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Unterwegs mit meinen Eltern

Die älteste Erinnerung, die ich an meinen Vater habe, ist die, daß er mich um das Haus jagte. Mein Vater hatte in jungen Jahren einen tizianfarbenen Schnurrbart. Von Tizian und von Farben verstand ich Dorfjunge nichts. Manchmal stellte ich mich, eine mächtige Range, an die Tür und höhnte: »Ach, Vater, du hast ja einen roten Schnauzer!« Dann machte ich mich »dünne« und verschwand. Er sauste hinter mir her. Meist kriegte er mich nicht ein. Wenn er mich aber doch einkriegte, dann gestand ich unter der Folter gelinder Ohrendrehung, daß sein »Schnauzer« »blond« sei. Und dann war alles gut.

Mein Vater war nach meiner Jungenüberzeugung der musikalischste Mensch von der Welt. Er hatte eine Musikkapelle in Arnsdorf gegründet und spielte selbst, das stand bei mir fest, vierzehn Instrumente. Jedenfalls konnte er geigen, Klavier spielen, Horn, Trompete, Waldhorn, Tuba und vor allen Dingen Klarinette blasen und trommeln. Daß er kein Meister war, versteht sich von selbst; er hat ja nie einen Lehrer bezahlen können. Aber er erfühlte sich das alles selber, horchte auf jede Erklärung, jede Anregung und übte.

Die Musikkapelle hatte ihre Übungen in unserem Hause. Herrgott, was haben diese Leute für ein Getön zustande gebracht! Einen, der »Baß« blies und bloß »Imtata! Imtata!« machen konnte, bat einmal seine Liebste, er solle ihr doch auf seinem Instrument einen Walzer vorspielen. Worüber der Künstler in schwermütiges Kopfschütteln verfiel.

Ein blinder Geiger war bei der Kapelle. Der hieß Böhm. Wenn die Kunstübungen zu anstrengend geworden waren und einige trockene Kehlen nach einem Trunk verlangten, öffnete einer die Fensterladen und sagte: »Es ist stockfinster. Schicken wir den Böhm nach dem Wirtshaus, der findet's am besten.« Und der Blinde ging und brachte die Labung herbei.

An den Tanzabenden, an denen die Kapelle aufspielte, kauerte ich in einer Ecke des Tanzsaales, sah gar nicht auf die tanzenden Paare, sondern immer auf den Vater, wie er auf dem »Musikantenchor« die Klarinette oder auch mal die Trompete blies. Und das »Tanzstückel« wiederholte sich so lange, bis mein Vater die Hand hob. Dann brach die Kapelle ab, und alle die schwitzenden Tänzer mußten an ihre Tische. Da dachte ich: die Leute tanzen bloß so lange, wie mein Vater will. Und ich war stolz auf ihn.

Also der August Keller und die Frau Josepha Keller, geborene Peschke, gründeten einen Handel. Sie paßten zusammen. Geld hatten sie beide nicht. Aber sie hatten Kredit; denn sie besaßen das unbedingte Vertrauen aller Leute, die sie kannten. Wir hatten einen mächtig langen und hohen Wagen, so wie man ihn manchmal auf alten Fuhrmannsbildern sieht. Eine graue Plane überspannte die hohe Wölbung seines Daches; vorn war die »Kelle«, das soll heißen die Wagenkehle, ein Sitz für drei Personen. Im Wagen waren allerlei Schnittwaren; Stoffe für Männer- und Frauenkleider, Leinwand, Flanell, Barchent.

Wir hatten nur ein Pferd. Das war immer so stark wie ein Elefant, aber infolge seines massigen Baues kein Traber, sondern ein bedächtiger Lastenzieher.

Einmal fuhren wir nach unserer Kreisstadt. Vater und ich. Der »Braune« versank während des Gehens in Träume. Wahrscheinlich wunderte er sich, daß er so wenig zu ziehen hatte, denn wir fuhren mit dem Spazierwagen. Ich war damals zwölf Jahre alt und kannte eine Masse Gedichte, auch solche von Lenau. Da fragte ich:

»Vater, soll ich dir mal ein schönes Gedicht von Nikolaus Lenau sagen?«

»Sag's!«

»Drei Zigeuner sah ich einmal
liegen auf einer Weide,
als mein Fuhrwerk in müder Qual
schlich durch die sandige Heide.«

»Du, du willst mich anspitzen! Hör' auf mit deinem Lenau! Hü, Brauner!«

Ein energisches Leinewackeln, der Braune fuhr erschreckt aus seiner Träumerei auf und ging zehn Meter lang im Trab.

