Karl Kautsky
Thomas More und seine Utopie
Karl Kautsky

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Viertes Kapitel. More als Politiker.

1. Die politische Lage Englands am Anfang des sechzehnten Jahrhunderts.

Wir haben die allgemeine politische Situation Europas im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert bereits im ersten Abschnitt gekennzeichnet. Einige Worte genügen, darzulegen, in welcher Gestaltung diese Situation in England speziell zum Ausdruck kam.

Von den mittelalterlichen Ständen waren am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts die zwei mächtigsten der Krone fast völlig unterworfen: der Adel und die Kirche. Der Gang der allgemeinen Entwicklung, der damals, wie wir gesehen, dahin ging, diese beiden Stände zu schwächen, wurde in England durch einige besondere Umstände gefördert. Die Macht des Feudaladels erhielt einen furchtbaren Stoß durch den Bürgerkrieg zwischen der weißen und der roten Rose. Die englischen Barone, raubgierig gleich ihren Vorfahren, hatten zuerst im »heiligen Land«, dann in Frankreich Beute und Land und Leute zu erwerben gesucht. Als ihnen diese Ausbeutungsobjekte verschlossen wurden, als das »heilige Land« für die Christenheit und später Frankreich für England verloren gingen, da blieb den englischen Baronen nichts übrig, als sich untereinander um das einzige Ausbeutungsobjekt zu raufen, das ihnen geblieben war: um Land und Leute von England.

1453 war von ganz Frankreich nur noch Calais in den Händen der Engländer. Die ganze Menge adeliger englischer Ausbeuter, die wenige Jahre zuvor noch reichen Gewinn aus den eroberten Ländern gezogen hatte, sah sich plötzlich wieder auf den engen Raum des »teuren Vaterlandes« zusammengedrängt. Eine »Übervölkerung« von Ausbeutern begann. Der Ertrag der Ausbeutung war zu gering für sie alle, wenn sie das verschwenderische Leben fortsetzen wollten, das sie sich infolge der Ausbeutung Frankreichs angewöhnt hatten. Die natürliche Folge dieser »Übervölkerung« war ein »Kampf ums Dasein«, die Spaltung des englischen Adels in zwei feindliche Fraktionen, die unter dem Vorwand, die Ansprüche des Hauses York oder die des Hauses Lancaster auf die Krone Englands zu verteidigen, sich gegenseitig abschlachteten und ausplünderten. Der Krieg der weißen und der roten Rose, der Anhänger der Häuser York und Lancaster, war anscheinend ein »Kampf ums Recht«, nämlich um das Recht auf den Thron, ungefähr in der Weise, wie der Kampf zwischen Schutzzöllnern und Freihändlern ein Kampf für die »Rechte des armen Mannes« ist. In Wirklichkeit war er ein Kampf zweier Ausbeutungsfraktionen um das Ausbeutungsobjekt, und daher von einer kolossalen Erbitterung und Grausamkeit begleitet. Beide Parteien nahmen den Grundsatz an, keinem Adeligen Pardon zu geben, und diejenigen der vornehmen Herren, die nicht auf dem Schlachtfelde umkamen, fielen unter dem Schwerte der Henker der jeweilig siegreichen Partei. In diesem furchtbaren Gemetzel, das ein Menschenalter lang dauerte (von 1452, dem endgültigen Verlust der französischen Besitzungen an, bis 1485), ging fast der ganze Adel zugrunde, dessen so erledigter Grundbesitz dem König zufiel, der damit einen neuen Adel schuf, welcher weder die Macht noch die Befugnisse des Feudaladels hatte. Wohl sollte der englische große Grundbesitz wieder eine Macht werden, die es wagen konnte, dem Königtum zu trotzen, es von sich abhängig zu machen. Dies war aber noch nicht der Fall in der Zeit von Thomas More, der sieben Jahre vor der Beendigung des Bürgerkrieges zur Welt kam. Die hohen Adeligen aus der Zeit Mores waren fast alle Kreaturen des Königtums, verdankten dem herrschenden König oder dessen Vater ihr Besitztum und waren daher vollkommen von ihm abhängig.

So wie der Adel war auch der Klerus zum Diener des Monarchen herabgesunken. Vielleicht keine andere Monarchie Europas war so abhängig vom Papsttum gewesen, als England, nach der Eroberung durch die Normannen (1066). Diese hatten das Land mit Hilfe der Kirche gewonnen, dafür bekannte sich der siegreiche Normannenherzog Wilhelm der Gröberer, der nun Englands König wurde, als Lehensmann des Papstes. Und später wieder, im Jahre 1213 mußte Johann ohne Land sein Königtum vom Papst als Lehen gegen einen jährlichen Zins von 1000 Mark (1 Mark = 2/3 Pfund Silber) nehmen. Die normannische Feudalmonarchie in England hatte alle Ursache, zur Größe und Macht des Papsttums beizutragen, solange der englische Adel hoffen durfte, daß die Kreuzzüge ihm das reiche Plünderungsobjekt des Orients offen hielten. Als die Aussichten darauf gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts immer geringer wurden, trat die Ausbeutung Frankreichs für die englischen Ritter und Barone in den Vordergrund; – gleichzeitig bekamen die englischen Kaufleute ein Interesse an der Erwerbung französischer Besitzungen, mit denen sie einen einträglichen Handel trieben, den sie durch keine Zölle und Schikanen gehindert sehen wolltenNamentlich Guienne (mit der alten Hauptstadt Bordeaux) war für die Engländer wichtig, weil sie von dort Salz und Wein bezogen. Als der König von Frankreich diese Provinz 1450 eroberte, legte er sogleich eine Ausfuhrsteuer auf diese beiden Artikel, wohl wissend, wie nötig sie für die Engländer seien. Thorold Rogers, Six Centuries of Work and Wages. S. 96. –: im Kampf gegen Frankreich war aber der Papst nicht Bundesgenosse, sondern Gegner der Engländer; hatte ihn doch Frankreich im vierzehnten Jahrhundert völlig zu seinem Werkzeug gemacht! Diese Gegnerschaft zeitigte die papstfeindliche Stimmung in England rascher, als in den anderen nichtromanischen Ländern, sie verstärkte das Gewicht der Einflüsse, die in allen vom Papsttum ausgebeuteten Gebieten seit dem vierzehnten Jahrhundert in immer steigendem Maße das Streben nach Unabhängigkeit von Rom hervorriefen. Diese Gegnerschaft gegen das Papsttum nahm wie später in Deutschland so auch in England, zwei einander feindliche Gestaltungen an, je nach den Klassen, von denen sie getragen wurde: auf der einen Seite eine demokratische, ausgehend von Bauern, Handwerkern, mitunter auch niederen Adeligen. Auf der anderen Seite eine monarchische, ausgehend vom Königtum, dessen Kreaturen und den Handelsleuten. Die erstere Richtung lehnte sich an die Lehren von Wiklif (1324 bis 1484) an und entwickelte die Sekte der Lollharden. Die monarchische Richtung begnügte sich damit, ohne an den Dogmen der Kirche zu rütteln, durch Parlamentsbeschlüsse die Ausbeutung und Macht des Papsttums erheblich einzuschränken, ja fast völlig zu beseitigen. Schon 1360 faßte das Parlament dahinzielende Beschlüsse. 1390 wurde jedem Engländer bei Verlust von Gut und Leben verboten, irgend eine Pfründe von einem Ausländer anzunehmen oder für ihn zu verwalten oder Geld außer Landes zu senden. Und als sich die Päpste daran nicht kehrten, erhielten diese Bestimmungen besondere Bekräftigung durch das Statut Prämunire, das ein Grundgesetz der englischen Verfassung geworden ist. Von den Königen hing es ab, ob und inwieweit dies Statut ausgeführt werden sollte. Sie waren dadurch fast völlig vom Papsttum unabhängig geworden, auf das sie durch die Drohung, das Statut Prämunire streng durchzuführen, jederzeit einen starken Druck ausüben konnten. Die Tage waren aber längst vorbei, wo der nationale Klerus, unabhängig vom Papste, über das Königtum gebieten konnte. Er konnte sich der Abhängigkeit vom Papsttum nicht entziehen, ohne der Abhängigkeit vom König zu verfallen. In dem Maße, in dem die Macht des Papstes in England sank, in demselben Maße wurde der Klerus Diener des Königs.

Die Türkengefahr trug nicht dazu bei, dem Papsttum erneute Bedeutung in England zu verschaffen. Dies Land war dasjenige in Europa, welches am wenigsten von den Türken zu fürchten hatte.

So kam es, daß zu Mores Zeit Adel und Klerus Englands untertänige Diener des Königtums waren und diesem eine absolute Macht verliehen, wie es sie damals in keinem anderen Lande Europas besaß.

Aber mit dem Königtum waren auch Bürger und Bauer emporgekommen. Wir haben im ersten Abschnitt schon gezeigt, daß in Europa im allgemeinen die Bauern am Ende des dreizehnten und Anfang des vierzehnten Jahrhunderts ihre Lage wesentlich verbesserten. Die Leibeigenschaft war im Schwinden, die persönlichen Dienste wurden mitunter ganz aufgehoben, oft durch Geldgaben ersetzt, eine Umwandlung, die auch für die Grundherren manche Vorteile bot. An Stelle der Arbeit der Leibeigenen im Fronhof trat die von bezahlten Knechten, von Lohnarbeitern. Allein die Zahl der Leute, die gezwungen waren, sich um Lohn zu verdingen, war damals noch gering;»Die Lohnarbeiter der Agrikultur bestanden teils aus Bauern, die ihre Mußezeit durch Arbeit bei großen Grundeigentümern verwerteten, teils aus einer selbständigen, relativ und absolut wenig zahlreichen Klasse eigentlicher Lohnarbeiter. Auch letztere waren faktisch zugleich selbstwirtschaftende Bauern, indem sie außer ihrem Lohn Ackerland zum Belauf von vier und mehr Acres nebst Cottage angewiesen erhielten. Sie genossen zudem mit den eigentlichen Bauern die Nutznießung des Gemeindelandes, worauf ihr Vieh weidete und das ihnen zugleich die Mittel der Feuerung, Holz, Torf, usw. bot.« Marx, Kapital, 3. Aufl. 1. Band, S. 740. die Löhne waren hoch. Geringe Ursachen reichten hin, die Löhne rasch zu steigern. Eine Reihe von Umständen, wie die Verheerungen der Pest, des »schwarzen Todes«, der 1348 sich zuerst in England zeigte, das Aufblühen neuer Industrien, die zahlreiche Arbeitskräfte in die Städte lockten – so das der Wollenweberei im vierzehnten Jahrhundert in Norwich – oder die auf dem Lande eine Hausindustrie erzeugten und dadurch die Zahl der sich anbietenden Lohnarbeiter verringerten, ferner Kriege, die Söldner anzogen – alles das wirkte dahin, daß die Löhne der Arbeiter in England in der zweiten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts im allgemeinen um 50 Prozent, vorübergehend um viel mehr stiegen.

Die Grundherren gerieten in Verzweiflung. Sie versuchten durch Parlamentsakte die Arbeiter zur Arbeit zu zwingen und die Löhne herabzudrücken. Das erste dieser Statues of Labourers stammt aus dem Jahre 1349. Aber diese Gesetze genügten den Landjunkern nicht. Diese versuchten direkt, die Arbeiter und Bauern wieder unter das Joch der Leibeigenschaft zu beugen. Schließlich war der Druck nicht länger zu ertragen. Arbeiter und Bauern erhoben sich unter Wat Tyler, 1381. Die Rebellion hatte keinen direkten Erfolg. Ihr Führer wurde durch Verrat erschlagen, die Insurgenten verliefen sich wieder, ihre Rädelsführer wurden hingerichtet, die Lollhardie wurde grausam verfolgt: aber die Rebellion hatte den Grundherren einen heilsamen Schreck eingejagt; sie ließen ab von ihren Versuchen, die Bauern und Arbeiter zu zwingen. Die Bürgerkriege des fünfzehnten Jahrhunderts brachen den Feudalismus vollends.

