Karl Kautsky
Thomas More und seine Utopie
Karl Kautsky

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Drittes Kapitel. More und der Katholizismus.

1. Mores Religiosität.

More war ein Spötter, ein kritischer Kopf; aber zu dem Unglauben, den der Humanismus in Italien und Frankreich erreichte, ist er ebensowenig gekommen als ein anderer der englischen und deutschen Humanisten. Die ökonomische Entwicklung der germanischen Länder war im ganzen und großen hinter der der romanischen zurückgeblieben und damit auch die geistige Entwicklung. Und so wie der Humanismus überhaupt, war auch seine höchste Entwicklungsstufe, der heidnische Unglaube, ein Gemisch widersprechender Elemente. Der Unglaube des Humanismus war teils revolutionärer Trotz gegen die hergebrachte kirchliche Anschauung, teils die schlaffe Indifferenz einer verkommenden Klasse, die des kraftvollen Enthusiasmus spottete, den sie selbst in der Jugend entwickelt hatte, dessen sie aber längst nicht mehr fähig war. Am päpstlichen Hofe machte man sich in derselben Weise über den alten Glauben lustig, wie heute die »staatsmännischen« Liberalen der demokratischen Illusionen ihrer Jugend spotten: nicht weil sie klüger geworden, sondern weil sie erschlafft sind.

Ein Unglaube so erbärmlicher Sorte mußte die nordischen »Barbaren« anekeln und abstoßen, in denen die alte Produktionsweise noch urwüchsige Tatkraft und Begeisterungsfähigkeit erhalten hatte.

Selbst die freiesten Geister des Nordens blieben gläubig und fromm, und zwar um so mehr, je enthusiastischer sie waren. Dies sehen wir an Hutten, an Erasmus von Rotterdam, an More. Bei dem so energischen Charakter des letzteren grenzte die Frömmigkeit mitunter an Fanatismus und Aszetismus. Andeutungen davon haben wir bereits im Briefe des Erasmus empfangen. Zahlreiche weitere Beispiele davon könnten noch aus den Werken seiner katholischen Biographen beigebracht werden. Wir verzichten darauf, nicht nur, weil das Zeugnis des Erasmus genügt, sondern auch, weil schwer zu entscheiden ist, wo in den Berichten jener Biographen die Wahrheit aufhört und die Dichtung anfängt.

Den größten Einfluß auf More gewann unter den italienischen Humanisten Pico della Mirandola, dessen Lebensbeschreibung denn auch More aus dem Lateinischen ins Englische übersetzte, wie wir im vorhergehenden Kapitel gesehen. Pico, geboren 1462, gestorben 1494, war einer der wenigen italienischen Humanisten, die eine moralische und wissenschaftliche Reinigung der Kirche und ihrer Lehren sich zum Ziele setzten, einer der wenigen unter ihnen, die eine gewisse geistige Verwandtschaft mit den Reformatoren hatten, wenn sie diesen auch an Wissen und freiem Blick überlegen waren.

Den Päpsten galt Pico kaum viel weniger gefährlich, als der Reformator Savonarola. Nicht die ungläubigen Humanisten, die das Volk nicht verstand, gefährdeten ihre Ausbeutung, sondern die frommen, die es mit der Kirche ernst meinten, deren Denkart der des Volkes nahe stand und von ihm begriffen wurde.

Pico versuchte die christlichen Lehren zu reinigen, indem er sie auf den Stand des Wissens seiner Zeit zu bringen suchte. Zu diesem Behufe studierte er nicht nur das heidnische Griechentum, sondern war auch einer der ersten Christen, die das Hebräische wissenschaftlich-gründlich erlernten, um durch die mystische Philosophie der Kabbala den Geheimnissen des Christentums näher zu kommen. Die Ergebnisse seiner Studien legte er in seinen »neunhundert Sätzen« nieder, in denen er unter anderem die Ewigkeit der Höllenstrafen und die Anwesenheit Christi im Abendmahle leugnete usw. Wäre Pico ein richtiger Reformator gewesen, das heißt ein Agitator, so wäre er um dieser Sätze willen wohl verbrannt worden. Da er nur ein Mann der Wissenschaft war, begnügte sich Papst Innozenz VIII. damit, die Schrift zu verbieten. Es war wie zur Zeit der seligen Zensur vor 1848, wo man sich wenig um Leute kümmerte, deren Bücher über zwanzig Bogen stark waren: je dünner das Buch, desto gefährlicher der Autor, desto strenger der Zensor.

