten Buch Horaz mit, die Passavant Aktzeichnungen, die Maillol sehr lobte und die ich gut fand. Nachmittags fuhren wir nach Naumburg, Dornburg und Jena. Auf der Straße zwischen Weimar und Naumburg passierten wir alle paar hundert Meter dicht mit Rotsportlern (Kommunisten) und roten Fahnen besetzte Lastkraftwagen. Nachdem wir an ein paar Dutzend solcher Wagen vorbeigefahren waren und immer wieder neue trafen, meinte Maillol: »Je vois qu'on se remue beaucoup dans ce pays.«

Wir besichtigten Schulpforta, das Maillol sehr entzückte und interessierte, er habe Nietzsches Leben sechsmal gelesen. In Naumburg war der Dom schon geschlossen. Wir mußten unverrichteterdinge weiter und fuhren über Camburg nach Dornburg. Der tief eingeschnittene enge Weg nach Camburg hinunter war durch zwei Lastkraftwagen des ›Werwolf‹ verstopft, und etwas weiter trafen wir wieder auf einen kommunistischen Lastwagen, der in der entgegengesetzten Richtung fuhr und auf den ›Werwolf‹ im Engweg treffen mußte. Der Chauffeur meinte, da würden einige Schädel eingeschlagen werden. Maillol betrachtete alles auch weiterhin mit Seelenruhe und meinte nur wieder: »Oui, on se remue beaucoup ici«, was bei ihm, dem Lebenskünstler der Ruhe, der Beschaulichkeit, des An-sich-herankommen-Lassens, jedenfalls kein Lob sein soll.

Von Dornburg, dem Garten, dem Blick, war Maillol entzückt. Er meinte: »C'est ici qu'il faudrait habiter, qu'il ferait bon travailler.« Alles stand in vollster Blüte, massenhaft Rosen, Mohn, eine Pracht wie in Hampton Court oder Kew, während in Weimar in meinem Garten die ersten Rosen erst ganz schüchtern aufgehen. Von Dornburg nach Jena, wo wir im ›Schwarzen Bären‹ zu Abend aßen. Ich zeigte Maillol das Bild im Speisesaal, das die Disputation zwischen Martin Luther und meinem Ahnen Johann Kessler im Jahre 1522 in diesem Gasthaus darstellt; mein Ahn ein blonder Jüngling mit einem kleinen Spitzbart. Maillol fand das Bild überraschenderweise ganz gut.

Weimar. 10. Juni 1930. Dienstag

Da wir gestern nicht in den Dom hineingekommen sind, heute wieder mit Maillol und der Passavant nach Naumburg. Zwischen Maillol und ihr scheint eine gewisse Abkühlung eingetreten zu sein; mir fiel auf, daß sie kaum mit ihm sprach und mich aus einer mürrischen Grundstimmung gezwungen anlächelte. Schade! Von den Figuren im Chor machten einen starken Eindruck auf Maillol nur die beiden Gruppen Ekkehard und Uta und Hermann und Reglindis. Er war nicht dazu zu bringen, die andren zu loben, sondern kam eigensinnig immer wieder auf jene beiden Gruppen und besonders auf die Uta zurück. Der Lettner interessierte ihn weniger (war auch ziemlich dunkel), ›c'est plus tourmenté‹.

Wir fuhren dann wieder nach Dornburg, wo wir Professor Wahl vom Goethe-Archiv trafen, der Dornburg in seiner Obhut und Pflege hat. Wahl rief seinen bildhübschen kleinen zwölfjährigen Jungen heran und sagte ihm, er solle dem Herrn die Hand geben und sich den Tag für später merken; nachher bot er Maillol sehr liebenswürdig ein Atelier in Dornburg an, wenn er dort arbeiten wolle, die große keramische Werkstatt, die nächstens geschlossen wird. Maillol meinte: »Mais c'est à réfléchir.« Er scheint wirklich mit dem Gedanken umzugehen, die Einladung anzunehmen.

Von Dornburg fuhren wir wieder nach Jena, wo Maillol das ›Paradies‹, das Bad, die Landschaft, die Menschen sehr gefielen: »C'est gai et plein de lumière. Si Monticelli avait vu cela, il n'aurait pas manqué de le peindre.« Klingers Abbe-Denkmal gefiel ihm dagegen gar nicht. Von Klingers Relief am Sockel meinte er: »Ça n'existe pas; c'est rien du tout.« Auch die Meunierschen Reliefs lehnte er ab: es seien gar keine Reliefs, sondern aufgehackte Figuren. Dagegen gefiel ihm sehr Hildebrands Bismarck-Brunnen auf dem Marktplatz.

Wir aßen bei mir im Gartenpavillon, wobei mir, wie schon im Wagen, die Schweigsamkeit der Passavant auffiel, während Maillol und ich uns angeregt unterhielten. Ich sagte ihr schließlich, sie müsse entschuldigen, wenn wir alten Leute so viel sprächen; das sei schon ein Gebrechen des alten Nestor gewesen. Maillol erzählte, daß er nie Zeitungen läse. Sie brächten spaltenlange Berichte über Ereignisse, die sich in zwei Zeilen abfertigen ließen. »Les seules choses qui m'intéressent ce sont les crimes.« Auf meinen etwas erstaunten Gesichtsausdruck eingehend fuhr Maillol fort: »Oui, parce que j'y vois des drames,quelque chose de Shakespearien. Mais les journaux renseignent si mal sur les crimes. Un jour il y a plusieurs colonnes, et puis, pendant quinze jours plus rien, ou deux lignes seulement. Alors ce n'est pas la peine de les lire.«

Weimar. 11. Juni 1930. Mittwoch

Tagsüber in der Presse gearbeitet. Ich hatte mich mit Maillol und der Passavant um fünf im Schwanenseebad verabredet, wo ich sie im Café sitzend traf. Es war sofort sichtbar, daß die gestrige Verstimmung zwischen beiden sich vertieft hatte. Die Passavant war ganz blaß mit roten, verweinten Augen und sprach geflissentlich kein Wort mit Maillol und antwortete auf seine Fragen nur einsilbig oder gar nicht. Mir sagte sie, sie habe Halsschmerzen, aber nicht schlimm, man brauche sich nicht um sie zu sorgen. Wir saßen eine Stunde in peinlicher Vereisung zusammen, bis ich vorschlug, nach Hause zu gehen und ihr den Arzt zuzuschicken, was sie aber mit Nachdruck ablehnte. »Ce n'est rien, je vous assure.«

Zu Tisch erschien Maillol ohne sie; sie habe sich zu Bett gelegt. Ich sagte ihm, sie sei wohl wirklich etwas erkältet, aber mir schiene irgend etwas Seelisches, irgendeine Enttäuschung mitzuspielen.

