Karl Kautsky
Thomas More und seine Utopie
Karl Kautsky

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Sechstes Kapitel. Der Zweck der »Utopia«.

Nachdem More im einzelnen das Bild einer idealen Gesellschaft gegeben hat, die das gerade Gegenteil der Gesellschaft seiner Zeit bildet, wirft er dieser am Schlusse der »Utopia« noch einmal in einer vehementen Apostrophe den Fehdehandschuh hin. Der moderne Sozialismus hat kaum eine schärfere Kritik der Gesellschaft aufzuweisen, als die in den Sätzen enthaltene, mit denen Hythlodäus seine Darstellung von Utopien schließt: »So habe ich euch nun, so getreulich ich konnte, die Verfassung dieses Gemeinwesens beschrieben, das meines Erachtens nicht nur das beste, sondern auch das einzige ist, das diesen Namen verdient. Anderswo spricht man freilich auch von einem Gemeinwohl, sorgt aber in Wirklichkeit nur für das eigene Wohl; in Utopien, wo es kein Sondereigentum gibt, besorgt jeder tatsächlich nur die Geschäfte des Gemeinwesens, und hier wie dort hat jeder seine guten Gründe, warum er so verschieden handelt. Denn anderswo weiß jedermann, daß er verhungern muß, wenn er nicht für sich selbst sorgt, möge das Gemeinwesen noch so blühend sein, so daß er gezwungen ist, sein Wohl dem der Gesamtheit vorzuziehen. In Utopien dagegen, wo alles gemeinsam ist, weiß jedermann, daß niemand Mangel leiden kann, wenn man dafür sorgt, die öffentlichen Speicher zu füllen. Denn alles wird bei ihnen gleich verteilt, so daß niemand arm ist; und obgleich keiner etwas für sich besitzt, sind sie doch alle reich. Kann es einen besseren Reichtum geben, als ein sorgloses und heiteres Leben? In Utopien braucht der einzelne nicht für seine Existenz besorgt zu sein, er wird nicht von den endlosen Klagen der Gattin gequält, fürchtet nicht für die Zukunft des Sohnes, ihm bereitet die Mitgift der Tochter keinen Kummer. Er weiß nicht nur seine Existenz und sein Wohlleben gesichert, sondern auch das seiner Kinder, Enkel, Neffen, aller Nachkommen bis ins entfernteste Glied. Und man sorgt bei ihnen in gleicher Weise für die schwach und arbeitsunfähig Gewordenen wie für die noch Arbeitenden. Ich möchte den Mann sehen, der kühn genug wäre, dieser Gerechtigkeit das Recht anderer Völker gleichzusetzen. Gott straf' mich, wenn ich bei den anderen eine Spur von Recht und Gerechtigkeit gefunden habe. Was ist das für eine Gerechtigkeit, wenn der Edelmann, der GoldschmiedDie Goldschmiede waren zu Mores Zeiten oft Geldwechsler und Bankiers. oder der Wucherer, kurz diejenigen, die nichts tun oder doch nichts Nützliches, bei ihrer Untätigkeit oder überflüssigen Tätigkeit herrlich und in Freuden leben, indes die Taglöhner, Kärrner, Schmiede, Zimmerleute und Ackersknechte, die härter arbeiten als Lasttiere, und deren Arbeit das Gemeinwesen nicht ein Jahr lang entbehren könnte, ein so erbärmliches Dasein sich erarbeiten und schlechter leben müssen als Lasttiere? Jene arbeiten nicht so lange, ihre Nahrung ist besser und nicht durch die Sorge für die Zukunft vergällt; der Arbeiter dagegen wird niedergedrückt durch die Trostlosigkeit seiner Arbeit und gemartert durch die Aussicht auf das Bettlerelend seines Alters. Sein Lohn ist ja so gering, daß er die Bedürfnisse des Tages nicht deckt, und es ist gar nicht daran zu denken, daß der Mann etwas für seine alten Tage zurücklegt. Ist das nicht ein ungerechtes und undankbares Gemeinwesen, das die Edlen, wie sie sich nennen, und die Goldschmiede und andere verschwenderisch beschenkt, die entweder müßig gehen oder von der Schmeichelei leben, oder der Tätigkeit für eitle Freuden; und das andererseits nicht die geringste Sorge tragt für arme Ackersleute, Kohlengräber, Taglöhner, Kärrner, Schmiede und Zimmerleute, ohne die es nicht bestehen könnte? Nachdem man sie ausgebeutet und ausgepreßt hat in der Kraft ihrer Jugend, überläßt man sie ihrem Schicksal, wenn Alter, Krankheit und Not sie gebrochen haben, und gibt sie als Belohnung für ihre treue Sorge und ihre so wichtigen Dienste dem Hungertod preis.