Ein trotziger, selbstbewußter, kräftiger Stand freier Bauern entwickelte sich so in England. Diese Bauern waren es, die seine Heere furchtbar machten, vom vierzehnten bis ins siebzehnte Jahrhundert, sie waren es, an denen der Anprall der französischen Ritter sich brach, wie später der der Kavaliere der Stuarts.

Sie bildeten ein Material, das der königlichen Gewalt sehr gefährlich werden konnte, wenn sich eine Klasse fand, die es in diesem Sinne zu benutzen verstand. Ohne Verbindung mit einer anderen Klasse war der Bauer ungefährlich; er hatte keine politischen, nationalen Bestrebungen, sein Interesse ging nicht viel über den Bereich der Gemeinde, kaum über den des Kantons (County) hinaus. Wenn man ihn in diesem Bereich in Ruhe ließ, war er zufrieden.

So viel Freiheitsgefühl der englische Bauer auch hatte, so war er doch unter Heinrich VII. und Heinrich VIII., das heißt zur Zeit Mores, kein Hindernis für den königlichen Absolutismus. Er war diesem gegenüber indifferent, ja eher noch freundlich gesinnt, da er in ihm eine Schutzwehr gegen die Übergriffe der großen Grundeigentümer sah, die zu Mores Zeit begannen, und von denen wir unten noch handeln werden.

Ebensowenig als durch die Kräftigung des Bauernstandes erlitt das Königtum Abbruch durch die rasche Zunahme der Macht des Bürgertums. Der eine der beiden Stände, aus denen es bestand, die Handwerker, waren damals allerdings ein unruhiges Element, trotzig und selbstbewußt und den Kampf nicht scheuend. Neben den Bauern lieferten sie zahlreiche Rekruten für die Lollhardie. Aber so wie der Bauer lebte und webte auch der Handwerker, wenigstens der der Landstädte, viel mehr in seiner Gemeinde als im Staate, und so rebellisch und zäh er auch in Gemeindeangelegenheiten sein konnte, auf die Reichsangelegenheiten nahm er keinen dauernden Einfluß. Auch war das zünftige Handwerk zu Mores Zeit bereits in manchen Landstädten im Sinken begriffen und verkam in diesen so rasch, daß schon unter Heinrichs VIII. Nachfolger, Eduard VI., dessen Vormünder es wagen konnten, die Gilden auszuplündern, das Gildenvermögen ebenso für die Krone zu konfiszieren, wie Heinrich VIII. schon die Kirchengüter konfisziert hatte. Es war das in der Zeit, in der die Grundlagen zur Heiligkeit der modernen Eigentumsform gelegt wurden.

Diese Konfiskation wurde allerdings nur in den Landstädten durchgeführt, nicht in London. Die Gilden dieser Stadt wagte man nicht anzutasten. Die Bürger Londons waren zu Mores Zeit eine Macht, vor der die englischen Könige mehr Respekt hatten, als vor Kirche, Adel, Bauern und Landstädten. Die zentralisierende Tendenz des Handels, die wir im ersten Abschnitt dargetan, hatte sich nirgends in Europa so früh und so weit geltend gemacht, wie in Frankreich und England, zwei Staaten, die auch am frühesten zu Nationalstaaten geworden sind. Paris und London sind die ersten Städte gewesen, die das ganze ökonomische Leben ihrer Länder sich dienstbar machten, deren Herren die tatsächlichen Herren des Landes waren.

Mit Recht sagt Rogers: »London war ohne Zweifel von den frühesten Zeiten an ganz anders als jede andere englische Stadt, sowohl in bezug auf Größe wie auf Reichtum, wie auf seine besondere Bedeutung, seine militärische Macht und die Energie, mit der es sich von der übergroßen Macht, der Geschlechter (magnates) in seinen Mauern zu befreien suchte…. Während der vielen politischen Kämpfe des Mittelalters war schließlich die Seite siegreich, auf die sich London schlug, und gewöhnlich sehr bald.« (Th. Rogers, a.a.O. S. 106, 108, 109.)

Die größte Macht in London besaßen aber die Kaufleute. London war vor allem Handelsstadt. Dort konzentrierte sich der Handel Englands, der zu Mores Zeit schon sehr bedeutend war. Im dreizehnten Jahrhundert hatten noch die Hanseaten den größten Teil des englischen Handels vermittelt; in London befand sich eine ihrer blühendsten Faktoreien, der Stahlhof (Steelyard). Aber rasch entwickelte sich die Handelsflotte Englands; englische Schiffe fuhren im fünfzehnten Jahrhundert nach Frankreich und den Niederlanden, nach Portugal und Marokko; sie drangen in die Ostsee ein und bereiteten dort den Hanseaten eine erbitterte Konkurrenz; namentlich war eine Handelsgesellschaft in dieser Richtung tätig, die der Merchant adventurers (über See handelnden Kaufleute) genannt. Die Entwicklung der Fischerei förderte auch die Ausbildung der Handelsflotte. Immer kühner und unternehmender wurden die englischen Seeleute, immer weiter in unwirtliche Meere wagten sie sich. Handel und Walfischfängerei zogen sie nach Island, und im Zeitalter der Entdeckungen sollten sie in dem nordischen Meere Entdeckungen machen, die zwar nicht so profitabel wie die der Spanier und Portugiesen waren, aber ebensoviel Waghalsigkeit und Seemannskenntnis voraussetzten wie diese. Wenige Jahre nach Mores Tod sollten sie den Weg nach Archangelsk an der Nordküste Rußlands finden, damals der einzigen Hafenstadt »Moskowiens«, und schon 1497 entdeckte John Cabot, von Bristol mit englischen Schiffen ausfahrend, Labrador, und erreichte so den Kontinent Amerikas fast vierzehn Monate vor Kolumbus. (G. Bancroft, Geschichte der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Leipzig 1845. 1. Band, S. 9.)

So wichtig diese Entdeckungen und der kühne Unternehmungsgeist, dem sie entstammten, später für die Handelsgröße Englands wurden, zu Mores Zeit hatten sie bloß symptomatische Bedeutung. Der Haupthandel Englands wurde damals mit viel näheren Ländern geführt; am weitaus wichtigsten war der Wollhandel mit den Niederlanden. Die Wollweberei hatte sich in den Niederlanden früh – vom zehnten Jahrhundert an – entwickelt und ihnen großen Reichtum verschafft. Bis zum siebzehnten Jahrhundert gab es jedoch nur zwei Länder in Europa, die Wolle exportierten: England und Spanien. Die englische Wolle war aber viel besser als die spanische und für die Niederländer viel leichter zu erreichen. England besaß daher tatsächlich das Monopol des Wollhandels mit den Niederlanden, ähnlich wie bis in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts die Südstaaten der amerikanischen Union das Monopol hatten, England mit dem für seine textile Industrie unentbehrlichen Rohmaterial, Baumwolle, zu versorgen. Mit dem Reichtum der Niederlande wuchs daher auch der Reichtum Englands, oder besser gesagt, der Reichtum der Wolle produzierenden Großgrundbesitzer, der Kaufleute und der Monarchen Englands. Das Anwachsen des Reichtums der ersteren war jedoch bis zu Mores Zeiten eingedämmt worden einesteils durch die Bürgerkriege und die Verwüstungen und Konfiskationen, die sie im Gefolge hatten, andernteils durch das Fehlen eines Proletariats, einer Reservearmee von Arbeitslosen, die Löhne herabzudrücken. Erst zu Mores Zeit begann man, diesem beklagenswerten Mangel an Elend im Interesse des Volkswohlstandes abzuhelfen. Erst von da an bekamen auch die großen Grundbesitzer ihren gehörigen Anteil an den Profiten des Wollenmonopols. Bis dahin war der Löwenanteil daran den Kaufleuten zuteil geworden und den Monarchen: der Ausfuhrzoll auf Wolle bildete damals die ergiebigste Einnahmequelle der englischen Könige, eine der festesten Stützen des Absolutismus. Je mehr sich der Handel entwickelte, desto stärker wurde die Macht des Königs im Lande, desto mehr wurde aber auch dieser gezwungen, den Interessen des Handels zu dienen. Die Tudors, deren Herrschaft mit Heinrich VII. begann und mit Elisabeth endete, erkannten ganz gut, daß die Interessen des Handels auch die ihren waren, und förderten ihn daher im allgemeinen, wo sie nur konnten. So tyrannisch sie auch regierten, die Londoner Bürger, die entscheidende Macht im Reiche neben dem Königtum, ließen sich ihre Herrschaft gefallen: die Bürgerschaft Londons lebte ja fast völlig vom Handel, die einen direkt, die anderen indirekt. Solange dieser blühte, hatten sie keine Ursache zur Empörung.

So fand die Herrschaft der Tudors kein Hindernis; sie war die unumschränkteste, die je in England bestanden hat.

Aber man glaube nicht, daß das englische Bürgertum deswegen in Sklavensinn versunken war. Es war sich seiner Kraft wohl bewußt und scheute sich nicht, dem Königtum entgegenzutreten, wenn dieses sich in Widerspruch zu seinen Interessen setzte. Und die unumschränkte Herrschaft der Tudors hätte nicht über ein Jahrhundert lang gedauert, wenn sie nicht in ihrer Mehrzahl genau gewußt hätten, wie weit sie gehen durften, und wenn sie nicht jedesmal, so oft sie diese Grenze überschritten, rechtzeitig vor dem Volke wieder den Rückzug angetreten hätten.

Die Widerstandskraft und das freiheitliche Selbstbewußtsein des Volkes, vor allem Londons, war die einzige Schranke der Macht der Tudors. Das Parlament war unter ihnen machtlos. Neben den Vertretern des Adels und der Geistlichkeit wurden seit dem dreizehnten Jahrhundert auch Vertreter der Städte in dasselbe berufen, natürlich nur zu dem Zwecke, um diese zu Geldbewilligungen zu zwingen. Mit der Macht der Städte wuchs indes auch die Macht ihrer Vertreter und ihr Einfluß auf die Gesetzgebung. Eine Eigentümlichkeit des englischen Parlaments war es, daß die Vertreter des niederen Adels sich im vierzehnten Jahrhundert vom hohen Adel trennten, der fortan mit den hohen Würdenträgern der Kirche das Oberhaus bildete, und sich mit den Vertretern der Städte vereinigten und im Unterhaus konstituierten. Die Macht des Parlaments hing natürlich von der Macht der Klassen ab, die hinter ihm standen, und von ihrer Einigkeit. Wo zwei feindliche Parteien sich die Wage hielten, hatten die Könige leichtes Spiel. Stets aber blieb, bis ins siebzehnte Jahrhundert, die Macht des Parlaments der herrschenden Macht gegenüber geringer, als die der Klassen, die es vertrat, da es persönlichen Einflüssen zugänglicher war. Das Bürgertum ließ sich nicht bestechen oder einschüchtern, wohl aber dessen Vertreter: konnte ja der König, wenn er wollte, Parlamentsmitglieder, die ihm nicht gefielen, als Hochverräter hinrichten lassen! Wenn ein König sich vor dem Parlament beugte, so geschah es nicht aus Rücksicht auf dessen Rechte, sondern aus Angst vor der Kraft derjenigen, deren Interessen es vertrat.

Wenn die Tudors mit dem Volke fertig wurden, brauchten sie sich um das Parlament nicht zu kümmern.

Machtlos, persönlichen Einflüssen unterworfen, zum großen Teile aus adeligen und geistlichen Kreaturen des Königs zusammengesetzt, waren die Parlamente der Tudorzeit wohl die servilsten der englischen Geschichte. Sie gaben die Gesetzgebung vollkommen dem Königtum preis und vollzogen willig die Henkerdienste, die es von ihnen verlangte. Nur in einem Punkte waren manchmal auch sie unerbittlich und zwangen die Könige zum Nachgeben, weil sie die Massen hinter sich hatten: in dem Punkte der Geldbewilligung.

