Karl Kautsky
Thomas More und seine Utopie
Karl Kautsky

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Drittes Kapitel. Die Produktionsweise der Utopier.

1. Darstellung.

In dem zweiten Buche der »Utopia« teilt Raphael Hythlodäus die Einrichtungen und Gebräuche mit, die auf der Insel Utopia herrschen und die ihn so entzückten. Hören wir zunächst, was er über Produktionsweise erzählt. Ihre häuslichen, ehelichen, politischen, religiösen und anderen Einrichtungen sind von dieser abhängig und ergeben sich aus ihr. »Die Insel Utopia«, berichtet Raphael, »zählt vierundzwanzig große und prächtige Städte, alle in Sprache, Sitten, Einrichtungen und Gesetzen einander gleich. Sie sind alle in derselben Weise angelegt und gebaut, soweit dies die Verschiedenheit der Örtlichkeiten zuläßt.

»Diese Städte sind jede von der anderen zum mindesten 24000 Schritte entfernt, aber keine so abgelegen, daß sie nicht von der nächsten in einer Tagreise zu Fuß erreicht werden könnte. ... Jeder Stadt ist ihr Ackerland so entsprechend angewiesen, daß ihr Gebiet nach keiner Richtung hin sich weniger als 20000 Schritte weit erstreckt, nach manchen Richtungen viel weiter, wo die Städte ferner auseinanderliegen. Keine dieser Städte strebt danach, ihre Grenzen auszudehnen, denn sie betrachten sich mehr als die Bebauer denn als die Herren des Landes.

»Auf dem flachen Lande haben sie allenthalben gut gelegene, mit Ackerbaugerätschaften wohl versehene Häuser. Diese werden von den Bürgern bewohnt, die abwechselnd aufs Land ziehen. Keine landwirtschaftliche Familie zählt weniger als 40 Mitglieder – Männer und Frauen – und zwei zum Hofe gehörige (ascripticii) Knechte.Wir glauben, »servus« besser mit »Knecht« zu übersetzen als mit »Sklave«. Robynson übersetzt servi mit »bondmen«, Cantiuncula mit »eygen Lüte« oder »eygen Knecht«. Die Vorsteher der Familie sind ein Hausvater und eine Hausmutter, gewiegte und erfahrene Menschen, und an der Spitze von je dreißig Familien steht ein Phylarch.

»Aus jeder dieser Familien kehren jährlich 20 Personen in die Stadt zurück, nachdem sie zwei Jahre auf dem Lande zugebracht haben, und werden durch zwanzig andere aus der Stadt ersetzt, die von denen im Landbau unterrichtet werden, die bereits ein Jahr auf dem Lande gewohnt haben und daher die Landwirtschaft verstehen. Die Neugekommenen haben das nächste Jahr andere zu belehren. Diese Einrichtung hat man getroffen, weil man fürchtete, es könnte einmal Mangel an Lebensmitteln eintreten, wenn alle Landbebauer gleichzeitig unerfahrene Neulinge wären. Der Wechsel der Bebauer wurde eingeführt, damit niemand gegen seinen Willen gezwungen sei, allzulange die mühselige und harte Landarbeit zu verrichten. Aber gar manche finden am Landleben solches Gefallen, daß sie sich einen längeren Aufenthalt auf dem Lande erwirken.

»Die Landbewohner bestellen die Felder, besorgen das Vieh und hauen Holz, das sie nach der Stadt zu Land oder zu Wasser führen, wie es am gelegensten ist.« Sie brüten die Hühnereier künstlich mit Brutapparaten aus usw.

»Obgleich sie genau erforscht haben, wie viele Lebensmittel die Stadt samt ihrem Gebiet erheischt, so säen sie doch mehr Korn und ziehen mehr Vieh, als sie bedürfen, und teilen den Überschuß ihren Nachbarn mit.

»Was immer die Landbewohner brauchen, was man in Feld und Wald nicht findet, das holen sie sich aus der Stadt, wo es ihnen die Obrigkeiten gern und ohne Gegengabe ausfolgen; denn jeden Monat, an einem Feiertag, gehen viele von ihnen in die Stadt. Naht die Erntezeit, dann zeigen die Phylarchen der Ackerbaufamilien den städtischen Obrigkeiten an, wie vieler Arbeiter aus der Stadt sie bedürfen. Diese Schar zieht am festgesetzten Tage aufs Land, und mit ihrer Hilfe wird fast die ganze Ernte an einem einzigen Tage eingebracht, wenn das Wetter günstig ist.«

So viel vom Landbau. Begeben wir uns nun in die Stadt.

»Die Straßen sind sehr geschickt so angelegt, daß sie den Verkehr von Wagen ermöglichen und doch gegen den Wind schützen. Die Häuser sind schöne, große Gebäude, die ohne Zwischenraum in ununterbrochenen Reihen stehen. Der Weg zwischen den Häusern ist zwanzig Fuß breit.So breit waren zu Mores Zeit die idealen Straßen!

»An der Rückseite der Häuser zieht sich ein Garten durch die ganze Länge der Straße, ringsum von Häusern begrenzt. Jedes Haus hat ein Tor auf die Straße und eine Tür in den Garten. Die Tore sind mit doppelten Flügeln, die sich vor dem leisesten Druck der Hand öffnen und von selbst wieder schließen. Jeder darf eintreten, der will, so daß bei ihnen nichts besonders zu eigen ist. Und selbst die Häuser wechseln sie jedes zehnte Jahr nach dem Los.

»Auf ihre Gärten halten sie große Stücke. Sie ziehen darin Weinstöcke, Früchte, Kräuter und Blumen, so reizend und sauber, daß ich nie fruchtbarere oder zierlichere Gärten gesehen habe. Der Eifer, den sie darauf verwenden, stammt nicht allein aus dem Vergnügen an der Gärtnerschaft, sondern auch aus dem Wetteifer zwischen den einzelnen Straßen, den schönsten Garten zu haben. Und nicht leicht wird man etwas finden, was für die Bürger nützlicher und vergnüglicher wäre. ...«

»Ackerbau ist die Beschäftigung, der sich alle Utopier hingeben, Männer und Weiber, und die sie alle verstehen. Von Jugend auf werden sie darin unterrichtet. Teilweise in den Schulen durch Unterricht, teilweise durch Übung auf den Feldern in der Nähe der Stadt, wo ihnen die Landarbeit wie ein Spiel beigebracht wird; sie werden dadurch nicht nur der Arbeit kundig, sondern auch körperlich gekräftigt.

»Neben der Landwirtschaft, die, wie gesagt, von ihnen allen betrieben wird, erlernt jeder von ihnen noch ein Handwerk als eine besondere Beschäftigung. Das ist meist entweder Verarbeitung von Wolle oder Flachs oder Maurerei, die Kunst des Schmiedes oder des Zimmermanns. Die anderen Beschäftigungen sind nicht der Rede wert.

»Denn die Kleider sind auf der ganzen Insel nach demselben Schnitt, abgesehen davon, daß die Kleidung der Männer verschieden ist von der der Frauen, die der Verheirateten von der der Unverheirateten. Und dieser Schnitt bleibt stets derselbe, passend und angenehm für das Auge, den Bewegungen und Wendungen des Körpers nicht hinderlich, gleich geeignet für die Kälte wie für die Hitze. Diese Kleider verfertigt jede Familie für sich selbst. Aber von den anderen obenerwähnten Gewerben hat jeder eines zu erlernen, und zwar nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen. Letztere, als die schwächeren, werden zu leichteren Arbeiten verwendet, meist zur Verarbeitung von Wolle und Flachs. Die mühsameren Gewerbe liegen den Männern ob.