»Noch mehr: Die Reichen, nicht zufrieden, den Lohn der Armen durch unsaubere persönliche Kniffe herabzudrücken, erlassen noch Gesetze zu demselben Zwecke. Was seit jeher unrecht gewesen ist, der Undank gegen die, die dem Gemeinwesen wohl gedient haben, das wurde durch sie noch scheußlicher gestaltet, indem sie ihm Gesetzeskraft und damit den Namen der Gerechtigkeit verliehen.

»Bei Gott, wenn ich das alles überdenke, dann erscheint mir jeder der heutigen Staaten nur als eine Verschwörung der Reichen, die unter dem Vorwand des Gemeinwohls ihren eigenen Vorteil verfolgen und mit allen Kniffen und Schlichen danach trachten, sich den Besitz dessen zu sichern, was sie unrecht erworben haben, und die Arbeit der Armen für so geringen Entgelt als möglich für sich zu erlangen und auszubeuten. Diese sauberen Bestimmungen erlassen die Reichen im Namen der Gesamtheit, also auch der Armen, und nennen sie Gesetze.

»Aber nachdem diese Elenden in ihrer unersättlichen Habgier unter sich allein alles verteilt haben, was für das ganze Volk ausreichen würde, fühlen sie sich selbst gar fern von jenem Glücke, dessen sich die Utopier erfreuen. Bei diesen ist der Gebrauch von Geld und das Verlangen danach beseitigt und damit eine berghohe Last von Sorgen vernichtet, eine der stärksten Wurzeln des Verbrechens ausgerissen. Wer weiß nicht, daß Betrug, Diebstahl, Raub, Zwist, Tumult, Aufruhr, Totschlag, Meuchelmord, Vergiftung durch die Strenge des Gesetzes wohl gerächt, aber nicht verhindert werden, indes sie alle verschwinden würden, wenn das Geld verschwände? Dem Gelde würden folgen die Besorgnisse, Beunruhigungen, Kümmernisse, Mühsale und schlaflosen Nächte der Menschen. Die Armut selbst, die des Geldes so notwendig zu bedürfen scheint, würde aufhören, sobald das Geld beseitigt würde.«

Wie beschränkt erscheint dieser kühnen Kritik gegenüber, die die Gesellschaft in ihren Wurzeln angreift, die so gepriesene Tat Luthers, der ein Jahr nach dem Erscheinen der »Utopia« anfing, gegen – den Mißbrauch des Ablasses, nicht gegen den Ablaß selbst zu predigen, und der zu weitergehenden Schritten nicht durch eine logische Entwicklung in seinem Kopfe, sondern durch die Entwicklung der Tatsachen gedrängt wurde! Und doch, während gegen den Mann, der den Mißbrauch des Ablasses angriff, ohne etwas an der Kirchenordnung ändern zu wollen, schließlich die ganze Macht Roms aufgeboten wurde, blieb der Mann unbehelligt, dessen Lehren die ganze Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttern mußten, wenn sie Verbreitung fanden; und der Anwalt einer Kirchenordnung, die unkatholischer, ja in mancher Beziehung (Selbstmord der Unheilbaren, Priestertum der Frau) unchristlicher war, als irgend eine der reformierten Kirchen, wurde zu einem Heiligen der katholischen Kirche!

So sonderbar dieser Unterschied in der Behandlung erscheint, er war wohl begründet. Luther wandte sich an die Massen; er gab den Interessen mächtiger Parteien und Klassen Ausdruck. More stand mit seinen Bestrebungen allein; er wandte sich nur an einen kleinen Kreis Gelehrter, das Volk verstand ihn nicht und er wollte vom Volke nicht verstanden sein. Daher schrieb er die »Utopia« lateinisch und hüllte seine Gedanken in das Gewand der Satire, wodurch er freilich auch größere Freiheit im Ausdruck seiner Meinungen erhielt.

