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Mein Roß und ich

Ich ging nicht in die Schule – ich ritt! Ich konnte mir das leisten, denn ich hatte ein Roß, das nicht rechnen konnte. Wenigstens kam es nie hinter die verzwickten Schliche der indirekten Regeldetri. Bei »zehnstündiger Arbeitszeit« arbeiteten nach Meinung meines Rosses die bekannten »sechs Arbeiter« an dem bekannten »Graben« immer zehnmal so lange als bei einstündiger.

Dieses Roß hieß Reinhold Sander, war zwei Jahre älter und zwanzigmal so stark als ich und im übrigen der gutmütigste Schuljunge von der Welt. Jeden Morgen erschien mein Roß in meiner großväterlichen Wohnung, stopfte sich schnell einen Apfel oder was etwa sonst Genießbares auf dem Fensterbrett lag, in die Hosentasche, setzte mich auf seine Schultern und trabte mit mir zur Schule, wo es mich auf meinem Platz sänftiglich absetzte.

Dafür machte ich meinem Rößlein in der Rechenstunde die tadellosesten »Bruchansätze«.

Eines schönen Maimorgens ritt ich nun gerade zur Schule, stolz wie Darius zur Schlacht, als uns ein Mann begegnete, den sowohl mein Roß als ich nach dem ersten prüfenden Blicke als einen »Stadtklecker« einschätzten. Als »Stadtklecker« galt damals in meinem Feld-, Strauch- und Wiesendorfe ohne weiteres jeder städtisch gekleidete Mensch, der sich in seiner Gemarkung blicken ließ.

»Nanu, nanu«, machte der Fremdling verwundert und musterte uns, »wo geht die Reise hin?«

»In die Schule!« sagte ich und fuchtelte siegesgewiß mit meinem breiten Lineal.

»Aber, Junge, warum gehst du denn nicht zu Fuß? Kannst du denn nicht laufen?«

»Besser wie Sie!« sagte ich frech. Der Fremde erzürnte sich und schnauzte mein Roß an:

»Wirf doch den Bengel ab! Wirst dich doch nicht mit ihm abrackern!«

Mein Roß schüttelte die Mähne und stieß Dampf aus den Nüstern. Dann sagte es:

»Er läßt mich die Regeldetri-Aufgaben abschreiben, und überhaupt geht Sie das 'n Quark an.«

Nun raste der fremde Wandersmann und wollte mit seinem dünnen Spazierstock meinem Roß eins auf den sogenannten Bug geben. Das aber schlug nach hinten aus, trat in eine Pfütze, bespritzte den Fremden von oben bis unten und setzte sich in Galopp mit mir.

Als wir ein Stück davon waren, sang ich mit lieblicher, heller Stimme: »Stadtklecker! Stadtklecker!« und mein Roß wieherte und wieherte deutlich auf den Text »Stadtklecker! Stadtklecker!«

An diesem Tage aber hatten wir in der ersten Stunde biblische Geschichte. Da ich zu Hause vergessen hatte, die »Bibel« zu lernen, wollte ich auf den Vorzug, sie vortragen zu dürfen, lieber verzichten und bat daher gleich nach Anfang der Stunde den Lehrer, »mal austreten« zu dürfen. Er brummte etwas von »ewigem Gelaufe« und ließ mich ziehen. Darauf trat ich dreiviertel Stunden lang »aus«. Als ich vermutete, daß die biblische Gefahr vorüber sei, näherte ich mich wieder behutsam der Schulstubentür und hörte da folgenden Meinungsaustausch:

»Es heißt nicht Frau Putiphar, es heißt Frau Potiphar!«

»Herr Schulinspektor«, hörte ich unseren Lehrer bescheiden einwenden, »bei uns in der katholischen Bibel schreibt sich die Frau mit u.«

Mir aber wurde plötzlich an der Schulstubentür so beklommen zumute, daß ich meinte, jetzt müsse ich wirklich mal austreten. Also verschwand ich noch auf fünf Minuten nach dem Hofe, dann aber trieb mich mein Pflichtgefühl und eine düstere Ahnung nach dem Klassenlokal. Heiliger Himmel, der plötzlich anwesende Kreisschulinspektor war tatsächlich unser »Stadtklecker«. Kaum erblickte er mich, so machte er auch schon den Finger krumm, winkte und sagte: »Komm mal her, du Schwede!«

»Wo warst du denn bis jetzt?« herrschte er mich an.