Alle die eben erwähnten Verhältnisse förderten einen eigentümlichen anscheinenden Widerspruch zutage: Nirgends in Europa war zur Zeit Mores die absolute Gewalt des Königtums größer als in England; vielleicht in keinem Lande war das Freiheitsgefühl und Selbstbewußtsein von Bürger und Bauer kräftiger entwickelt als gerade dort.

2. More ein Monarchist und Tyrannenhasser.

More war das Kind der geschilderten Verhältnisse. Der erwähnte Widerspruch spiegelt sich daher in seinen Schriften wider. Infolge seines enthusiastischen Temperaments ist er vielleicht bei niemandem stärker ausgeprägt worden als bei ihm. Gierig nahm er die Lehre der Humanisten auf, daß der Fürst zwar notwendig sei, aber ein Diener der Philosophen sein solle. Er erweiterte sie dahin, daß er ein Diener des Volkes sein solle. Und was bei anderen nur literarische Phrase, das wurde bei ihm feste Überzeugung. Er haßte die Tyrannei, wie nur je ein Engländer sie gehaßt hat, und war doch von der Notwendigkeit des Fürstentums überzeugt. Er hielt es für recht, den König abzusetzen, wenn er dem Volksinteresse zuwiderhandle, aber nur, um einen anderen, besseren König an dessen Stelle zu setzen.

Dies in kurzem sein politischer Standpunkt. Besser als durch alle Auseinandersetzungen wird er dargelegt durch eine kurze Schilderung des politischen Denkens und Wirkens von More.

Seine ersten politischen Äußerungen finden sich in seinen Epigrammen. Für uns sind hier nur diejenigen von Interesse, die von den Fürsten handeln. Einige derselben, die uns am charakteristischsten erscheinen, seien hier wiedergegeben. »Der gute und der böse Fürst« heißt das eine:

Was ist der gute Fürst? Ein Schäferhund,
Der die Wölfe verscheucht. Und der schlechte Fürst? Selbst ein Wolf.

»Der Unterschied zwischen einem Tyrannen und einem Fürsten« ist ein anderes betitelt:

Wodurch unterscheidet sich
Der gesetzliche König vom scheußlichen Tyrannen?
Der Tyrann hält seine Untertanen für seine Sklaven,
Der König hält sie für seine Kinder.

Diese Unterscheidung erinnert an die Fiktionen der Konstitutionellen, die den König herrschen, aber nicht regieren lassen. Zwischen den konstitutionellen Theoretikern zum Beispiel des Julikönigtums und More besteht jedoch ein Unterschied. Jene nahmen ihre Zuflucht zu Fiktionen, um den Widerspruch zu verdecken, daß die Konsequenz ihres theoretischen Standpunktes die Republik war, indes ihre Augenblicksinteressen sie zu einem bestimmten König zogen. More bedurfte seiner Fiktion, um seine theoretische Überzeugung von der Notwendigkeit der Monarchie vereinbaren zu können mit dem Hasse, den er gegen die Tyrannei des herrschenden Königs, zur Zeit der Abfassung seiner Epigramme noch Heinrich VII., empfand. Die Fiktion der Konstitutionellen war ein Ausfluß feigen Opportunismus; die Mores ein Ergebnis trotziger Opposition. Wie wenig More sich von dem Schreckensregiment der Despoten seiner Zeit einschüchtern ließ, einem Schreckensregiment, das seiner Unberechenbarkeit wegen die strengste Selbstzensur erzwang, ersieht man zum Beispiel aus dem Epigramm: »Des Volkes Wille verleiht und nimmt die Königswürde«:

Wer immer an der Spitze vieler Männer steht,
Er verdankt es denen, an deren Spitze er steht.
Auf keinen Fall darf er ihnen länger vorstehen,
Als die wollen, denen er vorsteht.
Was brüsten sich also machtlose Herrscher?
Sie besitzen ihr Amt doch nur auf Kündigung (precario).

Ebenso keck ist folgendes Epigramm über die »Herrschsucht«:

Unter vielen Königen findet man kaum einen
– Wenn man einen findet –, dem sein Reich genügt.
Unter vielen Königen findet man kaum einen
– Wenn man einen findet –, der sein Reich zu regieren verstünde.

Von welchen Gedanken sein Geist erfüllt war, ersieht man daraus, daß er einen Dialog Lucians, den »Tyrannenmörder«, aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzte und eine Antwort darauf schrieb.Thomae Mori Dialogi Lucianei e Graeco in Latinum sermonem conversi, adjecta declamatione qua Luciani Tyrannicidae respondetur. Die Fabel des »Tyrannenmörders« ist folgende: Jemand war in der Absicht, den alten Tyrannen zu töten, in dessen Burg gegangen. Er traf statt des Vaters den Sohn und ermordete diesen, ließ aber sein Schwert in der Leiche zurück. Der Tyrann kommt, sieht seinen Sohn tot daliegen, gerät in Verzweiflung und tötet sich selbst mit dem Schwerte des Mörders. Dieser begehrt nun den jedem Tyrannenmörder gebührenden Lohn. More führte in seiner Antwort aus, der Mörder habe keinen Anspruch auf eine Belohnung, da er den Tyrannen nicht getötet habe. »Wenn ich dafür eintrete«, sagte er, »daß dir, dem angeblichen Tyrannenmörder, dein Lohn nicht ausbezahlt werde, so tue ich es nicht deswegen, weil ich über den Tod des Tyrannen weine. Hättest du ihn wirklich erschlagen, dann würde ich nicht Klage führen, sondern vielmehr dich preisen, dich bewundern, dir den Lohn zuerkennen. Gerade deswegen trete ich gegen dich auf, weigere dir den Ehrensold und führe Klage gegen dich, weil du den Tyrannen nicht erschlagen hast

Die pfäffischen Biographen Mores suchen natürlich die Beschäftigung Mores mit einem solchen Thema als bloßem grammatikalischem Interesse entsprungen darzustellen. Der katholische Audin, der einen Kommentar zu der 1849 in Paris erschienenen französischen Übersetzung der Morebiographie des Stapleton schrieb, sieht sich jedoch gezwungen, zu erklären: »Der ›Tyrannenmörder‹ ist ein politisches Glaubensbekenntnis. More haßt den Despotismus; er glaubt nicht an das göttliche Recht; er ist bereit, jeden freizusprechen, der sich gegen einen schlechten Fürsten erhebt.« Auch uns scheint die Beschäftigung mit dem »Tyrannenmörder« keine bloße Stilübung zu sein, sondern diese nur der Vorwand, um Dinge sagen zu können, die in anderer Form nicht gesagt werden konnten.

3. More der Vertreter des Londoner Bürgertums.

Bald hatte More Gelegenheit, zu beweisen, daß sein »Männerstolz vor Fürstenthronen« mehr sei als eine deklamatorische Phrase. Sechsundzwanzig Jahre alt, wurde er von einem Wahlkreis, dessen Name nicht überliefert ist, wahrscheinlich London selbst, ins Parlament gewählt, das Heinrich VII. berief, um einen gesetzlichen Vorwand zur Ausplünderung des Volkes von ihm zu erlangen. Das vorhergehende Parlament von 1496/97 hatte dem König ohne Zögern zwei Fünfzehnte wegen des Krieges bewilligt, der mit Schottland drohte. Der Fünfzehnte war eine Eigentumssteuer von bestimmtem Betrag, den die Grafschaften (Counties), Städte und Flecken, sowie der Klerus aufzubringen hatten. 1500 berechnete der venetianische Gesandte in England den Ertrag eines Fünfzehnten auf 37930 Pfund Sterling. Zu demselben Ergebnis kommt Seebohm. (Oxford Reformers, 2. Auflage, S. 145.)

Mit der Nachgiebigkeit des Parlaments wuchs die Habsucht des Königs. Er verlangte vom Parlament von 1504/05, in dem More saß, die Gewährung von drei Fünfzehnten, nach Roper. Es ist jedoch möglich, daß dieser sich irrte. Andere geben eine geringere Forderung an. Die Summe sollte angeblich teils zur Ausstattung seiner Tochter Margarete dienen, die mit dem König von Schottland vermählt wurde, teils ihm gebühren als Beitrag anläßlich des Ritterschlags seines Sohnes Artur. Um die Unverschämtheit dieses Verlangens würdigen zu können, muß man wissen, daß die Verpflichtung, dem König einen Beitrag anläßlich des Ritterschlags eines Sohnes zu geben, aus der Feudalverfassung stammte und längst außer Übung gekommen war; sie wurde das letztemal gewährt in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts, als Eduard III. Sohn, der schwarze Prinz, zum Ritter geschlagen wurde, überdies war aber Artur bereits 1502 in zartem Alter gestorben!

Trotzdem schien das Parlament nicht übel Lust zu haben, die Forderung zu bewilligen. Die Bill hatte schon zwei Lesungen passiert, da, »bei der letzten Debatte, führte More solche Argumente und Gründe dagegen vor, daß des Königs Forderung abgelehnt wurde. Einer von des Königs Geheimräten, ein gewisser Tyler, der anwesend war, eilte zum König aus dem Parlament und sagte ihm, ein bartloser Knabe habe alle seine Bestrebungen vereitelt.« So erzählt uns Roper. Leider ist der Vorgang nicht ganz aufgehellt. Gewiß ist, daß die Forderung Heinrichs VII. nicht gänzlich abgelehnt, sondern nur beschnitten wurde, und daß er sich mit 30 000 Pfund Sterling begnügte, »aus überschwenglicher Gnade und zarter Liebe für seine Edlen und Untertanen«.

Heinrich VII. war, wie man sich denken kann, wütend über den jungen Oppositionsmann. Zunächst hielt er sich an den Vater, da der Sohn kein Vermögen besaß, das er hätte konfiszieren können. Er sperrte den alten John More in den Tower ein und erpreßte von ihm ein Lösegeld von 100 Pfund Sterling. Aber seine Rache war damit nicht befriedigt. Der junge Politiker mußte sich vom öffentlichen Leben zurückziehen und sich verborgen halten, um dem Zorne des Tyrannen zu entgehen. In diese Zeit darf man wohl seinen Aufenthalt im Kloster und seine Absicht, Mönch zu werden, setzen. Damals trug sich More auch mit der Absicht, auszuwandern.

Der König vergaß nach einiger Zeit den »bartlosen Knaben«. More mußte sich jedoch hüten, des Königs Aufmerksamkeit neuerdings auf sich zu ziehen, und dem Parlament fernbleiben. Daß er aber in dieser Zeit nicht untätig war, geht daraus hervor, daß er unmittelbar nach dem Tode Heinrichs VII., 1509, Untersheriff in London wurde, eine Beförderung, die beweist, daß er sich als Jurist einen guten Namen erworben hatte. In diesem Amte muß er sich bald das Vertrauen seiner Mitbürger, gleichzeitig aber ein tiefes Verständnis der ökonomischen Situation seines Landes erworben haben, denn bald finden wir ihn als Vertrauensmann der Londoner Kaufleute in wichtigen Missionen tätig. »Wegen seiner Gelehrsamkeit, seiner Weisheit, seiner Kenntnisse und seiner Erfahrung schätzte man ihn so hoch«, erzählt uns Roper, »daß er, ehe er noch in die Dienste König Heinrichs VIII. trat, auf das dringende Ansuchen der englischen Kaufleute mit des Königs Zustimmung zweimal Gesandter wurde zur Schlichtung gewisser wichtiger Differenzen zwischen ihnen und den Kaufleuten des Steelyard«, das heißt den Hanseaten, wie wir wissen. Der Schluß dieser Stelle beruht auf einer Verwechslung Ropers. Streitigkeiten mit den Hanseaten hatte More erst später zu schlichten. Richtig ist es dagegen, daß die englischen Kaufleute es waren, die seine Ernennung zum Gesandten durchsetzten. Die erste dieser Gesandtschaften fiel in das Jahr 1515. More erzählt uns davon selbst im Beginn des ersten Buches seiner »Utopia«: »König Heinrich VIII., der siegreiche und ruhmvolle König von England, der mit allen Tugenden eines guten Fürsten geschmückt ist, war vor kurzem in Zwiespalt mit Karl, dem erhabenen König von Kastilien. Zu dessen Beilegung sandte Seine Königliche Majestät mich als Abgesandten nach Flandern, zusammen mit Cuthbert Tunstall, einem unvergleichlichen Manne« usw.