Ja, sagte er, sie habe ihm auch so etwas angedeutet.

Kurz und gut, es handelt sich um die alte Tragikomödie zwischen einem alternden Mann und einem hitzigen Mädchen; ältester Komödienstoff. Madame Maillol ist gerächt! Mir tut in diesem Falle er mehr als sie leid, die wissen mußte, was sie zu erwarten hatte, da sie schon ein Jahr lang mit ihm eine Liaison hat. Merkwürdig ist, daß mir Goertz gleich am Donnerstag, nachdem er die Passavant zuerst gesehen hatte, sagte, sie sei ein liebes, reizendes Wesen, gehöre aber zu den Frauen, die den Mann nicht lange hielten, weil sie zu sinnlich seien und zu viel von ihm verlangten.

Weimar. 12. Juni 1930. Donnerstag

Früh kam Dr. Bulcke, den ich zur Passavant geschickt hatte, und sagte mir, beide, sowohl Maillol wie auch die Passavant, seien an einer Mandelentzündung mit Eiterbelag erkrankt und müßten zu Bett liegen; er halte es für besser, eine Schwester zu engagieren. Ich ging mittags hin und fand Maillol im Bett und ziemlich guter Dinge, die Passavant dagegen niedergeschlagen, ›triste‹, wie die Schwester sagte. Abends kam Kippenberg und aß mit mir im Gartenpavillon.

Weimar. 13. Juni 1930. Freitag

Maillol geht es viel besser, er muß aber noch liegen, ebenso die Passavant. Er liest Valérys ›Eupalinos‹, den ich ihm geliehen habe, und sprach mit großer Bewunderung davon. Ich sagte ihm, es sei Valérys Ehrgeiz, ›Eupalinos‹ von ihm illustrieren zu lassen. Maillol meinte, das würde sehr schwer sein, denn Valérys Buch sei vollkommen, wenn man es illustriere, müsse man zu dieser Vollkommenheit noch etwas hinzufügen, etwas, das Valéry nicht gesagt habe, und das würde eine Arbeit von Monaten sein; jeder Holzschnitt so viel wie eine ganze Statue. Er will aber an Valéry schreiben und lehnte nicht positiv ab.

Nachmittags Frau Förster-Nietzsche besucht, die wieder das Thema Mussolini anschnitt. Orsini, der neue italienische Botschafter, hat neulich bei ihr gefrühstückt. Sie hat dazu Frick eingeladen (!) und Orsini gesagt, Italien erscheine ihr jetzt wie Deutschland nach 1870 mit einem Heldenkönig an der Spitze und einem großen Staatsmann, der Bismarck gleiche, Mussolini; das habe ihre Gäste bezaubert. Ich bemerkte: diese Ähnlichkeit mit dem deutschen Kaiserreich sei, was viele herausfühlten; wenn die italienische Herrlichkeit nur nicht ähnlich wie die deutsche ende!

Berlin. 14. Juni 1930. Sonnabend

›Phaea‹ von Fritz von Unruh im Deutschen Theater gesehen. Regie von Max Reinhardt. Es ist ›ganz was Tolles‹, wie eine Gouvernante sich so was vorstellt. »Ich kann auch mal unartig sein,« sagt die Miß, »ha! direkt Genie hab ich für das Verbotene«, und schreibt ›Phaea, oder Kitsch, Kitzel und höhere Bedeutung‹. Ich hab mich trotz glänzender Regie und Besetzung vier Stunden lang gelangweilt. Ein Chaos von sündhaften Absichten und kadettenhafter Ausschweifung. Unruh ist hier wieder voll und ganz Lichterfelder Primaner ohne die Entschuldigung und den Charme der Jugend. Armer Reinhardt, der so was inszenieren muß! Bei Unruh merkt man hinter all dem Rummel die sehr bewußte Absicht, wenn auch leider nicht das Talent, viel Geld mit seinem Zeug zu verdienen. Es ist etwas aufreizend Unreines, das zum Kadettenhaften und Pubertätsmäßigen hinzukommt. Wie weit steht das unter den ›Offizieren‹ und dem ›Prinzen Louis Ferdinand‹!

Weimar. 16. Juni 1930. Montag

Maillol besucht, der wieder auf ist. Seine Frau hat ihm durch ihr Dienstmädchen in Marly schreiben lassen, daß er seine Briefe in Tinte schreiben möge, Bleistift strenge ihre Augen zu sehr an; das Mädchen schicke ihm per Postpaket Feder und Tinte! Sie selbst hat Maillol auf vier Briefe noch nicht geantwortet.

Weimar. 17. Juni 1930. Dienstag

Früh um acht kam Demeter aus Berlin an in seinem Wagen. Vormittags arbeitete er an meiner Büste in der Presse, die von Maillol und Mlle. Passavant besichtigt wurde. Maillol lobte einiges, korrigierte aber dann selbst zeichnend und mit Gips daran herum. Er meinte: »Il y a trop de trous. Il faut faire simple et carré. Regardez la tête de Monsieur de Kessler: il n'y a pas de trous. Il faut voir le modèle de loin, l'impression générale.«

Maillol, die Passavant, Demeter, Guseck, John Rothenstein frühstückten bei mir, und dann fuhren wir alle zusammen in Demeters Wagen nach Berka, wo wir Maillol und die Passavant in der ›Wilhelmsburg‹ absetzten. Abends aßen Münchhausens bei mir, mit Rothenstein und Demeter.

Auf der Fahrt nach Berka holte Maillol ein Zollstück beim Zoll ab, das ihm angezeigt worden war. Ich hatte ihm gesagt, es sei gewiß der Federhalter und das Tintenfaß, das ihm seine Frau durch das Dienstmädchen angezeigt habe. Und richtig: Maillol kam lachend, aber ärgerlich aus dem Zollgebäude heraus, in der einen Hand den Federhalter, in der andren die Flasche voll Tinte schwenkend. Die Passavant und ich sagten ihm, er hätte die Annahme verweigern und die Sendung zurückgehen lassen sollen. Er meinte aber: »Puisque ça n'a rien coûté, autant valait l'accepter; ça peut toujours servir.«

Weimar. 19. Juni 1930. Donnerstag

Abendessen im Walde bei Berka mit Maillol, der Passavant, Demeter und Guseck. Ich hatte Essen und Getränke herausfahren lassen, die jungen Leute brachten Grammophon und Lampions mit hinaus, und wir streckten uns auf den Waldboden am Rande einer Schonung aus, über die in der Ferne die langgestreckten, dicht bewaldeten Hügel des Thüringer Waldes hinausragten. Maillol war von der Landschaft entzückt. Als es dunkel wurde, wurden die Lampions angezündet und das Grammophon angedreht, und die jungen Leute fingen an, mit der Passavant zu tanzen. Nachher tanzte auch Maillol, der erklärte, nur Walzer tanzen zu können, mit der Passavant ganz geschickt auf dem unebenen Waldboden. Wir blieben bis gegen eins dort zusammen, die Sterne leuchteten klar, und die Luft war warm und würzig. Ein vollkommen gelungener Abend.