»Meist wird jeder im Handwerk seines Vaters unterrichtet, denn dazu ist man in der Regel von Natur aus geneigt. Zieht aber jemand ein anderes Gewerbe vor, dann wird er in eine Familie aufgenommen, die dasselbe betreibt. Nicht nur der Vater, sondern auch die Obrigkeit sorgt dafür, daß er zu einem braven und rechtschaffenen Hausvater kommt.

»Hat jemand bereits ein Handwerk erlernt, so darf er sich trotzdem auch später noch zu einem anderen wenden, wenn er danach verlangt. Versteht er beide, dann mag er betreiben, welches er will, es sei denn, daß die Stadt des einen mehr bedarf als des anderen.

»Die vornehmste und fast einzige Aufgabe der Syphogranten (Phylarchen) besteht darin, darauf zu achten, daß niemand müßig geht und jeder sein Handwerk mit gebührendem Eifer betreibt. Damit ist aber nicht gemeint, daß die Utopier von früh morgens bis spät abends in unaufhörlicher Arbeit sich zu schinden haben, gleich Lasttieren. Denn das ist schlechter als die elendeste Sklaverei. Und doch ist es fast überall das Los der Arbeiter, ausgenommen in Utopien. Dort aber werden Tag und Nacht in 24 Stunden geteilt, und nur 6 davon sind zur Arbeit bestimmt: drei vormittags, worauf sie speisen gehen; und nach der Mahlzeit haben sie eine Rast von 2 Stunden, worauf sie wieder 3 Stunden arbeiten und sich dann zum Abendbrot begeben. Ungefähr um 8 Uhr abends gehen sie zu Bett (indem sie mit 1 Uhr die erste Stunde nach Mittag bezeichnen) und widmen dem Schlaf 8 Stunden. Alle die Zeit, die nicht von Arbeiten, Schlafen und Essen in Anspruch genommen ist, verwendet jeder nach seinem Belieben. ... Um sich aber keine falschen Vorstellungen zu machen, muß man eines ins Auge fassen – denn wenn man hört, daß sie bloß 6 Stunden auf die Arbeit verwenden, könnte man vielleicht zur Ansicht kommen, daß Mangel an notwendigen Dingen die Folge davon sein wird. Aber im Gegenteil. Diese kurze Arbeitszeit ist nicht nur genügend, sondern mehr als genug, um einen Überfluß an allen Sachen zu erzeugen, die des Lebens Notdurft oder Annehmlichkeit erfordert.

»Das wirst du einsehen, wenn du bedenkst, ein wie großer Teil des Volkes in anderen Ländern müßig geht. Da sind zuerst die Weiber, also die ganze Hälfte des Volkes, und wo die Weiber eine Beschäftigung haben, da schnarchen dafür die Männer desto mehr. Und wie zahlreich und wie müßig daneben die Schar der Priester und frommen Männer, wie man sie nennt! Man füge dazu die Zahl aller Reichen, namentlich die Grundbesitzer (praediorum dominos), die man gewöhnlich die Gentry (generosos) und die Lords (nobiles) nennt. Zu diesen zähle ihr ganzes Gefolge, jenen zusammengelaufenen Haufen von Raufbolden und Windbeuteln. Endlich vergesse man nicht die arbeitsfähigen, vollkommen gesunden Bettler, die irgend ein Gebrechen heucheln. Viel geringer als du glaubst, wirst du die Zahl jener finden, deren Arbeit alles schafft, dessen die Sterblichen bedürfen. Und nun erwäge ferner, wie wenige wieder von diesen mit notwendigen Arbeiten beschäftigt sind. Denn wo alles mit Geld gemessen wird, da werden natürlich viele eitle und überflüssige Gewerbe ins Leben gerufen, die bloß der Verschwendung und Liederlichkeit dienen. Denn wenn man heute alle diese, die jetzt tätig sind, nur in so wenigen Gewerben beschäftigte, als die Natur Bedürfnisse hervorruft, so würden zweifellos die notwendigen Sachen in solcher Menge erzeugt werden, daß ihr Preis zu tief sänke, um die Erhaltung der Arbeiter zu ermöglichen. Wenn man aber alle diese, die jetzt in nutzlosen Gewerben tätig sind, zusammen mit der ganzen Schar jener Müßiggänger, von denen jeder einzelne mehr Erzeugnisse fremder Arbeit verzehrt und verwüstet, als zwei der Arbeiter – wenn man alle diese zu nützlichen Arbeiten anhielte, so würde, wie leicht einzusehen, ungemein wenig Zeit erforderlich sein, um einen Überfluß an Dingen zu schaffen, die des Lebens Notdurft oder Annehmlichkeit erheischt, und selbst an solchen, die dem Vergnügen dienen, das heißt einem wahren und natürlichen Vergnügen.

»Die Richtigkeit davon beweist in Utopien der Augenschein. Denn in einer Stadt samt ihrem Gebiet finden sich kaum 500 Personen von der Arbeit befreit aus der ganzen Zahl der Männer und Frauen, die dazu tauglich sind. Darunter sind die Syphogranten, die sich aber der Arbeit doch nicht entziehen, um die anderen durch ihr Beispiel zur Arbeit zu ermuntern, trotzdem sie gesetzlich davon befreit sind. Dieselbe Befreiung von der Arbeit genießen diejenigen, die auf Empfehlung der Priester und nach geheimer Wahl durch die Syphogranten vom Volk Erlaubnis bekommen haben, sich ausschließlich und ständig dem Studium zu widmen. Erfüllt ein solcher aber nicht die in ihn gesetzten Erwartungen, dann wird er wieder unter die Handwerker versetzt. Oft kommt aber auch das Gegenteil vor, daß ein Handwerker seine freie Zeit so eifrig auf das Studium verwendet und solche Fortschritte darin macht, daß er von der Handarbeit befreit und unter die Gelehrten versetzt wird.« Aus diesen werden die höheren Beamten genommen. »Da der Rest des Volkes weder arbeitslos noch mit unnützen Arbeiten beschäftigt ist, kann man leicht ermessen, wie wenige Stunden sie brauchen, um vieles und Gutes hervorzubringen.

»Außerdem haben die Utopier den Vorteil, daß die meisten notwendigen Beschäftigungen bei ihnen nicht so viel Arbeit in Anspruch nehmen als anderswo. Denn erstens erheischt in anderen Gegenden die Erbauung und Instandhaltung der Gebäude die ununterbrochene Arbeit vieler Menschen; denn der geizige Sohn läßt das Haus, das der Vater baute, verfallen. Was er mit wenigen Kosten hatte erhalten können, hat sein Nachfolger mit großem Aufwand neu zu bauen. Oder es kommt auch vor, daß ein Haus, das einem Mann viel Geld kostete, seinem wählerischen Nachfolger nicht gefällt. Er vernachlässigt es, läßt es verfallen und baut ein anderes an einer anderen Stelle mit nicht geringeren Kosten. Aber bei den Utopiern ist alles so wohl überlegt und das Gemeinwesen so gut eingerichtet, daß es sehr selten vorkommt, daß sie ein neues Haus auf einem neuen Platz zu bauen haben. Sie bessern nicht nur eintretende Schäden rasch aus, sondern wissen ihnen auch rechtzeitig zuvorzukommen. So erhalten sich die Gebäude lange mit geringen Kosten, so daß oft die Bauleute nichts zu tun haben, außer Zimmerholz zu bearbeiten und Steine zu behauen, damit das Werk schneller vonstatten gehe, wenn man einmal ihrer Arbeit bedarf.