Dieser halbe Ketzer Pico war Mores Ideal.

2. More ein Gegner der Pfaffenherrschaft.

Schon Mores Verhältnis zu Pico beweist, daß er nicht der Pfaffenknecht war, zu dem ihn katholische wie protestantische Pfaffen gern stempeln möchten. Es ist richtig, er war in seiner Jugend in ein Kartäuserkloster gegangen und hatte längere Zeit dort mit frommen Übungen zugebracht. Aber was er dort sah, scheint ihm keinen allzu hohen Respekt vor den Mönchen beigebracht zu haben. Der Pfaffe Stapleton muß selbst zugestehen, daß More seine Absicht, Mönch zu werden, aufgab, da »die Geistlichen bei uns zu seiner Zeit ihre frühere Strenge und fromme Begeisterung eingebüßt hatten«. More hielt mit seinem Urteil über das Pfaffentum durchaus nicht zurück. Er wußte die Mönche zu höhnen, so gut wie irgend ein anderer Humanist.

Man höre zum Beispiel folgende Stelle aus dem ersten Buche der »Utopia«: Raphael Hythlodäus beschreibt ein Mahl bei dem Kardinal Morton, an dem unter anderen auch ein Witzbold, der die Stelle eines Hofnarren vertritt, und ein Bettelmönch teilnehmen. Es kommt die Rede darauf, was man mit den altersschwachen oder aus anderen Ursachen arbeitsunfähigen Bettlern anfangen soll. Der Narr meint: Ich gebe den Bettlern nie ein Almosen; »daher erwarten sie auch nichts von mir, in Wahrheit, nicht mehr, als wenn ich ein Priester wäre.In manchen alten Ausgaben steht hier die Randglosse: »Ein gewöhnliches Sprichwort bei den Bettlern.« Ein Beweis, wie sehr die Kirche ihrer Aufgabe der Armenunterstützung untreu geworden war. Aber ich will ein Gesetz machen, daß alle diese Bettler in Benediktinerklöster gesteckt und Laienbrüder werden sollen (fieri laicos ut vocant monachos), die Frauen mache ich zu Nonnen.« Der Kardinal lächelte dazu und billigte den Vorschlag als Scherz, die anderen auch als Ernst. Ein Bruder Theolog aber wurde durch den Scherz von den Priestern und Mönchen so belustigt, daß auch er, sonst ein Mann von finsterer Strenge, zu scherzen begann. »Nein«, sagte er, »du wirst die Bettler nicht los, wenn du nicht auch für uns Bettelmönche Vorsorge triffst.« »Für die ist schon gesorgt«, sagte der Schmarotzer, »denn der Kardinal selbst hat eine sehr gute Bestimmung für euch getroffen, indem er erklärte, Vagabunden sollten kurz gehalten und zur Arbeit gezwungen werden. Denn ihr seid die größten Vagabunden.« – Der Pfaffe nimmt diesen Witz gewaltig übel. Ein Streit zwischen ihm und dem Narren entsteht, in dem More den Pfaffen so dumm erscheinen läßt, daß dieser unter allgemeinem Gelächter kläglich den kürzeren zieht. Natürlich endet der Pfaffe damit, dem Narren mit Gottes Zorn zu drohen: »Wenn die vielen, die den Elisäus verspotteten, der nur ein Kahlkopf war, seinen Zorn zu fühlen bekamen, wie viel fühlbarer muß er den treffen, der, ein Mann, die Menge der Mönche angreift, unter denen so viele Kahlköpfe! Und haben wir nicht eine Bulle des Papstes, die alle exkommuniziert, die uns verspotten?«

Der Kardinal bringt ein anderes Thema auf, um der Blamage des Pfaffen eine Grenze zu setzen. Damit endet die Episode, in der mit wenigen Worten die Dummheit, Faulheit und der Geiz der Mönche dem Gelächter preisgegeben werden.

Ebenso humoristisch ist ein Gedicht, das sich unter den lateinischen Epigrammen Mores befindet. Wir geben es, so gut es in holpriger Prosa geht, deutsch wieder.

Ein Sturm erhob sich, das Schiff schwankte,
Die Matrosen fürchten für ihr Leben!
Unsere Sünden, unsere Sünden, jammern sie entsetzt.
Haben dies Unheil über uns gebracht.