Weimar-Berlin. 20. Juni 1930. Freitag

Die ersten Probedrucke mit Maillols Holzschnitt zum Horaz gemacht. Demeter arbeitete an meiner Büste, die er vollkommen umarbeitete; am späten Nachmittag fuhr er Guseck und mich in seinem Wagen nach Berlin, wo wir bei Hugo Simons zu Abend aßen.

Berlin. 21. Juni 1930. Sonnabend

Renée Sintenis besucht und ›Daphnis und Chloe‹ mit ihr besprochen.

Paris. 22. Juni 1930. Sonntag

Früh um acht aus Berlin nach Paris abgefahren. In meinem und dem Neben-Coupé eine ganze Gesellschaft von Franzosen getroffen, die vom Theaterkongreß in Hamburg nach Hause fuhren: Tristan Bernard und seine Frau, Gémier, Florent Schmitt, den Verleger Cools usw. Den ganzen Tag ging es in unserem Coupé wie in einem Salon zu, in dem Mme. Tristan Bernard die Hausherrin gewesen wäre: Freunde und Freundinnen aus andren Coupés kamen und gingen, es wurde unendlich viel geschwatzt, und Mme. Bernard, die eine Frau mittleren Alters mit sehr viel Charme ist, machte trotz der Hitze ohne jede merkbare Ermüdung stundenlang die Honneurs, während Tristan Bernard, ohne Kragen, Rock oder Weste und sich fortdauernd mit einem Taschentuch die Stirn wischend, ebenso unermüdlich eine Anekdote nach der andren erzählte, gute, mittelmäßige und unverständliche, von denen die Pointe in seinem Barte steckenblieb.

Eine aber war wirklich komisch: die vom Papagei und dem Affen des Generals Lyautey. Lyautey hatte in Marokko einen Affen und einen Papagei, dem er die Worte beigebracht hatte: ›Charmante Soirée!‹ Wenn Lyautey Gäste hatte oder mit Gästen nach Hause kam, empfing ihn sein Papagei mit den Worten ›Charmante Soirée‹. Eines Tages war Lyautey den ganzen Abend fort. Der Affe benutzte die Zeit, um dem Papageien alle Federn auszureißen. Als Lyautey spät nach Hause kam, empfing ihn dieser wütend, indem er immer wieder die Worte hervorstieß: ›Charmante Soirée, charmante Soirée!‹

Von Maillol sagte Bernard: »J'ai pour lui non seulement de l'admiration, mais de la vénération.«

Paris. 23. Juni 1930. Montag

Mit Wilma und Jacques in ihre von van de Velde in der Einrichtung begriffene Wohnung Avenue Kléber. Auf Jacques' Wunsch Julien Green angerufen, um ihn morgen zum Frühstück einzuladen. Green besetzt. Wir verabredeten eine Zusammenkunft im Herbst. Schiffrin zufällig vor dem Grand Hotel getroffen. Er sprach von seinen Plänen, an denen ich mich eventuell beteiligen soll.

Wieder auf der Straße den unmäßig dicken, wie ein Milchauflauf aussehenden Südamerikaner oder Levantiner getroffen, den ich jedesmal und immer überall, auf der Straße, im Theater, in den Restaurants hier treffe, dessen Namen ich nie erfahren kann und der, immer langsam hinpendelnd und scheinbar in seinem Fett glücklich, der einzige Pariser ist, der den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht bildet: ›le fantôme blafard‹, wie ich ihn nenne. Er ist mir fast so unheimlich wie die Weiße Frau im Berliner Schloß, eine männliche Gräfin von Orlamünde. Vielleicht wirklich ein Gespenst, das mir hier in Paris schicksalhaft verbunden ist.

Weimar. 27. Juni 1930. Freitag

In der Presse gearbeitet. Nachmittags zu Maillol nach Berka hinaus. Die Passavant hat angefangen, mit Gouache zu malen, mit staunenswerter Begabung. Ihr ein kleines Gouachebild, Fenster mit Blumen, abgekauft, das ich vollendet fein fand.

Berlin. 29. Juni 1930. Sonntag

Mittags Demeter eine Sitzung für meine Büste gegeben, die er ganz neu in Ton modelliert hat. Sie ist viel besser und ausdrucksvoller als die erste. – Vorher kam Marcus Behmer wegen des ›Petron‹ zu mir. Wir hatten die Unterredung schon vor acht Tagen verabredet. Um zehn rief er an, er komme eben nach Hause, habe die ganze Nacht durchgebummelt, weil sein Freund Hadeln aus Florenz plötzlich unerwartet im Auto bei ihm angekommen sei, er lege sich gerade hin und bitte, die Unterredung zu verschieben. Ich sagte, heute nachmittag müsse ich abreisen, deshalb würden wir uns also dann erst im Spätsommer oder Herbst wiedersehen. Von zwölf Uhr an sei ich besetzt. Dreiviertel Stunden später erschien er unerwartet und unangemeldet, sehr verkatert und mit seiner blonden ›Fliege‹ wie ein aufgeschwemmter Gustav Adolf aussehend bei mir, stammelte Entschuldigungen, ich solle nur nicht böse sein usw. Die Wahrheit sei, daß er das Geld für das Auto gescheut habe. Wir besprachen dann, er sehr sachlich und vernünftig, den ›Petron‹.

Weimar. 30. Juni 1930. Montag

Nachmittags um vier kam Eric Gill an und fiel gleich auf dem Bahnhof auf durch seine sonderbare Tracht, Wadenstrümpfe, eine Art von kurzer schwarzer Kutte und ein grellbuntes Halstuch. Er sagte, in Köln hätte alles auf seine Beine geguckt: ob das vielleicht deshalb sei, weil seine Strümpfe so dünn seien? Er gefällt sich darin, als Sonderling aufzufallen. Abends aßen John Rothenstein und Frau mit ihm und mir im Gartenpavillon.

