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Seminartheater

Zuweilen ist mir in irgendeiner Stadt, in irgendeiner Gesellschaft ein Kranz mit einer Schleife verehrt worden. Die Kränze sind verdorrt, die Schleifen habe ich mir aufgehoben. Unter ihnen befindet sich ein verblichenes blaues Band, darauf steht: »Paul Keller zu seinem 19. Geburtstag. Gewidmet von seinen Freunden Bartsch, Bentzinger, Böttcher, Heilgans, Scherwentke.« Der Kranz, der zu dem Band gehört hat, hat vielleicht einmal schlecht und recht einen Taler gekostet samt der Schleife, auf welche die spendenden Freunde die Inschrift mit chinesischer Tusche selbst aufgepinselt haben.

Fünf neunzehnjährige Seminaristen schenkten einem Kameraden zum Geburtstag einen Lorbeerkranz für drei Mark. Jeder gab sechzig Pfennig. Welch ein Opfer! Für sechzig Pfennig konnte man in jenen billigen Zeiten – es war 1892 – in einem Restaurant fein zu Mittag speisen; für sechzig Pfennig konnte man einen Sitzgalerieplatz im Stadttheater haben, den »Lohengrin« hören, den »König Lear« oder »Die Haubenlerche«. Für sechzig Pfennig konnte man selbst bei ausgesprochenem Pech tagelang Zwanzigstel-Pfennig-Skat spielen; für sechzig Pfennig konnte man zwölf Tassen heißen Kaffee im Seminar haben! Und eine solche Summe gab man so hin. Für einen Freund. Für einen Kranz!

Ach, ihr fünf treuen guten Kerle, deshalb ist mir ja euer verblaßtes Band, auf das ihr selbst eure Namen gepinselt habt, heute noch so eine Kostbarkeit.

*

Ich war auf eine etwas abenteuerliche Art ins Breslauer Seminar gekommen. Da ich meine dreijährige Vorbildung in der Grafschaft Glatz, und zwar auf der Königlichen Präparanden-Anstalt zu Landeck, genossen hatte, war ich – wie alle dortigen Schüler – für das Seminar in Habelschwerdt bestimmt. Aber ich wollte nicht nach Habelschwerdt. Warum, weiß ich selbst nicht recht. Die Hauptursache war wohl mein Freund Oskar Bartsch, der aus Breslau stammte, mir glänzende Bilder von dieser Stadt zeichnete und immer sagte: »Ein Mann wie du gehört nicht nach Habelschwerdt, er gehört nach Breslau.« Darauf gingen wir zwei zu dem Vorsteher unserer Anstalt, sagten ihm, wir möchten nicht nach Habelschwerdt, wir möchten gerne zu der Aufnahmeprüfung ins Seminar nach Breslau reisen, aber er – der prächtige, humorvolle Doktor – schmiß uns ganz gemütlich raus, indem er sagte: »Das Habelschwerdter Seminar wird die Riesenehre, euch zwei als Schüler zu haben, bei gesundem Leibe überstehen!«

Draußen auf der Treppe stopfte Bartsch die Hände in die Hosentaschen und sagte: »Das ist eine Gemeinheit!« Ich gab ihm recht, und wir gingen in die Osterferien. Dort gelang es mir, auf einem Feldspaziergang meinem Vater das Reisegeld nach Breslau abzupressen, um daselbst eine große »Aktion« ins Werk zu setzen. Mein Freund Bartsch führte mich durch die Wunderstadt, und wir gingen direkt ins Lehrerseminar. Der Direktor, dessen äußere Bärbeißigkeit mit seinem inneren jovialen Wesen – wie wir später erfuhren – im krassen Widerspruch stand, saß trotz der Ferien in seinem Amtszimmer. Als ob er ausgerechnet auf uns zwei Lebensstürmer gewartet hätte. Als er uns so prüfend ansah, die wir an seiner Tür andauernd mit »Dienermachen« beschäftigt waren, verloren wir die Sprache.

»Was wünschen Sie?« fragte er dreimal mit seiner tiefen Stimme.

Wir dienerten nur.

»Also, wer sind Sie denn eigentlich? Und was wollen Sie?«

Da brachte ich heraus:

»Wir sind zwei Präparanden aus Landeck und möchten gern ins Breslauer Seminar eintreten.«

»So? Haben Sie denn bei uns die Aufnahmeprüfung, die vor zwei Wochen war, mitgemacht?«

»Nein, wir durften nicht.«

»Wieso durften Sie nicht?«

»Der Herr Vorsteher unserer Anstalt hat gesagt, wir gehörten nach Habelschwerdt; wir hätten in Breslau nichts zu suchen.«

Der Direktor lächelte.

»Na, da hat ja Ihr Herr Vorsteher ganz recht gehabt. Wie kommen Sie denn dann hierher?«

»Wir – wir sind – so auf eigene Faust –«

»Aah – auf eigene Faust! Das ist gut von Präparanden! Und wie denken Sie sich das – eh –? Sie wissen doch, daß man in einem Lehrerseminar nur dann aufgenommen werden kann, wenn man die Aufnahmeprüfung bestanden hat. Und Sie wissen auch, daß die diesjährige Aufnahmeprüfung für das Breslauer Lehrerseminar vorbei ist. Also, wie haben Sie sich die Sache eigentlich gedacht – das interessiert mich!«

»Wir – wir hatten gedacht, wir könnten ja extra geprüft werden.«

Da hieb der Direktor mit der Faust auf den Tisch. Aber er erboste sich nicht. Er lächelte.

»Also, man wird alt wie ein Haus und lernt nie aus. Vier Tage lang haben wir Aufnahmeprüfung gehalten. Zweiunddreißig haben bestanden, vierzig sind durchgefallen. Und jetzt kommen zwei aus Landeck daher, vierzehn Tage zu spät, gegen den Willen ihres Anstaltsleiters kommen sie auf eigene Faust und wünschen eine Extraprüfung. Sie sind gut, Sie zwei!«

Mir dämmerte, daß wir eine Frechheit begangen hatten, und ich wollte mich mit einer eiligen Verneigung drücken. Mein Freund Bartsch schloß sich mir an. Aber als wir schon halb zur Tür hinaus waren, rief der Direktor:

»Halt, bleiben Sie mal da! Finden Sie sich in Breslau zurecht?«

Bartsch nickte. Er sei Breslauer Kind, sagte er.