»Ebenso wenige Arbeiter bedürfen sie zur Herstellung ihrer Kleidung. Bei der Arbeit tragen sie einfach Leder oder Felle, die sieben Jahre dauern. Gehen sie aus, dann werfen sie einen Mantel um, der das grobe Unterkleid verbirgt. Diese Mäntel haben auf der ganzen Insel dieselbe Farbe, die Naturfarbe der Wolle. Sie verbrauchen also nicht nur weniger Tuch, als dies in anderen Ländern der Fall; es kostet ihnen auch weniger Arbeit. Leinwand wird mehr gebraucht, da ihre Herstellung weniger Arbeit erfordert. Aber beim Leinen sieht man nur auf Weiße, bei der Wolle nur auf Sauberkeit. Die feineren Gewebe werden keineswegs höher geschätzt. Und während anderswo vier bis fünf wollene Oberkleider von verschiedenen Farben und ebenso viele seidene Wämser einem Mann nicht genügen, ja manchem Herrchen oft zehn zu wenig sind, genügt bei den Utopiern ein einziger Anzug meist für zwei Jahre. Warum sollte einer dort auch mehr verlangen? Wenn er mehr hätte, wäre er weder besser vor der Kälte geschützt, noch hübscher gekleidet.

»Da sie alle nützlich beschäftigt sind und jedes Gewerbe nur weniger Arbeit bedarf, kommt es öfter vor, daß sie an allem Überfluß haben. Dann werden zahllose Scharen aus der Stadt geführt, um die Straßen auszubessern. Oft aber, wenn auch diese Arbeit nicht notwendig ist, wird die Zahl der Arbeitsstunden durch einen Erlaß herabgesetzt. Denn die Obrigkeiten plagen nicht die Bürger mit unnützer Arbeit.«

Man vergleiche über die Abkürzung der Arbeitszeit in einem kommunistischen Gemeinwesen die Ausführungen Mores mit denen von Marx. Man wird bei beiden einen ähnlichen Gedankengang finden. Im »Kapital« heißt es: »Die Beseitigung der kapitalistischen Produktionsform erlaubt, den Arbeitstag auf die notwendige Arbeit zu beschränken. ...

Je mehr die Produktivkraft der Arbeit wächst, um so mehr kann der Arbeitstag verkürzt werden, und je mehr der Arbeitstag verkürzt wird, desto mehr kann die Intensität der Arbeit wachsen. Gesellschaftlich betrachtet wächst die Produktivität der Arbeit auch mit ihrer Ökonomie. Diese schließt nicht nur die Ökonomisierung der Produktionsmittel ein, sondern die Vermeidung aller nutzlosen Arbeit. Während die kapitalistische Produktionsweise in jedem Geschäft Ökonomie erzwingt, erzeugt ihr anarchisches System der Konkurrenz die maßloseste Verschwendung der gesellschaftlichen Produktionsmittel und Arbeitskräfte neben einer Unzahl unentbehrlicher, aber an und für sich überflüssiger Funktionen.

»Intensität und Produktivkraft der Arbeit gegeben, ist der zur materiellen Produktion notwendige Teil des gesellschaftlichen Arbeitstages um so kürzer, der für freie geistige und gesellschaftliche Betätigung der Individuen eroberte Zeitteil also um so größer, je gleichmäßiger die Arbeit unter alle werkfähigen Glieder der Gesellschaft verteilt ist, je weniger eine Gesellschaftsschicht die Naturnotwendigkeit der Arbeit von sich selbst ab- und einer anderen Schicht zuwälzen kann. Die absolute Grenze für die Verkürzung des Arbeitstages ist nach dieser Seite hin die Allgemeinheit der Arbeit. In der kapitalistischen Gesellschaft wird freie Zeit für eine Klasse produziert durch Verwandlung aller Lebenszeit der Massen in Arbeitszeit.« (Kapital, 1. Band, 3. Auflage, S. 541.)

So viel über Handwerk und Landbau in Utopien. Beides sind Beschäftigungen, die einen gewissen Reiz besitzen, wenn man sie nicht bis zur Ermüdung zu betreiben hat. Die Arbeit des Handwerkers wie des Bauern ist nicht eine eintönige abstumpfende, sondern eine abwechslungsreiche. Jeder von ihnen steht in einer Art persönlichen Verhältnisses zu den Produkten seiner Arbeit; sie sind sein Stolz und seine Freude. Natürlich haben wir da nicht den Handwerker und Bauer der kapitalistischen Gesellschaft vor Augen, in der diese vielmehr meist nichts sind als verkappte Proletarier, Produzenten von Mehrwert für den Kapitalisten.

More konnte wohl annehmen, daß Landbau und Handwerk genug Reiz in sich selbst besäßen, um keinen strengen Arbeitszwang nötig zu machen. Wie aber mit den unangenehmen, abstoßenden, widerlichen Arbeiten? Um zu Besorgung dieser anzureizen, nahm er die Religion zur Hilfe, die ja zu seiner Zeit noch so große Macht besaß.

»Viele unter ihnen (den Utopiern) sind so der Religion ergeben, daß sie die Wissenschaften vernachlässigen. Aber sie meiden den Müßiggang, indem sie der Überzeugung sind, daß die Seligkeit nach diesem Leben nur erlangt werden kann durch ein tätiges Leben und gute Werke. Einige von ihnen widmen sich daher der Krankenpflege, andere bessern die Straßen und Brücken aus, reinigen die Gräben, stechen Torf aus, brechen Steine, fällen und spalten Holz, fahren Holz, Korn und andere Sachen in die Städte und dienen nicht nur dem Gemeinwesen sondern auch Privatpersonen wie Diener, ja williger noch als Knechte. Denn wo immer unangenehmes, hartes und abstoßendes Werk zu verrichten ist, vor dem Mühe, Ekel und Kleinmut andere abschrecken, das nehmen sie gern und heiter auf sich und verschaffen so durch stetige Arbeit und Plage den anderen Ruhe und Bequemlichkeit, ohne diese deshalb zu tadeln. Denn sie maßen sich weder das Amt der Sittenrichter an, noch erheben sie sich über die anderen. Aber man ehrt sie um so höher, je mehr Knechtsdienste sie leisten.

»Sie zerfallen in zwei Sekten. Die eine von ihnen fordert Ehelosigkeit und Enthaltung nicht allein vom Umgang mit Frauen, sondern auch vom Genuß von Fleisch, einige von ihnen von allen tierischen Speisen. Sie weisen die Genüsse dieses Lebens als schädlich zurück und suchen die Seligkeit des jenseitigen Lebens, das sie fröhlich und guten Mutes erwarten, durch Wachen und Kasteiungen zu gewinnen.

