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Gedeon

Mein Onkel Eduard hatte zehn Kinder. Sein linker Nachbar, der Krämer Franzke, hatte auch zehn Kinder, und sein zweiter Nachbar, der Müller Seiffert, hatte auch zehn Kinder.

Die befreundeten Familien standen natürlich gegenseitig zu Paten. Im Winter brachten Müller und Krämer meinem Onkel je zwei geputzte Taler als Patengeschenk ins Haus; im Sommer trug mein Onkel in Begleitung des Krämers zwei Taler zum Müller, im Herbst in Begleitung des Müllers zwei Taler zum Krämer. So machten sich die Nachbarn gegenseitig nobel, und des Bedankens und Verwunderns ob der reichen Geschenke wollte immer gar kein Ende nehmen.

Gott ließ regnen und seine Sonne leuchten über all diese Gerechten. Die Kinder bekamen prompt der Reihe nach Masern, Scharlach und Diphtherie und wurden alle ebenso prompt wieder gesund. Alle Jahre wurde ein neuer Jungenanzug und ein neues Mädchenkleid für die beiden Ältesten und Größten gekauft, während sämtliche andere Garnituren um einen Jahrgang nach unten rückten. So ist es kein Wunder, daß, je kleiner die Kinder waren, desto unvorteilhafter sie gekleidet erschienen und deshalb eifersüchtig auf ihre Vorderleute Obacht gaben, ob sie ihnen die nächstjährige Gewandung auch nicht allzusehr ruinierten.

 

Der ewig Neue, Strahlende, Feine, Ungeflickte aber war Gedeon, der Älteste, der Kronprinz aus dem Hause meines Onkels. Eigentlich hieß er nicht Gedeon, sondern August, aber er hatte sich den biblischen Heldennamen aus eigener Machtvollkommenheit beigelegt, und es hätte ihm den Titel niemand streitig zu machen gewagt. Selbst Vater und Mutter und der alte Kantor, ja sogar der Briefträger und der Gendarm nannten ihn Gedeon.

Gedeon war unbestritten der Beherrscher sämtlicher dreißig Kinder. Der Älteste des Krämers war ein schwächlicher Knabe, der für die Herrschaft nicht in Betracht kam, und der Älteste vom Müller war von Gedeon besiegt und unterworfen worden.

Gedeon hatte eine so große Vorliebe für das Alte Testament, daß er nicht nur sich selbst, sondern auch jedem seiner Untertanen einen biblischen Namen beilegte.

Bei den Knaben spielten die Namen der Brüder Josephs und der kleinen Propheten eine große Rolle. Schwieriger war die Benennung der Mädchen. Eva, Rahel, Ruth, Sarah, Judith, Mirjam, Lea, Rebekka, alles war schon vorhanden; als daher des Müllers Jüngste, die im Kinderwagen saß und in sanfter Unschuld an einer Milchflasche sog, in das »Volk« aufgenommen werden sollte, kraute sich Gedeon, der Namengeber, verlegen hinter den Ohren und wußte keinen alttestamentlichen Mädchennamen mehr. Schließlich sagte er langsam: »Nun, vorläufig kann sie heißen: die makkabäische Mutter.«

Darauf erteilte er dem Neuling mit seinem hölzernen Schwert den »Ritterschlag«, worauf die makkabäische Mutter die Milchflasche weglegte und erbärmlich zu schreien anfing.

*

In den Ferientagen kam ich öfter in des Onkels Haus zu Besuch. Mein Vater behauptete zwar in einem schiefen Gleichnis, ich sei das elfte oder gar das einunddreißigste Rad am Wagen, aber die Verwandten nahmen mich immer freundlich auf, ohne sich sonst weiter darum zu kümmern, was ich etwa äße oder tränke oder wo ich schliefe. Es kam vor, daß ich schon zwei oder drei Tage da war, ehe mich der Onkel bemerkte. Er hatte mich im Gewühl übersehen.

Als ich das erste Mal auftauchte, musterte mich Gedeon kritisch und unterzog mich einer Prüfung. Ich mußte über einen ziemlich hoch gehaltenen Stock springen, was ich fertig brachte, dann befahl er mir, ohne Leiter auf eine Linde zu kriechen, was gänzlich mißlang. Auch die Aufgabe, der Länge nach über einen beladenen Düngerwagen wegzuspucken, erwies sich als zu schwer für mich. Zuletzt sollte ich dem bösen Kettenhunde den Saufnapf mit Wasser füllen, was ich eifrig ablehnte.