»So – dann gehen Sie nach der Schuhbrücke Nummer soundso. Da ist ein Haus, an dem außen ein Fries angebracht ist, das einen Hexentanz darstellt. In diesem Haus wohnt der Herr Provinzialschulrat Doktor X., dem sagen Sie, Sie seien Präparanden aus Landeck, gehörten eigentlich auf das Seminar nach Habelschwerdt, seien aber gegen den Willen Ihres Anstaltsleiters auf eigene Faust nach Breslau gefahren und wünschten eine Sonderprüfung, da die Breslauer Aufnahmeprüfung schon vorbei sei. Und nun gehen Sie. Ich wünsche Ihnen viel Glück!«

In überschwenglichem Gefühl dankten wir dem Direktor, nicht ahnend den mörderischen Hinterhalt, den er uns legte. Dieser Provinzialschulrat Doktor X. war sein Freund, wohl auch sonst ein tüchtiger Mann, aber er war als arger Wüterich verrufen. Wir zwei Dummlinge aber torkelten vergnügt drauflos, fanden das Haus und standen bald einem Manne gegenüber, der uns aus runden Gläsern fixierte wie eine Brillenschlange ihre Opfer.

»Was wollen Sie?«

Ich stotterte mit Todesverachtung die ganze Geschichte heraus.

Iwan, der Schreckliche, begriff anfangs rein nichts. Dann aber erkundigte er sich mit zischenden Fragen, und als ihm die irrsinnige Frechheit klargeworden war, daß sich zwei Präparanden erkühnten, eine Preußische Haus- und Prüfungsordnung umstoßen zu wollen und in ihrem Anarchismus bis zu einem Provinzialschulrat kamen, kriegte er das Wundfieber.

Er raste, und ich glaubte, mein und meines Freundes Bartsch letztes Stündlein zähle nur noch nach Sekunden. Einen Blick nach der Tür wagte ich nicht zu werfen. Ich war wie gelähmt.

Plötzlich aber stand der Tobende still, wischte sich die Stirn und sagte mit fast stiller Miene:

»Ja, das ist ja menschlich gar nicht erklärlich! Wie kommen Sie eigentlich dazu? Wie können Sie das –«

Die Stimme versagte ihm.

Worauf ich – fest überzeugt, daß wir sowieso verloren seien – erwiderte:

»Herr Provinzialschulrat, wir wären nicht zu Ihnen gekommen. Aber wir waren zuerst im Seminar, und der Herr Seminardirektor hat uns gesagt: gehen Sie nur auf die Schuhbrücke, in das Haus, wo der Hexentanz dran ist, und da bringen Sie mal Ihr Anliegen vor. Ich wünsche Ihnen Glück dazu!«

Seine Furchtbarkeit starrten erst mit den Augen, dann fingen hochdieselben an, merkwürdig zu grinsen. Zweimal ging der Herr über Leben und Tod durch das große Zimmer, dann sagte er mit unglaublicher Milde:

»Na, da gehen Sie zum Herrn Seminardirektor zurück und sagen Sie ihm, Sie würden wirklich eine Extraprüfung haben. Die Verfügung ans Seminar würde kommen. Inzwischen besorgen Sie sich die nötigen Papiere!«

*

Das Gesicht des Herrn Direktors, das er machte, als wir ihm die Botschaft ausrichteten, ist nicht zu beschreiben. Schließlich fing er furchtbar an zu lachen.

Wir bekamen wirklich eine Extraprüfung. Sieben Seminarlehrer samt Direktor mußten zwei Präparanden zwei Tage lang prüfen. Bartsch wußte nicht, wer der letzte römische Kaiser gewesen sei, und ich zerbrach mir über die Kryptogamen, die mir der gütige Direktor als Geheimblütler verdeutschte, so lange den Kopf, bis ich zu den Pilzen, die mir einfielen, auch die Kohlköpfe rechnete, da ich nie einen Kohlkopf hatte blühen gesehen.

Das war nun ganz falsch. Aber da Geschichte und Naturkunde nur Nebenfächer waren, kamen wir durch.

Unser guter Vorsteher aus Landeck, Herr Doktor K., schickte uns einen Glückwunschbrief.

*

Das war meine erste Prüfung, im Seminar von Breslau heimisch zu werden, und sie war wirklich nicht leicht. Fast noch schwerer aber war das, was folgte. Provinzialschulrat Doktor X. war als Schultyrann eine milde Fee gegen das, was mein neuer Seminarbruder Heilgans als Kunsttyrann war. Dieser siebzehnjährige, hochgemute Jüngling mit den hochgebürsteten Haaren war um mich, den von außen Gekommenen, lange wortlos herum gestrichen. Endlich erwischte er mich allein. Wir hatten beide zusammen Orgelübungsstunde. Abwechselnd mußte einer eine halbe Stunde lang spielen, die andere halbe Stunde lang Bälge treten.

»Spielen Sie zuerst!« sagte Heilgans.

Wir zwei »Neuen« wurden von den anderen gesiezt.

Ich war ein sehr mittelmäßiger Orgelspieler, packte meine »Orgelschule« aus, trampelte meine Pedalübungen und marterte mich an einem F-Moll-Choral verzweiflungsvoll ab. Heilgans »machte Wind«. Er lächelte verächtlich über meine Leistungen, dann kam er dran zu spielen. Er breitete ein großes Buch vor sich aus, dessen Umfang mich schreckte und dessen Titelblatt er mir mit lässiger Handgebärde zeigte:

Die Walküre

Oper von Richard Wagner

»Ich spiele jetzt den Walkürenritt«, sagte Heilgans, »das ist die Perle vom Ganzen!«

Und er reckte sich in dem alten Überzieher, den er anhatte, und sauste mit den Filzschuhen, die er trug, in so wahnsinnigem Tempo über die Pedale, brachte solch grauenhaft majestätische Musik bei sämtlichen gezogenen Registern zum Vorschein, daß ich völlig außer Atem kam, und zwar nicht nur wegen der Bewunderung über die Heilganssche Kunst, sondern auch, weil ich für diese Kunststürme den Wind zu liefern hatte.

Gerade waren wir mitten in der Ekstase, da kam der Oberlehrer revidieren. Und was neulich der Direktor gesagt hatte, das sagte nach Überschauung der Situation auch er: man wird alt wie ein Haus und lernt nie aus! Spielt einer in dieser engen Stube mit voller Orgel den »Walkürenritt«! Noch dazu in Filzschuhen! Ja, Mensch, die Bude fällt uns ja über dem Kopf zusammen!