Prinz Karl, der spätere Kaiser Karl V., der Erbe Maximilians, des deutschen Kaisers, und Ferdinands, Königs von Spanien, war schon 1503 als dreijähriger Knabe mit der damals zwei Jahre alten französischen Prinzessin Klaudia verlobt worden. Der Wechsel der diplomatischen Verhältnisse führte bald zum Abbruch dieser Verlobung und zur Verlobung Karls mit Maria, der Schwester des nachmaligen Heinrich VIII. von England, im Jahre 1506; 1514 aber fand es Maximilian vorteilhafter, zur Bekräftigung eines Bündnisses mit Frankreich Karl wieder mit einer französischen Prinzessin, der jüngeren Schwester seiner ersten Braut zu verloben. Der Vater der ersten und dritten Braut, Ludwig XII., heiratete die zweite »verflossene« Braut, die von dem vierzehnjährigen Karl sitzen gelassene englische Prinzessin Maria.

Diese Verlobungsreihe ist charakteristisch für den Absolutismus zur Zeit Mores. Es war die Zeit, in der die zerstreuten Stätlein zu großen Staaten zusammengeheiratet wurden und niemand als ein vollendeter »Staatsmann« gelten konnte, der nicht ein gewandter Heiratsvermittler war.

Heinrich VIII. war natürlich über Maximilians und Karls Untreue sehr erbost. 1515 übernahm der letztere die Regierung der Niederlande und Heinrich hatte nichts Eiligeres zu tun, als ihn, respektive die Niederländer, dadurch zu schädigen, daß er durch das Parlament die Ausfuhr der Wolle nach den Niederlanden verbieten ließ. Bald versöhnte sich jedoch Heinrich wieder mit Karl, auch war das Wollausfuhrverbot für die englischen Kaufleute wohl ebenso unangenehm wie für die Holländer. Daher die Gesandtschaft Mores, um den Handel wieder zu eröffnen. Seine Gesandtschaft war von dem vollsten Erfolge begleitet, und daher wurde er bald zu einem ähnlichen Zweck ausgesandt, 1517 nach Calais, um Streitigkeiten zwischen englischen und französischen Kaufleuten zu schlichten.

More erwies sich so verwendbar und sein Ansehen in London, dieser mächtigen Stadt, ward ein so bedeutendes, daß Heinrich alle Ursache hatte, ihn an seinen Hof zu ziehen. More jedoch lehnte ab. Selbst eine jährliche Pension, die ihm der König anbot, wies er zurück; er fürchtete, wie er an Erasmus schrieb, dadurch das Vertrauen seiner Mitbürger einzubüßen: »Wenn zwischen den Bürgern und Seiner Hoheit ein Zwist wegen ihrer Vorrechte ausbrechen sollte, wie das mitunter vorkommt, könnten sie mir mißtrauen, da ich dem König durch eine jährliche Zahlung verpflichtet sei.« Er war also entschlossen, wenn es zwischen den Londoner Bürgern und dem König zu einem Kampfe kommen sollte, für die Bürgerfreiheit einzutreten.

In der Tat, er hatte keine Ursache, mit Heinrich VIII. zufrieden zu sein. Heinrich VII. war ein gemeiner, knotenhafter Geizhals gewesen, der gierig Gold auf Gold aufhäufte und das Volk aussog, wo und wie er nur konnte. Sein Sohn war liebenswürdig und freigebig, durch seinen Luxus ein Förderer des Handels und der Künste, ein Freund der neuen Wissenschaften, des Humanismus: kurz, ein liberaler Kronprinz, wie er den Idealen seiner Zeit entsprach. Allgemeiner Jubel begrüßte ihn, als er den Thron bestieg. Auch More hoffte, daß jetzt ein Fürst gekommen sei, der sich von den Philosophen leiten lasse, ein Vater des Volkes, nicht ein Sklavenhalter. Er feierte Heinrichs VIII. Krönung mit einem Lobgedicht, in dem allerdings mehr als das Lob des neuen Fürsten die Satire auf den vergangenen hervortritt, und das mit den Worten schließt:

Sei gegrüßt, hocherhabener Fürst,
Und was mehr sagt, Vielgeliebter!

Die ersten Akte der Regierung Heinrichs VIII. waren auch danach angetan, ihn populär zu machen. Vor allem die Hinrichtung zweier Minister seines Vaters, die dessen eifrigste Werkzeuge und Blutsauger des Volkes gewesen waren, Empson und Dudley. Sie konnten sich freilich darauf berufen, daß alles, was sie verübt, nur in Vollziehung der Befehle ihres königlichen Herrn geschehen war.

Bald indessen zeigte sich Heinrichs Politik von einer weniger populären Seite. Er trat der sogenannten »heiligen Ligue« gegen Frankreich bei (1512) und nahm an dem Krieg gegen dieses teil, der bis 1514 dauerte, England sehr viel Geld kostete, sehr wenig Ruhm und gar keine Vorteile einbrachte. Heinrich hatte sich düpieren lassen, für andere Leute die Kastanien aus dem Feuer zu holen, vor allem für Ferdinand den Katholischen von Aragonien, der bei dem »heiligen Krieg« zum Schutze des »heiligen Vaters« die besten Geschäfte machte.

Zu den Kosten des Krieges gesellten sich die eines ausschweifenden Prunkes der Hofhaltung und einer wahnsinnigen Bauwut. Heinrich baute fünfzig Paläste und war so ungeduldig bei deren Herstellung, daß die Arbeiten oft keinen Moment ruhen durften. Er darf wohl den Ruhm in Anspruch nehmen, einer der ersten in England gewesen zu sein, die Nachtarbeit und Sonntagsarbeit in größerem Maßstabe eingeführt haben.

Hatte der Vater das Volk ausgesogen, um Schätze aufzuhäufen, so preßte es der Sohn aus, um seinen ewigen Geldverlegenheiten zu entgehen, und die Geldgier des Verschwenders wurde noch furchtbarer als die des Geizhalses. Die Steuern wuchsen unermeßlich, selbst der ärmste Taglöhner wurde belastet: eines der neuen Steuergesetze bestimmte, daß Arbeiter mit einem Jahreslohn von zwei Pfund einen Schilling, mit einem Lohn von ein bis zwei Pfund sechs Pence und mit einem geringeren Lohn vier Pence Steuer zu zahlen hatten. Außerdem eine Kopfsteuer von einem Schilling pro Kopf!

Dazu kam das beliebte Mittel der Münzverschlechterungen und Münzfälschungen, die natürlich nur vorübergehenden Gewinn abwarfen, sich aber namentlich dann sehr profitabel erwiesen, wenn es galt, Schulden zu bezahlen. Bereits im ersten Jahre seiner Regierung hatte Heinrich den Silbergehalt eines Schillings von 142 auf 118 Gran herabgesetzt.

4. Die politische Kritik der »Utopia«.

Ein Fürst wie Heinrich VIII. war nicht der »Schäferhund, der seine Herde gegen die Wölfe schützt«, sondern der Wolf selbst. More fühlte sich tief enttäuscht. In dieser Stimmung schrieb er seine »Utopia«.Das Haus, in dem die »Utopia« wahrscheinlich verfaßt wurde, steht heute noch und ist – ein Wirtshaus, eine der Sehenswürdigkeiten von London, die Crosby Hall, in der Bishopsgate Street, gebaut 1466. Wenige Jahre nach Eingehung seiner ersten Ehe, die in das Jahr 1505 fiel, kaufte More das Haus, um es 1523 an Antonio Bonvisi, einen Kaufmann von Lucca, mit dem er persönlich befreundet war, wieder zu veräußern. Das Jahr, in dem er es erwarb, steht nicht fest; wahrscheinlich fällt es vor 1515. Vergl. Charles Knight, London. 1. Band, S. 322. Im zweiten Buche legte er dar, wie glücklich ein Staat sein könnte, wenn er vernünftig regiert und organisiert sei. Im ersten zeigte er, wie schlecht die Staaten in Wirklichkeit regiert würden, an welchen Gebrechen vor allem Heinrichs Regime leide. Dies Buch ist ein wichtiges Dokument für die ökonomische und politische Situation des Anfangs des sechzehnten Jahrhunderts, wichtig für die Kennzeichnung Mores als Politiker. Wir müssen daher näher darauf eingehen.

Bei der Beurteilung des Buches darf man sich durch die ehrfurchtsvollen Titel, die dem König mitunter erteilt werden, ebensowenig irre machen lassen, als etwa bei der Beurteilung der Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts durch die Reverenz, die sie gelegentlich dem Christentum erwiesen. Hier wie dort bestand die Kunst des oppositionellen Kritikers darin, zwischen den Zeilen das Gegenteil von dem lesen zu lassen, was auf ihnen geschrieben stand.

So hat auch More in der »Utopia« die Vertretung seines Standpunktes einem anderen, Raphael Hythlodäus, überlassen, indes er sich selbst einführt als teilweiser Gegner seiner Auffassung. Aber nicht das, was More, sondern was Raphael sagt, ist bedeutend. More erzählt, wie er Raphael in Brügge gelegentlich seiner Gesandtschaft nach Flandern getroffen. Er und sein Freund Peter Giles fordern Raphael auf, in die Dienste eines Königs zu treten. Dieser lehnt es ab und erörtert weitläufig seine Gründe. Die betreffenden Absätze verdienen wörtlich wiedergegeben zu werden:

»In der Tat, Meister Raphael«, sagte Peter, »es wundert mich sehr, daß du nicht an den Hof eines Königs gehst. Denn ich bin überzeugt, daß es keinen König gibt, dem du nicht sehr lieb und wert würdest, da du ihn durch dein tiefes Wissen und deine Kenntnis fremder Länder und Völker nicht nur unterhalten, sondern auch belehren und beraten könntest. So wirst du dir selbst und deinen Freunden und Verwandten nützen können.«

»Meine Freunde und Verwandten machen mir wenig Sorgen«, erwiderte Raphael. »Ich glaube meiner Pflicht ihnen gegenüber völlig genügt zu haben. Denn ich habe in der Vollkraft meiner Jugend unter sie verteilt, was andere ängstlich festhalten, bis sie alt und siech sind, an was sie sich noch anklammern, wenn sie scheiden müssen. Ich denke, sie können mit meiner Freigebigkeit zufrieden sein und dürfen nicht erwarten, daß ich ihretwegen den Knechtsdienst bei einem Könige auf mich nehme.«

»Gemach, mein Freund«, sagte Peter, »du sollst dem König nicht dienen, sondern ihm Dienste erweisen.«

»Dazwischen sehe ich keinen großen Unterschied«, erwiderte der andere.Es handelt sich im lateinischen Original bei dieser Stelle um ein unübersetzbares Wortspiel zwischen servire und inservire.