»Er kann nichts, und er hat Angst. Er ist ein Muttersöhnchen«, sagte Gedeon verächtlich und wandte mir den Rücken.

Darauf wandten mir auch alle anderen den Rücken. Ich war ein Dummkopf; ich war ein Feigling. Ich hatte mich gesellschaftlich unmöglich gemacht. Nur die makkabäische Mutter nahm sich meiner ein wenig an, indem sie mich ihren Breilöffel ablecken lassen wollte.

Zwei Tage litt ich als Unzünftiger, dann beschloß ich, durch eine Tat von außergewöhnlicher Intelligenz meine Schneidigkeit darzutun. Einen schlimmeren Schimpfnamen als »Muttersöhnchen« gibt es für einen Jungen nicht. Am liebsten hätte ich abgestritten, je eine Mutter gehabt zu haben.

Nun hatte ich von Hause eine alte Schnupftabakdose mitgebracht, die ließ ich beim Krämer füllen. Im Kinderstaat ging alsbald die Mär von Mund zu Mund: Er schnupft! Das hörte auch der Autokrat Gedeon, und was ich gewollt hatte, geschah, – er suchte mich auf. Ich probierte gerade, auf einer starken Wagendeichsel auf einem Bein zu stehen, und fiel auf die Erde, als ich des Gewaltigen ansichtig wurde. Da lächelte er wieder verächtlich und hüpfte einmal höhnisch auf einem Bein die ganze Deichsel entlang, setzte sich aber doch zuletzt zu mir auf die Erde.

»Was kannst du eigentlich?« fragte er kalt.

»Ich hab in Geographie ›gut‹ und im Aufsatz ›genügend plus‹«, sagte ich beklommen.

Ob dieser Schulweisheit machte er nur eine maßlos verachtungsvolle Gebärde mit der Hand. Ich sah ein, daß ich mich da wieder greulich philisterhaft benommen hatte.

Darauf legte er mir eine Reihe von Fragen vor: ob ich boxen, angeln, kopfstehen, radschlagen, Sechsundsechzig spielen oder wenigstens mit den Ohren wackeln könne.

Nein, ich konnte von alledem nichts.

Gedeon runzelte finster die Stirn. Nie war ein Prüfungskandidat in ärgeren Nöten als ich.

Da platzte ich heraus:

»Ich kann schnupfen!«

Er sah mich etwas freundlicher an.

»Wenn man richtig schnupfen kann, darf man nicht niesen hinterher«, sagte er.

»Nein, nein, das darf man nicht«, beeilte ich mich beizupflichten.

»Zeig mir die Dose«, befahl er dann. Ich reichte ihm die Dose hin und bat ihn, eine Prise zu nehmen. Das tat er, und darauf blickten wir uns an. Ich sah, daß Gedeon feuerrot im Gesicht wurde, daß seine Nase hundert Runzeln zog, die Muskeln zuckten, daß sich die Lippen fest aufeinander preßten, die Augen tränten, sich das Gesicht verzerrte, die ganze Gestalt bebte, und dann – nahm ich eine Prise und platzte augenblicklich los und nieste siebzehnmal.

Als ich wieder geradestehen und keuchend Luft schöpfen konnte, stand Gedeon gelassen an die Wagendeichsel gelehnt und sagte:

»Du kannst nicht schnupfen! Ich habe nicht ein einziges Mal geniest!« In diesem Augenblick fing ihm heftig an die Nase zu bluten.

Noch an demselben Tage wurde ich in das Volk aufgenommen. Ich war stolzer darauf als auf das beste Schulzeugnis, wenn ich auch gewünscht hätte, Gedeon hätte mir einen prächtigen und wohlklingenden Namen beigelegt. So aber hieß ich Habakuk.