Hier sind wir bei der letzten Frage angelangt, deren Beantwortung uns noch übrig bleibt: Welchen Zweck verfolgte More mit seiner »Utopia«?

Wir wissen, daß einige sie bloß für eine Nachahmung der platonischen »Republik« halten. Andere gar erklären sie für eine müßige Phantasie. Manche, namentlich Deutsche, für beides. So zum Beispiel Rudhart, der einmal die »Utopia« »eine schöne Frucht des Studiums der Alten« nennt und ein andermal die Einrichtungen der Utopier nicht etwa als solche betrachtet, »die ins Leben gerufen werden sollen und müssen, sondern als heitere Scherze einer heiteren Seele«. (Rudhart, Thomas Morus, S. 119, 156.) Neuerdings wieder erklärt Professor Alfred Stern More für den »geistreichsten und berühmtesten Verarbeiter« der »Verschmelzung der christlichen Nächstenliebe mit dem platonischen Kommunismus« und nennt eine Seite später die »Utopia« das »phantastische Gedankenspiel einer verrauschenden Stunde«. (Alfred Stern, Die Sozialisten der Reformationszeit. Berlin 1883. S. 13, 14.)

Daß der Moresche Kommunismus einen ganz anderen Charakter trägt als der platonische, daß er nicht eine »schöne Frucht des Studiums der Alten« ist, sondern der sozialen Mißstände und der ökonomischen Entwicklungskeime der Anfänge der Neuzeit, daß er auf lebendigen Tatsachen beruht und nicht auf antiquarischer Bücherweisheit, das glauben wir genugsam dargetan zu haben. Auch von christlicher Nächstenliebe ist im Moreschen Kommunismus nichts zu spüren. Denn jene ist nichts als Armenunterstützung, die Arme voraussetzt, die bedürftig, und Reiche, die zu spenden imstande sind. Wo das Christentum kommunistische Anwandlungen zeigt, ist es der Kommunismus des Bettelsacks, nicht der Arbeit, der Kommunismus des Lumpenproletariats, nicht des arbeitenden Proletariats. Der Moresche Kommunismus ist nicht platonisch und nicht christlich, sondern modern, dem Kapitalismus entsprossen.

Aber auch für einen bloßen Scherz können wir die »Utopia« nicht halten. Nach der Ansicht unserer Gelehrten würde die »Utopia«, wenn sie heute verfaßt würde, ihrem Charakter nach entweder in eine philologische Zeitschrift gehören oder – in ein Feuilleton.

Für die Auffassung der »Utopia« als Scherz spricht nichts, gar nichts. Alles spricht dagegen, vor allem das Buch selbst. Man muß die Harmlosigkeit gewisser deutscher Professoren besitzen – und die harmlosen sind noch die besten –, um ein Werk für einen Scherz zu halten, das eine so bittere Kritik der bestehenden Zustände enthält, ein so tiefdurchdachtes System des Kommunismus aufstellt, das so genau den ökonomischen und technischen Zuständen seiner Zeit angepaßt war. Auch haben es seine Zeitgenossen sehr ernst genommen. Budaeus zum Beispiel schrieb an Lupsetus: »Wir sind Thomas More für seine ›Utopia‹ zu großem Danke verpflichtet, in der er der Welt ein Muster von glücklichem Leben aufstellt. Unsere Zeit und unsere Nachkommen werden diese Darstellung als eine Schule trefflicher Lehren und nützlicher Unterweisungen betrachten, aus der die Staaten ihre Einrichtungen nehmen und ihren Bedürfnissen gemäß anpassen werden.« In gleicher Weise drücken sich noch zahlreiche andere Zeitgenossen Mores aus. Gelehrte und Staatsmänner, wie Johannes Paludanus, Paulus Jonius und Hieronymus Buslidianus (oder Buslidius, eine Latinisierung des niederländischen Busleiden), der Rat Karls V. Stapleton hat (Vita, S. 184) eine Reihe von Aussprüchen über die »Utopia« gesammelt, die alle im Sinne des obigen Zitats gehalten sind. Alle sahen in der »Utopia« ein Buch, das Vorschriften für die Staatenlenker gibt, wie sie ihre Staaten regieren sollen.