»Die andere Sekte ist nicht weniger arbeitslustig, zieht jedoch die Ehe vor und verschmäht nicht deren Annehmlichkeiten. Sie glauben, daß ihre Pflichten gegen die Natur Arbeit und Mühsal, ihre Pflichten gegen das Gemeinwesen die Kinderzeugung erheischen. Sie enthalten sich keiner Freude, die sie nicht an der Arbeit hindert. Sie lieben das Fleisch der vierfüßigen Tiere, weil sie glauben, daß diese Nahrung sie stärker und ausdauernder macht. Die Utopier halten diese Sekte für die weisere, die andere für die heiligere.«

Diese idealen, bescheidenen, enthusiastischen Arbeitsmönche, die in schneidendem Kontrast zu den faulen, versoffenen und arroganten Kuttenträgern von Mores Zeit stehen, erschienen jedoch nicht genügend zur Verrichtung der unangenehmen Arbeiten. Gab es doch unter diesen solche, die man einem frommen Manne absolut nicht zumuten konnte, zum Beispiel das Schlachten von Tieren, Arbeiten, die den Menschen, der sie betrieb, brutalisieren mußten. More wünschte die Utopier davon fernzuhalten. Aber die Arbeiten mußten getan werden. In dieser Verlegenheit wurde More gezwungen, sich selbst untreu zu werden und die Zwangsarbeit für eine Klasse der Bewohner Utopiens bestehen zu lassen:

»Als Knechte haben sie (die Utopier) weder Kriegsgefangene, außer solche in Schlachten gemacht, in denen sie (die Utopier) selbst gefochten,Was selten geschieht. noch die Kinder von Knechten; auch verschmähen sie es, solche in fremden Ländern zu erwerben. Ihre Knechte sind Mitbürger, die wegen Verbrechen zur Zwangsarbeit verurteilt wurden, oder, was häufiger vorkommt, Verbrecher des Auslandes, über die die Todesstrafe verhängt wurde. Von diesen bringen sie viele ins Land; sie zahlen für sie nur ein Geringes, meist gar nichts. Diese Art von Knechten werden nicht nur zu ununterbrochener Arbeit angehalten, sie tragen auch Ketten. Am härtesten aber behandeln sie die aus ihrer Mitte stammenden, da sie diese für die Verruchtesten und Strafwürdigsten halten, die so trefflich in einem so ausgezeichneten Gemeinwesen erzogen wurden und trotzdem sich der Missetaten nicht enthielten.

»Eine andere Art von Knechten wird aus armen und arbeitsamen Taglöhnern des Auslandes gebildet, die freiwillig kommen, sich ihnen in die Knechtschaft zu verdingen. Diese behandeln sie anständig und halten sie fast so gut wie die eigenen Bürger, ausgenommen, daß diese ihnen um ein Geringes mehr Arbeit auferlegen, da sie daran gewöhnt sind. Ist einer von ihnen gewillt, wegzuziehen, was selten vorkommt, dann hindern sie ihn nicht und lassen ihn auch nicht mit leeren Händen ziehen.«

Aber auch die Lage der verurteilten Verbrecher ist keine hoffnungslose: »Meist werden die abscheulichsten Verbrechen mit Zwangsarbeit bestraft. Denn sie glauben, daß diese den Verbrecher nicht weniger schreckt und dem Gemeinwesen vorteilhafter ist, als wenn man ihn eiligst ohne weiteres aus dem Wege schafft. Denn seine Arbeit nützt mehr als sein Tod, und sein Beispiel wirkt länger abschreckend als eine rasch vergessene Hinrichtung. Wenn die Verbrecher sich aber empören, dann erschlägt man sie wie wilde Tiere, die weder Eisenstäbe noch Ketten bändigen können. Diejenigen, die ihr Los willig ertragen, sind nicht ohne Hoffnung. Denn wenn sie, gebeugt von Mühsal, solche Reue zeigen, daß man sieht, sie bedauern ihre Missetat mehr als ihre Strafe, dann wird ihre Zwangsarbeit mitunter vom Fürsten, mitunter vom Volke entweder gemildert oder gänzlich erlassen.«

Die Arbeit dieser Knechte ist unter anderem Schlächter- und Küchenarbeit: Aus den Schlachthäusern außerhalb der Stadt »werden die Tiere auf die Märkte gebracht, nachdem die Knechte sie getötet und ausgeweidet haben. Denn sie lassen nicht ihre freien Bürger sich an das Schlachten der Tiere gewöhnen, da sie fürchten, daß ihre Milde, die liebenswürdigste Eigenschaft ihres Wesens, dadurch nach und nach ausgelöscht werden könnte. ... In den Speisepalästen wird alle unangenehme, beschwerliche und schmutzige Arbeit von den Knechten verrichtet.«

So viel über die Arbeiten und die Arbeiter. Jetzt noch einiges über die ökonomischen Beziehungen des gesamten Gemeinwesens zu den einzelnen produzierenden Gemeinden einerseits, zum Ausland andererseits.

»Jede Stadt sendet jährlich nach Amaurotum als Abgeordnete drei ihrer weisesten Greise, die gemeinsamen Angelegenheiten der Insel zu besorgen. Es wird untersucht, an welchen Dingen und wo Überfluß oder Mangel herrscht, und dem Mangel der einen durch den Überfluß der anderen abgeholfen. Und das geschieht ohne irgend welche Entschädigung, indem die Städte, die von ihrem Überfluß an andere abgeben, ohne von diesen etwas zu verlangen, dafür von anderen etwas empfangen, was sie brauchen, ohne eine Gegenleistung dafür zu geben. So ist die ganze Insel gleichsam eine Familie.

»Nachdem sie aber genügend Vorräte für sich selbst angelegt haben (und sie halten es für notwendig, auf zwei Jahre versorgt zu sein, wegen der Ungewißheit der Erträge des nächsten Jahres), dann führen sie ihren Überfluß ins Ausland. Mengen von Korn, Honig, Wolle, Flachs, Holz, Kermes (coccus) und Purpur; Häute, Wachs, Talg, Leder und Vieh. Den siebenten Teil dieser Sachen verteilen sie freigebig unter die Armen des Landes, mit dem sie handeln, den Rest verkaufen sie zu niedrigen Preisen. Durch diesen Warenhandel bringen sie in ihr Land nicht nur notwendige Dinge, die es nicht selbst hervorbringt – denn deren gibt es nur wenige, außer Eisen –, sondern auch große Mengen Gold und Silber. Und da sie diesen Handel schon seit langem betreiben, haben sie unglaubliche Reichtümer aufgehäuft.«I. H. von Kirchmann erzählt uns in seinem unsäglich seichten »Kommentar« zu Platos Staat (Philosophische Bibliothek, 68. Heft), »daß Plato sich seinen Staat nicht als einen völlig von der übrigen Welt abgeschiedenen dachte, wie später Thomas Moore, Cabet und andere Utopisten.... Dadurch steht der Staat Platos auf einem viel konkreteren Boden wie jene späteren Utopien« usw. In Wirklichkeit war More, wie wir oben gesehen, nicht so phantastisch, sich einen modernen Staat als »isolierten Staat« vorzustellen. Der praktische Vertreter der Londoner Kaufmannschaft überließ das deutschen Gelehrten. An Herrn Kirchmann ersehen wir aber, was freilich nichts Neues, daß, um über den Sozialismus von oben herab mit Gelehrtendünkel abzusprechen, für manchen neueren »Philosophen« nichts notwendig ist als völlige Unkenntnis des besprochenen Gebiets. Alle benachbarten Städte und Staaten sind ihnen verschuldet. Die Schätze häufen sie bloß an, um im Falle eines Krieges Soldtruppen werben und einen Teil der Feinde bestechen zu können.

Sie selbst haben kein Geld, brauchen also auch kein Gold. Und damit ja kein Verlangen danach entstehe, »haben sie ein Mittel erdacht, das, so sehr es mit ihren Gesetzen und Gewohnheiten übereinstimmt, so verschieden von den unseren ist, daß es uns unglaublich erscheint, die wir das Gold so unendlich schätzen und so gierig suchen. Sie essen und trinken aus irdenen und gläsernen Geschirren, die sehr schön, aber nicht kostbar sind, aus Gold und Silber aber machen sie Nachtgeschirre und andere Gefäße zu niedrigem Gebrauch, nicht nur für die gemeinsamen Paläste, sondern auch für die Privathäuser. Ferner machen sie aus den edlen Metallen Ketten und Fesseln für ihre Knechte. Wer durch ein Vergehen ehrlos geworden ist, den behängen sie mit Ohrringen und Ketten von Gold, stecken ihm goldene Fingerringe an und umwinden sein Haupt mit Gold.«

In dieser Weise stellte sich More die ökonomischen Verhältnisse seines idealen kommunistischen Gemeinwesens vor.