Ein Mönch war zufällig an Bord,
Sie drängen sich um ihn, zu beichten.
Doch das Schiff schwankt wie zuvor,
Und noch immer fürchten sie für ihr Leben.

Da schreit einer, klüger als die andern:
Das Schiff hat noch immer unsrer Sünden Last zu tragen,
Werft ihn hinaus, den Pfaffen, dem wir sie aufgeladen,
Und leicht wird das Schiff auf den Wellen tanzen.

Gesagt, getan: Alle packen an
Und werfen den Mann über Bord,
Und nun fliegt die Barke vor dem Wind
Mit leichtem Rumpf und erleichtertem Segel.

Und die Moral von der Geschicht:
Die Sünde hat ein schwer Gewicht.

Was wohl der fromme Cresacre More sich gedacht haben mag, wenn er las, wie sein »heiliger« Urgroßvater sich über Beichte und Ablaß lustig machte?

Der Spott unseres »katholischen Märtyrers« beschränkt sich nicht auf die niedere Geistlichkeit; auch die Bischöfe werden von ihm hergenommen. Namentlich einer, den er Posthumus nennt, ist die Zielscheibe des Witzes in seinen Epigrammen. In einem derselben (In Posthumum Episcopum) drückt More seine Freude darüber aus, daß besagter Posthumus zum Bischof gemacht worden, denn während die Bischöfe in der Regel aufs Geratewohl ohne Rücksicht auf ihre Befähigung ernannt würden, sei es augenscheinlich, daß man diesen mit besonderer Sorgfalt auserlesen habe. Man hätte unter Tausenden kaum einen schlechteren und dümmeren Bischof finden können. Im nächsten Epigramm (In Episcopum illiteratum) heißt es von demselben Bischof: er zitiere gern den Spruch: der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig; und doch sei Posthumus viel zu unwissend, als daß irgend welche Buchstaben ihn töten könnten; und hätten sie es getan, so besäße er keinen Geist, der lebendig mache.

Selbst der Papst erschien More nur als ein gewöhnlicher Sterblicher. 1510 schrieb Erasmus in Mores Haus und auf dessen Anregung hin sein »Lob der Narrheit«, an dem sich dieser höchlichst ergötzte, an dem er vielleicht auch mitarbeitete; das Manuskript wurde Erasmus von einem seiner Freunde, höchstwahrscheinlich von More selbst, heimlich weggenommen und nach Paris gesandt, wo es gedruckt wurde, 1511, und in wenigen Monaten sieben Auflagen erlebte. Es war eine ungemein kühne und übermütige Satire auf die ganze damalige Gesellschaft, namentlich aber auf das Mönchswesen und Papsttum. Es kam daher auch auf den Index der verbotenen Bücher. Trotzdem hat der selige Märtyrer seinen Anteil daran nie bedauert.

Doch wir bedürfen nicht eines solchen indirekten Beweises, um Mores Stellung zum Papsttum kennen zu lernen. Wir haben einige Aussprüche von ihm aus der Zeit nach dem Beginn der Reformation, wo der Kampf gegen den Protestantismus bereits More enger an das Papsttum anschließen mußte. Trotzdem schreibt er zum Beispiel in seiner »Widerlegung von Tyndalls Antwort« (1532), daß ein allgemeines Konzil über dem Papst stehe, daß es den Papst ermahnen und strafen, ja, wenn er sich unverbesserlich zeige, schließlich absetzen könne (S. 621).

Ebenso bezeichnend wie diese Stelle ist folgendes:

Als die Reformation begann, erklärte sich Heinrich VIII. von England entschieden gegen sie und für den Papst. Und er veröffentlichte sogar ein Buch gegen Luther über die sieben Sakramente.Assertio septem sacramentorum adversus Martinum Lutherum edita ab invictissimo Angliae et Franciae rege et domino Hiberniae, Henricus ejus nominis octavo. Londini 1521. Es erschien unter seinem Namen (1521), aber es war, was in solchen Fällen nicht selten vorkommen soll, von anderen Leuten geschrieben worden. Mitunter wurde More für den Verfasser gehalten, er hatte aber nur geringen Teil daran. Als Heinrich VIII. sich vom Papsttum lossagte, war ihm dieses Buch natürlich höchst unbequem. Die Verfasser seines Buches wurden jetzt Hochverräter.