*

Gedeon war ein Held, sein Kopf war immer voll kühner Pläne und eigener Gedanken. Gott weiß, was in ihm steckte: ein Napoleon oder ein Räuberhauptmann, ein grausamer Iwan oder ein Befreier von Washington. Jedenfalls eine unbeugsame Herrennatur. Er irrte nie, er bat nie um Entschuldigung, er war nie unschlüssig, nie besorgt, alles Gelingen war ihm selbstverständlich, er nahm immer das Beste, er gab stets den Ausschlag. Holofernes, einer der Müllerjungen, versuchte einmal, eine Revolution gegen Gedeon anzuzetteln, gewissermaßen eine Art Konstitution einzuführen, dem Volke eine Mitregierung zu sichern. Die Folge war, daß ihn Gedeon sechs Stunden in einen leeren Schweinestall einsperrte, worauf Holofernes und seine Sache der Lächerlichkeit verfielen.

Gedeons Taten sind unzählbar.

Einmal zur Herbstzeit befahl mir Gedeon, mit ihm beim geizigen Heinisch-Weber Pflaumen vom Baum zu stehlen. Vor dem Garten des Webers war der Fluß. Jenseits des Wassers stand des Webers Pflaumenbaum, diesseits an der Landstraße eine Linde. Wir erklommen also die Linde, und rutschten auf einem Ast hinaus bis über den Fluß. Ich hatte eine Todesangst vor einem Unglück, aber eine noch viel größere vor Gedeon. Ich ließ mir aber nichts merken und rutschte mit. Gedeon zog einen Ast des Pflaumenbaumes über das Wasser, pflückte die verbotene Frucht und gab mir davon. Ich aß standhaft, immer mit Grausen hinunter auf den Fluß blickend, und sagte dann schüchtern:

»Gedeon, ich glaube, die Pflaumen zu Hause in unserem Garten schmecken doch besser.«

Da spuckte er einen Pflaumenkern in den Strom und sagte:

»Habakuk, du bist ein Schafskopf!«

In diesem Augenblick kam der Weber mit einem Knüppel aus dem Hause gelaufen; ihm folgte seine Gattin mit einem Besen. Ich riet zu schleuniger Flucht, aber Gedeon hielt mich mit eiserner Hand fest. Inzwischen rannten die empörten Pflaumenbesitzer über eine Brücke, kamen die Straße herauf, langten an der Linde an.

»Wart', ihr Kanaillen – kommt nur herunter – kommt nur herunter! Hier bleiben wir stehen, und wenn's bis übermorgen dauert.«

Wir waren belagert. Kein Entrinnen möglich. Wir waren auf Gnade und Ungnade der bewaffneten Macht da unten verfallen.

»Heinisch«, rief Gedeon mit ernsthafter Miene hinunter, »Heinisch, ich sage Ihnen, es ist ein Kunststück, auf einer Linde Pflaumen zu pflücken!« Heinisch geriet ob dieser neuen Frechheit in neue Wut und schwor, uns beide mausetot zu schlagen, wenn wir nur herunterkämen.

»Ich werde gleich kommen«, sagte Gedeon, kletterte bis auf den untersten Ast und fixierte von da die Webersleute.

»Also: wenn ich bis drei gezählt habe, springe ich runter und springe einem von euch gerade auf den Schädel! Eins, zwei, dr–ei!«

Kreischend wichen die Webersleute beiseite, Gedeon landete mit vollendeter Kniebeuge auf der Straße und begab sich in mäßiger Eile von dannen.

Ich aber, ich armer Habakuk, saß nun verlassen und einsam in meiner belagerten Baum- und Stromfeste. Meine Gedanken und Gefühle will ich nicht schildern, sondern bloß angeben, daß ich schon nach drei Minuten fest überzeugt war, meine Position ließ sich nicht länger halten. So klomm ich langsam bis auf den untersten Ast und sagte schüchtern:

»Ach, Herr Heinisch, sind Sie nur nicht böse, ich komm' jetzt auch runter. Wenn ich bis drei gezählt hab', dann komme ich. Eins, zwei, drei!«

Und dann rutschte ich langsam den Stamm hinab.

Was soll ich sagen? Ich wurde gefangen genommen und barbarisch behandelt. Als ich wieder zu Gedeon kam, empfing er mich in höchster Ungnade. Auch er bekam ja sicher auf die Anzeige des Webers hin am nächsten Tage seine Prügel in der Schule. Das war ein unabwendbares Naturereignis. Was aber mir passiert war, das hielt Gedeon für ehrenrührig.