Nach dieser Abkanzelung spielte Heilgans mit einer einzigen gedeckten Flöte »Tauet, Himmel, den Gerechten«! Solange, bis er den Oberlehrer außer Hörweite glaubte. Dann aber ging er – immer mit den Tönen der sanften Flöte – in andere, ganz andere Rhythmen über und fing endlich an, leise dazu zu singen:

»Mein lieber Schwan,
Ach, diese letzte traurige Fahrt
Wie gerne hätt' ich sie dir erspart.
Nach einem Jahr, wenn deine Zeit
Im Dienst zu Ende sollte gehn,
Dann, durch des Grales Macht befreit,
Wollt' ich dich anders wiedersehn!«

Der Zauber der süßen Melodie packte mich so, daß ich auf das Bälgetreten vergaß und die Orgel stillstand.

»Warum machen Sie keinen Wind, Herr?«

»Ach«, sagte ich ganz selbstvergessen, »das war schön! Was war denn das für herrliche Musik?«

»Na, doch dritter Akt, dritte Szene von ›Lohengrin‹.«

»Was ist das ›Lohengrin‹?«

Heilgans sah mich düster an. Ich glaube, ihm graute vor meiner Unwissenheit.

»Sie können so herrlich spielen!« sagte ich in ehrlicher Bewunderung.

Da blickte er etwas freundlicher.

»Waren Sie nie im Theater?« fragte er.

»O ja, im Landecker Badetheater habe ich ›Minna von Barnhelm‹ gesehen, und im Salzbrunner Badetheater den ›Veilchenfresser‹.«

»Badetheater sind Mumpitz!« belehrte mich Heilgans. »Die ›Minna‹ von Lessing is ja noch 'n ganz leidliches Stück, aber der ›Veilchenfresser‹ is Kitsch. So was von Schiller, Goethe, Shakespeare oder Theodor Körner haben Sie nicht gesehen?«

»Nein«, sagte ich beschämt.

»Auch keine Oper?«

»Keine einzige.«

»Es ist unglaublich«, sagte Heilgans und verfiel in Trübsinn über den geistigen Tiefstand mancher seiner Volksgenossen.

»Da wissen Sie wohl überhaupt nichts von Dichtern?«

»O ja, gelesen habe ich sehr viel und ich – dichte selbst ein bissel.«

Heilgans meckerte vor Vergnügen.

»Sie dichten selber? Das is ulkig. Da – da schießen Sie mal mit was los, was Sie gedichtet haben.«

Ich besann mich nicht lange und deklamierte:

»Oh, wie das Herz auch wallt und ringt
Und wie es liebt und haßt,
Es kommt der Abend, und er zwingt
Es bald zu langer Rast.
Wenn dann den fernen Westen säumt
Ein leuchtend Abendrot,
Ist wenig wahr, was man geträumt,
Und manche Hoffnung tot.«

»Das haben Sie doch nicht alleine gemacht«, unterbrach mich Heilgans.

»O ja«, das ist das letzte Gedicht, das von mir gedruckt wurde. Ich hab's eingesteckt.«

Ich zog ein Zeitungsblatt aus der Tasche und zeigte es ihm. Er las es, las meinen Namen, aber ich mußte ihm erst noch einen Redaktionsbrief zeigen, ehe er an mich glaubte.

»Hm ja«, sagte er dann, »das Ding ist ja gar nicht übel. Es reimt sich. Aber wissen Sie, die eigentliche, die richtige Kunst ist bloß beim Theater. Wenn das Theater nicht wär, hätte überhaupt das ganze Leben keinen Zweck. Ich bin schon siebzehnmal im ›Lohengrin‹ gewesen; ich kann jedes Wort und jede Note auswendig, ich habe acht Wagnersche Klavierauszüge, da kost't jeder 14 Mark; Richard Wagner ist überhaupt der Inbegriff von allem, was man wissen muß.«

Er versprach, mich in den »Lohengrin« und in »Tannhäuser« einzuführen. »Vielleicht auch noch in die ›Meistersinger‹ und in den ›Holländer‹«, fügte er hinzu; »denn den ›Ring‹ oder gar ›Tristan und Isolde‹ werden Sie nie verstehen.«

Ach Gott, wie war ich dankbar, daß sich dieser hochgebildete Großstädter mit so einem Glatzer Waldburschen, wie ich daherkam, überhaupt abgab!

Am selben Abend stellte mich Heilgans seinem Freunde Felix Böttger vor, der ein fast ebenso kunsterfahrener Mann war wie er.

»Er versteht nichts vom Theater«, sagte Heilgans bei der Vorstellung, »ich hab' ihn anfangs überhaupt nicht leiden gekonnt; aber ich denke, wenn wir uns ein bißchen Mühe geben, wird was aus ihm.«

»Na, nur immer Mut, junger Mann«, sagte Böttger mit tiefer, jovialer Stimme und legte mir die Hand auf die Schulter.

*

Wir wohnten alle im Internat. Das Seminar war ein uraltes früheres Klostergebäude mit vielen hygienischen Unzulänglichkeiten, aber auch mit einer köstlichen gemütlichen Romantik.

Unser Kursus hatte zwei Schlafsäle. Der kleinere hieß die »Vorhölle«, der größere der »Himmel«. Ich schlief anfangs im »Himmel«, aber Heilgans sorgte dafür, daß ich zu ihm in die »Vorhölle« zog. Er sagte, dort sei es gemütlicher; im »Himmel« wohnten die Banausen. Für diese Bemerkung wurde er von einer Schar Himmelsbewohner am Abend durchgehauen.

Und diese tätliche Beleidigung erforderte Rache.

»Können Sie Gespenstergeschichten erzählen?« fragte mich Heilgans.

Und ob ich das konnte!

Am nächsten Abend, als die Lichter erloschen waren und tiefe Dunkelheit in den alten Klosterräumen herrschte, erzählte ich eine Gespenstergeschichte nach der anderen. Ich mußte eigens in den Himmel kommen und erzählte dort durch die Finsternis.

»Noch eine Geschichte, noch eine«, sagten die Himmelsleute, und ich erzählte mit halb verhaltener Stimme. Fast fürchtete ich mich vor den eigenen Geschichten.

Dann brachte Heilgans die Rede auf einige Selbstmorde, die früher im Seminar passiert waren, und sagte, daß ganz ernsthafte Leute glaubten, es spuke. Auf dem angrenzenden Kirchboden solle es oft rumoren. Die »Himmelianer« taten zwar mutig, aber ganz richtig war keinem um den Magen.

Um Mitternacht nun, als alles schlief, läutete plötzlich durch die tiefe Stille der bange Ton eines Glöckleins. Es war ein schauriger Klang. Nur wimmernd und ganz vereinzelt schlug die Glocke an.