2. Kritik.

Niemand von einiger Kenntnis des Gegenstandes wird behaupten wollen, daß Mores Ziele mit den Tendenzen des modernen wissenschaftlichen Sozialismus völlig übereinstimmen. Dieser fußt auf zwei Tatsachen: der Entwicklung des Proletariats als Klasse und der Entwicklung des maschinellen Großbetriebs, der die Wissenschaft in seine Dienste nimmt und innerhalb jedes Betriebs heute schon ein System planmäßig organisierter, gesellschaftlicher Arbeit erzwingt. Der Großbetrieb bildet die technische Grundlage, auf der nach der Ansicht des wissenschaftlichen Sozialismus das Proletariat die Produktion seinen Interessen gemäß gestalten wird, wenn es ein politisch maßgebender Faktor geworden ist.

Die kapitalistische Produktionsweise hat jedoch ihre Mißstände früher entwickelt als die Elemente, die bestimmt sind, sie zu überwinden. Das Proletariat mußte eine dauernde Institution und ein bedeutender Bruchteil des Volkes geworden sein, ehe es sich als Klasse fühlen und dem Forscher als die Kraft enthüllen konnte, von der die soziale Umgestaltung getragen werden wird. Andererseits konnte sich der Großbetrieb unter dem System der Warenproduktion nur entwickeln in kapitalistischer Form, er war nur möglich, nachdem sich große Kapitalien in wenigen Händen gesammelt hatten und diesen eine Armee besitzloser, arbeitsuchender Proletarier gegenüberstand.

Kapital und Proletariat, Massenelend und Riesenreichtum mußten lange bestehen, ehe sie die Keime einer neuen Gesellschaft entwickelten. Solange diese sich nicht gezeigt, mußten alle Versuche in der Luft schweben, die Leiden der kapitalistischen Produktionsweise durch die Herbeiführung ihres Gegenteils zu beseitigen, mußte der Sozialismus ein utopischer bleiben, konnte er kein wissenschaftlicher werden.

Diese Situation bestand noch im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Um wie viel ungünstiger war sie zur Zeit Mores! Im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts erstand bereits eine bestimmte Arbeiterbewegung mit bestimmten Zielen; was More als Arbeiterbewegung kennen lernte, waren einzelne Geheimbündeleien und Verzweiflungsstreiche meist handwerksmäßiger und bäuerlicher Elemente. Im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts sah man schon den Übergang der kapitalistischen Manufaktur zur Großindustrie. Zu Mores Zeit begann eben der Kapitalismus sich der Industrie und Landwirtschaft Englands zu bemächtigen. Noch hatte seine Herrschaft nicht lange genug gedauert, um eine technische Umwälzung zu vollziehen; der Unterschied zwischen kapitalistischer und einfacher Warenproduktion war noch mehr einer des Grades als der Art.

Heute ist der Unterschied zwischen kapitalistischem Großbetrieb und bäuerlichem oder handwerksmäßigem Betrieb ein in die Augen fallender. Der erstere ist nicht bloß größer als der letztere, er produziert auch ganz anders, mit anderen Werkzeugen, nach anderen Methoden.

Ein solcher Unterschied zwischen einfacher und kapitalistischer Warenproduktion bestand noch nicht im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts in England. Die Arbeiter, die die Wolle des Kaufmanns für diesen verwebten, taten dies in derselben Weise, wie die Arbeiter des zünftigen Webers. Der Unterschied bestand zunächst bloß darin, daß der Kaufmann mehr Arbeiter beschäftigte als der Webermeister, und daß die Gesellen des Webermeisters wohl Aussicht hatten, selbst einmal Meister zu werden, die Lohnarbeiter des kapitalistischen Kaufmanns dagegen keine Aussicht, jemals selbst Kapitalisten zu werden. Der Unterschied zwischen kapitalistischer und zünftiger Produktionsweise war damals nur ein sozialer, kein technischer: das Handwerk bildete die Grundlage der einen wie der anderen.

Ähnlich stand es in der Landwirtschaft. Die Betriebe der kapitalistischen Pächter unterschieden sich von denen der feudalen Hintersassen zunächst nur durch ihre Größe. Von einer Verbesserung der Kulturmethoden, von einer Anwendung vervollkommneter Werkzeuge in der ersteren war noch wenig zu merken. Allerdings wurden Menschen überflüssig gemacht, aber nicht durch eine Erhöhung der Produktivität der Landarbeit, sondern durch den Übergang zu einer roheren Form der ländlichen Produktion, vom Ackerbau zur Weidewirtschaft.

So klar daher auch zu Mores Zeit gewisse Mißstände des Kapitalismus in England zutage lagen, die technischen Grundlagen, auf denen dieser beruhte und von denen daher auch More bei dem Aufbau seines antikapitalistischen Gemeinwesens auszugehen hatte, waren immer noch das Handwerk und die bäuerliche Landwirtschaft.

Daß More also in vielen Punkten vom modernen Sozialismus abweichen mußte, ist klar. So wie er in politischer Beziehung uns in manchen Beziehungen als Reaktionär erscheint – wenn man verrückt genug ist, ihn mit dem Maßstab des zwanzigsten und nicht des sechzehnten Jahrhunderts zu messen – so wie er infolge der Rückständigkeit des Proletariats ein Gegner jeder Volksbewegung, der Verfechter eines konstitutionellen Fürstentums war –: so erscheint uns Mores Sozialismus auch in ökonomischer Beziehung vielfach rückständig. Nicht darüber darf man sich wundern, daß dies der Fall, sondern darüber, daß trotz der ungünstigen Bedingungen Mores Sozialismus dennoch, neben vielem Rückständigen, die wesentlichsten Merkmale des modernen Sozialismus aufweist, so daß er mit Recht den neueren Sozialisten zuzurechnen ist.

Die unmodernen Seiten des Moreschen Kommunismus sind die notwendigen Konsequenzen der Produktionsweise, von der er ausging und ausgehen mußte. Zu diesen unmodernen Seiten gehört vor allem die Fesselung jedes Menschen an ein bestimmtes Handwerk.

Die wichtigste Arbeit bei der modernen Großindustrie ist der Wissenschaft zugefallen. Sie erforscht methodisch die mechanischen und chemischen Kräfte, die bei der Produktion ins Spiel kommen; sie erforscht ebenso die mechanischen und chemischen Eigenschaften der verschiedenen Stoffe, deren Umformung die Aufgabe der Produktion ist; und schließlich leitet sie die Anwendung der von ihr erforschten Grundsätze in der Technik. Dem Handarbeiter bleiben nur einige wenige, inhaltlose, aber leicht erlernbare Handgriffe bei Beaufsichtigung der Maschine oder des chemischen Prozesses übrig.

Diese Inhaltlosigkeit und Einfachheit der Handarbeit bildet heute eine der wichtigsten Ursachen ihrer Erniedrigung. Sie beschäftigt nicht mehr den Geist, zieht nicht an, sie wirkt abstoßend und abstumpfend. Sie ermöglicht es, die geschickten Arbeitskräfte durch ungeschickte, reife durch unreife, starke durch schwächliche zu ersetzen. Zugleich befreit sie den Kapitalisten in immer steigendem Maße von der Notwendigkeit, einen Stock gelernter Arbeiter zu halten. Und gleichzeitig werden durch die Anwendung der Wissenschaft in der Produktion die Produktionsverhältnisse ständig umgewälzt; denn die Wissenschaft rastet nicht und ebensowenig der Druck der Konkurrenz, der stets zu neuen Verbesserungen zwingt. Die Maschine von gestern ist heute veraltet und morgen gänzlich konkurrenzunfähig. Der Arbeiter hat heute an einer anderen Maschine zu arbeiten, als er gestern tat, um morgen wieder in einem anderen Betrieb Arbeit zu suchen.