Weimar. 1. Juli 1930. Dienstag

Rheinlands Befreiungstag. Ziemlich viel Flaggen; auf den Privathäusern fast nur Schwarz-Weiß-Rot. Bis heute haben die Schwarz-Weiß-Roten alles getan, um die vorzeitige Befreiung der Rheinlande (die für sie politisch ein harter Schlag ist) zu hintertreiben; jetzt stecken sie ihre Fahnen hinaus. Daß das unehrlich ist, geniert sie nicht.

Nach Berka Maillol besuchen mit Gill und Rothensteins. Es war geplant, daß Maillol und Mademoiselle Passavant abends mit uns nach Weimar zurückkehren sollten. Da aber Maillol offenbar gern noch einige Tage mit der Passavant in Berka bleiben wollte, verhandelte ich mit dem Wirt, der ihre Zimmer schon vermietet hatte, so daß sie noch acht Tage oben bleiben können. Wir aßen dann bei Maillol in der ›Wilhelmsburg‹.

Weimar. 2. Juli 1930. Mittwoch

In der Presse mit Gill zusammen Druckproben von seinen Holzschnitten zum ›Hohen Lied‹ gemacht. Gill begann mein Porträt zu zeichnen.

Weimar. 3. Juli 1930. Donnerstag

Gill fuhr mit dem Porträt fort. Druckproben ›Hohes Lied‹. Abends mit Gill und Rothensteins im Auto nach Oberhof, wo im Golf-Hotel gegessen. Da alles in Smoking und Abendtoilette war, die Frauen ausgeschnitten und mit Schmuck, fiel Gills sonderbarer Aufzug besonders auf: er trug lange rote Strümpfe unter seiner bis zu den Knien reichenden schwarzen Kutte.

Weimar. 6. Juli 1930. Sonntag

Mit Gill, Rothensteins, Maillol und Fräulein Passavant im Auto Tour über den Inselsberg, Liebenstein und die Wartburg. Maillol hatte besonders vom Schloß Altenstein bei Liebenstein und von der Wartburg einen tiefen Eindruck. Wir standen lange auf der kleinen Anhöhe dicht vor der Wartburg, wo man sie aus dem Wald wie aus einer grünen Meeresbrandung aufsteigen sieht; Maillol konnte sich von dem Anblick gar nicht losreißen. »Cette forêt, on dirait un océan.« Wir waren erst gegen zehn wieder in Weimar, wo Maillol und Fräulein Passavant bei mir aßen; nachher fuhren sie nach Berka zurück. Sie fühlen sich nach wie vor wohl in Berka; nur die deutsche Küche behagt ihnen nicht; Maillol klagt über Magenschmerzen.

Weimar. 8. Juli 1930. Dienstag

Mit Gill bei Frau Förster-Nietzsche, die er zeichnete. Es kam allerdings nur eine alte englische Dame, die wie aus ›Pickwick‹ aussah, dabei heraus. Frau Förster sagte, als sie die Zeichnung sah, sie freue sich, daß ein Zeichner sie endlich alt gezeichnet habe; bisher hätten alle sie viel zu jung aufgefaßt. Während des Zeichnens erzählte mir Frau Förster, daß der General Hasse, der Wehrkreiskommandeur in Kassel, der vor kurzem hier zu Besuch war, ihr auf ihre Frage, wen er beim Frühstück bei ihr zu sehen wünsche, geantwortet habe: »Frick«; sie habe ihn dann auch wirklich mit Frick zusammen bei sich gehabt.

Weimar. 9. Juli 1930. Mittwoch

Maillol und die Passavant kamen nachmittags aus Berka nach Weimar zurück und aßen abends bei mir mit Gill und Rothensteins.

Weimar. 10. Juli 1930. Donnerstag

Vormittags mit Gill zu Frau Förster ihr zum Geburtstag gratulieren. Nachmittags reisten Gill und Rothensteins ab. Maillol und Fräulein Passavant aßen bei mir. Nach Tisch besahen wir Photographien von unserer griechischen Reise, wobei ich Maillols erstaunliches Gedächtnis für Einzelheiten wie Begegnungen, Personen usw. bewundern mußte.

Berlin. 12. Juli 1930. Sonnabend

Vormittags führte Waetzoldt Maillol, Fräulein Passavant und mich in Begleitung von Frau Simon durch das noch nicht dem Publikum zugängliche Pergamon-Museum und zu der Amarna-Sammlung. Der Eindruck der wiederaufgebauten antiken Architektur, namentlich des Milet-Tores, war auf Maillol überwältigend. Er meinte: »Je n'aurais pas voulu rentrer à Paris sans voir cela.« Auch der Eindruck des großen Altarfrieses, den er natürlich aus Abgüssen und Photographien kannte, war stärker, als ich erwartet hatte. Ganz entzückt war er von einigen Stücken des kleinen Telephos-Frieses, der ihn an das französische Louis XV. erinnerte, aber besser sei als irgendwelche Skulpturen des achtzehnten Jahrhunderts; namentlich einige lyrisch-poetisch aufgefaßte Frauengestalten. – Von der Antiken-Sammlung im Alten Museum machte nur der kopflose Bronzeknabe auf Maillol einen Eindruck. Die beiden archaischen Göttinnen lehnte er ab.

Berlin. 14. Juli 1930. Montag

Früh um drei Viertel acht holte der Staatssekretär Lewald Maillol, Fräulein Passavant und mich ab zu einer Besichtigung der Hochschule für Leibesübungen im Grunewald; die ganze großartige Anlage im herrlichen Sonnenschein von fast nackten jungen Menschen belebt, die allerlei Sportübungen machten; im hellen Licht und der warmen, würzigen Luft war der Eindruck ganz griechisch.

Es ist schon richtig, was Frau Sarre (geb. Humann) mir später beim Frühstück sagte, daß wir uns, namentlich in Deutschland, wieder in vielen Dingen dem Griechentum zuwenden, aber diesmal (im Gegensatz zum Klassizismus) unbewußt und unabsichtlich, aus dem Leben heraus. Nacktheit, Licht, Luft, Sonne, Anbetung des Lebens, der körperlichen Vollkommenheit, der Sinne, ohne falsche Scham, ohne Prüderie. Auch ist es erstaunlich, wie der Körper, die körperliche Wirklichkeit bei der jungen Generation diesem Drange gehorcht, wieviel schöner die jungen Menschen heute sind als vor dem Kriege. Es ist ein Aufblühen des Volkskörpers, seitdem die Menschen sich nicht mehr scheuen, nackt zu gehen. Maillol ließ mich zwei junge Leute, die »beaux comme des dieux antiques« seien, photographieren. Leider maulte die Passavant aus irgendeinem Grunde die ganze Zeit, was die Freude ein wenig störte.