»Bim bim!«

Dann lange Pause.

Dann wieder einmal: »Bimm, bimm, bimm!« Und dann wieder minutenlanges Schweigen.

»Bimm!«

Ein verlorener klagender Ton.

Der ganze »Himmel« wachte auf. Wir horten Zischeln, leises Sprechen. Aber es stand keiner auf.

Die Dunkelheit war so tief, der Klang des Glöckleins so sterbensbange, daß selbst mir die Haut schauerte, obwohl ich wußte, daß Heilgans und mein Landecker Freund Bartsch heimlich an dem Gasrohr des »Himmels« eine kleine Glocke angebracht hatten, von der eine Schnur durch ein Fensterchen über der Tür zu uns in die Vorhölle lief.

Eine ganze Stunde lang bimmelte die Geisterglocke, und erst als draußen von einem Turm eine Uhr eins schlug, hörte der Spuk auf. Ein paar sonst ganz robuste Burschen aus dem »Himmel« sagten am nächsten Morgen, sie hätten kalten Angstschweiß geschwitzt. Das hätte ich mit meinen verdammten Gespenstergeschichten zuwege gebracht; das Gebimmel sei grausig gewesen.

Die Sonne brachte die Geisterglocke an den Tag, und der darob einsetzende Feldzug des uns an Zahl viermal überlegenen Himmels gegen uns Vorhöllenleute endete mit unserer schweren Niederlage.

»Aber Banausen sind sie doch!« sagte Heilgans, als er sich seine schmerzhaften Gliedmaßen rieb. Mit mir machte er Brüderschaft.

*

In die Vorhölle siedelten nach und nach lauter der Kunst ergebene Leute über, und hier entwickelte Heilgans die große Idee der Gründung eines Seminartheaters. Er hatte indes sämtliche Mitglieder des Kursus auf ihre Theatertalente hin beobachtet und geprüft, und fand, daß nur sechs absolut talentlos waren. Diese bestimmte er zu Kulissenschiebern, Theaterboten, Portiers und Garderobiers. Es wurde eine Theaterkommission eingesetzt, und diese ernannte in fulminanten Dekreten Herrn Arthur Heilgans zum Direktor, Herrn Felix Böttger zum Oberregisseur, Herrn Paul Keller zum Dramaturgen, Herrn Liersch zum Kapellmeister, Herrn Eduard Bentzinger zum Theatermaler und technischen Leiter. Mein Freund Bartsch wurde »Bonvivant«; ein dicker, frischer Junge, der sonst den Spitznamen »Doppelpunkt« führte, wurde erste Liebhaberin; Blasel, der damals Meisterschwimmer von Deutschland war, wurde Heldentenor, der dicke Wurbs komische Alte, und so erhielt jeder sein Fach und seinen Posten. Das erste Theaterrequisit, das wir hatten, war ein Kupierrädchen, wie es bei der Schneiderei gebraucht wird. Blasel hatte es seiner Mutter gestohlen, und es diente dazu, die Theaterbillette zu »lochen«. Es gab drei Arten von Plätzen: zu 10, 5 und 2 Pfennig. Freikarten wurden nicht ausgegeben, nicht einmal an die Kritiker.

Heilgans hielt täglich in allen Pausen Vorträge über dramatische Kunst. Einmal wurde er während einer Studierstunde von dem revidierenden Lehrer erwischt, als er gerade auf allen Vieren auf dem Fußboden herumkroch und wie besessen schrie:

»Mein schaudernd Gebein deckt kalter Schweiß!
Was fürcht' ich denn? Mich selbst? Sonst ist hier niemand.
Ist hier ein Mörder? Nein. – Ja, ich bin hier!«

»Sind Sie verrückt?« fragte der aufs höchste erstaunte Lehrer.

»Entschuldigen – nein«, stammelte Heilgans, »ich bin bloß Richard III.«

Der Lehrer war so grausam, dem edlen Shakespearedarsteller eine Stunde Arrest zuzudiktieren. Als er gegangen war, bestieg Heilgans das Katheder und hielt eine kurze Ansprache:

»Meine Herren! Wer sich der Kunst vermählt hat wie ich, muß leiden. Denken Sie an die Karlsschüler; denken Sie daran, wie Schiller unter dem Unverstand seiner Lehrer und Vorgesetzten gelitten hat. Es ist immer die alte Geschichte: ›es liebt die Welt, das Strahlende zu schwärzen und das Erhabne in den Staub zu ziehen.‹ Sie haben gesehen, wie dieser Pauker mich in den Staub ziehen wollte. Aber das gelingt ihm nicht. Ich werde meine Stunde Arrest mit Freuden absitzen, weil es für die Kunst geschieht. Und Schiller, dem ebenfalls Verfolgten, zu Ehren werden wir zur Eröffnung des Seminartheaters ein Schillersches Stück geben, und zwar: ›Wallensteins Tod‹. Dieses Stück erfordert keine große Ausstattung, da es nur in Zimmern spielt. Ich selbst übernehme die Rolle des Wallenstein, Böttger spielt den Max Piccolomini, Herr von Schalscha übernimmt die Thekla, die anderen Rollen werde ich noch verteilen. Meine Herren, wenn Sie den ›Wallenstein‹ richtig erfassen wollen, dann –«

Der revidierende Lehrer kam zurück.

»Warum stehen Sie auf dem Katheder? Warum sitzen Sie nicht auf Ihrem Platz und arbeiten?«

»Ich – ich – hatte nur einen – einen kleinen Vortrag über Friedrich Schiller gehalten.«

»Zwei Stunden Arrest«, entschied der Gestrenge.

Heilgans schlich auf seinen Platz und »arbeitete«. Als aber jemand kam und glaubwürdig berichtete, der Revisor habe nun bestimmt das Seminar verlassen, ging Heilgans nach dem Katheder zurück und sagte: »Meine Herren, entschuldigen Sie die kleine Störung, durch die ich vorhin abermals unterbrochen wurde. Also, wenn Sie ›Wallenstein‹ richtig auffassen wollen – –«

*

Mit der »richtigen Auffassung« des »Wallenstein« hatte es seinen Haken. Nach etwa vierzehn Tagen sagte mir Heilgans:

»Mit dem ganzen Tode von Wallenstein ist es nichts. Die Kerle wollen nicht genug pauken. Und pauken muß nu ein Schauspieler. Ich habe die vier ersten Akte gestrichen, und wir geben nur den letzten.« –

Der große Tag näherte sich. An einem Schornstein unter dem Dach hing ein von Theatermaler Bentzinger entworfener riesiger Zettel, auf dem die Eröffnungsvorstellung angezeigt wurde. Die beiden oberen Klassen (Ober- und Mittelkursus) waren eingeladen worden. Natürlich gegen Eintrittsgeld. Sämtliche Plätze gingen schon im Vorverkauf weg. Das Privileg dazu hatte Blasel, weil er das Kupierrädchen geliefert hatte. Die Vorstellung fand im geräumigen »Himmelssaal« statt. Die Vorhölle diente als Kleiderablage und »Foyer«. Die Theaterdiener geleiteten die Herrschaften zu ihren Plätzen. Alles war in gespannter Erwartung.