Sobald das Proletariat die Produktion regelt, werden sich diese Ursachen der Erniedrigung der Arbeiterklasse zu ebenso vielen Elementen ihrer Hebung gestalten. Die Vereinfachung der Handgriffe bei den Maschinen ermöglicht es, den Arbeiter mit seinen Arbeiten zeitweise wechseln, ihn eine Reihe von abwechselnden Betätigungen verschiedener Muskeln und Nerven verrichten zu lassen, die ihn in ihrer harmonischen Anordnung ebenso erfrischen und beleben, wie es heute das völlig unproduktive Turnen tut. In den verschiedensten Beschäftigungen nacheinander tätig, wird er erst der in ihm schlummernden Fähigkeiten sich bewußt, aus einer Maschine ein freier Mensch werden. Und die gleichzeitige Beschäftigung mit den Wissenschaften, wie sie die Verkürzung der Arbeitszeit mit sich bringt, wird seiner Arbeit auch ihren geistigen Inhalt wiedergeben, indem sie ihn deren Zusammenhang mit dem ganzen technischen und ökonomischen Getriebe und dessen natürlichen Wurzeln erkennen läßt. Die Arbeit wird für ihn damit zu freier Arbeit, indem die Erkenntnis ihrer Notwendigkeit an die Stelle der Hungerpeitsche tritt.

Anstatt der Abwechslung der Arbeiten, wie sie erst durch die Großproduktion möglich, aber auch notwendig wird, wenn die Arbeiterklasse nicht verkommen soll, setzt More, wie gesagt, die Fesselung jedes Arbeiters an ein bestimmtes Handwerk fest. Im Handwerk ist die Behandlung der Werkzeuge, die Kenntnis ihrer Wirkung auf die Rohstoffe das Ergebnis nicht methodischer wissenschaftlicher Forschung, sondern der Anhäufung persönlicher, oft zufälliger Erfahrungen. Dies ist auch in der Manufaktur der Fall. Aber in ihr ist jeder Produktionsprozeß in verschiedene Teilarbeiten zerlegt, deren jede einem Arbeiter ständig zugewiesen ist, und deren Erlernung natürlich nicht so viel Zeit in Anspruch nimmt als die Erlernung aller Handgriffe und Methoden eines bestimmten Produktionsprozesses. Ist es in der Manufaktur notwendig, den Arbeiter für längere Zeit an seine Teilarbeit zu fesseln, wenn er die nötige Geschicklichkeit erlangen, seine Arbeit so produktiv als möglich werden soll, so ist im Handwerk, dessen Verrichtungen so mannigfach sind, die Kettung an ein bestimmtes Gewerbe von Jugend auf, der stete Verkehr mit einem geschickten Meister, der aller Überlieferungen des Gewerbes kundig ist, eine technische Notwendigkeit. Diese Kettung erschien aber nicht als ein Übel, da die Handwerksarbeit noch einen gewissen Reiz hatte, wie wir schon oben ausgeführt.

Wie aber mit den nicht handwerksmäßigen Verrichtungen, mit der Arbeit der Taglöhner, die zu Mores Zeit bereits sehr zahlreich waren, mit den schmutzigen, ekelhaften Verrichtungen, der Schlächterei, der Reinigung von Häusern und Städten usw.? Diese unangenehmen Arbeiten, ein beliebter Einwand des Spießbürgers gegen den Sozialismus, sind für alle Utopisten ein großer Stein des Anstoßes gewesen. Fourier suchte ihn durch psychologische, oft ungemein genial erdachte Motive zu beseitigen, die er in die Arbeit einführte. More suchte etwas Ähnliches zu erreichen, wie wir gesehen, durch den zu seiner Zeit noch so starken Hebel der Religion. Aber da er ihn nicht für ausreichend hielt, sah er sich genötigt, zur Zwangsarbeit von Sklaven seine Zuflucht zu nehmen, eine eigentums- und rechtlose Klasse, die für andere arbeitet, in seinen kommunistischen Idealstaat einzuführen. Es kam ihm schwer an, er wand und drehte sich, um dieser Einrichtung ihre Härte zu nehmen, indem er in jene Klasse Personen verwies, die ohne deren Bestehen ein noch schlimmeres Los erwartet hätte. Die degradierte Klasse gänzlich zu beseitigen, war ihm unmöglich von der technischen Grundlage aus, auf der er stand. Erst die moderne Großindustrie, die wissenschaftliche Technik bietet die volle Möglichkeit, die Annehmlichkeiten und Unannehmlichkeiten der verschiedenen Arbeiten auszugleichen und den etwaigen Rest unangenehmer Arbeiten so zu vereinfachen, daß sie von allen Arbeitsfähigen abwechselnd verrichtet werden können, und damit den besonderen Arbeitszwang für eine einzelne, benachteiligte Klasse von Arbeitern aufzuheben. Schon heute hat sie den Unterschied zwischen angenehmen und unangenehmen Arbeiten sehr verringert, allerdings meist in der Weise, daß sie Arbeiten, die früher angenehm gewesen, jeglichen Reizes entkleidete. Aber es ist der modernen Technik doch auch gelungen, eine Reihe unangenehmer Arbeiten milder zu gestalten oder völlig zu beseitigen. Im ganzen freilich hat die Technik bisher noch sehr wenig in dieser Richtung geleistet. Die Annehmlichkeit der Arbeit zu fördern, ist nicht die Aufgabe, die der Kapitalismus ihr stellt. Er verlangt von ihr Ersparung von Arbeitskräften, sei es auch durch Vergrößerung der Unannehmlichkeiten der Arbeit. Erst wenn die Arbeiterklasse bestimmenden Einfluß auf die Produktionsweise errungen hat, wird die Wissenschaft bewogen werden, sich mit voller Kraft auf die Lösung des Problems der Beseitigung der unangenehmen Arbeiten zu werfen. Und es gibt kein Problem dieser Art, das die moderne Technik nicht zu lösen imstande wäre, sobald sie sich mit vollem Ernste daran macht, übrigens wird ein großer Teil der heutigen unangenehmen Arbeiten beseitigt durch die Verlegung der Industrie auf das flache Land, worauf wir noch zu sprechen kommen.

Genug, auf jeden Fall ist mit dem Bestehen der modernen wissenschaftlichen Technik die Notwendigkeit unangenehmer Arbeiten und deren Zuweisung an eine besondere Klasse von Arbeitern beseitigt. Wir bedürfen daher nicht mehr der Knechte der »Utopia«.

Noch ein dritter Zug, der dem modernen Sozialismus widerspricht, ist in diesem Zusammenhang zu nennen: die Bedürfnislosigkeit der Utopier.

More will – und es ist dies ein ganz moderner Zug – die Bürger seines Gemeinwesens so viel als möglich von physischer Arbeit befreien, um ihnen zu geistiger und geselliger Betätigung freie Zeit zu schaffen. Die Hauptmittel dazu sind ihm: Organisation der Arbeit, so daß alle unnützen Arbeiten vermieden werden, die die bestehende Anarchie im Wirtschaftsleben mit sich bringt, eine Anarchie, die zu Mores Zeiten, verglichen mit der heutigen, kaum nennenswert war; weiter die Arbeit aller und endlich die Einschränkung der Bedürfnisse.