»Wie immer du die Sache nennen magst«, sagte Peter, »ich glaube, es ist der richtige Weg, nicht nur anderen zu nützen, sondern auch dich selbst glücklich zu machen.«

»Ich sollte glücklicher werden auf einem Wege, vor dem ich zurückschrecke?« rief Raphael. »Ich lebe jetzt, wie es mir gefällt, und ich glaube nicht, daß das für viele Purpurträger gilt. Überdies gibt es genug Leute, die nach der Gunst der Mächtigen streben, und ich glaube nicht, daß es ein großer Verlust ist, wenn ich und vielleicht noch ein paar andere nicht darunter sind.«

»Darauf erwiderte ich (More selbst): Ich sehe, mein Raphael, du verlangst weder nach Reichtum noch nach Macht. Und fürwahr, ich achte einen Mann wie dich nicht weniger als irgend einen der Machthaber. Aber es würde deiner Weisheit und deinem hohen Geist wohl anstehen, Wissen und Kraft dem Wohle des Gemeinwesens zu widmen, wenn es auch Unbequemlichkeit und Mißvergnügen bereitet. Du kannst aber dem Gemeinwesen nicht wirksamer nützen, als im Rate eines Fürsten, den du zu gutem und ehrenhaftem Handeln antreibst, woran ich nicht zweifle. Denn die Fürsten sind die Quellen des Guten und des Bösen, das den Völkern zuteil wird. Deine Gelehrsamkeit ist so groß, daß du ohne die geringste Erfahrung, deine Erfahrung so groß, daß du ohne jegliche Gelehrsamkeit einen ausgezeichneten Ratgeber für einen König abgeben würdest.«

»Lieber More, du bist in einem doppelten Irrtum befangen, in bezug auf mich und in bezug auf die Verhältnisse. Ich bin weder so begabt, wie du mir einreden willst, und wenn ich's noch so sehr wäre, so würde das Opfer meiner Ruhe dem Gemeinwesen doch nichts nützen. Denn erstens erfreuen sich die meisten Fürsten mehr am Kriegswesen, wovon ich nichts verstehe und auch nichts zu verstehen verlange, als an Werken des Friedens. Und sie streben eifriger danach, neue Reiche durch Recht oder Unrecht zu erwerben, als diejenigen, die sie besitzen, gut zu verwalten. Und von den Ministern der Könige ist jeder entweder so weise, daß er eines Rates nicht bedarf, oder er dünkt sich so weise, daß er keinen hören will; nur einen, der beim Fürsten hoch in Gunst steht, den hören sie zustimmend an, um sich einzuschmeicheln, mag er auch das ungereimteste Zeug schwätzen. Und es ist ja ganz natürlich, daß jeder Mensch seine eigenen Ideen für die besten hält. Auch dem Raben und dem Affen erscheinen ihre Jungen als die schönsten. Wenn unter solchen Leuten, von denen die einen auf jede fremde Idee eifersüchtig sind, die anderen die ihren für die besten halten, jemand etwas empfiehlt, von dem er in der Geschichte gelesen, oder das er anderswo gesehen, da tun die Hörer so, als ob das ganze Ansehen ihrer Weisheit auf dem Spiel stände und sie als Narren gelten würden, wenn sie nicht die Ideen anderer Leute schlecht fänden. Und wenn alle anderen Einwände nicht verfangen, dann bleibt ihnen immer noch einer: Das Bestehende gefiel unseren Vorfahren; wären wir nur so weise wie sie. Und sie setzen sich nieder mit einer Miene, als sei damit die Sache trefflich erledigt. Man könnte glauben, daß nichts gefährlicher wäre, als in irgend einem Punkte weiser zu sein als unsere Väter waren. Freilich lassen wir alles, was sie wirklich gut eingerichtet hatten, in Vergessenheit geraten, sobald es sich aber um eine Verbesserung handelt, dann klammert man sich an sie an.«

Nun folgt die Erzählung einer Episode beim Erzbischof Morton, aus der wir bereits eine Stelle mitgeteilt haben. Dann geht die Unterredung über das Thema weiter fort, indem More wieder erklärt: »Trotz alledem beharre ich bei meiner Ansicht, daß du mit deinen guten Ratschlägen das Gemeinwesen fördern wirst, wenn du es über dich bringen kannst, an den Hof eines Fürsten zu gehen. Dem Gemeinwesen zu nützen ist aber deine Pflicht, wie die jedes tüchtigen Mannes. Wenn dein Plato recht hat, daß die Völker nur dann glücklich werden können, wenn die Philosophen Könige oder die Könige Philosophen werden, wie weit sind wir dann vom Glück entfernt, wenn die Philosophen es unter ihrer Würde finden, die Könige zu beraten und aufzuklären!«

»Die Philosophen sind nicht so selbstsüchtig«, erwiderte Raphael, »daß sie das nicht gerne täten, ja, viele haben es bereits getan in Büchern, die sie Herausgaben, in denen Könige und Fürsten genug gute Ratschläge fänden, wenn sie nur die Absicht hatten, ihnen zu folgen. Plato wußte das jedenfalls sehr gut, daß die Könige sich um die Ratschläge der Philosophen nicht kümmern würden, wenn sie nicht selbst zu denken anfingen; werden sie doch von Jugend an von verkehrten Anschauungen angesteckt und verdorben. Wie wahr dies sei, erfuhr Plato selbst beim König Dionysius.

»Wenn ich einem König heilsame Gesetze vorschlagen und mich bemühen würde, aus seinem Herzen die verderblichen Wurzeln des Schlechten auszurotten, glaubst du nicht, daß ich alsbald fortgejagt oder ausgelacht würde?

»Nehmen wir an, ich wäre am Hofe des Königs von Frankreich und säße in seinem Rate. Eine ganz geheime Ratsitzung finde statt, vom König selbst präsidiert: um was handelt es sich da? Man sucht herauszufinden, durch welche Schliche und Ränke der König Mailand behalten, das abtrünnige Neapel wieder an sich ziehen, wie er die Venetianer schlagen und ganz Italien unter seine Oberhoheit bringen könnte; wie Flandern, Brabant und schließlich ganz Burgund zu gewinnen seien, und andere Länder, auf die er schon lange ein Auge geworfen. Der eine rät, ein Bündnis mit den Venetianern einzugehen, das so lange dauern solle, als es vorteilhaft sei, gemeinsame Sache mit ihnen zu machen, und ihnen einen Anteil an der Beute zukommen zu lassen, den man wieder nehmen könne, wenn man mit ihrer Hilfe sein Ziel erreicht habe. Ein zweiter hält es für vorteilhaft, deutsche Landsknechte zu mieten, ein dritter möchte die Schweizer mit Geld gewinnen. Ein anderer wieder rät, die Zuneigung des mächtigen Kaisers mit Gold zu erkaufen. Dann schlägt wieder einer vor, Frieden mit dem König von Aragonien zu machen und ihm als Friedenspfand das Königreich Navarra abzutreten. Schließlich hält es einer für das vorteilhafteste, den König von Kastilien zu angeln, indem man ihm eine Verschwägerung oder Allianz in Aussicht stellt, und einige Große an seinem Hofe durch Aussetzung von Pensionen zu gewinnen. Am meisten macht es ihnen Kopfschmerzen, was in der Zwischenzeit mit England anzufangen. Alle sind darin einig, man müsse mit den Engländern Frieden schließen und die stets schwache Freundschaft mit ihnen durch die stärksten Bande befestigen; man müsse sie Freunde nennen, müsse ihnen aber gleich Feinden mißtrauen. Daher sollten die Schotten bereit gehalten werden, sich auf die Engländer zu werfen, sobald diese sich rühren wollten. Und heimlich – denn öffentlich geht's nicht wegen des Friedensvertrags – müsse man irgend einen verbannten Edelmann von England unterstützen, der Ansprüche auf die Krone dieses Königreichs erheben solle, so daß er eine beständige Gefahr für den König von England bilde und diesen im Zaume halte.

»Wohlan, in einer solchen Versammlung, wo so viele vornehme und gelehrte Männer ihrem König nichts raten als Krieg, welche Wirkung hätte es da, wenn ich Menschlein auftreten würde und erklären, daß das Staatsschiff in einer anderen Richtung zu steuern sei; daß mein Rat dahin gehe, Italien in Ruhe zu lassen und hübsch zu Hause zu bleiben; daß Frankreich bereits fast zu groß sei, um von einem einzigen Manne gut regiert werden zu können, daß der König also nicht danach trachten solle, sein Gebiet zu erweitern; und wenn ich dann etwa ein Verfahren vorschlüge, gleich dem der Achorier,Das Wort ist gebildet aus dem griechischen chora = das Land, und der verneinenden Partikel a; Achoria bedeutet daher ähnlich wie Utopia: Unland. die südöstlich von der Insel Utopia wohnen.

»Diese führten einmal Krieg für ihren König, ihm ein anderes Königreich zu erobern, auf das er Erbansprüche infolge einer alten Verbindung hatte. Als sie es schließlich gewonnen hatten, sahen sie, daß ihnen dessen Behauptung ebensoviel Schwierigkeiten bereite wie dessen Eroberung. Bald rebellierten die neuen Untertanen, bald litten sie unter einem Einfall feindlicher Nachbarn, so daß man ununterbrochen unter den Waffen zu stehen hatte, entweder für sie oder gegen sie. Auf diese Weise verarmten sie selbst; ihr Geld ging aus dem Lande, ihre Männer wurden erschlagen, um des Schattens des Ruhmes willen. Hatten sie keinen Krieg, dann einen Frieden, der nicht besser war; hatten doch die vielen Kriege das Volk so verroht, daß es ein Vergnügen an Raub und Diebstahl fand. Die Metzeleien hatten es kühn zu Untaten gemacht und die Gesetze wurden mißachtet, da der König, mit der Verwaltung zweier Königreiche belastet, keines der beiden ordentlich verwalten konnte. Als die Achorier sahen, daß alle diese Übel kein Ende nehmen wollten, taten sie sich zusammen und stellten ihren König in der höflichsten Weise vor die Wahl, welches der beiden Königreiche er behalten wolle; er sei nicht imstande, beide zu behalten, und ihrer wären zu viele, als daß sie von einem halbierten König regiert werden könnten: würde doch niemand in Gemeinschaft mit einem anderen auch nur einen gemeinsamen Eselsknecht halten. So mußte denn der gute Fürst sich mit seinem alten Königtum begnügen und das andere einem seiner Freunde geben, der bald nachher vertrieben wurde.

»Wenn ich solche Beispiele vorfühlte und weiter dem König erklärte, daß diese eifrigen Kriegsvorbereitungen, die so viele Nationen seinetwegen beunruhigen, seine Kassen leeren, seine Schätze vergeuden und sein Volk ruinieren, schließlich doch durch irgend ein Mißgeschick nutzlos sein würden, und daß es für ihn am sichersten sei, sich mit seinem ererbten Reiche zu begnügen, diesem Lande seine Sorgfalt zuzuwenden, es zu bereichern und es so blühend als möglich zu machen, danach zu streben, seine Untertanen zu lieben und von ihnen geliebt zu werden, unter ihnen zu leben, sie milde zu regieren, sich um andere Reiche nicht zu kümmern, da das seine groß genug und fast zu groß für ihn sei; wenn ich solchen Rat erteilte, wie würde der wohl aufgenommen werden, lieber More?«

»Wahrlich, nicht allzu günstig«, erwiderte ich.

»Fahren wir fort«, sagte er. »Nehmen wir an, der König und seine Räte säßen zusammen und strengten ihren Witz an, um herauszufinden, durch welche schlauen Kniffe der König bereichert werden könnte. Einer rät, der König solle den Nennwert des Geldes über seinen wirklichen Wert erhöhen, wenn er etwas zu zahlen habe, und ihn wieder herabsetzen, wenn er etwas zu erhalten habe, so daß er große Summen mit wenig Geld zahlen könne und viel Geld erhalte, wenn kleine Summen ihm geschuldet seien.Die ärgsten Finanzschwindeleien Heinrichs VIII. hat More nicht mehr erlebt. Heinrich begann sein Regime gleich mit einer Geldverschlechterung. Weitere Fälschungen nahm er erst nach Mores Tode vor. Es fehlt uns leider jeder Anhaltspunkt, um entscheiden zu können, ob und inwieweit More das zeitweilige Aufhören der Münzfälschungen beeinflußt hat. Tatsache ist, daß sie sich später um so rascher wiederholten. Der Silbergehalt des Schillings betrug bei Heinrichs Regierungsantritt 142 Gran. Er wurde herabgesetzt
    1509 auf 118 Gran
    1543 auf 100 Gran
    1545 auf 60 Gran
    1546 auf 40 Gran
»Eine wertlose Legierung«, fügte Anderson zu den beiden letzten Daten hinzu (Origin of commerce, 1. Band, S. LXX).