Und das war ganz im Sinne jener Zeit gedacht. Dem Fürsten war nach der damaligen Anschauung alles möglich, und alles demjenigen, der einen Fürsten für sich gewann. Vorschriften für Fürsten erschienen zu Mores Zeit massenhaft. Macchiavellis »Fürst« und des Erasmus' »Lehrbuch für den christlichen Fürsten« (Institutio principis christiani) wurden gleichzeitig mit der »Utopia« verfaßt, und wir haben nicht den geringsten Grund, zu zweifeln, daß diese denselben Zweck verfolgte wie jene: den Fürsten zu zeigen, wie regiert werden sollte.

Und die »Utopia« verfolgte sogar den speziellen Zweck, die Regierung und Verfassung Englands zu beeinflussen. Das zeigt uns nicht nur das erste Buch sehr deutlich, sondern Erasmus, der es wissen mußte, sagt es uns selbst in seinem uns bekannten Briefe an Hutten: »Die ›Utopia‹ verfaßte er mit der Absicht, zu zeigen, worin es liege, daß die Staaten in schlechten Zuständen seien, namentlich aber hatte er bei seiner Darstellung England vor Augen, das er gründlich durchforscht und kennen gelernt hat.«

In der Tat, die Insel Utopia ist England. More wollte zeigen, wie England aussehen würde und wie sich dessen Verhältnisse zum Ausland gestalten würden, wenn es kommunistisch eingerichtet wäre. Die Analogie läßt sich genau verfolgen: Die Insel ist vom Kontinent nur durch eine Meerenge von 15000 Schritten getrennt. Die Beschreibung der Hauptstadt Amaurotum ist eine getreue Schilderung Londons: sie liegt am Flusse Anyder (Themse), in dem Ebbe und Flut sich bis mehrere Meilen oberhalb der Stadt erstrecken. Die beiden Ufer sind durch eine Steinbrücke (London Bridge) miteinander verbunden, dort, wo die Stadt am weitesten von der See entfernt ist, damit die Schiffe so weit als möglich hinauffahren können usw. Amaurotum selbst heißt auf Deutsch »Nebelstadt« (vom griechischen amauros, dunkel, trüb, neblig). In England ist auch die Analogie zwischen der Insel Utopia und der britischen Insel allgemein anerkannt.

Stow, Survey of London, 2. Band, S. 458, findet eine völlige Übereinstimmung zwischen London und Amaurotum. Rudhart bestreitet sie, beweist damit aber nur, daß die Universitätsbibliothek von Göttingen nicht der richtige Ort ist, um London kennen zu lernen.

Nach dem Vorgang Mores hat Rabelais in seinem »Gargantua und Pantagruel« zu verschiedenen Malen sein Heimatland hinter dem Namen »Utopia« versteckt (2. Buch, 8., 23. Kapitel, 3. Buch, 1. Kapitel). »Die ,Utopia´ des Rabelais ist also Frankreich, darin stimmen alle Kommentatoren überein. Er entnahm diese Idee und die seiner Kolonie der Utopier der ›Utopia‹ Thomas Mores.« Esmangard in seinem bereits erwähnten Kommentar »Oeuvres de Rabelais««, 3. Band, S. 516.

Die Historiker und Ökonomen, die mit der »Utopia« nichts anzufangen wissen, sehen natürlich in diesem Namen eine feine Andeutung Mores, daß er selbst seinen Kommunismus für eine undurchführbare Phantasterei halte. Das ist die richtige »wissenschaftliche« Methode, eine unbequeme historische Erscheinung in ihr Gegenteil zu verdrehen: man verschließt die Augen den Tatsachen und deutelt sich eine Erklärung aus dem griechischen Lexikon zurecht.

In den ganzen Ausführungen über Utopien ist bloß ein Element eine Phantasterei, an deren Möglichkeit More selbst nicht fest glaubte: nicht das Ziel, das angestrebt werden, sondern die Art und Weise, wie es erreicht werden sollte. Er sah nur eine Macht, die den Kommunismus durchführen konnte, aber er hatte kein Vertrauen zu ihr. More hat uns in seiner »Utopia« gezeigt, in welcher Weise er sich die Durchführung des Kommunismus dachte: Ein Fürst, Utopus mit Namen, erobert das Land und drückt ihm den Stempel seines Geistes auf; alle Einrichtungen in Utopien sind auf ihn zurückzuführen. Er hat den allgemeinen Plan des kommunistischen Gemeinwesens erdacht und dann ausgeführt.