Die beiden ersten Punkte hat More mit dem modernen Sozialismus gemein, nicht aber den letzten. In der Tat, heute, im Zeitalter der Überproduktion, wo eine technische Verbesserung von der anderen überholt wird, wo die Produktionsweise einen Grad der Produktivität erreicht hat, daß ihr bereits der Rahmen des Kapitalismus zu eng geworden ist und sie diesen zu sprengen droht, um sich dann ungemessen zu entfalten, heute von der Notwendigkeit zu reden, die Bedürfnisse einzuschränken, um die Abkürzung der Arbeitszeit zu ermöglichen, wäre ein Zeichen seltsamer Verkennung der Verhältnisse.

Anders zu Mores Zeit. Die Produktivität des Handwerkes entwickelt sich nur unendlich langsam, oft gar nicht, es verknöchert mitunter völlig. Ähnlich ist es mit der bäuerlichen Landwirtschaft. Der Kommunismus auf dieser Grundlage ließ keine allzu erhebliche Vermehrung der Produktion im Verhältnis zur Zahl der Arbeiter erwarten. Also hieß es die Bedürfnisse einschränken, wenn man die Arbeitszeit bedeutend verkürzen wollte. Die Wirkung des Kapitalismus, die More zu sehen bekam, war nicht die Überproduktion, sondern der Mangel. Je weiter die Schafweiden ausgedehnt wurden, desto mehr schrumpfte das Ackerland zusammen. Die Folge davon war das Steigen der Lebensmittelpreise (zum Teil auch bewirkt durch das Einströmen von Silber und Gold aus Amerika nach Europa). Noch mehr als durch diesen Umstand wurde jedoch More bewogen, seine Utopier höchst einfach auftreten zu lassen, durch den wahnsinnigen Luxus seiner Zeit (siehe 1. Abschnitt, S. 20), der bei beiden Geschlechtern der herrschenden Klassen im Verhältnis unendlich weiter ging als bei den verschwenderischsten unserer Modedamen. Ein Luxus in der Kleidung wie in der Ausstattung der Wohnung, ein überladener Pomp entwickelte sich, der nicht der Befriedigung eines künstlerischen Bedürfnisses diente, sondern nur der Zurschaustellung des Reichtums. Daß More dagegen auf das heftigste auftrat – wir können leider die betreffenden Stellen der »Utopia« nicht anführen, da uns das zu weit führen würde –, ist leicht begreiflich, und ebenso, daß er in seinem Eifer in das entgegengesetzte Extrem geriet und die Utopier mit Fellen und uniformen Wollmänteln vorlieb nehmen ließ.

Man darf jedoch nicht glauben, daß More eine mönchische Aszetik predigte. Im Gegenteil. Wir werden sehen, daß er sich in bezug auf harmlose Genüsse, die nicht das Gemeinwesen mit überflüssiger Arbeit belasteten, als ein wahrer Epikuräer zeigte.

Hier wie überall erscheinen seine unmodernen Seiten als Beschränkungen, welche die Rückständigkeit seiner Zeit ihm auferlegte, ohne ihn so weit zu beeinflussen, daß der moderne Grundcharakter seines Wesens und seiner Ideale dadurch verdunkelt worden wäre.

Man wird dies sofort erkennen, wenn man untersucht, welche Merkmale der Moresche Sozialismus mit dem heutigen gemein hat, im Gegensatz sowohl zu dem urwüchsigen Kommunismus, dessen Reste More noch in den Genossenschaften der Hof-, Dorf- und Stadtmarken kennen lernte, als zu dem Kommunismus Platos, der ihm, wie wir wissen, wohl bekannt war. So nahe es lag, sich angesichts der unentwickelten Produktionsweise an diese Vorbilder zu halten, war More doch zu tief in das Wesen des Kapitalismus eingedrungen, wie ihn damals vornehmlich der Großhandel repräsentierte, als daß er seinen kommunistischen Tendenzen nicht die Signatur der neuen Zeit verliehen hätte, die dieser inaugurierte.

Wir haben bereits im ersten Abschnitt gesehen, wie der Welthandel die Exklusivität und Beschränktheit der urwüchsigen Gemeinwesen überwand, über die hinaus auch Plato nicht gelangt war, wie er an Stelle der Markgenossenschaft die Nation als ökonomische Einheit setzte.

Der Welthandel überwand aber auch die ständische Exklusivität der urwüchsigen Gemeinwesen.

Wie die mittelalterlichen Städte zerfiel auch die platonische Republik in scharf voneinander abgegrenzte Stände, und der Kommunismus war bei Plato ein Privilegium des obersten derselben.

Das Lebensprinzip des Kapitalismus ist dagegen die freie Konkurrenz: Gleichheit der Konkurrenzbedingungen für jedermann, also Aufhebung der ständischen Unterschiede. Vereinigte der Kapitalismus die kleinen Gemeinwesen zur Nation, so ging seine Tendenz auch dahin, alle Stände in der einen Nation aufgehen zu lassen.

Diesen Tendenzen des Kapitalismus entspricht auch der Moresche Kommunismus. Er ist national im Gegensatz zu jenem kommunalen und ständischen Kommunismus der Vergangenheit, den More durch Erfahrung und Studium kennen gelernt hatte. Er zeigte sich damit viel moderner als der heutige Anarchismus, der die Nation in völlig selbständige Gruppen und Kommunen zerspalten will.

Wir haben gesehen, daß der Senat der Utopier aus Delegierten der verschiedenen Gemeinden besteht; diese Vertretung der Nation ist es, welche die Produktion organisiert, den Bedarf und die Mittel zu dessen Deckung feststellt und die Arbeitsprodukte den Ergebnissen dieser Statistik entsprechend verteilt. Die einzelnen Gemeinden sind nicht Warenproduzenten, die ihre Produkte gegen die anderer Gemeinden austauschen. Jede produziert für die ganze Nation. Diese und nicht die Gemeinde ist auch der Besitzer der Produktionsmittel, vor allem von Grund und Boden. Und nicht die Gemeinde, sondern das ganze Gemeinwesen verkauft den Überschuß der Produkte als Waren ins Ausland. Ihm fließt der Erlös daraus zu. Das Gold und das Silber bilden den Kriegsschatz der Nation.

Die Gleichheit aller innerhalb der Nation aber, die beim Kapitalismus nur auf die Gleichheit der Konkurrenzbedingungen hinausläuft, mußte im Kommunismus Mores zur gleichen Arbeitspflicht aller werden. Dieser große Grundsatz verbindet ihn aufs engste mit dem modernen Sozialismus, scheidet ihn aufs strengste von dem Kommunismus Platos, der ein Kommunismus der Nichtarbeiter, der Ausbeuter ist. Der bevorrechtete Stand der platonischen Republik, die »Wächter«, die allein in Kommunismus leben, betrachten die Arbeit als etwas Entwürdigendes; sie leben von den Abgaben der arbeitenden Bürger.

Die gleiche Arbeitspflicht aller in der »Utopia« wird nur von einer geringfügigen Ausnahme durchbrochen: unter den Arbeitsfähigen sind einige Gelehrte davon befreit. Diese Ausnahme war notwendig unter dem System des Handwerkes, wo die materielle Arbeit zu viel Übung und Ausdauer erforderte, um daneben eine gründliche Gelehrtenarbeit erwarten zu lassen. Die Maschine, welche es ermöglicht, die Arbeit in ein produktives Turnen zu verwandeln, macht auch diese Ausnahme überflüssig, die übrigens zu unbedeutend ist, als daß wir näher darauf eingehen sollten.