Die Bühne wurde durch den hintersten Teil des »Himmels«, den ein Rundbogen abschloß, gebildet. Ein Kunstwerk an sich war der Vorhang. Er war aus Schlafdecken hergestellt, die dem Preußischen Fiskus gehörten und nun zusammengestückelt, auch vielfach mit Löchern versehen worden waren, damit sich der Vorhang malerisch raffen und ziehen ließ. Gott habe diese alten Decken selig; sie sind im Dienst erhabener Kunst eines ehrenvollen Todes gestorben.

Ober- und Mittelkursus stellten je einen Kritiker, die mit Notizbüchern bewaffnet in der ersten Reihe saßen. Der Kritiker des Mittelkursus, ein Herr Wawrok, galt als ein gestrenger Kunstrichter. Ich habe das auch zu fühlen bekommen.

Die Vorstellung war herrlich. Ich selbst spielte die Rolle des alten Gordon, aber ich mußte mich sehr zusammennehmen, daß ich meinen Part stellte, denn Heilgans als Wallenstein riß mich gänzlich hin. Schon sein Äußeres war gut. Er trug als Wams eine ganz neue Büffeljacke seiner Mutter, einen spitzen Hut, einen richtigen Degen und Stiefel mit großen flatternden Papiermanschetten.

Und wie er sprach! Als er sagte: »Komm zu dir, Thekla, sei mein starkes Mädchen«, und gar als er die letzten Worte: »Ich denke einen langen Schlaf zu tun …« wie in die Ewigkeit hineinsprach, fühlte ich in tiefer Erschütterung die Größe dramatischer Kunst.

Der Beifall war stark und wohlverdient. Am nächsten Tage waren an den Schornsteinen die handschriftlichen Rezensionen der Kritiker angeheftet. Herr Wawrok hatte sechs Bogenseiten geschrieben. Er zog eine geistvolle Parallele zwischen Arthur Heilgans und Ernst von Possart und wies ganz unparteiisch nach, in welchen Stücken Possart den Heilgans überrage, aber auch in welchen Punkten Heilgans dem Münchener Tragöden überlegen sei. Jedenfalls – das stand selbst diesem scharfen Kritikus fest – wir lebten mit einem der größten Tragöden Deutschlands unter einem Dach.

Ich selbst kam schlecht weg. Zunächst bemängelte der Kritiker meine Garderobe. Er schrieb: Herr Keller sah als Gordon einem italienischen Räuberhauptmann viel ähnlicher, als dem würdigen Kommandanten der Festung Eger. Überhaupt scheint Herr Keller als Schauspieler nur von mittlerer Begabung zu sein, dem man wichtigere Rollen an so einem ernsten Kunstinstitut, wie es das »Seminartheater« ist, nicht anvertrauen sollte. Herr Keller wird guttun, lieber gar nicht aufzutreten, sondern zur Kritik überzugehen.

Und so geschah es auch. Ich wurde wegen Mangel an Talent Kritiker. Als solcher habe ich einen riesigen Einfluß gewonnen und mich sogar zum Vorsitzenden der Theaterkommission aufgeschwungen, der daran dachte, Herrn Wawrok als Kritiker abzusägen.

*

Etwa vier Wochen später beauftragte mich der Theaterdirektor Heilgans, ein eigenes Stück zu dichten.

»Wie lang soll es sein?« fragte ich.

»Drei Akte – jeder Akt bis 15 Minuten lang.«

»Ernst oder lustig?«

»Beides. Keine Tragödie. Keine Komödie. Ein Schauspiel. Mit befriedigendem Ausgang. Damenrollen höchstens eine. Für Böttger eine besonders wirkungsvolle Rolle. Ein Intrigant muß auch darin vorkommen. In 14 Tagen kannst du's wohl machen?«

Ich war in acht Tagen fertig, denn ich hatte es, wie alle jungen Dichter, sehr eilig, auf die Bühne zu kommen. »Magdalena«. Ein ländliches Trauerspiel. Der rührende Abschied eines Handwerksburschen von seinem Schatz, einem armen, braven Webermädel. Dann die Not des Vaters. Als Bewerber um die Maid tritt ein halbidiotischer reicher Bauernsohn (Herr Böttger) auf; dessen Vater ist der Gläubiger des Webers. Das Mädel mag nicht. Verzweiflungsszenen. Zum Schluß große Zwangsauktion. Des Webers Häuschen wird versteigert. Ein Fremder erwirbt es. Er ist – wer kann es auch sonst sein? – der heimkehrende besagte Handwerksbursche, der inzwischen reich geworden ist und nun den »befriedigenden Ausgang« macht.

Es war ein voller Erfolg. Heilgans umarmte mich unter Freudentränen. Herr Wawrok schrieb: »Der Monolog der ›Magdalena‹ am Anfang war zwar zu lang, und moderne Dichter sollten überhaupt keine Monologe verwenden, aber dieser Monolog war nur ein Sonnenfleck, denn das ganze war eine Sonne.«

Dieser letzte Satz söhnte mich mit Herrn Wawrok für alle Zeiten aus.

*

Nach mir und Schiller kam zur Abwechslung mal Theodor Körner dran. »Das Fischermädchen« wurde aufgeführt. Ich sehe jetzt noch unseren »Naturburschen« Scholz hinter der Szene Donner und Blitz machen. Die Blitze machte er mit brennendem Kolophonium, in das er blies. Aber die Sache funktionierte nicht, und Scholz verbrannte sich arg den Mund, daß er um Hilfe schrie. Ein reines Wunder ist es, daß bei unseren künstlerischen Experimenten nicht die ganze morsche Seminarbude abgebrannt ist. Die Musen haben uns beschützt.

Aus dem Publikum kamen Anträge an die Theaterkommission, daß man nicht immer nur »klassische Stücke«, sondern auch mal gute Schwänke und Lustspiele aufführen solle. Heilgans wollte anfangs davon nichts wissen, denn er trug sich bereits mit Plänen, zur Oper überzugehen, aber schließlich machte er dem Publikum Konzessionen.