In dieser Weise stellte More sich die Verwirklichung seiner Ideale vor: er war der Vater des utopistischen Sozialismus, der mit Recht nach der »Utopia« seinen Namen erhalten hat. Dieser ist utopistisch weniger wegen der Unerreichbarkeit der Ziele, als wegen der Unzulänglichkeit der Mittel, die ihm zu deren Erreichung zu Gebote stehen, oder die er anwenden will.

More mußte Utopist sein, wir wissen das. Noch trat keine Partei, keine Klasse für den Sozialismus ein; die ausschlaggebende politische Macht, von deren Belieben der Staat abzuhängen schien, waren die Fürsten, damals noch ein junges, in gewissem Sinne revolutionäres Element, ohne feste Traditionen: warum sollte man nicht einen von ihnen zum Kommunismus bekehren können? Wenn einer wollte, so konnte er den Kommunismus durchführen. Wenn keiner wollte, war das Elend des Volkes unabänderlich . So dachte More, und von diesem Standpunkt aus mußte er einen Versuch machen, einen Fürsten zu gewinnen. Aber er täuschte sich keineswegs über die Hoffnungslosigkeit seiner Aufgabe. Er kannte die Fürsten seiner Zeit zu gut.

Er schließt die »Utopia« mit folgenden Worten, nachdem er eine scheinbare Verklausulierung vorausgeschickt, daß er nicht mit allem einverstanden sei, was Hythlodäus erzählt: »Ich gestehe gern, daß gar manches im Gemeinwesen der Utopier sich findet, das ich in unseren Staaten zwar zu sehen wünschte, aber nicht erwarte« (optarium verius quam sperarim).

In diesem Schlusse liegt die ganze Tragik des Schicksals Mores, die ganze Tragik des Genies, das einer Zeit das Problem abringt, das sie in ihrem Schoße trägt, ehe noch die materiellen Bedingungen zu seiner Lösung gegeben sind; die ganze Tragik des Charakters, der sich verpflichtet fühlt, einzutreten für die Lösung des Problems, das die Zeit aufgestellt hat, einzutreten für das Recht der Unterdrückten gegen den Übermut der Herrschenden, selbst wenn er allein steht und sein Beginnen aussichtslos ist.

Die Größe seines Charakters bewies More auf dem Blutgerüst, das er bestieg, weil er seine Überzeugung nicht einer Fürstenlaune opferte. Sie ward von seinen Zeitgenossen bereits anerkannt. Die Größe seines Genies konnten sie dagegen nicht erfassen, so sehr sie es auch priesen; erst in unseren Tagen, erst mit dem Erstehen des wissenschaftlichen Sozialismus ist es möglich geworden, dem Sozialisten More völlig gerecht zu werden. Erst seit der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts liegen die Ziele des Sozialismus, als einer historischen Erscheinung, so klar zutage, daß es möglich ist, aus den Anfängen der sozialistischen Bewegung das Wesentliche vom Unwesentlichen, das Dauernde vom Vorübergehenden zu sondern. Erst damit ist es möglich geworden, zu erkennen, was in der »Utopia« »phantastisches Gedankenspiel einer verrauschenden Stunde« ist, was Nachklang der Vergangenheit, was Vorahnung der Zukunft, was historische Tat.

Und nichts spricht wohl beredter für die Größe des Mannes, nichts zeigt deutlicher, wie riesig er seine Zeitgenossen überragte, als daß es mehr als dreier Jahrhunderte bedurfte, ehe die Bedingungen gegeben waren, um zu erkennen, daß er Ziele aufgestellt hat, die nicht die Phantastereien einer müßigen Stunde sind, sondern das Ergebnis einer tiefen Einsicht in das Wesen der ökonomischen Tendenzen seiner Zeit. Bald vier Jahrhunderte ist die »Utopia« alt, schon ist der vierhundertjährige Geburtstag Mores vorübergegangen, und noch sind seine Ideale nicht überwunden, noch liegen sie vor der strebenden Menschheit.


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