Unter anderen Anklagen, die gegen More erhoben wurden, nachdem er sein Amt als Lordkanzler niedergelegt (1532), war auch die, er habe »durch seine verworfenen Ränke den König ganz widernatürlich dahin gebracht, ein Buch zur Verteidigung der sieben Sakramente und der päpstlichen Autorität herauszugeben, und habe so den König veranlaßt, zu seiner Unehre dem Papst eine Waffe gegen sich selbst in die Hand zu drücken«.

Das Komischste bei dieser moralischen Entrüstung des armen verführten Königs ist der Umstand, daß dieser ganz ruhig zehn Jahre lang sich selbst als den Verfasser ausgegeben und alles Lob des Buches für sich in Anspruch genommen hatte. Der Papst hatte Heinrich dafür den Titel eines »Verteidigers des Glaubens« (defensor fidei) erteilt und allen Lesern des Buches einen Ablaß gewährt.

Nun war das Buch ein schändliches Machwerk geworden und More sollte dafür büßen. Dieser erwiderte auf die Anklage (nach Roper): »Mylords, mit solchen Drohungen kann man Kinder schrecken, nicht mich. Um aber Ihre Hauptanklage zu beantworten, so glaube ich nicht, daß des Königs Hoheit mich je damit belasten wird. Niemand kann mich in diesem Punkte besser entlasten als seine Hoheit selbst, der sehr gut weiß, daß ich bei der Verfassung des Buches in keiner Weise zu Rate gezogen wurde, sondern dasselbe auf Befehl seiner Hoheit und mit Einwilligung der Verfasser bloß zu redigieren hatte (only a sorter out and placer of the principall matter therein contayned), nachdem es vollendet war. Und da ich fand, daß darin des Papstes Autorität stark betont und gar sehr verteidigt wurde, sagte ich seiner Hoheit: ›Ich muß Eure Hoheit daran erinnern, daß der Papst, wie Eure Hoheit weiß, ein Fürst ist, wie Sie, und in einem Bündnis mit den anderen christlichen Fürsten steht. Es mag daher kommen, daß Eure Hoheit und er über verschiedene Punkte des Bündnisses in Zwiespalt geraten und einander den Krieg erklären. Ich halte es daher für das beste, daß die betreffende Stelle geändert und die Autorität des Papstes weniger stark betont werde.‹ ›Nein‹, erklärte Seine Hoheit, ›das soll nicht geschehen. Wir sind dem römischen Stuhle so tief verpflichtet, daß wir ihm nicht zu viel Ehre erweisen können.‹ Ich erinnerte ihn nun an das Statut Prämunire, durch das ein gut Teil des päpstlichen Hirtenamtes für England beseitigt worden ist. Darauf antwortete Seine Hoheit: ›Was immer dagegen sprechen mag, wir wollen diese Autorität so stark als möglich hinstellen, denn wir haben von ihr unsere königliche Krone erhalten«, was ich nie gehört hatte, ehe es mir Seine Hoheit nicht selbst mitteilte.‹

Die Anklage fiel ins Wasser. Weder Heinrich selbst, noch sonst jemand hat je die Richtigkeit der Behauptungen Mores bestritten. Wir dürfen sie also als richtig annehmen. Wir sehen aber deutlich aus ihnen, ebenso wie aus der mitgeteilten Stelle in der Widerlegung Tyndalls, daß More weit entfernt war, eine sklavische Verehrung für das Papsttum zu fühlen. Er sah in ihm, wie wir noch im nächsten Kapitel nachweisen wollen, ein internationales Bindemittel, ohne das die Christenheit in ein Chaos einander feindlicher Nationen zerfallen würde. Er verteidigte jedoch die Rechte der einzelnen Nationen wie der gesamten Kirche gegenüber dem Papste, der in seinen Augen nichts war als ein absetzbarer Präsident der Christenheit.

3. Mores religiöse Toleranz.

Wie frei More in religiösen Dingen dachte, ersieht man am besten aus der Idealreligion, die er seinen Utopiern beilegte. Wir werden sie im dritten Abschnitt unserer Schrift kennen lernen. Hier sei nur noch eines charakteristischen Zuges gedacht, durch den More den Katholizismus wie den Protestantismus seiner Zeit weit überragte, und den er nur mit wenigen Zeitgenossen teilte: seiner religiösen Toleranz. Er proklamierte sie nicht nur vor der Reformation in seiner »Utopia«, sondern auch inmitten der erbittertsten Kämpfe zwischen Protestanten und Katholiken, als allerorten Scheiterhaufen zur Verbrennung der »Ketzer« rauchten. Und er proklamierte sie nicht bloß, er übte sie auch.