*

Gedeon übte über uns alle die volle Herrschaft aus. Er war nicht nur unser König, er war auch der oberste Priester.

Seine geistliche Lieblingsbeschäftigung aber war das Eheschließen. Er hatte ein Gesetz aufgestellt, nach welchem jede Zehnjährige männliche und jede achtjährige weibliche Person seines Reiches ein Recht auf Verheiratung hatte. Dabei verfuhr er oft gewalttätig. Er bestimmte die Paare; er hatte seine eigene Frau Judith entlassen, weil sie ihm einen Riß im Jackenärmel so schlecht zugestopft hatte, daß die Mutter den Schaden bemerkte; er hatte diese Judith zwangsweise an des Krämers Nabuchodonosor verheiratet und diesem dafür die nadelfertige Esther abgenommen. Das Volk murrte zwar über solche Gewaltakte, aber zu einer Empörung kam es nicht.

Nun war wieder einmal die Osterzeit genaht, und ich hatte mich am Gründonnerstag als Feriengast im Hause des Onkels eingefunden. Aber noch ein zweiter Fremdling war da, ein liebliches, neunjähriges Mägdelein, eine Verwandte der Müllerleute.

Dieses Mägdelein aus der Stadt war etwas unendlich Feines. Es hieß Hildegard und war nie schmutzig. Es sprach hochdeutsch und hatte immer ein Taschentuch bei sich. Es hatte Spitzen am Wochentagskleid und sagte »bitte« und »danke«, ohne daß es sich schämte. Es klopfte bei fremden Leuten sogar erst an die Tür an, ehe es eintrat, und tat noch mehr solch unerhörte Dinge. Und sein Vater war Postschaffner, das war noch mehr als Briefträger. Ja, es war vorauszusehen, daß Hildegard nach einem Jahr in die höhere Töchterschule gehen und alle fremden Sprachen lernen würde.

Am ersten Tage zogen sich alle Kinder von dem fremden Mädchen zurück. Eine große Scheu ergriff das Volk. Da stand die schöne Fremde einsam und richtete die großen blauen Augen in die Ferne, nach der sie Heimweh hatte.

Die makkabäische Mutter brach den Bann. In ihrer dreijährigen Zudringlichkeit redete sie die Feine an, und nun kamen alle anderen Mädchen und bildeten einen Hofstaat um die Prinzessin, und nach und nach suchten sich auch die Jungen durch Vorführung ihrer Kunststücke und Aufzeigen ihrer Reichtümer bei der »Neuen« in Gunst zu setzen. Nur Salmanassar beging eine Taktlosigkeit, indem er ihr als Geschenk einen alten Taschenkamm anbot, den sie ablehnte.

Gedeon allein hielt sich abseits. Er war schwer verwundert in diesen Tagen, daß neben ihm etwas auftauchen könne, das derart Eindruck mache. Doch bald schüttelte er die Beklemmung ab. Er versammelte das ganze Volk im Garten und führte alle seine Kunststücke vor, auch die Riesenwelle und sogar den Totensprung. Und ich bemerkte, daß er oft auf die Fremde sah, ob es ihr auch gefiele, ob sie auch staune. Die aber saß da mit ihrem stillen Gesichtchen, und am Schluß sagte sie nur:

»Ich habe einmal im Zirkus gesehen, daß eine Frau sich eine große Stange ganz frei auf die Brust setzte und ein Mann an der Stange hochkletterte und oben turnte. Und die Stange wurde nicht gehalten und fiel nicht um.«

Gedeon erbleichte. Aber dann sagte er:

»Oh, das könnte ich auch, wenn ich nur eine Frau hätte, die sich die Stange auf die Brust stellt.«

Das Mädchen erzählte weiter vom Zirkus viele abenteuerliche, aufregende Dinge. Dann sagte sie, sie sei schon einmal im Theater und einmal sogar im Zoologischen Garten gewesen, erzählte von Tänzerinnen und Bären, vom Aschenbrödel und vom Kamel, von schönen Engelein und drolligen Affen, vom Königssohn und vom Nilpferd.