Nachher großes Frühstück zu Ehren von Maillol bei Simons in der Drakestraße: Gropius (mit seiner sehr hübschen jungen Frau), Justi, Waetzoldt, Goertz, Demeters. Später fuhren wir Maillol und Fräulein Passavant nach Wannsee und Potsdam, Maillol mit Demeter, Fräulein Passavant und Frau Simon in Demeters Wagen, ich mit Goertz in meinem Wagen. In Wannsee ins Freibad, wo Maillol plötzlich zeichnen wollte, hier seien Menschen, die ihm noch mehr sagten als die heute früh in der Hochschule, die zu sehr alle nach einem Muster geformt seien, zu ähnlich einander und zu akademisch. Ausnahmsweise hatte aber weder er noch irgendeiner von uns Bleistift oder Papier mit. Dann fuhren wir nach Sanssouci, was weniger Eindruck auf Maillol machte, als ich erwartet hatte; er war offenbar übermüdet und durch das fortgesetzte Maulen der Passavant bedrückt.

Berlin. 15. Juli 1930. Dienstag

Großes Frühstück zu Ehren Maillols bei Hugo Simons. Einstein, Max Liebermann, Renée Sintenis,Frau Sarre (geb. Humann) wegen Pergamon, Meier-Graefes usw. Ich zeigte, als Einstein eintrat, ihn Maillol. Er meinte: »Oui, une belle tête; c'est un poète?« Ich mußte ihm erst erklären, wer Einstein ist; er hatte offenbar nie von ihm gehört. Nachher wurden sie zusammen photographiert.

Vor dem Frühstück war Maillol im Kronprinzenpalais gewesen, wo ihm vor allem die Plastiken der Renée Sintenis gefallen hatten. »C'est une grande artiste,« sagte er mir, »tout ce qu'elle fait est jeune.« Bei Tisch saßen sie nebeneinander und lächelten einander immerfort an wie ein Liebespaar. »Ist er nicht süß?« sagte mir die Sintenis nachher. Er habe ihr immerfort Komplimente gemacht, und sie habe aus Verlegenheit und in ihrem mangelhaften Französisch nicht gewußt, was sie ihm antworten sollte; sie habe daher immer nur gelächelt. Meier-Graefe dagegen gefiel Maillol sowie Fräulein Passavant ganz und gar nicht. Die Passavant, die Meier-Graefe zu Tisch geführt hatte, fragte mich nachher, wer dieser unangenehme Mensch sei? Maillol antwortete: Ja, in der Tat, es sei ein unausstehlicher Mensch; im Kriege habe Meier-Graefe ihm Briefe geschrieben, die so gewesen seien, daß er sie nicht einmal beantwortet habe.

Auch zwischen Liebermann und Meier-Graefe gab es eine Szene. Als Liebermann auf ihn zuging, um ihn anzusprechen, drehte sich Meier-Graefe um und kehrte ihm den Rücken. Maillol erzählte Liebermann, daß er (Anfang der siebziger Jahre in Barbizon) noch Millet gekannt habe; was Liebermann sehr zu interessieren schien. Vor Demeters kleinem Steinrelief (Junge und Mädchen) sagte mir Maillol: »C'est le seul de mes élèves qui m'a compris«, was wohl das höchste Lob war, das er aussprechen konnte.

Den Vormittag hat Flechtheim betriebsam dazu ausgenutzt, um Maillol in seine Galerie zu holen und ihn dort mit Barlach (der vor einiger Zeit abgelehnt hatte, die Einladung zur Maillol-Ausstellung mit zu unterschreiben) zu photographieren.

Berlin. 16. Juli 1930. Mittwoch

Vormittags Demeter zum letzten Mal zu meiner Büste in seinem Atelier in Halensee gesessen. Gegen Schluß der Sitzung kam Maillol; er fand die Büste ›très bien‹, namentlich Mund und Nase, aber die Augen seien nicht richtig im Ausdruck. »Dans un buste, il faut voir non seulement le côté physique, mais aussi le côté moral.« Er nahm dann selbst einen Spachtel zur Hand und korrigierte die Augen, was offenbar Demeter etwas peinlich war, obwohl er Maillol natürlich gewähren ließ und seine Korrekturen respektierte. Maillol meinte dann, die Augen seien immer noch zu tief eingegraben und zu leblos, meine Augen seien blau, sie dürften nicht wie dunkle Löcher wirken.

Nachmittags noch einmal zu Simons und mich von Maillol und Fräulein Passavant verabschiedet. Die Passavant fährt heute abend nach Paris zurück, Maillol morgen auf einen Tag zu Simons nach Seelow, dann am Freitag nach Paris.

Weimar. 23. Juli 1930. Mittwoch

In Berlin nachmittags Marcus Behmer in der Fraunhoferstraße 23 (Charlottenburg) besucht. Er bewohnt da ein mit Büchern und allerhand Zeichnungen und Bildchen vollgepfropftes ›Berliner Zimmer‹, in dem auch noch ein Aquarium mit einem herrlichen weißen mexikanischen Axolotl steht, einem Tier, das so phantastisch aussieht wie eine Behmersche Zeichnung.

Er zeigte mir seine Radierungen zu ›Zadig‹ in einem Buch, das schon 1911 bei Paul Cassirer erschienen und skandalös schlecht gedruckt ist (die Radierungen sind hineingeklebt!). Die Radierungen aber sind bezaubernd schön; wie ich ihm sagte, ganz das, was ich mir für den ›Petron‹ wünsche (nur statt Radierungen Holzschnitte).

Weimar. 24. August 1930. Sonntag

Rudi Schröder früh an mit ›Ilias‹, zehn Gesängen. Nachmittags Gedächtnisfeier für Nietzsche im Archiv.

Weimar. 25. August 1930. Montag

Mit Schröder nach Rökken, wo Feier an Nietzsches Grab. Frau Förster hing sich in meinen Arm und verlangte, daß ich als ihr ›ältester Freund‹ sie führe.