*

In den Ferien, wenn die Eltern ins Bergland fuhren, um ihre Waren an Bauern und Bergleute zu verkaufen, durfte ich sie begleiten. Weite Wälder, tiefe Täler mit rauschenden Flüssen, an denen Wassermühlen lagen, einsame Gehöfte, Straßenwirtshäuser, Bauerndörfer, Grubenbezirke und darüber die freundlichen Gipfel eines reichgegliederten Gebirges waren die romantische Umwelt meiner Jugend. Während der Schulzeit aber lebte ich bei meinem Großvater. Trotz meiner Liebe zu ihm hatte ich dann nach meinen Eltern oft Heimweh. Vom Felde sahen Großvater und ich nach einem fernen Berg. Auf dessen kahler Kuppe waren nur drei Bäume sichtbar, zwei große und ein ziemlich kleiner. Und wenn mir wieder einmal bange war, wies der Großvater nach dem Berge und sagte:

»Siehst du, dort sind sie; die großen sind Vater und Mutter, und der kleine ist der Hund!«

Ich starrte nach dem Berge.

»Ja. Wo ist aber dann der Wagen und das Pferd?«

»Sind gerade auf der anderen Seite des Berges hinunter«, sagte der Großvater.

Das glaubte ich lange, obwohl das Bild alle Tage dasselbe war. Wenn ich aufs Feld kam, sah ich mir Vater und Mutter und den Hund an, die zu dreien da auf dem Berge gegen den Himmel hin standen.

Also in den Feiertagen fuhr ich mit auf die Reise. Vater, Mutter und ich gingen neben dem Wagen her, außerdem »Baarla«, der Hund. Baarla ist schlesisch und heißt Bärlein, kleiner Bär. Dieser Hund war wirklich so ein Wuschelchen, daß man ihn für einen kleinen Bären halten konnte. Er war mein Freund, obgleich er manchmal etwas Überhebliches hatte. Er bellte nämlich oft ohne jede Ursache das Pferd an, wenn es den schweren Wagen bergauf zog, und lief ihm vor den Beinen herum. Diese Dreistigkeit des kleinen Kerls dem Riesen gegenüber hat mich oft verdrossen. Der »Braune« beachtete das dumme Bärlein eine ganze Zeitlang gar nicht; wenn es ihm aber zu dumm wurde, bückte er sich mit dem Kopf tief nieder und blies ihm eine so gewaltige Ladung aus den Nüstern ins Antlitz, auch schüttelte er mit solchem Gedröhn sein Geschirr und schnob so drohend, daß der kleine Bär schleunigst in der nächsten Kartoffelfurche verschwand.

»Da hat er's«, sagte der Vater, der der kleinen Komödie mit Behagen zugesehen hatte.

Meine Eltern sind während ihrer fast dreißigjährigen Geschäftstätigkeit nur in acht verschiedene Dörfer gekommen. Sie brauchten keine neue Kundschaft; dieselben Leute kauften durch Jahrzehnte bei ihnen ihren Bedarf. Freilich, viel verdient haben sie dadurch nicht. Wenn ein Bauer heute den Weizen von zwei Morgen verkauft, verdient er mehr, als meine Eltern sich in einem dreißigjährigen Wanderleben ersparen konnten. Der eine so, der andere so; inwieweit die Rechnungen stimmen, prüft Gott.

Ach, und es war doch schön. Reiche Bauerntöchter wollten ihr seidenes Brautkleid von Mutter kaufen. »Seide haben wir nicht«, sagte die Mutter. »Aber, Frau Keller, Sie müssen es mir besorgen. Ich möchte es von Ihnen!«

Und dann wieder: ein armes Bergarbeiterweib steht vor einem Ballen und sagte: »Wir brauchen alle Hemden, der Mann, ich, die Kinder. Aber wovon soll ich's schaffen?« Die Bergleute wurden damals elend bezahlt. Dann schnitt Mutter das Stück, das die Frau brauchte, ab, gab es ihr und machte in ein Büchlein eine Notiz. Von der Frau hatte sie überhaupt keinen Ausweis, daß sie ihr etwas schuldig sei. Es ging alles auf Treu und Glauben. Markweise wurden die Schulden abgezahlt, und mit ganz wenigen Ausnahmen sind alle diese ehrlichen armen Menschen ihren Verpflichtungen nachgekommen.

Wenn die Mutter mit den Leuten verhandelte, saß ich in der Kelle des Wagens oder am Straßenrande und trieb allerhand Wissenschaften. Mit fünf Jahren brachte mir der Vater das kleine »u« bei, dessen Bogen ich ständig verkehrt schrieb, mit zwölf Jahren hielt ich meinem Vater Vorträge über Themistokles, Alcibiades, Alexander den Großen und Hannibal und über dessen Untergang bei Cannä, anno 202 vor Christo, ein Schicksal, das mir das Herz zusammenkrampfte. Dieses Wissen hatte ich alles aus der dreibändigen Weltgeschichte von Welter, die mir der Vater gekauft hatte, in der er oft selber las, so daß ihm mein Vortrag nicht viel Neues brachte. Das Pferd und der Hund schliefen indes bei unseren gelehrten Auseinandersetzungen ein. Dann hatten wir eine deutsche Literaturgeschichte. Sie war vielleicht 250 Seiten stark. In der studierten wir viel herum. Einmal, als Mutter gar zu lange vom Wagen weg war, lernte ich Schillers »Glocke« auswendig. Bis dahin kam mein Vater wissenschaftlich mit. Als ich ihm aber in den nächsten Ferien mit meinem Kambly anrückte und ihm von Kongruenzsätzen, vom Pythagoras und vom Ziehen der Quadratwurzel sprach, sagte er traurig: »Junge, das versteh' ich nicht!«