Das erste Mal in seinem Leben fand Gedeon keine Worte, stand stumm unter seinem Volk, fühlte sich übertrumpft und gedemütigt von diesem kleinen Mädchen. Das erste Mal sah das Volk mit einer gewissen Mißachtung auf ihn, auf seine Kenntnisse und Künste. Minutenlang stand er so still da, nur sein Kopf färbte sich rot. Und plötzlich ging er auf das Mädchen zu, schüttelte es an den Schultern und sagte:

»Du – du bist eine dumme Gans!«

Und ging davon.

Eine Stunde später rief er abermals das Volk zusammen und sagte:

»Wer noch einmal – noch ein einziges Mal mit der spricht, den stoß ich aus, und der darf nie mehr mit uns sein!«

*

So tat er die Fremde in die Acht.

Das Mädchen war einsam, aber auch Gedeon war einsam. Mit finsterem Gesicht aß er den Osterbraten, mit finsterem Gesicht trug er seinen neuen Anzug, nachdem er dreimal an der Fremden vorübergegangen war und sie kein Wort über seine Leibeszier gesagt hatte. Friedlos wanderte Gedeon hin und her und landete immer wieder in der Nähe des Mädchens. Selbst in der Nacht fand er keine Ruhe. Ich sah ihn einmal aufrecht in seinem Bett sitzen und hörte ihn mit sich selber sprechen: »Einen richtigen Feuerfresser hat sie gesehen? Einen Elefanten, der Trompete bläst? Ach, Unsinn!« Und warf sich um in sein Bett, saß aber bald wieder mit wachen Augen träumend da. Und sprach leise und schmerzlich zu sich: »Sie ist schöner als alle!« Und wieder nach einer Weile horte ich etwas – was ich nicht für möglich gehalten hätte – hörte ich, daß Gedeon ingrimmig schluchzte.

Am nächsten Morgen erschien die Rebekka vom Müller und meldete, die Fremde wolle nach Hause. Es sei ihr bange, es gefalle ihr hier gar nicht. Gedeon geriet in große Erregung:

»Sie wird nicht fort – sie darf nicht fort – das werde ich ihr austreiben!«

*

Es war ein Wunder geschehen. Gedeon und die Fremde waren ausgesöhnt. Sie wanderten mit strahlenden Gesichtern durch den Garten, und Gedeon erweckte mit hundert Kunststücken im Herzen des Mädchens Liebe und Bewunderung. Am Nachmittag wurde sie in das Volk aufgenommen. Wir waren alle gespannt, wie die Neue heißen würde, da doch der Vorrat an Mädchennamen erschöpft war. So machte es einen tiefen Eindruck auf uns, als Gedeon dem schönen Kind sein hölzernes Schwert auf die Schulter legte und mit glücklicher, ja triumphierender Miene sagte: »Ich nehme dich auf in das Volk und nenne dich: Königin von Saba.«

Holdselig lächelnd schaute das Mädchen zu dem Helden auf, und alles Volk neigte sich vor ihr.

Ein wenig später nahm mich Gedeon zur Seite und sagte:

»Ich werde die Königin von Saba heiraten.«

»Du hast doch schon die Esther!«

»Ach, die – schaff' ich ab. Ich muß die Königin von Saba zur Frau haben, ich muß! Und wer was dagegen sagt, der –«

Er runzelte die Stirn. Ich aber fand es unerhört, erst eine Judith laufen zu lassen und dann auch noch einer Esther den Laufpaß zu geben.

»Was werden aber die anderen dazu sagen?«

Er machte eine verächtliche Miene.

»Das ist egal! Die Esther wirst du heiraten oder der Zebulon.«

Ich muß sagen, es empörte sich etwas in mir. Diese abgelegte Esther zu übernehmen, dazu hatte ich gar keine Lust. Doch wagte ich natürlich nicht, heftig zu widersprechen, sondern sagte nur:

»Es wäre mir am liebsten, wenn ich vorläufig noch ledig bleiben könnte.«

Er besann sich ein wenig und sagte dann:

»Ja, du kannst mich mit der Königin von Saba trauen, und der Zebulon nimmt die Esther.«

Die Gattenpflichten waren ja in diesem Volk sehr leicht. Sie bestanden darin, der Gesponsin beim Lumpenmann einen Ring zu kaufen, sie gegen ihre Feinde zu schützen und beim Spiel ihr Partner zu sein. Immerhin tat mir Zebulon leid, denn Esther war drei Jahre älter als er und noch dazu seine Schwester. Das kann man nicht gerade eine vorteilhafte Partie nennen. Zebulon weigerte sich auch, wurde aber von Gedeon durchgehauen und war dann zur Ehe bereit.