Ein anderer schlägt vor, viel Geschrei von einer bevorstehenden Kriegsgefahr zu erheben. Habe der König unter diesem Vorwand eine große Summe Geldes eingetrieben, dann könne er mit großer Feierlichkeit den Frieden für gesichert erklären und so dem guten Volke Sand in die Augen streuen, als habe er den Frieden nur herbeigeführt, um als gnädiger und liebevoller Fürst der Vergießung von Menschenblut vorzubeugen.More hat mit der Beschreibung dieses Kniffs nicht etwa künftige Ereignisse vorausgeahnt, sondern beschrieben, was er selbst erlebt. 1492 tat Heinrich VII., als sei England von Frankreich bedroht; er begann große Rüstungen und berief ein Parlament ein, von dem er sich eine neue Steuer bewilligen ließ, die den schönen Namen Benevolence (Liebesgabe) führte. Durch seine Rüstungen setzte er Frankreich so in Schrecken, daß dieses den Frieden erkaufte – den Heinrich niemals ernstlich zu stören die Absicht gehabt hatte. So verstand es dieser große »Staatsmann«, durch Kriegsgeschrei und Friedensliebe am rechten Orte Freund und Feind zu schröpfen. Die Stadt London allein hatte als »Benevolence« 9000 Pfund Sterling aufgebracht. Von Frankreich erhielt Heinrich 745 000 Dukaten und eine jährliche Pension von 25 000 Kronen. (Cobbetts Parliamentary History of England from the Norman Conquest in 1066 to the year 1803. London 1806. I. Band, S. 462 ff.) Ein anderer erinnert den König an alte, mottenzerfressene Gesetze, die längst vergessen sind und die jedermann übertritt, da niemand von ihrem Bestand eine Ahnung hat. Er rät dem König, die Geldstrafen einzuziehen, die auf der Übertretung dieser Gesetze stehen, da kein Verfahren so einträglich und gleichzeitig so ehrenvoll sei, als das im Namen der Gerechtigkeit. Ein anderer wieder hält es für vorteilhaft, eine Menge von Handlungen mit schweren Strafen und Geldbußen zu belegen, namentlich solche, die dem Volke schädlich sind, und für Geld allen denen eine Dispens zu erteilen, die durch diese Verbote beeinträchtigt werden. Dadurch erwerbe man die Gunst des Volkes und gewinne gleichzeitig Geld auf doppelte Weise: erstens durch die Geldstrafen derjenigen, die in blinder Habgier das Gesetz übertreten, und zweitens durch den Verkauf des Privilegiums, dies Gesetz zu übertreten, wobei der Fürst um so besser dastehe, je teurer er dies Privilegium verkaufe; er bekomme nicht nur mehr, sondern gewinne noch den Anschein, als könne er sich nur schwer entschließen, das Wohl des Volkes irgend jemandem preiszugeben.Wir glauben, daß More hier namentlich die Gesetzgebung zum Schutze der Bauern vor den Großgrundbesitzern vor Augen hatte, die damals anfingen, das Gemeindeland der Bauern für sich in Beschlag zu nehmen und diese von ihren Gütern zu verjagen. Seit Heinrich VII. wurden strenge Gesetze gegen die Expropriation der Bauern erlassen, welche den König bei diesen populär machten und – die großen Grundbesitzer zwangen, sich die Dispens zur Übertretung des Gesetzes von ihm oder seinen Günstlingen zu erkaufen, das heißt, vom erwarteten Ertrag des Landdiebstahls einen Anteil von vornherein an den Landesvater abzuliefern. Ein großer Teil des Reichtums Wolseys soll auch aus dieser Quelle geflossen sein. Kurz vor der Abfassung der »Utopia« war ein Alt erlassen worden (1514), der die Umwandlung von Ackerland in Weidegründe verbot.

»Wieder einer rät dem König, die Richter von sich abhängig zu machen, so daß sie immer für ihn entschieden. Ja, er solle sie an seinen Hof berufen und verlangen, daß sie ihn betreffende Angelegenheiten in seiner Gegenwart verhandeln. Und wenn er noch so offenkundig im Unrecht wäre, es würde sich dann immer einer finden, der entweder aus Widerspruchsgeist oder um sich den Dank seines Fürsten zu verdienen, irgend eine Schlinge entdeckte, in der man die Gegenpartei fangen könnte. Wenn so die Richter sich nicht einigen können und Dinge diskutieren, die klar zutage liegen, und die offenbare Wahrheit bezweifeln, dann geben sie dem König eine gute Gelegenheit, das Gesetz zu seinen Gunsten auszulegen: worauf ihm die anderen Richter aus Scham oder Furcht zustimmen. Die Richter können dann mit kecker Stirn für den König entscheiden: um eine Begründung ihres Urteils brauchen sie nicht verlegen zu sein; entweder können sie sich auf die Billigkeit berufen, oder auf den Buchstaben des Gesetzes, oder auf eine gedrehte und gewundene Auslegung desselben oder, was bei gewissenhaften Richtern mehr gilt als alle Gesetze, auf die besonderen Rechte, Prärogative des Königs.

»Alle Räte sind einstimmig der Ansicht des Crassus, daß ein Fürst nie genug Geld haben kann, der eine Armee zu erhalten hat; ferner, daß ein König nie Unrecht tun kann, selbst wenn er wollte, da ja alles, was seine Untertanen besitzen, ja diese selbst sein Eigentum sind, und jeder alles, was er besitzt, der Gnade seines Königs verdankt, der es ihm gelassen. Und daß es des Königs Interesse und Sicherheit ist, daß seine Untertanen wenig oder nichts besitzen, da Wohlstand und Freiheit das Volk trotzig machen, so daß es sich harten und ungerechten Geboten nicht fügt, daß hingegen Not und Elend seine Kraft brechen und es geduldig machen, indem sie den Gedrückten die Kühnheit und das Selbstbewußtsein rauben.«

Auf welchen Erfolg hätte ich mit meinen Grundsätzen unter solchen Räten des Königs zu rechnen? fragt Raphael.

Der ganze Passus ist eine vernichtende Satire auf das Königtum der damaligen Zeit. Er bildet das politische Glaubensbekenntnis Mores, seine Rechtfertigung, warum er sich vom Hofe fernhielt.

5. More, der Tyrannenhasser, tritt in des Königs Dienste.

Zwei Jahre, nachdem More die »Utopia« geschrieben, finden wir ihn am Hofe, am Beginn jener kurzen aber glänzenden Laufbahn, die ihn in nicht viel mehr als einem Jahrzehnt zur höchsten Würde im Reiche nach dem König, der eines Reichskanzlers (Lord Chancellor), führen sollte. Was ist in diesen zwei Jahren geschehen, um in More eine solche Sinnesänderung hervorzurufen? Wir sind bloß auf Vermutungen darüber angewiesen. Unseres Erachtens ist der Schlüssel zur Umwandlung Mores in dem Erfolg zu suchen, den die »Utopia« hatte.

Dieser war ein enormer, nicht nur in der Gelehrtenwelt, sondern auch unter den Staatsmännern. Wir werden im nächsten Abschnitt darauf noch zurückkommen. Daß die »Utopia« Mores Einfluß in London selbst sehr steigerte, dürfen wir wohl annehmen, wenn wir auch keinen direkten Beweis dafür haben. Sein Kommunismus schreckte niemanden, denn es gab damals noch keine kommunistische Partei; seine Kritik des Absolutismus, seine Forderung, der König habe viel mehr als für den Krieg, für den Wohlstand seiner Untertanen zu sorgen, diese Forderung sprach offen und kühn aus, was das aufstrebende Bürgertum und der Humanismus ersehnten. In der Feudalzeit war der König vor allem Führer im Kriege gewesen; in das ökonomische Getriebe hatte er sich nicht einzumischen, das vollzog sich in der Markgenossenschaft ohne sein Zutun. Der moderne König, der König der Bourgeoisie, sollte vor allem dafür sorgen, daß das Bürgertum sich bereichere. Es war nicht dem Kriege als solchem abgeneigt, wohl aber jedem Kriege, der nicht im Interesse des Handels lag. Und zu solchen Kriegen hatte sich Heinrich aus bloßer Eitelkeit und beeinflußt von feudalen Traditionen herbeigelassen. Da mußten Mores Ausführungen im Bürgertum ein williges Ohr finden.

Der Kommunismus Mores war für die Humanisten und das Bürgertum eine anmutige Schwärmerei; seine Kritik der herrschenden politischen Verhältnisse war ihnen aus der Seele gesprochen.

Daraus erklärt sich die große Wirkung der »Utopia« auf ihre Zeitgenossen, eine Wirkung, der sich auch Heinrich VIII. nicht entziehen konnte. More hatte mit seiner »Utopia« ein politisches Programm entworfen, das allgemeinen Beifall errang, er war damit in die erste Reihe der englischen Politiker getreten. Wenn er auch wollte, er konnte jetzt dem Hofe nicht länger fern bleiben, gerade wegen seiner kühnen Kritik des bestehenden Absolutismus. More hatte damit aufgehört, ein bloßer Privatmann zu sein; er, der Liebling Londons, der England beherrschenden Stadt, der Liebling der Humanisten, die damals die öffentliche Meinung machten, er war ein politischer Faktor geworden, den man gewinnen oder vernichten mußte. Heinrich hatte schon früher versucht, More zu gewinnen; jetzt bot er alles auf, ihn in seine Dienste zu ziehen. Die Ablehnung einer solchen Aufforderung, wenn sie dringend gestellt war, bedeutete damals die Feindschaft des allmächtigen Königs, sie war gleichbedeutend mit Hochverrat, sie zog oft die Hinrichtung nach sich. Der Absolutismus wollte eine private Opposition ebensowenig dulden als eine öffentliche, er verfuhr nach dem Grundsatz: wer nicht für mich ist, ist wider mich.

Wurde also infolge der »Utopia« der Druck, der auf More geübt wurde, um seine Abneigung gegen den Hof zu überwinden, ein viel stärkerer als er bis dahin gewesen, so wurde andererseits diese Abneigung selbst eine schwächere. Wir haben allen Grund, anzunehmen, daß der Eindruck, den die »Utopia« machte, so groß war, daß Heinrich sich genötigt sah, Konzessionen zu machen und sein bedrücktes Volk zu entlasten. Sicher ist es, daß Heinrich VIII. wenige Monate nach dem Erscheinen der »Utopia« seine Kriegspolitik aufgab und einen Teil seiner französischen Eroberungen zurückstellte. Im Februar 1518 wurde Tournay an Frankreich zurückgegeben und eine Ehe zwischen dem Dauphin (französischen Kronprinzen) und Heinrichs Tochter Maria verabredet. Die Eroberungskriege Englands in Frankreich, dieses traditionelle Überbleibsel aus der Feudalzeit, hatten damit aufgehört.

Bereits 1516 war auch der Kardinal Wolfey Lordkanzler geworden, ein den Humanisten wohlgewogener Mann; Seebohm schließt aus verschiedenen Gründen, daß Wolfey zugegeben habe, die Grundsätze der »Utopia« müßten wenigstens insoweit durchgeführt werden, daß man die jährlichen Ausgaben beschränke.