Es wird Abend. Wir fahren eine alte Bergstraße hinab, einem neuen Dorfe zu, mitten durch den späten Sonnenschein. Würzig ist die abendliche Luft, und dunkel steht der Wald im Schatten der Berghänge. Vater, Mutter und ich sitzen in der Kelle des Wagens. Baarla muß zu Fuß gehen; das verdrießt ihn so, daß er manchmal einen mißbilligenden Blick zu uns emporsendet. Da hält Vater den Wagen an, hebt den Hund herauf und setzt ihn hinter sich. Er sitzt jetzt sehr unbequem, aber er will es so haben.

Dann im schönen Abendschein singen wir. Mein Vater war, wie ich schon schrieb, sehr musikalisch, die Mutter gar nicht. So hatte er und ich folgende Kritik über unsere Kunstleistungen aufgestellt: ich singe Diskant, Vater singt scharmant, Mutter singt meschant.

Bei sinkender Sonne kehrte die ganze Nomadenkarawane im Gasthaus ein. Wirt, Wirtin, Dienstleute laufen zusammen, und es gibt frohe Gesichter und Händeschütteln. Vater schirrt das Pferd ab und bringt es in den Stall; Mutter geht in die fremde Küche, rumort mit Töpfen und Tiegeln. Dann nach dem Abendbrot, wenn Gäste ins Wirtshaus kamen, war es anfangs interessant. Ich sah zu, wie Vater mit einem Lehrer und einem Bauern Karten spielt; aber zuletzt, wenn die Mutter mit ihrem Strickstrumpf zur Wirtin in die Küche ging, setzte ich mich doch in eine Ecke und schlief ein.

Der Gastwirt, er hieß Vogel, war ein schnurriger Kauz und dachte nur immer darüber nach, wie er seinen Mitmenschen einen Streich spielen könnte. Der Vater hatte mir erzählt, daß er einmal einem Schneider die Stiefel voll Ofenruß geschüttet hätte. Ein andermal hatte er im Nachbardorf an das Haus des Schmiedes eine Leiter angelegt und seinem alten Freund mit einem Brett den Schornstein zugedeckt und die Schmiede mit Rauch gefüllt. Stundenlang konnte ich dem Vater zuhören, wenn er mir von dem alten Vogel erzählte. Und einmal wurde auch ich sein Opfer. Ich war wieder einmal in der Gaststube eingeschlafen. Da hatte mich der alte Vogel unbemerkt hinausgetragen und in einen großen Korb gelegt, der im Hof stand.

So war ich spurlos verschwunden. Vater und Mutter suchten mich und haben sich die ganze Nacht geängstet. Ich aber schlief seelenruhig in meinem Korb.

Es war eine warme Sommernacht, und ich habe gut geschlafen. Trotzdem ist es dem Wirt für seinen »Witz« von seiner Frau und meiner Mutter außerordentlich schlecht ergangen. –

Wir drei schliefen auf unserem Wagen. Die Schnittwaren wurden zu einer ebenen Fläche geordnet, darüber Betten gebreitet, und unter dem Planedach schliefen wir. Es war ein wenig eng, aber ich habe auch später nie besser geschlafen als auf diesem Wanderwagen. Wenn es regnete, klopfte es leise und zärtlich an unser leinenes Dach. Einmal zitierte ich so im Einschlummern meinen Eltern wieder einmal einen Vers von Lenau, der damals mein Lieblingsdichter war:

»Sanft ruht es sich in dieser Scheune,
darauf der Regen leise klopft,
so mag sich's ruh'n im Totschreine,
darauf des Freundes Träne tropft.«

»Es ist zwar keine Scheune, wo wir liegen«, setzte ich erläuternd hinzu, »aber es ist hier gerade so.«

Niemand glaube, daß die Jugend des kleinen Händlersohnes »arm« war; was mein Körper zur gesunden Entwicklung brauchte, hat er gehabt. Alles das, was meine Seele an Naturfreude und Romantik begehrte, wurde ihr gegeben. Wenn mich eine Hand juckte, ging ich zu einer Kuh und ließ sie mir von ihrer rauhen Zunge belecken. Ich weiß, daß mich der unsägliche süße Duft der Erde im Frühling taumelig machte; ich habe mir meine Studierstube in der Krone eines wunderschönen Kastanienbaumes gebaut.

Ja, lieber Vater, hast mir alles gegeben, was du mir geben konntest: Liebe, Freiheit, Romantik, Unterricht. Bist mein guter Freund geblieben durch die ganze Schule des Lebens und hast so mit stillen, bescheidenen und doch glücklichen Augen zugesehen, wie ich aus der Stille des kleinen Kreises in die Welt hinauswuchs.


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