Stapleton (S. 215) findet es sehr sonderbar, daß sein katholischer Heiliger Lutheraner in seinem Hause aufnahm.

Simon Grynäus, ein Schüler und Anhänger Melanchthons, kam nach England, um Materialien zu seiner Übersetzung des griechischen neuplatonischen Philosophen Proklus zu sammeln. Dabei wurde er von More, der damals Lordkanzler war, so sehr unterstützt, daß er die Übersetzung Mores Sohne Johannes widmete, da Thomas More vor ihrer Fertigstellung als Märtyrer für den katholischen Glauben gestorben war. Die Widmung teilt uns Stapleton mit. Sie erscheint uns wichtig für die Kennzeichnung Mores. Es heißt darin: »Dein herrlicher Vater, der damals seiner Stellung wie seinen ausgezeichneten Eigenschaften nach der Erste des ganzen Reiches war, hat mir, einem unbekannten Privatmann, um der Studien willen Zutritt zu vielen öffentlichen und privaten Instituten verschafft, hat mich zu seinem Tischgenossen gemacht, er, der das königliche Zepter trug, und mich an seiner Seite mit an den Hof genommen. Aber mehr noch: milde und gütig bemerkte er, daß meine religiösen Ansichten in nicht wenigen Punkten von den seinen abwichen, was er sich von vornherein denken konnte. Aber trotzdem blieb seine Fürsorge für mich die gleiche, und er richtete es sogar so ein, daß er alle meine Auslagen aus eigener Tasche bestritt. Auch gab er mir einen gelehrten jungen Mann, Johannes Harris, als Reisebegleiter mit und einen Empfehlungsbrief an die Vorsteher der gelehrten Schule zu Oxford, der wie eine Wünschelrute wirkte und mir nicht nur alle Bibliotheken, sondern auch alle Herzen erschloß. Alle Bibliotheken, deren die Schule ungefähr zwanzig besitzt, wohlgefüllt mit wichtigen alten Büchern, stöberte ich durch und nahm mit der Einwilligung der Vorsteher nicht wenige von solchen, die über Proklus handelten, mit mir heim, so viel ich glaubte in ein bis zwei Jahren durcharbeiten zu können. Hocherfreut über diesen Schatz und von Deinem Vater reich beschenkt und mit Wohltaten von ihm überhäuft, verließ ich England.«

Dies ereignete sich mehr als ein Jahrzehnt nach der Kriegserklärung Luthers gegen Rom.

Protestantische wie liberale Schriftsteller haben More trotzdem zu einem Ketzerverfolger stempeln wollen. So schrieb zum Beispiel Voltaire über ihn:

»Fast alle Geschichtschreiber, und namentlich die katholischen Glaubens, betrachten übereinstimmend Thomas More oder Morus als tugendhaften Mann, ein Opfer der Gesetze, als einen Weisen, voll von Milde, Güte und Wissen; aber in Wirklichkeit war er ein abergläubischer und barbarischer Verfolger.« Er habe verschiedene Leute wegen ihres Glaubens martern und verbrennen lassen. »Für diese Grausamkeiten, und nicht für seine Leugnung der kirchlichen Obergewalt Heinrich VIII., verdiente er die Todesstrafe. Er starb scherzend: besser wär's gewesen, er hätte einen ernsthafteren und weniger barbarischen Charakter besessen.« (Essai sur les moeurs et l'esprit des nations, 135. Kapitel: über den König Heinrich VIII. und die Revolution der Religion in England.)

Neben der freidenkerischen Stimme aus der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts sei noch eine protestantische aus der zweiten Hälfte des neunzehnten erwähnt, die des Herrn James Anthony Froude in seiner »History of England from the Fall of Wolsey to the Defeat of the Spanish Armada», London 1870, in der die Geschichte der englischen Reformation vom plattesten protestantischen Bourgeoisstandpunkt aus zurechtgerichtet wird. Derselbe Herr, der über die angeblichen »Ketzerverfolgungen« Mores so entrüstet ist, hält es für seine Aufgabe, die Hinrichtung Mores zu rechtfertigen und zu erklären, Hinrichtung auf den geringsten Verdacht hin, »gesellschaftsgefährliche« Ansichten (opinions subversive of society) zu hegen, könne auch noch im neunzehnten Jahrhundert mitunter notwendig werden. 1848 sei England nicht weit von dieser Notwendigkeit entfernt gewesen. Sie wäre eingetreten, wenn sich die englischen Chartisten mit den »Mördern« und »Rebellen« in Paris in Verbindung gesetzt hätten. Welches Geheul über »blutdürstige Hyänen« wohl Herr Froude angestimmt hätte, wenn die »Rebellen« in Paris 1848 nach seinem Rezept, aber in ihrem Interesse vorgegangen wären? Das Hinüberschießen im Kriege wäre ganz schön, wenn nur das verdammte Herüberschießen nicht wäre!