Ich sagte, ich sei nur schnell mal austreten gewesen.

»Schnell mal austreten – so! Du Range! Und über eine halbe Stunde bin ich schon hier. Wo warst du so lange, Schlingel – he?!«

Ich stotterte etwas von einer unheimlichen Bauchkrankheit, die ich hätte; er aber ergriff mich an den Ohren, und begann in höchst lästiger und fataler Weise daran herumzuschrauben. Trotzdem hörte ich, wie mein Roß leise und zornig aufschnaubte, denn mein Roß liebte mich. Ich bekam noch eine ungewisse Anzahl von Ohrfeigen und konnte mich dann setzen.

Der Herr Schulinspektor hielt nun eine donnernde Strafrede über die Ungezogenheit von Dorfkindern Fremden gegenüber, was ich mit äußerer Zerknirschung und innerer Gleichgültigkeit anhörte.

Am Schluß sagte er: »Der kleine Bengel dort ist zu faul, um in die Schule zu laufen; er reitet auf diesem langen, starken Labander und läßt ihn dafür die Rechenaufgaben abschreiben.«

Ein vernichtender Blick traf unseren herzensguten Lehrer.

»Herr Schulinspektor, der Reinhold Sander ist einer meiner schwächsten Rechner, aber sonst ein guter Junge.«

Das alles galt nichts.

»Sander, komm mal 'raus an die Wandtafel. Nimm die Kreide und schreibe auf:

6 Arbeiter arbeiten über einem Graben von 175 m Länge, 1½ m Breite und ¾ m Tiefe 18 Tage bei täglich zehnstündiger Arbeitszeit. Wie lange arbeiten 25 Arbeiter an einem Graben von 300 m Länge, 1½ m Breite und ½ m Tiefe, wenn sie täglich nur 8 Stunden tätig sind?«

O du armes Roß! Ich sah, wie seine Mähne sich sträubte, wie schwerer Atem durch seine Nüstern drang und seine Läufe zitterten.

Aber der Herr Kreisschulinspektor hatte seine Rechnung ohne den Telegraphen gemacht. Nämlich, wenn mein Roß an die Wandtafel gerufen wurde, galt folgende Telegraphie:

Ich setze meinen Schieferstift scharf wie zu einem Punkt auf die Schiefertafel, heißt: Reinhold, dieses »Glied« mußt du über den Bruchstrich setzen.

Ich mache einen quietschend langen Strich, heißt: das kommt unter den Bruchstrich.

Einmal Hüsteln heißt: jetzt mußt du »kürzen«.

Zweimal Hüsteln heißt: es läßt sich noch weiter »kürzen«.

Schneuzen bedeutet: die Sache ist falsch.

Kurzes Scharren bedeutet beifälliges »alles richtig!«

Das Wunder geschah: Reinhold Sander rechnete die schwere Aufgabe völlig richtig. Als der Herr Schulinspektor, der inzwischen weitergeprüft hatte, an der Tafel das richtige Resultat sah, war er verwundert und sagte zum Lehrer:

»Aber der Kerl kann ja rechnen!«

»Einer meiner schwächsten Rechner, aber sonst –«

»Schon gut, ich sehe, das Rechnen klappt!«

Und er machte für den Lehrer eine gute Note ins Protokoll. Die Stimmung des Schulgewaltigen schlug überhaupt sichtlich zum Besseren um, und ehe er um ½11 ging, schraubte er mein Roß und mich nur noch einmal ganz leise und zärtlich an den Ohren und schied dann in Gnaden.