Mir fiel also das Amt zu, Gedeon und die Königin von Saba zu trauen. Es war eine saure Arbeit. Denn erstens waren mir die priesterlichen Gewänder, die sonst Gedeon trug, viel zu groß, und dann machte mir die Traurede viel Schmerzen. Es ist für einen Anfänger nicht leicht, gleich vor dem Gewaltigen der Erde zu sprechen. Immerhin, ich nahm mich zusammen und stand würdevoll vor dem Altar, den Gedeon in einer großen Bodenkammer aufgebaut hatte.

Der Hochzeitszug nahte. Die Braut trug einen wundervollen Schleier, den die Tante aufgesteckt hatte, Gedeon hielt einen Zylinderhut wirkungsvoll in der Hand, den der Onkel geborgt hatte. Die andere Hochzeitsgesellschaft war weniger stilgerecht. Nabuchodonosor, der Trauzeuge war, hatte sich eine blaue Zuckertüte auf den Kopf gesetzt, und die makkabäische Mutter, die Brautjungfer war, hatte sich den Gummilutscher mitgebracht. Einige Herren der Gesellschaft führten Säbel, Armbrust, Trommel oder Steckenpferd mit sich, und Ruben trieb mit ihrem Bruder Lewy Allotria mit meiner Schnupftabakdose. Ganz aus der Art aber war es, daß Salmanassar während der Trauung mit seinem Blaserohr nach dem Brautpaar Scheibe schoß.

Unter diesen Umständen ist es nicht leicht, eine ergreifende Predigt zu halten. Ich tat, was ich konnte.

»Geehrtes Brautpaar! Die Ehe stammt aus dem Paradiese. Da war Adam Bräutigam und Eva Braut.«

Hier blieb ich stecken.

»Braut – Braut –«

»Jawohl, Braut!« sagte Salmanassar im Hintergrund.

Ich machte ein hilfloses Gesicht und eine ohnmächtige Handbewegung. Gedeon, der Bräutigam, zog eine wütende Miene.

»Weiter – oder –«

Dieser Wüterich hätte sich sogar an der Geistlichkeit vergriffen. Die Angst half mir. Allerhand fiel mir ein, was ich in Traureden gehört hatte.

»Geehrtes Brautpaar, das ist eine feierliche Stunde.«

»Der Salmanassar schießt mit'm Blasrohr«, kreischte mir Sarah dazwischen.

»Schmeißt ihn raus!« rief der Bräutigam, indem er sich umwandte. Salmanassar flog hinaus.

»Eine feierliche Stunde!« wiederholte ich. »Die Ehe ist schwer.«

»Mit der Königin von Saba ist sie nicht schwer!« grollte der Bräutigam.

»Nein, nein, mit der ist sie nicht schwer«, gab ich ohne weiteres zu und fuhr fort. »Ihr sollt alles miteinander tragen, Freude und Leid. Ihr sollt euch eure Schwächen verzeihen, denn jeder Mensch hat Schwächen. (Der Bräutigam schüttelte heftig den Kopf.) Wenn ihr krank seid, sollt ihr euch pflegen, und eure Kinder sollt ihr fromm erziehen. Amen.«

Der Bräutigam zuckte die Achseln. Ich merkte, er war nicht zufrieden. Die Braut aber sagte laut:

»Das hat er schön gemacht«, und da hellte sich auch Gedeons Gesicht auf, und ich konnte erleichterten Herzens die Zeremonie zu Ende führen, was mir über Erwarten gut gelang.

Das Hochzeitsmahl war nicht schlecht. Die Tante kochte Schokolade für alle, und Gedeon gab vier Zigarren zum besten, die er um zehn Pfennig in der Stadt gekauft hatte. Zwei rauchte er selbst, eine bekam ich als Stolgebühren und eine bekam Zebulon, der Zwangsmann der Esther, gewissermaßen als Trostpreis.

*

Gott weiß, was in ihm steckte, was Großes und Seltsames aus ihm geworden wäre, oder was Großes und Seltsames verdorben wäre in der Enge seiner äußeren Verhältnisse. Was ist ein Held unter Bauern, wenn es ihm bestimmt ist, auch ein Bauer zu werden?