Kandersteg. 15. September 1930. Montag

Ein schwarzer Tag für Deutschland. Gegen vier teilte mir ein Telegramm von Guseck das Wahlresultat mit. Die Nazis haben ihre Mandatszahl fast verzehnfacht, sind von zwölf auf hundertsieben Mandate gekommen und so die zweitstärkste Partei des Reichstags geworden. Der Eindruck im Ausland muß katastrophal sein, die Rückwirkung außenpolitisch und finanziell verheerend. Wir stehen damit (bei hundertsieben Nazis, einundvierzig Hugenbergern und über siebzig Kommunisten, also etwa zweihundertzwanzig Abgeordneten, die den heutigen deutschen Staat radikal verneinen und revolutionär beseitigen wollen) vor einer Staatskrise, die nur durch die straffe Zusammenfassung aller die Republik bejahenden oder wenigstens tolerierenden Kräfte überwunden werden kann, wenn diese Kräfte außerdem noch das Talent aufbringen, die wirtschaftliche und finanzielle Lage bis zur nächsten Reichstags-Auflösung zu sanieren. Allerdings wird das nächste Resultat wohl (falls kein Putsch kommt) die Bildung einer ›Großen Koalition‹ zwischen den jetzigen Regierungsparteien und den Sozialdemokraten sein müssen, da anders die Regierung überhaupt nicht fortgeführt werden kann. Ein beunruhigendes Detail ist der Mißerfolg der Staatspartei, die nur zwanzig Mandate, also weniger als die Demokraten im vorigen Reichstag, aufgebracht hat trotz des Zugangs des Jungdo. Das deutsche Bürgertum (in ›Staatspartei‹ und Volkspartei verkörpert) scheint endgültig im Aussterben, politisch. Es wird bald zwischen all den aufgeregten Leuten und den sozialdemokratischen Arbeitern überhaupt keine Rolle mehr spielen.

Bemerkenswert ist auch, daß nur die ›Weltanschauungs‹-Parteien im Gegensatz zu den ›Interessenten‹-Parteien gewonnen haben, also das Zentrum, die Kommunisten und die Nazis, die zusammen dreihundertsechsundzwanzig von fünfhundertdreiundsiebzig Abgeordneten stellen. Das ist immerhin, bei aller Verrücktheit und Verruchtheit der nationalsozialistischen Weltanschauung, kein schlechtes Zeugnis für den deutschen Wähler.

Der Nationalsozialismus ist eine Fiebererscheinung des sterbenden deutschen kleinen Mittelstandes; dieser Giftstoff seiner Krankheit kann aber Deutschland und Europa auf Jahrzehnte hin verelenden. Zu retten ist diese Klasse nicht; sie kann aber ungeheures neues Elend über Europa bringen in ihrem Todeskampf.

Mailand. 19. September 1930. Freitag

Stoffe gekauft bei Lisio und Barbini für meine Berliner Wohnung. Wie jedesmal, wenn ich ein paar Stunden in Mailand bin, zum Leonardo. Das Abendmahl ist trotz ›Nachtwache‹ das erhabenste und schönste Bild der Welt. Nachher in der Brera, wo den Piero della Francesca, den Gentile Bellini und den prachtvollen Boltraffio, meine drei alten Bekannten, besucht. Ich machte bei dieser Gelegenheit die Entdeckung, daß die Eintrittsgelder in die Museen von Mussolini abgeschafft worden sind, dagegen eine Legitimation, Paß oder sonst was, gefordert wird. In der Galleria bei Biffi gegessen, da Cova im Umbau begriffen und geschlossen ist. Die Galerie sah mir im Vergleich zu früher tot aus, dünner Verkehr und auch dieser noch ohne die alte italienische Lebhaftigkeit und Bravour. Überhaupt macht Mailand auf mich diesmal einen sonderbar altmodischen und zurückgebliebenen Eindruck, europäische Provinz um 1900.

La Napoule. 22. September 1930. Montag

Vormittags Jacques an. Abends bei unseren Nachbarn, steinreichen Amerikanern, Clews, gegessen in der mittelalterlichen Burg, die sie sich am Meer gebaut haben. Ein Kino-Mittelalter, das aber von der traumhaften Landschaft irgendwie aufgesogen und geadelt wird. Henry Clews selbst ist Bildhauer, nicht ohne Talent, und hat die zahlreichen Säulen und Säulchen seiner Burg mit Kapitellen geschmückt, die durch groteske Masken und Tierfiguren seinen Abscheu vor der modernen Welt der Bourgeoisie, Demokratie, Herdengesinnung usw. ausdrücken; ein reaktionärer Revolutionär, dessen schöpferische Triebfeder ein fanatischer Haß gegen alles, was heute ist, zu sein scheint, obwohl er alle modernen Erfindungen und offenbar auch den modernen Kapitalismus ausnutzt, Telephon in jedem Zimmer, Wasserleitung, vervollkommnete Badeeinrichtungen, Auto usw.: ein George Grosz mit umgekehrten Vorzeichen, das heißt ›aristokratisch‹ oder richtiger romantisch revoltierend, à la Huysmans. Er ist seit fünf Jahren, wie er sagt, nur einmal aus seinem allerdings paradiesisch schönen Garten hinausgegangen.

Der Empfang, als wir abends zu Tisch kamen, war verblüffend: er in weißen Hosen und einer Art von scharlachrotem, seidenem, gesticktem Waffenrock, der ihm bis zu den Knien reichte, seine (sehr schöne) Frau als Königin der Nacht in Schwarz mit Goldsternen; hinter ihnen drei Lakaien in Weiß mit den Händen an der Hosennaht und hinter den Lakaien zwei wunderschöne große weiße Bulldoggen, die wie chinesische Groteskgötzen aussahen. Beim Essen, das in einer großen, mit Kerzen beleuchteten gotischen Halle an einem steinernen Tisch eingenommen wurde (gute Küche und ausgezeichneter Champagner), in die durch eine offene gotische Loggia ein romantisch vom Mond beleuchtetes Meer hereinglitzerte, sprach Clews geistvoll und tief über Nietzsche den er sehr richtig von der Seite der Gütigkeit, ›tenderness‹, versteht), über die Beziehung zwischen dem Künstler und dem ›Bösen‹ usw. und zeigte sich als feiner, tiefer Mensch, wenn er auch viel Unsinn über Mussolini, Demokratie, Krieg und Pazifismus, Nationalismus usw. redete, wobei ich trotz allem das Gefühl nicht los wurde, wir würden gefilmt.

London. 28. September 1930. Sonntag

Von Paris nach London gefahren. Craig kam abends zu mir ins Hotel. Erzählte über den Streit um den Briefwechsel seiner Mutter mit Bernard Shaw, wobei er Shaw als Erfolgsjäger, Arrivisten usw. schilderte. Er habe an alle prominenten Schauspielerinnen Briefe geschrieben, in denen er sie für seine Stücke zu gewinnen suchte. Jetzt seien ihm diese Briefe unangenehm.

Berlin. 2. Oktober 1930. Donnerstag

Früh in Berlin an. Um elf im neuen Pergamon-Museum der Eröffnungsfeier beigewohnt. Die antike Architektur, namentlich des Milettors, überwältigend. Eine große Leistung Wiegands.