Als um 12 Uhr die Schule aus war, bestieg ich mein Roß und ritt als ein Sieger heimwärts. Die kleinen Blessuren, die ich erlitten hatte, taten meinem Triumph keinen Eintrag. Ich streichelte mein treues Roß, und als wir ein Stück das Dorf hinauf waren, sangen wir in der Freude unseres Herzens gemeinsam: »Stadtklecker! Stadtklecker!«

Auf einmal – wie wenn wir den Rübezahl gerufen hätten und der fürchterliche Berggeist plötzlich vor uns stünde, tauchte der Schulinspektor aus einem Seitengäßchen auf. Wir hatten geglaubt, der Mann sei längst nach der Stadt zurück, und nun war er noch in der evangelischen Schule gewesen und noch im Dorf.

Den bösen Geist sehen und vom Pferde fallen war eins. Der Herr Schulinspektor tobte. Da aber viele Feldarbeiter vorbeigingen und schmunzelten, fühlte er, daß er keine günstige Rolle spiele, wenn er sich mit uns beiden in einen Straßenkampf einließe, und herrschte uns also an: »Marsch, nach der Schule zurück! Dort werdet ihr dem Herrn Lehrer sagen, was ihr getan habt. Er wird euch augenblicklich bestrafen. Ich gehe jetzt ins Wirtshaus, um meine Sachen zu holen. In einer Viertelstunde seid ihr vor dem Gasthaus. Wehe euch, wenn ihr meinen Befehl nicht ausführt!«

Wir gingen nach der Schule zurück. Ja, ich muß es gestehen, ich ging zu Fuß. Heimlich schlichen wir nach der Schulstube. Die war ganz leer. Aber der Lehrer bemerkte uns bald.

»Was wollt ihr denn noch?«

Da stotterte ich, ich hätte mein Lineal vergessen. Das Lineal war das Wichtigste all meiner Schulutensilien, denn erstens brauchte ich es als Waffe und zweitens fürs Freihandzeichnen.

»Geht nur nach Hause!« sagte der Lehrer.

Da glaubte ich, wir sollten ihm gehorchen und ihm weiter keinen Kummer machen, und wir gingen. Meinem Roß war dabei nicht ganz wohl. Aber draußen belehrte ich es über meinen Feldzugsplan, und wir gingen also zum Gasthaus, vor dessen Tür wir ein jämmerliches Geheul anfingen. Ich weinte bitterlich, und mein Roß strich sich fortwährend mit seinen Vorderhufen den Bug.

Der Herr Schulinspektor kam erschreckt herausgestürzt.

»Na, heult nicht so! Ihr macht mir ja das ganze Dorf rebellisch. Der Lehrer hat euch wohl etwas zu stark gezüchtigt?«

Wir heulten noch lauter.

»Jungens, seid still! Daß er euch so stark bestrafe, wollte ich ja nicht. Na, hört doch schon auf mit eurem Geheule! Es sind doch Leute im Gasthaus. Was sollen die sich denn denken?«

Mein Roß schrie förmlich.

Dem Schulinspektor war die Sache furchtbar peinlich; denn er hatte sein Amt erst angetreten und wollte nicht in den Ruf eines Kinderquälers kommen.

Da schenkte er uns zehn Pfennige, sagte, wir seien ja sonst nette Kinder, auch fleißig in der Schule, hätten ihm Freude gemacht; da sollten wir also in Zukunft ein höflicheres Straßenbenehmen an den Tag lege, jetzt sofort ruhig nach Hause gehen und uns für zehn Pfennige was kaufen.

*

Die zehn Pfennige nahm das Roß in Verwaltung und kaufte am Nachmittag drei Zigarren dafür. Jeder rauchte eine, die dritte rauchten wir zusammen. Wir saßen dabei auf unserem Windmühlenberg und sangen aus vollen Lungen: »Stadtklecker! – Stadtklecker!«


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