»Ein in Gedanken stehengebliebener Regenschirm« erweckte Lachstürme auf den Zwei-Pfennig-Plätzen. Das bessere Publikum verhielt sich reservierter, amüsierte sich heimlich, aber auch ganz königlich.

Bei einem Stück dieser Art geschah es, daß der Naturbursche Scholz vor der Aufführung vor den Vorhang trat und folgende Rede ans Publikum hielt:

»Meine Damen und Herren! (Die Damen existierten nur in Scholzens Phantasie.) Dieses Stück, das wir geben wollen, ist ein Ausstattungsstück. Wir brauchen dazu ein Paar Stiefel, die ganz ganz sind. Kann jemand ein Paar ganz ganze Stiefel pumpen? Er erhält sie nach der Aufführung gewichst zurück, denn es kommt im Stück vor, daß die Stiefel gewichst werden.«

Da sich nicht gleich jemand meldete, zog Scholz mir, der ich als Kritiker in der ersten Reihe saß, die Stiefel aus und verschwand damit. Ich erhielt das Schuhwerk nach der Aufführung teilweise arg mit Wichse bekleistert, aber durchaus in ungewichstem Zustande zurück und schrieb daher zornerfüllt in meiner Kritik: »Der gestrige Theatertag zeigte, daß das ›Seminartheater‹ von seiner hohen Warte herabsinkt und zu einer Schmiere wird.«

Darauf kehrte Heilgans zu den Klassikern zurück und gab zunächst »Wilhelm Tell«. Wie hat Böttger den Tell gespielt? Glänzend! Vor dem Apfelschuß, als er Geßler bestürmte, das grausame Gebot zurückzunehmen, zitterte er in seiner Vaterangst so, als ob er den Veitstanz hätte. Heilgans (Geßler) aber sagte herrisch und hartherzig: »Iche will dein Leben nicht, iche will den Schoß!«

*

Da wir unsere Aufführungen zumeist in den freien Nachmittagen hielten, waren die »Pauker« unserem Theater noch nicht auf die Spur gekommen. Einmal aber, als der Oberkursus Examen hatte, dachten wir, die Gelegenheit sei günstig, verließen auf den Zehen unsere Studierstube und schlichen nach dem Himmelssaal, allwo alsbald »Der Lügner und sein Sohn« über die weltbedeutenden Bretter ging. Mitten im Spiel erschien ein Warner mit der Schreckenskunde: »Der Oberlehrer kommt 'rauf!« Alles meinte, er komme über die Hinterstiege, und eilte nach der Vordertreppe. Und da lief eben alles dem Oberlehrer in die Hände. Heilgans als Heldenvater in Schlafrock und Nachtmütze, Böttger als Stromer, von Schalscha als junges, reizend gekleidetes Fräulein, Bartsch als Sonntagsjäger mit der Flinte.

Der Oberlehrer war starr. Er wußte sich solche Erscheinungen hier in den Schlafsälen an einem Unterrichtsvormittag nicht zu erklären und murmelte: »Bin ich verrückt oder sind Sie verrückt?« Wir stoben zu unseren Büchern zurück. Nach einer halben Stunde sagte einer: »Der Blasel hat sich gerade ankleiden wollen und ist in der Angst in den Unterhosen in die Orgel oben gekrochen.« Blau gefroren holten wir den Ärmsten aus der Orgel heraus.

Das erwartete Donnerwetter blieb zunächst aus. Aber es kam doch später. Auch Heilgans hatte ein Stück gedichtet. Es hieß: »Die Axt des Glückes«. Alle Proben, sogar die Generalprobe, hatte er in der freien Zeit gehalten; nun ritt ihn aber doch einen Tag vor der Aufführung der Teufel, noch eine zweite Generalprobe zu halten, und er verschwand mit seinen Mannen während der vorgeschriebenen Studierzeit nach dem »Himmel«.

Dort erwischte ihn der revidierende Lehrer, meldete diesen Fall dem Direktor, und dieser sagte am nächsten Tage:

»Ich habe schon lange gewußt, daß Sie Theater spielen; ich weiß, daß Heilgans der Direktor, Böttger der Regisseur und Keller der Dramaturg ist. Ich habe gedacht: wenn die jungen Leute nichts Dümmeres treiben als so was, ist's schon gut, und habe nichts gesagt. Ja, ich hab' mich gefreut. Ich habe gedacht, da gehen die Leute aus sich heraus; es steckt ein idealer Kern drin, und sie lernen auch was dabei. Da Sie aber die Arbeitszeit mißbrauchen, verbiete ich das Theaterspielen ein für allemal!«

So fiel ein Reif in unsere Frühlingsnacht. Als der Direktor das Zimmer verlassen hatte, bestieg Heilgans das Katheder und sagte:

»Meine Herren! Eingetretener Umstände halber sehe ich mich gezwungen, das Amt eines Theaterdirektors, das ich unter Ihnen zu bekleiden so lange die Ehre und das Vergnügen hatte, niederzulegen. Allein, es muß augenblicklich etwas geschehen, unser getötetes Kunstleben wieder lebendig zu machen.«

Wir schickten eine Bittdeputation zum Direktor, die reumütig Abbitte tat und alles Gute für die Zukunft versprach. Es war umsonst; das Theaterspielen blieb strengstens untersagt. O diese unglückliche »Axt des Glücks«!

*

Um diese Zeit geschah es, daß Heilgans in Liebe verfiel. Abends, wenn er in seinem Bett, dicht an der Feueresse, lag, fing er an zu philosophieren, und seine Gedanken bewegten sich immer in demselben Zirkel: »Lieben kann man bloß jemanden, den man kennt. Sie kennt mich nicht; folglich kann sie mich auch nicht lieben.«

»Sie« hatte Heilgans in der Singakademie gesehen, wo wir unsere Übungen hatten. Sie war die Tochter eines Stadtrates, ein schönes stolzes Fräulein von vielleicht 25 Jahren. Heilgans entwarf nun einen Plan, wie er sich seiner Holden bekannt machen könne, und sagte eines Abends:

»Kinder, ich mach' es einfach so: ich gehe an die Tür, klingele, und wenn sie herauskommt, frage ich sie, ob in dem Hause nicht ein Doktor Linke wohne. Na, da gibt dann ein Wort das andere. Aber klappen muß es. Wie im Theater. Proben muß man! Wer von euch spielt mal das Fräulein Grete?«

Keiner erbot sich dazu.