Und siehe, es wurde anders, als alle dachten.

Gedeon tat das Kühnste, was noch keiner aus dem Volke gewagt hatte – er küßte seine Frau. Und alle die jungen Männlein und Weiblein sahen zu und lachten nicht einmal.

Auf der Wiese, die am Fluß lag, wurde das Hochzeitsfest begangen mit Spiel und Tanz. Gedeon hatte seiner Braut einen Schneeglöckchenstrauß geschenkt, den trug sie an der Brust. Ein großer, weißer Strohhut lag auf ihren blonden Haaren, und seine blauen Schleifen flatterten im Winde.

Die große Wiese war gelbgrün, die ersten Blättlein standen an Baum und Strauch, der brausende Fluß sang sein Frühlingslied, hoch im Blauen war Lerchengesang.

Da streckte Gedeon seine starken Arme gen Himmel und fing laut und mächtig an zu schreien. Es war ein wilder, königlicher Schrei; Gedeon schrie vor Kraft und Glück.

Dann funkelten seine Augen, und er sagte zu seiner Braut:

»Paß auf, wenn ich groß bin, geh ich zur See und erforsche alle Länder der Erde!«

Nahm sie schnell und schwang sie im Kreise herum und schrie wieder laut dabei vor Kraft und Glück und Lebenslust.

Da löste sich dem Mädchen der Hut – der Wind nahm ihn – trieb ihn in den Fluß.

»Mein Hut! Mein Hut!«

»Ihr Hut, ihr schöner Hut!«

»Sei ruhig, ich hole ihn!« – – –

Dreißig Kinder standen am Ufer, als Gedeon in den Fluß sprang. Dreißig Kinder sahen freudig erregt zu, wie er dem Hut nachschwamm. Keines bangte um den Helden, dem alles gelang. Allen war es ein herrliches Schauspiel.

Seht, er hat den Hut, er hebt ihn triumphierend über das Wasser. Er schwimmt an den Rand – oh, es hält schwer –, die Strömung ist stark – er ist in Kleidern – aber er ist der Gedeon. –

Halt, jetzt hat er den Erlenzweig! Seht, er schleudert den Hut ans Ufer. Da liegt er auf dem Erlenbusch.

Er hat gesiegt, er hat gewonnen, wie er immer gewinnt. O Königin von Saba, was sind deine Zirkuskünstler gegen den! In lachendem Stolz steht das ganze Volk am Ufer.

Aber jetzt – jetzt bricht der Erlenzweig, an dem sich Gedeon emporziehen will, und er – er treibt nach der Mitte des Flusses zurück –

O laßt ihn nur, laßt ihn nur, es ist ja der Gedeon! Paßt nur auf, paßt auf, was noch Großes kommt!

Da fängt ein Mädchen plötzlich an zu weinen und sagt:

»Das Wehr! Müllers Wehr ist so nahe!«

»Das Wehr! Das Wehr! Gedeon! Gedeon!«

Und plötzlich schreien und weinen dreißig Kinder.

*

Wir konnten es lange nicht fassen, daß Gedeon tot sein sollte. Einer von uns sagte:

»Oh, das läßt er sich nicht gefallen!«

Er ließ es sich aber doch gefallen, ließ sich tragen und in den weißen Sarg legen. Und hielt ganz still.

Es ging viel in diesem Sarg verloren. Verloren? Oh, jetzt glaube ich wohl: es wurde viel in diesem Sarg gerettet.

Verwundert, scheu, standen wir um den toten Gedeon. Er hatte ein Gesicht, wie immer, wenn er unzufrieden war. Er war unzufrieden mit sich selbst, unzufrieden, daß er sich vor uns allen und vor seiner Königin von Saba als kein besserer Schwimmer gezeigt hatte. Wir gingen die Tage behutsam, scheu, furchtsam wie Diener, wenn ein strenger Herr schläft.

Erst als der Sarg geschlossen wurde und Gedeon nicht dagegen tobte, sich nicht gegen den Deckel stemmte, sondern sich geduldig einnageln ließ, da fingen wir alle an, bitterlich zu weinen.

Der Verlust wurde uns klar; wir erkannten, daß unser König gestorben war, daß wir ein verwaistes Volk waren.


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