Den Beweis für die angebliche Intoleranz Mores bildet neben einigen unbewiesenen Behauptungen protestantischer Klatschbrüder seine von ihm selbst verfaßte Grabschrift, in der es heißt: »Furibus, homicidis, haereticis molestus«, »er setzte Dieben, Mördern und Ketzern arg zu«. Die Zusammenstellung ist für die »Ketzer« nicht sehr schmeichelhaft, das »molestus« schließt aber keineswegs notwendig eine Bekämpfung mit anderen als geistigen Waffen in sich. An einer solchen ließ es More freilich nicht fehlen. Unter Toleranz verstand er, daß man den Gegner nicht mit »schlagenden« Gründen mundtot machen solle. Daß es aber Intoleranz sein sollte, wenn man seine ganze geistige Kraft aufbietet, um seine Überzeugung zur Geltung zu bringen und die des Gegners zu erschüttern, das wäre More nie eingefallen. Er war eine viel zu energische Kampfesnatur, um Rücksichten vom Gegner zu verlangen, er fühlte sich aber auch nicht bemüßigt, seine eigenen Waffen abzustumpfen. Seine Hiebe saßen. Alte Weiber mögen darüber in moralische Entrüstung geraten und ebenso über die »leichtfertige« und »rohe« Sprache, die More führte. Unser schwächliches und heuchlerisches Zeitalter mag wohl Anstoß nehmen an der Derbheit, mit der die Geisteskämpfe damals ausgefochten wurden, und die in der Hitze des Gefechtes mitunter weiter ging, als auch den weniger Prüden unter uns gefallen mag. Ein Beweis der Intoleranz ist diese Sprache für sich allein noch lange nicht.

Wie weit More aber die Ketzer verfolgte, erzählt er uns selbst in seiner »Apology«, geschrieben 1533, nachdem er seine Stelle als Lordkanzler aufgegeben. Seine Darlegungen machen den Eindruck der vollsten Wahrheit, werden durch die Tatsachen bestätigt, soweit diese von anderer Seite her bekannt sind, und verdienen schon darum vollen Glauben, weil More kein Interesse daran hatte, die Wahrheit zu entstellen und eine bewußte Lüge ihm ganz unähnlich sieht. Bald nach der Abfassung seiner »Apology« ging er in den Tod, weil er keine Lüge aussprechen wollte!

Er sagt in der genannten Schrift unter anderem: »Es ist nicht unbekannt, welche Art von Gunst ich dem Klerus zuwandte, als ich im Rate des Königs saß, als ich Kanzler des Herzogtums Lancaster, namentlich aber, als ich Reichskanzler war. Lobte und ehrte ich die Guten, so war ich nicht lässig in der Bestrafung der Nichtsnutzigen, die den anständigen Leuten Ärgernis gaben und ihrem Stande zur Schande gereichten. Diejenigen, die den Geboten der Religion zuwiderhandelten, Diebe und Mörder wurden, fanden so wenig Gnade vor mir, daß sie niemanden mehr fürchteten als mich.« Nachdem er so sein Verhältnis zum damaligen katholischen Klerus, damit aber auch diesen selbst, gekennzeichnet, geht er auf die Behauptung über, er sei ein Ketzerverfolger gewesen: »Verschiedene unter ihnen (den Lutheranern) haben gesagt, daß ich als Kanzler Leute meines Gesindes peinlich zu befragen pflegte, indem ich sie in meinem Garten an einen Baum binden und jämmerlich durchprügeln ließ. Dieses Märchen haben manche dieser sauberen Brüder so herumgeklatscht, daß ein braver Freund von mir allgemein davon reden hörte. Was werden diese Brüder nicht noch erzählen, wenn sie schamlos genug sind, so etwas zu behaupten? Allerdings ließ ich dergleichen mitunter durch die Beamten oder die Verwaltung eines der Gefängnisse vornehmen, wenn es sich um einen großen Raub, einen scheußlichen Mord oder eine Kirchenschändung handelte, Diebstahl der Monstranz mit dem Allerheiligsten oder dessen böswillige Entfernung ... Aber wenn ich so verfuhr mit Dieben, Mördern und Kirchenräubern, so habe ich doch niemals in meinem Leben Ketzern um ihres Glaubens willen etwas zuleide getan, zwei Fälle ausgenommen.« Diese zwei Fälle werden nun eingehend erzählt. Das eine Mal handelte es sich um einen Jungen im Dienste Mores, der einen anderen Jungen in dessen Hause anlernen wollte, das Sakrament des Altars zu verspotten. Dafür ließ ihm More, »wie man Knaben zu tun pflegt«, vor den versammelten Hausbewohnern von einem Diener einige Hiebe auf die Hosen applizieren. Die andere »Ketzerverfolgung« traf einen verrückten Kerl, der schon einmal in der Irrenanstalt Bedlam gewesen war und dessen Hauptvergnügen darin bestand, Messen zu besuchen und während der »heiligen Handlung« lautes Geschrei zu erheben und Skandal anzufangen. More ließ ihn, als er einmal bei seinem Hause vorbeiging, vom Konstabler greifen, an einen Baum in der Straße binden und mit einer Rute prügeln.