Abends Staatsbankett der preußischen Regierung im Schloß. Der Eindruck auf mich schauerlich.Wo früher ein farbenprächtiges Bild, schöne oder in ihrer Aufmachung schön erscheinende Menschen die Säle festlich füllten, eine einförmige, formlose graue Masse, wie Läuse, die sich wie ein trüber Alltag durch die alte Barockpracht hindurchschoben. Die englische Botschafterin Lady Rumbold, die ich durch einige Säle begleitete, bis Weismann sie an einen Tisch heranholte, sagte (und ich empfand genau wie sie): »I feel like a ghost.« Meier-Graefe meinte in seiner schnodderigen Art: »Na, früher waren die Köpfe doch besser, was?« Es war, als ob sich in einem üppigen Hoftheater eine Schmiere etabliert hätte.

Wir haben, und das ist fast ein Wunder, in den zwölf Jahren seit der Revolution eine neue Schönheit geschaffen, die mit der Arbeitsdemokratie in Einklang steht, ja sogar schönere Menschen, feinere, schlankere, strahlendere hervorgebracht; die heutige Jugend ist, namentlich nackt, schöner als die Vorkriegsjugend. Man soll aber diese neue Welt nicht in Kontakt mit der alten Barockwelt bringen; dann beißt sich alles, und der Mißklang, der entsteht, ist unerträglich. Nie ist es mir so sinnenfällig geworden, daß die frühere Epoche abgeschlossen und unmöglich geworden ist, die Revolution nicht nur äußerlich gewesen ist, sondern wirklich das Fazit aus einer epochalen Umwälzung, aus einer unwiderruflichen Umwälzung der grundlegenden Lebensbedingungen gezogen hat. Das Politische daran ist nur Oberfläche; die wirkliche Umwälzung geht weit tiefer. Wenn man genauer zusieht, ist das ›Schmieren‹hafte das Dekor, die verlogene wilhelminische Pracht des Weißen Saals; das Echte, ganz Untheatralische die graue, befrackte, völlig unromantische Masse.

Die Barockwelt hat sich ihren Hintergrund geschaffen, vor dem sie sich bewegen konnte; wir sind dabei, uns unseren Hintergrund in Architektur, Gartenkunst, Malerei, Plastik zu schaffen; unsere Welt wird wahrscheinlich nicht weniger schön sein als die barocke, wenn sie erst einmal ausgereift ist. Man kann aber nicht unsere Welt vor den Barockhintergrund stellen, ohne jedes ästhetische Gefühl zu verletzen.

Weimar. 3. Oktober 1930. Freitag

Abends nach Weimar gefahren. In unserem Zuge und in einem Nebenzuge, der nachher in Weimar auf einem andren Geleise hielt, Transporte von Stahlhelmern, die nach Koblenz zu einer ›Befreiungsfeier‹ fuhren. Alle in Uniform, feldgrau, von der Reichswehr kaum zu unterscheiden. Schon in Halle grölten sie die ›Wacht am Rhein‹ und andre ›vaterländische‹ Lieder; in Weimar ergossen sie sich über den Bahnsteig, die Treppen, die Wartesäle, meistens ganz junge Burschen, ›Rotznasen‹, großenteils offenbar besoffen, die Uniformen halb aufgeknöpft, randalierend, grölend, Reisende anpöbelnd, völlig ohne jede Disziplin; von Soldatentum keine Spur. Ob und wo irgendwelche Führer waren, trat nicht in Erscheinung. In ihrer Verwahrlosung und Disziplinlosigkeit erinnerten sie mich an nichts mehr als an die wilden Truppenteile, die in der Revolution führerlos von der Front zurückfluteten. Trotz ihrer Uniformen haben diese grünen Jungens noch die ersten Anfangsgründe soldatischen Wesens zu lernen. Solch disziplinloses Gesindel würde jeder kleine Trupp von echtem Militär mit dem Besen auseinanderfegen.

Berlin. 10. Oktober 1930. Freitag

Mit Max abends den ›Schwierigen‹ von Hofmannsthal in Reinhardts ›Komödie‹ gesehen mit Helene Thimig in der Rolle der Helene und Gustav Waldau in der des ›Schwierigen‹. Es wird behauptet, daß Waldau sich meine Maske für die Rolle gemacht habe oder habe machen wollen. Da er dick und etwas schwerfällig ist, während ich mager und quick bin, so ist ihm die Maske jedenfalls nicht gelungen. Aber Max behauptete, daß er mir meine Bewegungen, namentlich meine Handbewegungen, überraschend getreu abgesehen hat. Da ich Waldau nicht kenne und, soviel ich weiß, überhaupt heute zum ersten Male gesehen habe, so kann ihm nur Max Reinhardt die Sache vorgemacht haben. Im übrigen muß ich zugeben, daß Hofmannsthal in der Figur des Karl und auch im Verhältnis des Schwierigen zu ›Helene‹ wohl (woran ich bis heute nie gedacht hatte) ziemlich starke Anleihen bei mir und bei der Beziehung zwischen Helene Nostitz und mir gemacht hat.

Die Thimig war als ›Helene‹ erschütternd, von einer Feinheit und Nuanciertheit des Spiels und des Mienenspiels und einer strahlenden Reinheit, die sie neben die ganz großen Schauspielerinnen stellt. Das Stück ist etwas ungleich, der dritte Akt schwach, der zweite mit den beiden Liebesszenen wunderbar, getränkt mit Poesie und Menschenkenntnis, eine unsterbliche Sache. Hofmannsthal, der kein dramatisches Talent hatte, erreicht durch die hinreißende Macht seiner Lyrik manchmal, wie hier im zweiten Akt, bezwingende dramatische Wirkungen.

In der ersten Reihe der Orchestersessel vor uns saß der frühere Kronprinz mit der Kronprinzessin und Frau Sarre (geb. Humann). Der Kronprinz ist ganz grau, fast weiß geworden, die Kronprinzessin eine ältliche, dicke Frau; trotzdem hat der Kronprinz seine Leutnantsallüren behalten, stand in den Zwischenakten im Publikum in den Gängen und an der Straße, eine Zigarette im Munde, tänzelnd und scharwenzelnd alten, dicken Juden, die ein und aus gingen, die Tür haltend. Er ist noch immer trotz seiner grauen Haare der junge Prinz, der als Husar den ›frischen, fröhlichen Krieg‹ herbeisehnte, in Stenay den von Verdun zurückkehrenden zerfledderten Regimentern im Pyjama vom Fenster aus zuwinkte, französische Huren im Kriege mitschleppte. In ihm hat die erbliche Geschmacklosigkeit der Hohenzollernfamilie einen fast monumentalen Ausdruck gefunden.