Friedenspolitik, Sparsamkeit, Zuneigung zum Humanismus: diese Aussichten bot damals der Hof Heinrichs VIII. Sie waren trügerisch, aber sie waren da. Sollte unter diesen Umständen More in seinem Widerstreben beharren, das ihm den Kopf kosten konnte? Sollte er nicht vielmehr den Versuch wagen, trotz aller seiner Bedenken eine praktische Tätigkeit zu entfalten? Hatte er von seinem Standpunkt aus eine andere Möglichkeit dazu, als am Hofe seines Fürsten? Sollte Heinrich VIII. nicht vielleicht doch vernünftigen Mahnungen zugänglich sein? Und war es nicht besser, den Versuch zu machen, als tatenlos die Faust im Sacke zu ballen und bloße Utopien zu schreiben?

Nur dieser Gedankengang und die Wirkungen der »Utopia« machen unseres Erachtens die Schwenkung Mores verständlich, die uns sonst ein Rätsel bleibt bei einem Charakter wie dem seinen, der zäh an seinen Überzeugungen hing und nach Ehren und Geld kein Verlangen trug. Wir haben in der Tat auch nicht einmal den Versuch einer anderen Erklärung gefunden. Für Leute, die die »Utopia« als eine Stilübung oder einen Scherz betrachten, wie die meisten von Mores Biographen, war eine Erklärung auch nicht notwendig.

Erst Seebohm hat nach einer Erklärung des anscheinenden Widerspruchs zwischen Mores politischen Grundsätzen und Handlungen in der Zeit von 1516 bis 1518 gesucht (1. Auflage, S. 353 ff.): er sah sie im literarischen Erfolg der »Utopia«, welcher es Heinrich rätlich erscheinen ließ, More zu gewinnen, und diesen hoffen ließ, seine Ratschläge würden Gehör finden. Wir schließen uns in dieser Beziehung Seebohm an, müssen jedoch bemerken, daß der Einfluß, den More als Schriftsteller gewann, uns nicht hinreichend erscheint, zu erklären, warum Heinrich VIII. so hohen Wert auf dessen Gewinnung und später auf dessen Verbleiben in seinem Dienste legte. Man hat unseres Erachtens bisher viel zu wenig in Betracht gezogen, daß More der Vertrauensmann und der Vertreter einer der mächtigsten und aufstrebendsten Klassen Englands geworden war. Erst die Bedeutung Mores für London, Londons für England gibt uns den Schlüssel für die Wirkung der »Utopia« und den Einfluß ihres Verfassers auf den englischen Hof.

6. More im Kampfe gegen das Luthertum.

Zu der Zeit als More an den Hof Heinrichs VIII. kam, begann bereits die Reformationsbewegung sich in England fühlbar zu machen, die im Jahre vorher, 1517, in Deutschland begonnen hatte. More mußte natürlich ihr gegenüber Stellung nehmen: gleich der überwiegenden Mehrzahl der anderen Humanisten trat er entschieden gegen sie auf, sobald es klar ward, daß sie die Losreißung der einzelnen Teile der Christenheit vom Papsttum, die Zerstückelung der Christenheit bedeutete.

Wir haben bereits im ersten Abschnitt die Motive beleuchtet, die die Humanisten im allgemeinen gegen die Reformation einnahmen. Diese Motive wirkten auch auf More im besonderen. Daß sie nicht kirchlicher Art waren, haben wir im vorhergehenden Kapitel gezeigt. More hatte die Mißstände der Kirche klar erkannt und sich nicht gescheut, sie bloßzulegen. Wenn die katholische Kirche ihn trotzdem unter ihre Heiligen versetzen will, weil er auf Luther geschimpft hat, dann kann sie ihm eine gute Gesellschaft geben. Sie kann ihm dann zum Beispiel Rabelais zur Seite stellen, der von der Reformation auch nichts wissen wollte und die Schale seines Hohnes über Calvin ausgoß. In der Vorrede zum zweiten Buche seines Romans »Gargantua und Pantagruel« erhält Calvin, der Prediger der Lehre von der Prädestination (Vorherbestimmung) des Menschen, die schönen Titel: »prédestinateur, imposteur et séducteur« (Vorherbestimmer, Schwindler und Verführer). Im vierten Buche, Kapitel 5 bis 8, wird der fanatische Calvin, der sich in Genf mit Vorliebe Pastor (Hirt) nennen ließ, als Schafhändler Dindenault (von Dindon, der Puterhahn) verhöhnt. Das Feilschen desselben um den Hammel ist eine Verspottung der protestantischen Dispute über das Abendmahl. Im 32. Kapitel desselben Buches wird der Calvinismus direkt angegriffen. Es heißt da: Die Unnatur (Antiphysie) gebar unter anderem widernatürlichen und ekelhaften Gesindel auch die Duckmäuser, Heuchler, »die besessenen Calvins, die Schwindler von Genf« (les demoniacles Calvins, imposteuers de Genève).

Die Motive, die More zu einem Gegner der Reformation machten, sind auf dem politischen und ökonomischen Gebiet zu suchen. In diesem Kapitel haben wir es nur mit denen ersterer Art zu tun.

Als der Verfasser vorliegender Abhandlung daran ging, Mores Schriften zu studieren, da war er der Ansicht, Mores Gegnerschaft gegen die Reformation sei, soweit sie politischen Ursprunges, der Gegnerschaft gegen den Absolutismus zuzuschreiben. Diese Ansicht hat sich als unhaltbar erwiesen. More war, wie wir gesehen, kein Gegner des Fürstentums, er hielt es im Gegenteil für höchst notwendig, gleich der überwiegenden Mehrzahl der Humanisten. Es gibt kaum eine Klasse des sechzehnten Jahrhunderts, die das Fürstentum für notwendiger hielt, als die der Kaufleute: More war aber in praktischer Beziehung der Vertreter ihrer Klasseninteressen, wenn er auch theoretisch über diese hinausragte. Das Kapital hat stets nach »Ordnung« gerufen, nur zeitweise nach »Freiheit«. Die »Ordnung« war sein wichtigstes Lebenselement; More, in dem Ideenkreis des Londoner Bürgertums groß geworden, war daher ein »Ordnungsmann«, der nichts mehr scheute, als eine selbständige Aktion des Volkes. Alles für das Volk, nichts durch das Volk, war seine Losung.

Die deutsche Reformation war aber in ihrem Beginn eine Volksbewegung. Der gemeinsame Ausbeuter aller Klassen der deutschen Nation war das römische Papsttum: sobald eine Klasse sich gegen dieses erhob, riß sie notwendig die anderen Klassen mit sich. Städte, Ritter, Bauern, alles erhob sich gegen die Römlinge mit einem Ungestüm, daß die Fürsten fast erschraken. Erst im Fortgang der Bewegung wurde der Kampf gegen die römische Ausbeutung bei den niederen Klassen ein Kampf gegen die Ausbeutung überhaupt, aus der nationalen Erhebung Deutschlands gegen Rom ein Bürgerkrieg, ein Bauernkrieg. Und erst seitdem in diesem inneren Kampfe die Kraft der niederen Klassen gebrochen worden ist, gestaltete sich die Reformation in Deutschland immer mehr zu einer rein dynastischen Angelegenheit. Die Lutheraner selbst hatten sich anfänglich an alle Klassen der Nation gewandt; erst als sie sahen, daß die Gegensätze innerhalb der Nation nicht überbrückbar seien und daß sie sich für eine bestimmte Klasse entscheiden müßten, schlugen sie sich auf Seite des Fürstentums.

Erst seit dem großen Bauernkrieg, 1525, wurde diese Wandlung des Lutheranismus offenkundig. Es ist demnach erklärlich, wieso More dazu kam, die Luthersche Lehre wegen ihrer Gefährlichkeit für das Fürstentum anzugreifen. Er tat dies 1523 in einer lateinischen Schrift »des Thomas More Antwort auf die Schmähungen, mit denen Martin Luther König Heinrich VIII. von England überhäuft hat«.Thomae Mori responsio ad convitia Martini Lutheri congesta in Henricum Regem Angliae ejus nominis Octavum.

Der Titel nennt uns bereits die Veranlassung dieser Streitschrift. Wir haben schon im vorigen Kapitel das Buch Heinrichs VIII. gegen Luther über die »sieben Sakramente« erwähnt. Auf diese Schrift aus dem Jahre 1521 antwortete Luther 1522 eben nicht in der höflichsten Weise.Antwort Dr. Martin Luthers auf Heinrichs, Königs von England, Buch. Auch lateinisch. Er nannte Heinrich »einen dummen, groben Eselskopf, einen unsinnigen Narren, der nicht weiß, was Glauben ist«, und sagte unter anderem:Wir haben die Orthographie modernisiert. »Hat der König von England seine unverschämten Lügen ausgespien, so habe ich sie ihm fröhlich wieder in den Hals gestoßen, denn er lästert damit alle meine christliche Lehre und schmiert seinen Dreck an die Krone meines Königs der Ehren, nämlich Christi, des Lehre ich habe; darum soll's ihn nicht wundern, wenn ich den Dreck von meines Herrn Krone auf seine Krone schmiere, und sage vor aller Welt, daß der König von England ein Lügner ist und ein unwissender Mann.«

Wir empfehlen allen frommen Protestanten, denen die »Roheit« der Arbeiterpresse so viel Herzeleid bereitet, sich durch eine fleißige Lektüre ihres Martin Luther dagegen abzuhärten.

More antwortete in seiner oben genannten Schrift ebenso grob in lateinischer Sprache. Atterbury meint, More habe unter allen Männern seiner Zeit die größte Geschicklichkeit besessen, in gutem Latein zu schimpfen. Die persönlichen Angriffe gegen Luther, der als Trunkenbold und Ignorant hingestellt wird, füllen den größten Teil der »Antwort« aus. Daneben findet sich noch eine Verteidigung des Papsttums und eine Darlegung der Staatsgefährlichkeit der neuen Lehre. So heißt es da unter anderem: »Jederzeit haben sich die Feinde des christlichen Glaubens als Gegner des heiligen Stuhles erwiesen. Werden aber der Menschen Fehler dem Amte aufgebürdet, wie denn das Papsttum von den Lutheranern in der furchtbarsten Weise geschmäht wird, so ist es nicht allein um dieses, sondern auch um das Königtum, überhaupt um alle Staatshäupter geschehen, und das Volk findet sich ordnungs- und gesetzlos. Und doch ist es besser, schlechte Lenker des Gemeinwesens als gar keine zu haben. Klüger ist es darum, das Papsttum zu reformieren, als es abzuschaffen.«