Diese zwei Prügelstrafen waren sicherlich harmlos in einer Zeit, wo man gleich bei der Hand war, Ketzer und Hexen ohne viel Federlesens zu verbrennen.

More fährt fort: »Von allen denen, die mir wegen Ketzerei übergeben wurden, hat kein einziger, so wahr mir Gott helfe, einen Schlag oder Streich erhalten, nicht einmal einen Nasenstüber. Alles, was mir meine Amtspflicht auferlegte, war, sie in sicherem Gewahrsam zu halten – nicht in so sicherem, daß es nicht Georg Konstantin gelungen wäre, sich wegzustehlen.« Die Lutheraner behaupten, More sei über des Mannes Flucht außer sich vor Wut gewesen. Aber in Wirklichkeit gab er niemandem ein böses Wort deswegen, nicht einmal dem Torwächter, dem er sagte: »›John, sorge dafür, daß die Gitter wieder gerichtet und fest verschlossen werden, sonst schleicht sich am Ende der entwischte Gefangene wieder ein.‹ Was Konstantin getan (nämlich das Durchgehen), das hat er mit Recht getan. Niemals werde ich so unvernünftig sein, einem Manne zu zürnen, wenn dieser seine Stellung wechselt, weil ihm das Sitzen unbequem geworden ist.«

Alle anderen Geschichten von seinen Grausamkeiten gegen Ketzer und dergleichen erklärt More für erlogen: »Was die Ketzer anbelangt, so mißverstehe man mich nicht. Ich hasse ihre Irrtümer, nicht ihre Personen; ich wünschte, jene würden vernichtet, diese geschont.«

Noch ein Absatz aus dieser Schrift sei zitiert, der für die Art und Weise bezeichnend ist, wie More religiöse Dinge behandelte: »Und laßt uns zu dem letzten Fehler kommen, den die Brüder an mir rügen: dem, daß ich unter die ernstesten Dinge Schnurren und Witze und lustige Anekdoten mische. Horaz sagt: ridentem dicere vernum (quid vetat) – warum soll man nicht lachend die Wahrheit sagen? Und einem, der nur ein Laie ist, wie ich, mag es besser anstehen, in heiterer Weise seine Ansichten vorzubringen, als ernst und feierlich zu predigen.«

More hatte recht, ein Prediger im Sinne des neueren Katholizismus war er nicht. So oft er sich auch bemüht, in seinen polemischen religiösen Schriften ernsthaft zu bleiben, der Schalk blickt immer wieder durch. Nichts amüsanter zu lesen als manche Stellen seiner Supplication of Souls (Bittschrift der armen Seelen) aus dem Jahre 1529, einer Polemik gegen die Flugschrift: Supplication of beggars (Bittschrift der Bettler), die bei einer Prozession verbreitet worden war, gerichtet an Heinrich VIII., der aufgefordert wurde, die frommen Stiftungen einzuziehen, um dadurch dem arbeitslosen Proletariat aufzuhelfen. Unter anderem verlangte Fishe, der Verfasser, die Geistlichen sollten aus den Klöstern vertrieben, mit Peitschenhieben zur Arbeit gezwungen und verheiratet werden: so werde die Produktion und die Bevölkerung des Landes vermehrt werden. More lachte ungemein über den Vorschlag: »Man denke nur, eine Bittschrift an den König einreichen, damit die Geistlichkeit beraubt, geplündert, gefesselt, gehauen und – verheiratet werde! Wie der Mann über das Heiraten denkt, kann man daraus ersehen, daß er es als das letzte dieser Übel anführt, und fürwahr, wenn er es für etwas Gutes hielte, würde er es der Geistlichkeit nicht wünschen.«