»Nun, da probe ich allein«, sagte Heilgans, der das Theaterspielen nun mal nicht lassen konnte. Er schleppte ein Tafelgestell in die Nähe der Tür, sagte, daß er sich unter diesem Gestell sein Fräulein Grete vorstelle, und guckte dann zur Tür herein:

»Ach, Verzeihung, gnädiges Fräulein, wohnt in diesem Hause nicht ein Doktor Linke?«

Flugs stand er darauf hinter dem Gestell und antwortete mit hoher Diskantstimme:

»Nein, mein Herr, ich glaube, in diesem Hause wohnt kein Doktor Linke.«

»Das ist sehr schade, mein gnädiges Fräulein, daß in diesem Hause kein Doktor Linke wohnt. Ich hätte mir auch nicht erlaubt zu fragen, aber ich kenne das gnädige Fräulein von der Singakademie her.«

»Ach, das trifft sich ja gut!«

So wurde der Dialog fortgesetzt, bis sie ihn einlud, »doch mal näherzutreten«.

Leider ist die Aufführung dieser Szene anders ausgefallen als die Probe. Denn als Heilgans wirklich an der Tür des Stadtrats läutete, kam nicht die Tochter, sondern der Vater öffnen. Außerdem aber erschien eine riesige Dogge, die dem liebebrennenden Mann mit dem etwas schlechten Gewissen Schrecken einjagte. Der Schluß war, daß Heilgans dem Stadtrat die auf die Straße entwischte Dogge einfangen helfen mußte, das Töchterlein aber nicht sah. Gebrochen kam der Jüngling heim. Ernst ist das Leben, heiter die Kunst.

Der Theatermaler zeichnete mit bunten Kreiden des Liebenden arg zerrissenes Herz auf die Wandtafel, und Heilgans gelobte, ein alter Junggeselle zu werden. Dieses Gelöbnis hat er gehalten.

*

Es war tief in der Nacht. Irgendwo in der Ferne summte wohl noch das Lied der Großstadt, im Seminar war Totenstille, selbst die Vorhölle schlief in himmlischer Ruh.

Ach, was ist der Schlaf in jungen Jahren tief und süß! Unser Theatermaler Bentzinger schlief so gern, daß er uns bat, ihn jedesmal zu wecken, wenn mal einer erwache, und ihm dann zu sagen, wie spät es sei. »Es ist mir die allergrößte Wonne«, sagte Bentzinger, »wenn mich jemand um zwei Uhr in der Nacht weckt und mir sagt, du darfst noch dreiundeinehalbe Stunde schlafen!«

So wurde Bentzinger wirklich fast in jeder Nacht geweckt, oft zwei- oder dreimal, und er war immer dankbar für solch einen Freundschaftsdienst. In dieser Nacht wurde auch ich geweckt. Heilgans saß auf meiner Bettkante und seufzte tief und schwer. Ich aber war unwirsch ob der Störung und sagte:

»Heilgans, laß mich bloß mit deiner Stadtratstochter in Ruh. Jetzt will ich schlafen. Du kannst mir doch am Tage deinen Kummer klagen.«

»Es ist nicht die Grete, die mich nicht schlafen läßt«, entgegnete Heilgans, »sondern ich habe einen schweren Kummer. Das Theater! Wir müssen wieder Theater spielen!«

»Das geht doch nicht!«

»O ja, es geht. Du mußt ein neues Stück schreiben, und wir führen es auf und laden den Direktor dazu ein.«

»Du bist verrückt!«

»Mitnichten! Hör mal zu. Der ›Alte‹ gibt doch bei uns Psychologie. Du mußt ein Thema aus der Psychologie nehmen und dem Alten vorreden, dieses Thema hätte dich in seinem Unterricht so kolossal interessiert, daß du gar nicht hättest anders können, du hättest müssen ein Stück machen, und das solle er sich mal ansehen. Es wäre uns gar nicht um das Theaterspielen, es wäre uns bloß um die Psychologie zu tun.«

»Denkst wohl, der Alte ist so dumm, daß er das glaubt?«

»Das glaubt er bestimmt; denn er wird sich geschmeichelt fühlen, und wenn sich jemand geschmeichelt fühlt, glaubt er alles.«

»Psychologie! Das ist verdammt schwer!«

»Na, du brauchst ja nicht gerade über die Induktion oder die Apperzeption oder solches Gemäre zu dichten. Such' dir halt was. Und in acht Tagen muß es fertig sein. Da beginnen die Proben. Ich und Böttger machen die Hauptrollen. Schalscha muß auch 'ne Rolle kriegen, und der Schlolaut auch. Den müssen wir jetzt mal öfters herausstellen. 'n ganz gutes Talent. Und nu denk nach. Mich friert. Ich weck' jetzt bloß noch den Bentzinger, dann kriech' ich wieder in die Klappe.«

Er schlich davon.

»Bentzinger, wach auf! Es ist dreiviertel eins. Fünf Stunden kannst du noch schlafen.«

Bentzinger dehnte sich wohlig. Da sagte ihm Heilgans noch:

»Der Keller macht bis über acht Tage 'n psychologisches Drama. Mit dem schlagen wir den Alten breit.«

»Da will ich auch mitspielen«, sagte Bentzinger und schlief augenblicklich wieder ein. Ich aber wälzte mich nun schlaflos im Bett. Heilgans hatte mir keinen schlechten Wurm in den Kopf gesetzt. Ein psychologisches Stück. Für fünf Personen. In acht Tagen. Das war kein Pappenstiel. Und ein solches Stück, das den Direktor milde stimmen sollte! Aber gerade die Grenze, die meiner künstlerischen Freiheit mit den fünf Personen gesteckt war, brachte mich rasch auf einen Gedanken. Ich sprang aus dem Bett und rüttelte Heilgansen munter:

»Ich hab's! Ich hab's schon! Die vier Temperamente! Und der fünfte, der macht einen gemischt-temperamentigen.«

Heilgans rieb sich die Augen.

»Die vier Temperamente? Ja, was – was hab ich denn eigentlich für 'n Temperament?«

»Du machst den Melancholiker. Das mußt du ja jetzt nach deiner verkrachten Liebe tadellos können. Und wir haben auch sonst keinen Melancholiker. Der Böttger macht den Phlegmatiker.«

»Großartig!« schrie Heilgans begeistert, hüpfte aus dem Bett und sprang zu Böttgers Lager.