Berlin. 12. Oktober 1930. Sonntag

Abends mit Max und seiner Freundin Reinhardts neue Inszenierung des ›Sommernachtstraums‹ im Deutschen Theater gesehen. Eine wirklich zauberhafte Inszenierung in einer traumhaften Szenerie, teils Festhalle, teils sternenheller Wald, mit lauter ganz jungen Schauspielern, alles in balletthafte Bewegung aufgelöst, pomphaft, bewußt künstlich und doch ganz visionär. Die schönste, dem Shakespearischen Geiste am nächsten stehende Aufführung des ›Sommernachtstraums‹, die ich gesehen habe.

Berlin. 13. Oktober 1930. Montag

Reichstags-Eröffnung. Den ganzen Nachmittag und Abend große Nazimassen, die demonstrierten und am Nachmittag in der Leipziger Straße die Fensterscheiben der Warenhäuser Wertheim, Grünfeld usw. einschlugen. Abends auf dem Potsdamer Platz Ansammlungen, die ›Deutschland erwache‹, ›Juda verrecke‹, ›Heil, Heil‹ riefen und fortwährend von der Schupo, die auf Lastwagen und zu Pferde patrouillierte, auseinandergetrieben wurden. Ich ging um halb zwölf Uhr nachts durch die Leipziger Straße bis zur Friedrichstraße und stand nachher drei viertel Stunden vor dem ›Fürstenhof‹. Die Nazis, die demonstrierten, bestanden zum größten Teil aus halbwüchsigem Lumpenproletariat, das johlend auskniff, sobald die Schupo mit dem Gummiknüppel vorging. Nie habe ich soviel richtiges Lumpenproletariat in dieser Gegend gesehen.

Vor dem ›Fürstenhof‹ beobachtete ich, wie einzelne von diesen Burschen einen richtigen Patrouillendienst versahen, derselbe Junge immer wieder zwischen Prinz-Albrecht-Straße und Potsdamer Platz wie eine Schildwache auf und ab patrouillierte, offenbar bezahlte Arbeitslose. Von Zeit zu Zeit kam ein Trupp Halbwüchsiger, von Schupos verfolgt, in wilder Flucht vorbeigerannt, arme Teufel, die von den Thyssenschen Geldern zwei, drei Mark für die Dokumentierung ihrer ›vaterländischen‹ Gesinnung bezahlt bekommen hatten. Das Straßenbild erinnerte mich an das in den Tagen kurz vor der Revolution, dieselben Ansammlungen, dieselben katilinarischen Gestalten herumstrolchend und demonstrierend.

Wenn die Regierung jetzt nicht fest zupackt, schlittern wir in den Bürgerkrieg hinein. Sowieso schätze ich, daß uns die heutigen Unruhen eine halbe bis zu einer ganzen Milliarde in Kursverlusten und Zurückziehung ausländischer Guthaben kosten werden. Daß die Unruhen organisiert waren, bezeugten nicht nur die patrouillierenden Burschen, sondern auch die Zerstörungen in der Leipziger Straße, die nur Geschäfte mit jüdischen Namen getroffen und sehr demonstrativ die äußerlich christlichen Geschäfte ungeschoren gelassen hatten (so Herpich, die Porzellan-Manufaktur, die Goethe-Buchhandlung). In das Palast-Hotel sind die Nazis eingedrungen und haben in der Halle ›Deutschland erwache‹ und ›Juden heraus‹ gebrüllt. Der Ekel überkommt einen vor so viel verbohrter Dummheit und Bosheit.

Berlin. 26. Oktober 1930. Sonntag

Von einer dem Max-Hölz-Kreise nahestehenden Person zufällig gesprächsweise gehört, daß die Kommunisten, oder wenigstens dieser Kreis, einen bis ins einzelne durchdachten Plan zu einem Putsch in Berlin Mitte November haben, um die Regierungsgewalt an sich zu reißen. Selbst das Datum stehe schon fest. Sie würden nicht so dumm sein, wieder einen Klamauk auf der Straße zu machen wie 1919, sondern, gestützt auf zuverlässige Elemente in der Schupo und Reichswehr, ganz geräuschlos eines Nachts die Sache machen. Berlin werde erwachen und eine neue Regierung vorfinden. Sie seien des Gelingens ihres Anschlags sicher.

Berlin. 15. November 1930. Sonnabend

Mittags bei Reinhardt im Schloß Bellevue, um Nabokow als Komponisten für die Musik zu Savoirs Stück zu empfehlen. Wir kamen dann auf Reinhardts Inszenierung des ›Schwierigen‹ und des ›Sommernachtstraums‹; als ich den jungen Tänzer im ›Sommernachtstraum‹ hervorhob, meinte Reinhardt, ja, der sei in der Tat außerordentlich, er möchte ihn gern halten und davor bewahren, auf die Varietébühne überzugehen; aber Tilly Losch versuche schon, ihn zu bestimmen, mit nach Amerika zu gehen.

Ich sagte darauf Reinhardt: »Wie wäre es, wenn Sie den ›Joseph‹ inszenierten und der junge Svend den Joseph tanzte, der noch nie richtig getanzt worden ist!« Das schien Reinhardt sehr einzuleuchten, und er regte dann von sich aus an, den ›Joseph‹ in Salzburg zu inszenieren in einer großen Barock-Reitbahn, die neben dem Festspielhaus liege. Wir verabredeten, daß ich ihn nach meiner Rückkehr aus London Anfang Dezember wieder aufsuchen solle; bis dahin werde er sich die Sache durch den Kopf gehen lassen.

Der ›Schwierige‹, sagte er, sei ein ganz unerwarteter Triumph. Er habe ihn eigentlich nur aus Pietät wieder inszeniert und geglaubt, daß er nach ein paar Aufführungen wieder verschwinden werde; statt dessen sei er jeden Abend ausverkauft. Tragisch sei, daß Hofmannsthal das nicht erlebt habe. Nach der ersten Aufführung, die in der Berliner Presse miserabel kritisiert worden sei, sei Hofmannsthal am nächsten Morgen zu ihm ins Büro gekommen und habe geweint; er hätte gern noch mehr solche leichten Sachen gemacht, aber dieser Mißerfolg habe ihn vollkommen entmutigt. Vieles Schöne sei dadurch unwiederbringlich verlorengegangen.

Merkwürdig ist, daß Reinhardt weder die bei ihm in den Kammerspielen laufende ›Elga‹ noch Brückners ›Elisabeth‹ gesehen hat. Er fragte mich, wie ich die Aufführungen gefunden habe? Er könne nicht ins Theater gehen und sich ein Stück als Zuschauer ansehen; das halte er nicht aus. Er möchte gern einen Tonfilm machen. Da sei etwas Neues, da könne man Dinge machen, die im Theater nicht möglich seien.


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