Die Existenz von Zwangsarbeitern steht natürlich im Widerspruch zu der Gleichheit der Utopier. Wir wissen bereits, wodurch dieser Widerspruch zu erklären ist. übrigens hat More selbst bei dieser Konzession an die Rückständigkeit der Produktionsweise seiner Zeit den modernen Charakter soviel als möglich bewahrt, indem er die Knechte nicht zu einem erblichen Stand, sondern zu einer Klasse macht. Die Kinder der Knechte sind keine Knechte; diese selbst sind entweder auswärtige Lohnarbeiter, die ihre Stellung ändern können, wann sie wollen, oder zur Zwangsarbeit Verurteilte, Deklassierte, die durch persönliches Verschulden herabsinken und durch persönliches Wohlverhalten sich wieder erheben können.

Besonders bemerkenswert aber und völlig im Sinne des heutigen Sozialismus ist die Gleichheit der Arbeitspflicht für Mann und Weib, die Heranziehung der Frau zur industriellen Berufsarbeit. Die Frauen wie die Männer haben ein Handwerk zu erlernen. Einstweilen genüge diese Bemerkung; wir kommen im nächsten Kapitel noch in einem anderen Zusammenhang auf die Frauenarbeit zurück.

Hier handelt es sich nur um die Produktionsweise der Utopier. Und da ist noch ein wichtiges, charakteristisches Merkmal zu erwähnen: die Aufhebung des Gegensatzes von Stadt und Land.

Dies Problem ist ein ganz modernes, hervorgerufen durch die Konzentration der Industrie in den Städten, wie sie der Handel erzeugte, der als Welthandel die großen Städte gebar, die die Menschheit physisch verkommen lassen, indes sie alle Intelligenz und Mittel geistiger Anregung in sich vereinigen und das flache Land geistig und materiell veröden. Das Problem ist natürlich nur lösbar in einer Gesellschaft, die die Ursache der großen Städte, den Warenhandel, nicht kennt.

Zu Mores Zeit war die Lösung noch nicht so drängend wie heute; man hatte noch keine Ahnung von den Riesenstädten der Jetztzeit. Indessen war der Gegensatz zwischen Stadt und Land in manchen Gegenden damals schon ziemlich weit gediehen. Wir ersehen dies unter anderem aus dem Aufkommen der Schäferpoesie (zuerst in Italien im fünfzehnten Jahrhundert), welche die Sehnsucht des Städters nach dem Landleben bekundet und gleichzeitig in der dem Landvolk angedichteten unwahren Sentimentalität und Naivetät zeigt, wie sehr in den Städten bereits das Verständnis für das Landleben verloren gegangen war.

More hatte besonders gute Gelegenheit, die Tendenz der modernen Produktionsweise zur schädlichen Anschwellung der großen Städte zu beobachten, denn London gehörte zu den am raschesten anwachsenden Städten seiner Zeit. Es ist uns nicht gelungen, eine zuverlässige Angabe der Bevölkerungszahl Londons zur Zeit Mores zu erlangen. Das schnelle Anwachsen dieser Stadt kann man aber daraus ersehen, daß sie 1377, hundert Jahre vor Mores Geburt, 35 000 Einwohner zählte (Rogers Six Centuries etc., S. 117.), 1590, 55 Jahre nach seinem Tode, dagegen bereits in bezug auf Volkszahl von Giovanni Botero mit Neapel, Lissabon, Prag und Gent in eine Reihe gesetzt wurde, was eine Bevölkerung von ungefähr 160 000 Köpfen voraussetzt. 1661 hatte es nach Graunt 460 000 Einwohner, 1683 nach King 530 000, nach Sir William Petty 696 000. (Encyclopaedia Britannica, Artikel London.) Jeder der beiden letztgenannten Autoren nahm andere Grenzen des Stadtbezirkes an. So rasch schwoll die Stadt an, daß dies bereits unter Elisabeth ernstliche Besorgnisse erregte, wohl meist politischer Natur. Man erinnere sich der hervorragenden politischen Rolle, die London spielte. 1580 verbot die Königin unter strenger Strafe, in einem Umkreis von drei englischen Meilen von den Stadttoren aus neue Häuser zu bauen, und befahl, daß in keinem Hause mehr als eine Familie wohnen solle. Das Gesetz blieb natürlich auf dem Papier, es beweist aber das schnelle Wachstum der Hauptstadt.

Schon More empfand es bitter, in der Stadt von der Natur abgeschlossen zu sein; wir haben noch einen Brief von ihm an Colet, in dem er seiner Sehnsucht nach der freien Natur Ausdruck gibt. Sobald er konnte, verließ er London, um sich in einem Dorfe der Umgebung niederzulassen, in Chelsea, jetzt einem Teile der Metropole.

Die Verhältnisse Londons, Mores Scharfsinn, seine Neigungen, alles das vereinigte sich, ihn die Notwendigkeit der Aufhebung des Gegensatzes von Stadt und Land genau erkennen zu lassen.

Diese Aufhebung ist jedoch nur möglich durch Verlegung der Industrie aufs flache Land, durch Vereinigung der industriellen mit der landwirtschaftlichen Arbeit. Soll aber diese Ausgleichung nicht zu einer allgemeinen Verbauerung führen, so müssen die technischen Mittel gegeben sein, um die Isolierung zu beseitigen, welche mit der kleinbäuerlichen Betriebsweise notwendig verbunden ist. Die Mittel der Kommunikation der Ideen auf anderem Wege als dem des persönlichen Verkehrs – Presse, Briefpost, Telegraph, Telephon müssen hochentwickelt sein – ebenso die der Kommunikation von Produkten, Maschinen, Rohmaterialien usw. und Menschen: also Eisenbahnen, Dampfschiffe usw. Endlich muß jeder landwirtschaftliche Betrieb selbst ein so ausgedehnter sein, daß er die Konzentration einer größeren Anzahl von Arbeitern auf einer Betriebsstätte ermöglicht und damit die geistige Anregung, welche eine solche Konzentration bietet: also landwirtschaftlicher Großbetrieb, der Hunderte von Arbeitern auf dem »Hof« vereinigt, von dem aus der Betrieb geleitet wird.

Alle diese Vorbedingungen fehlten zu Mores Zeit völlig. Sein Ziel war aber die höhere Geisteskultur, nicht die Verbauerung des ganzen Volkes. Die Vereinigung der landwirtschaftlichen mit der industriellen Arbeit war also für ihn unmöglich, und er mußte sich darauf beschränken, jedem Bürger für eine gewisse Zeit die Landarbeit vorzuschreiben, die Kinder von früh an mit ihr vertraut zu machen und ein gewisses Maß für die Größe der Städte vorzuschreiben, das sie nicht überschreiten dürfen. Wir werden noch hören, daß keine Stadt mehr oder weniger als 6000 Familien mit 10 bis 16 Erwachsenen zählen darf. Diese Auskunftsmittel entsprechen natürlich nicht dem Wesen des modernen Sozialismus. Durch die kleinbürgerliche Produktionsweise, auf der More sein Gemeinwesen aufbaute, wurde er gezwungen, sie zu ersinnen.

Wir ersehen hier wieder, daß wohl die Ziele Mores moderne sind. Aber ihre Durchführung fand eine Schranke an der Rückständigkeit der Produktionsweise seiner Zeit. Diese war gerade weit genug entwickelt, um einen besonders scharfsinnigen, besonders methodisch geschulten und der ökonomischen Verhältnisse besonders kundigen Beobachter, wie More, unter besonders günstigen Umständen, wie sie England damals bot, ihre Tendenzen erkennen zu lassen, aber noch lange nicht weit genug, um die Mittel zu deren Überwindung zu bieten.

So ist auch der Kommunismus Mores modern in den meisten seiner Tendenzen, unmodern in vielen seiner Mittel.


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