»Böttger, altes Murmeltier, wach auf; du spielst den Phlegmatiker!« Böttger begriff nicht, wieso der Phlegmatiker in seine Nachtruhe platzte, als er aber alles gehört hatte, gesellte er sich zu uns dreien, und wir weckten noch den Schalscha, dem wir klarmachten, daß er ein tobender Choleriker sei, und der uns auch wirklich ob der Störung mächtig anschnauzte, den Schlolaut, dem wir erklärten, daß er »gemischt-temperamentig« sei, und zuletzt den Bentzinger, der den Sanguiniker übernehmen sollte. Der aber hörte von allem nichts, fragte nur, wie spät es sei, rechnete aus, wie lange er noch schlafen könne, und legte sich selig auf die andere Seite.

*

»Herr Direktor! Es ist uns nicht um das Theaterspielen. Es ist uns bloß um die Psychologie. Ihr Vortrag über die Temperamente hat mich so interessiert, daß es mir keine Ruhe ließ, bis ich ein Charakterlustspiel gemacht hatte.«

»Was haben Sie gemacht?«

»Ein Charakterlustspiel in einem Akt.«

Der Direktor blinzelte mich an, was so aussah wie: »Spiegelberg, ich kenne dich!« – aber er sagte:

»Na, was für einen Gedanken haben Sie denn dann Ihrem Stück zugrunde gelegt?«

»Daß reine Temperamente nicht nebeneinander existieren können, daß sie zu Zank und Streit kommen müssen, daß der gemischt-temperamentige Mensch der glücklichste ist.«

Er brummte befriedigt und sagte:

»Na, da legen Sie mir mal Ihr Stück vor.«

Ich holte das Heft, und am selben Abend rief mich der Direktor aus dem Studierzimmer und sagte:

»Spielen Sie das Stück. Unten im großen Musiksaal. Ich werde es mir ansehen. Und die Herren Seminarlehrer laden Sie auch ein. Jetzt sagen Sie es den anderen; aber machen Sie es mit dem Indianertanz, der ja nun doch kommen wird, gelinde!«

Es war wirklich ein prächtiger »Alter«, dieser Seminardirektor Ziron. Er wußte, daß wir ihn besiegt hatten und lud sich zu dem Siegestanze selber ein.

Vielleicht aber würde er die Erlaubnis nicht gegeben haben, wenn er geahnt hätte, daß Böttger und Heilgans in ihrem Enthusiasmus zu einem richtigen »Coiffeur« gingen, sich dort kunstgerecht schminken und zurichten ließen und dann – Böttger als kahlköpfiger, dickbauchiger Wirt, Heilgans als Dorfpoet mit Vatermördern und wallender Haarmähne auf den Straßen zum Erstaunen der Leute lustwandelten. Die beiden Künstler erreichten glücklich das Seminar, ehe sie ein Schutzmann wegen Erregung von Straßenaufläufen einsperrte, und spielten am Abend glänzend. Mir als Autor schlug das Herz bis an den Hals vor Freude und Bewunderung. Das ganze Seminarlehrerkollegium, der Direktor an der Spitze, war erschienen, auch ihre Damen hatten die Herren mitgebracht. Und sämtliche Seminaristen waren da; darunter die Kritiker mit ihren Notizbüchern. Böttger als Phlegmatiker klagte während des ganzen Stückes über seine »Beene, die ihm so weh täten«, und noch Monate später, ehe wir das Seminar überhaupt verließen, sagte der Direktor: »Böttger, ich wünsche Ihnen, daß Ihnen auf all Ihren Lebenswegen niemals die Beene weh tun mögen.« Aber auch die anderen leisteten Vorzügliches. Heilgans als melancholischer Dorfpoet erntete Stürme von Beifall. Das Endergebnis war: das Theaterverbot war endgültig aufgehoben.

*

Heilgansens Geburtstag nahte. Wir sagten ihm, daß wir zur Feier des Tages ein »Festspiel« geben wollten; er möge einen Wunsch äußern. Da wählte sich der Schalk – die Venusbergszene aus dem »Tannhäuser«. Das ging etwas über die Kräfte des Seminartheaters. Aber »gegeben« wurde der »Tannhäuser« doch. In einem Klavierzimmer, in dem auch Kleiderschränke standen. Musikmeister Liersch gab den Orchesterpart tadellos; Blasel war ein hellstimmiger Tannhäuser; dagegen rackerte sich der dicke Veith, der auf einem Strohsack lag, vergebens ab, eine verführerische Venus zu sein. Auch die »Nymphen« im Hintergrund waren unter aller Kritik. Der Naturbursche Scholz, der sich ebenfalls zu einer Nymphenrolle gedrängt hatte, hüpfte und sprang wie ein Waldschrat umher. Für Heilgans aber, den Gefeierten des Tages, war auf einem Kleiderschrank ein »Logenplatz« errichtet, auf dem er thronte. Von da oben sah er mit einem Operngucker interessiert auf die Bühne. Von dort aus hielt er auch eine Ansprache an die Künstler und das Publikum, in der er sagte:

»Neunzehnmal habe ich den ›Tannhäuser‹ gesehen; ganz genossen habe ich ihn aber erst heute!«

*

Auch mein Geburtstag rückte heran. An den Feueressen prangten große Zettel:

 

Festvorstellung

Magdalenens
Premiere in Posemuckel

Festspiel in 2 Akten
von
Arthur Heilgans

 

Das Stück, das der alte Freund mir zu Ehren gedichtet hatte, spielte bei einer kleinen Theatertruppe in Posemuckel, der es erbärmlich schlecht ging und die sich durch eine wohlgelungene Aufführung der »Magdalena« (meines Erstlingsstückes) finanziell rettete. Am Schluß des Stückes kam der Laternenanzünder zum Direktor und sagte: »Herr Direktor, der Dichter ist in unserem Theater!« »Holt ihn«, rief der Direktor, »wir müssen ihm danken, daß er unser Theater aus schwerer Not errettet hat!«

Und nun wurde ich – der von allem keine Ahnung hatte – auf die Bühne geholt, und ich erhielt meinen ersten Kranz. »Paul Keller zum 19. Geburtstag. Gewidmet von seinen Freunden.«

Wenn ich mein ganzes Leben überschaue, ich weiß nicht viele Augenblicke, die so tief an mein Herz rührten wie jener. Ein betäubender Duft stieg aus dem Kranz, den ich in Händen hielt, in meine junge Seele. Heilgans und Böttger standen in ihren Kostümen neben mir. Aber als sie zu mir sprachen, fiel alle Theaterei von ihnen ab, die ganze Treue ihrer Herzen, der ganze goldene Idealismus ihrer Jugend sprach aus ihren Worten.


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