More kommt dann auf das Fegefeuer zu sprechen, dessen arme Seelen zu kurz kämen, wenn die Stiftungen aufgehoben würden, so daß niemand da sei, der für sie bete. Und welche Qualen erleiden nicht die armen Seelen! Man denke nur, sie sind verdammt, all den Blödsinn anzusehen, der auf der Welt vorgeht. Und wie schnell ist ein Verstorbener vergessen! Da muß der Mann im Fegefeuer zusehen, wie seine Frau schleunigst einen anderen heiratet und die Kinder lustig sind und niemand mehr des Vaters gedenkt, der so schnell vergessen ist wie ein weggeworfener alter Schuh. Nur mitunter gedenkt das Weib des verstorbenen Gatten, wenn sie sich gerade mit dem zweiten Gatten gezankt hat.

In seiner »Confutation of Tyndales Answer« läßt er den protestantischen Prediger Barnes vor versammelter Gemeinde mit zwei Frauen disputieren, einer Kaufmannsfrau und der Flaschenwirtin von Botolphs Wharf. Es handelt sich um die Zeichen, an denen der wahre Priester Christi zu erkennen sei. Barnes gibt als solche an, daß er die wahre Auslegung der heiligen Schrift gebe und nach der Schrift lebe. Darauf ruft die Wirtin: »Beim heiligen Dreckfink (malkin)! Vater Barnes, alle die Zeichen, von denen du sprichst, halten den Vergleich nicht aus mit meinem Wirtshauszeichen oder einem Senfladenzeichen. Wo ich das eine sehe, bin ich sicher, warme Semmeln zu kriegen, und wo das andere, einen Senftopf. Aber deine beide Zeichen geben mir nicht die geringste Sicherheit, nicht für einen Heller!«

In dieser Weise sind Mores »theologische« Abhandlungen gehalten. Daß sie gegen Schluß seines Lebens weniger heiter sind und mitunter einen ekstatischen und fanatischen Zug aufweisen, daß er in ihnen Dinge sagt, die seinen früheren Prinzipien widersprechen, wie er sie etwa in der »Utopia« geäußert, ist richtig. Die Untersuchung darüber, wieso diese Umwandlung gekommen, gehört mehr in das Gebiet der Psychologie als der Geschichte: daß ein Feuergeist, wie More, in der Hitze des Gefechts über die Schnur haut und Dinge behauptet, die seinem früheren Standpunkt widersprechen, daß er sich in die Feindschaft gegen seine Widersacher verbeißt und Anwandlungen von Fanatismus bekommt, daß schließlich Schriften, die im Kerker in der Erwartung des Todes geschrieben wurden, einen ekstatischen Charakter tragen, dürfte kaum jemand anderer, als ein gegnerischer Pfaffe anstößig finden. Wir überlassen es den katholischen und protestantischen Pfaffen, ihre Materialien für oder wider More aus diesen Schriften zu schöpfen. Für uns sind sie höchstens von pathologischem Interesse, die wir nur vom Sozialisten, dem Denker More handeln. Die theologische Literatur Mores erklärt sich fast von selbst, sobald wir verstehen, warum More auf die katholische und nicht auf die protestantische Seite trat. Sobald er sich für die erstere entschieden hatte, war alles Folgende nur die natürliche Konsequenz dieses Schrittes. Die Gründe aber, warum er dem Protestantismus entgegentrat, waren nicht dogmatischer, nicht theologischer, sondern politischer und ökonomischer Natur; zum Teil dieselben Gründe, die im allgemeinen den Humanismus bewogen, sich auf die katholische Seite zu schlagen, und die wir im ersten Abschnitt berührt haben. Aber diese Gründe nahmen bei More infolge lokaler und persönlicher Einwirkungen eine ganz eigentümliche Gestaltung an. Wir werden sie im folgenden näher kennen lernen.


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