Fünf Jahre später veröffentlichte More seinen »Dialog über Ketzereien und Religionsstreitigkeiten«.A dialogue concernyng heresies and matters of religion. 1528. In diesem läßt er sich schon mehr auf theologische Diskussionen ein. Das wichtigste sind jedoch auch hier die Auseinandersetzungen weltlicher Natur. Besonders charakteristisch für Mores politische Stellung gegenüber der Reformation erscheint uns folgende Ausführung: »All sein Gift hat Luther mit einem besonderen Ding gewürzt, der Freiheit, die er dem Volke so anpries, indem er sagte, daß es nichts nötig habe als den Glauben. Fasten, Beten und dergleichen stellte er als überflüssige Zeremonien hin und lehrte die Menschen, daß, wenn sie gläubige Christen, sie auch Christi Vettern seien, und in voller Freiheit, ledig aller Herrscher, Sitten und Gesetze, geistlich wie weltlich, ausgenommen die Evangelien. Und obgleich er sagte, es wäre eine Tugend, zu ertragen und zu dulden die Herrschaft von Päpsten, Fürsten und anderen Obrigkeiten, die er Tyrannen nennt, so erklärte er doch, das Volk werde durch den Glauben so frei, daß sie diesen nicht mehr verpflichtet seien, als verpflichtet, Unrecht zu leiden. Dieselbe Lehre predigt Tyndall. Diese Lehre gefiel dem gemeinen Bauernvolk so wohl, daß sie das andere, was Luther sagte, nicht in Erwägung zogen und sich nicht darum bekümmerten, zu welcher Schlußfolgerung er wohl kommen möge. Die weltlichen Herren freuten sich, seine Anschuldigungen gegen den Klerus zu hören, und das Volk freute sich, seine Anschuldigungen gegen den Klerus und die weltlichen Herren zu hören und gegen die Obrigkeiten jeder Stadt und Gemeinde. Und schließlich kam es so weit, daß die Bewegung zum offenen Ausbruch von Gewalttätigkeiten führte. Natürlich fingen sie mit den Schwächsten an. Zuerst tat sich ein gewalttätiger Haufen der unglückseligen Sektierer zusammen, um die gottlose Ketzerei zu fördern, und empörte sich gegen einen Abt, dann gegen einen Bischof, was den weltlichen Herren viel Spaß machte. Sie vertuschten die Sache, da sie selbst nach den Kirchengütern lüstern waren, bis es ihnen fast ebenso erging wie dem Hunde in der Äsopschen Fabel, der, um den Schatten des Käses zu erhaschen, den Käse fahren ließ. Denn die lutheranischen Bauern wurden bald so kühn und stark, daß sie sich auch gegen die weltlichen Herren erhoben. Und hätten diese nicht beizeiten zugesehen, so wären sie in Gefahr geraten, ihre eigenen Güter zu verlieren, während sie nach anderer Leute Gut ausblickten. So aber retteten sie sich, indem sie in diesem Teile Deutschlands in einem Sommer 70000 Lutheraner niedermetzelten und den Rest in die elendeste Sklaverei herabdrückten, aber erst, nachdem sie viel Unheil angerichtet. Und doch ist in vielen Teilen Deutschlands und der Schweiz diese gottlose Sekte durch die Nachlässigkeit der Obrigkeiten der großen Städte so erstarkt, daß schließlich das gemeine Volk die Regierenden zwang, ihm zu folgen, die, wenn sie rechtzeitig zugesehen hätten, die Leiter und Führer geblieben wären.«

Wir sehen hier von einem Zeitgenossen der Reformation den Klassenkampf, der ihr zugrunde lag, bis zu einem gewissen Grade deutlich gekennzeichnet. Allerdings, daß der Kampf gegen das Papsttum ein Kampf gegen die Ausbeutung war, das sah More nicht. Daran trugen die eigentümlichen ökonomischen Verhältnisse Englands die Schuld, von denen wir im nächsten Abschnitt sprechen werden. Hier handelt es sich nur darum, darzulegen, daß einer der politischen Gründe, die More gegen die Reformation einnahmen, ihr populärer Charakter war, ihr Charakter als eine nationale, eine Volksbewegung. Aber ihr nationaler Charakter war ihm noch in anderem Sinne zuwider. More war, wie viele der Humanisten, entschieden gleichzeitig international und national gesinnt. In Italien, dem Vaterland des Humanismus, war diese anscheinend widerspruchsvolle Haltung durch die ökonomischen Verhältnisse bedingt, wie wir gezeigt haben: die Einigung der ganzen Christenheit unter dem Papst lag im nationalen Interesse Italiens, oder genauer gesagt, im materiellen Interesse der herrschenden Klassen Italiens. Außerhalb Italiens und namentlich in den nichtromanischen Ländern hatte diese internationale Gesinnung keinen materiellen Rückhalt, war sie eine bloße ideologische Schrulle, ohne Einfluß auf das Volk zu gewinnen. Allerdings findet die internationale Gesinnung Mores anscheinend eine Erklärung in den tatsächlichen Verhältnissen: More war, wie wir wissen, ein Gegner der dynastischen Kriege, und darin Vertreter wirklicher materieller Interessen. Diese erforderten die Einigkeit der Christenheit und deren Frieden; es war jedoch eine ideologische Illusion, zu glauben, daß der Katholizismus noch imstande sei, diese einigende Kraft darzustellen. War doch der Papst selbst ein weltlicher Fürst geworden, der in diplomatischen Intrigen und dynastischen Kriegen mit seinen Herren Kollegen wetteiferte.

7. More im Konflikt mit dem Königtum.

Die gemeinsame Gegnerschaft gegen den Lutheranismus mußte Heinrich VIII. und More einander näher bringen. Indessen wuchs auch die Geschäftskenntnis und Bedeutung des letzteren. Kein Wunder, daß er rasch »Karriere« machte. Einen Monat, nachdem er in des Königs Rat aufgenommen und zum Referenten über einlaufende Gesuche (Master of Requests) gemacht worden war, erfolgte seine Ernennung zum Geheimrat (Privy Councillor). Wenige Jahre nachher (1521) ernannte ihn Heinrich zum Verwalter der Schatzkammer (Treasurer of the Exchequer), eine Art Finanzminister, und kurz darauf zum Kanzler des Herzogtums Lancaster, in welcher Stellung er bis 1529 verblieb. In diese Zeit dürfte auch seine Erhebung in den Ritterstand (Knight) fallen, die indes auf More kaum erhebliche Wirkung ausübte. Seinem Namen wurde von nun an das Wörtchen »Sir« vorgesetzt! Sir Thomas More oder Sir Thomas, nie aber Sir More. Das Wörtchen »Sir« wird stets in Verbindung mit dem Vornamen gebraucht, dagegen kann der Familiennamen wegfallen.

Durch diese Ehrenstellen ließ sich jedoch More ebensowenig bestechen, als er sich durch seinen Gegensatz gegen die Bewegungen des Volkes zur unbedingten Unterwürfigkeit unter das Königtum verleiten ließ. Daß er diesem selbständig gegenüberstand, und daß weder der Hofdienst noch die Reformation seinen prinzipiellen Standpunkt geändert hatten, der die Herrschaft des Königs, des Völkerhirten, für notwendig, die Unterwerfung unter den Tyrannen, den Völkerschinder, für schimpflich erklärte, das hatte er Gelegenheit zu beweisen, als Wolsey ihn 1523 zum Sprecher, das heißt Präsidenten des Parlamentes erwählen ließ.

Dieses Parlament hatte natürlich vor allem Gelder zu bewilligen, was der Beruf der Parlamente seit jeher gewesen ist. Mores Aufgabe war da keine angenehme; der Sprecher fungierte nicht bloß als Vorsitzender und Leiter der Verhandlungen des Unterhauses, wie heute, er hatte auch das Budget abzufassen und dem Hause vorzulegen, hatte also einige der Funktionen des modernen Finanzministers. (Thorold Rogers, a. a. O. S. 308.) Heinrich meinte natürlich, Mores Aufgabe sei es, den »Gemeinen« seine Forderungen plausibel zu machen; und das war allerdings sehr nötig, denn das Unterhaus zeigte sich entschieden abgeneigt, die neuen Steuern zu bewilligen. Der Kardinal und Lordkanzler Wolsey, aufgebracht darüber, ging selbst ins Parlament, um dieses einzuschüchtern. Er hoffte, More werde ihm dabei behilflich sein. Wie uns Roper erzählt, mußte er jedoch mit zornigem Erstaunen sehen, daß der Mann, den er zu seinem Werkzeug auserlesen hatte, die Rechte des Unterhauses gegenüber dem allmächtigen Minister verteidigte. Außer sich vor Zorn rannte er aus dem Parlament davon. Schließlich erreichte Heinrich freilich seinen Zweck, aber erst, nachdem er das Parlament durch Todesdrohungen eingeschüchtert hatte.

Gegen diese Darstellung Ropers sind schwere Bedenken erhoben worden und die Sache ist noch nicht genügend geklärt. Wir müssen sie auf sich beruhen lassen, ebenso die folgende Darstellung Ropers, daß man sich des unbequemen Mannes entledigen wollte, daß man aber nicht wagte, ihn offen anzugreifen – sein Einfluß bei der Bürgerschaft hatte durch sein mutvolles Eintreten für die Rechte des Unterhauses jedenfalls eher gewonnen als verloren. Man suchte ihn daher unter dem Scheine einer Erhöhung aus dem Lande zu schaffen, indem man ihn als Gesandten nach Spanien schicken wollte. More merkte indes die Falle und lehnte die Ehre, die Heinrich ihm zugedacht, aus »Gesundheitsrücksichten« ab.

Wie dem auch sei, jedenfalls sollte More bald in einen ernsteren Konflikt mit dem König kommen, der schließlich mit einer Beförderung anderer Art endete.

Heinrich VIII. war mit der Witwe seines als Kind verstorbenen Bruders Artur, Katharina von Spanien, vermählt. Diese Dame wurde ihm jedoch um so langweiliger, je älter sie wurde, und als er Anna Boleyn, eine ihrer Hofdamen, kennen lernte, ein hübsches und witziges Mädchen, das am französischen Hofe alle Künste der Koketterie gelernt und geübt hatte, entbrannte er in solcher leidenschaftlichen Liebe, daß er sich's in den Kopf setzte, Anna zu heiraten und sich von Katharina scheiden zu lassen. Da der Papst die Scheidung nicht bewilligte, riß Heinrich sich von der katholischen Kirche los und setzte die Reformation in England ins Werk.

Dies die Tatsachen, wie sie gewöhnlich erzählt werden, und die in dieser Darstellung fast zu dem Glauben verführen könnten, die Weltgeschichte werde gemacht, wie Zschokke uns in einer netten Novelle erzählt, durch die Launen von Kammerkätzchen und Hoffräulein. Dieser Darstellung zufolge würde England heute noch katholisch sein, wenn Heinrich weniger liebesbrünstig und Anna weniger kokett gewesen wäre.

In Wirklichkeit lagen die Gründe und selbst die Veranlassungen der Kirchenspaltung etwas tiefer, als in einer bloßen Liebelei. Viele katholische Fürsten haben reizlose Frauen und neben diesen reizende Maitressen gehabt, vor, während und nach Heinrich VIII., ohne daß eine Kirchenspaltung daraus erwuchs; und viele Päpste haben vor und nach Heinrich VIII. Ehescheidungen ausgesprochen, wenn sie es für gut hielten. Wir haben uns also zu fragen, woher kommt es, daß gerade Heinrichs Ehescheidung den Anstoß zu so weittragenden Umwälzungen gab?

Die Ehen der absoluten Monarchen, namentlich im sechzehnten Jahrhundert, hatten einen eigentümlichen Charakter. Die Reiche der absoluten Fürsten waren ihre Domänen, über die sie freies Verfügungsrecht hatten, und die sie soviel als möglich zu vergrößern strebten. Noch hatten die Staaten nicht die Festigkeit der modernen Nationalstaaten erlangt, noch waren sie in beständiger Umbildung begriffen: hier wurde ein Stück abgerissen, dort eines hinzugefügt; hier zwei Länder durch Heirat vereinigt, dort das Gebiet durch den Erbvertrag mit einem kleinen Nachbarn »arrondiert«. Wie unter den großen Grundbesitzern, herrschte unter den Fürsten eine rasende Gier nach Land, daher ewige Kriege, diplomatische Intrigen, Allianzen, die ebenso leicht gebrochen wie abgeschlossen wurden usw. Die festeste Form eines diplomatischen Bündnisses war die durch ein Ehebündnis besiegelte: man setzte damit dem »Freunde« in der Gattin einen Spion und Agenten an die Seite. Freilich durfte man auch auf das eheliche Bündnis kein allzu großes Vertrauen setzen, immerhin bot es doch eine bessere Gewähr als ein bloßes Stück Pergament. Und die Erbansprüche, die aus der Verbindung folgten, konnten unter Umständen recht nützlich werden.

Wie es unter diesen Umständen mit der »Heiligkeit der Ehe« aussah, läßt sich denken. Kinder wurden miteinander, alte Weiber mit Knaben, Greise mit Backfischen gepaart.

So war auch, wie wir schon erwähnt, der Anschluß Englands an Spanien unter Heinrich VII. durch die Vermählung Katharinas von Aragonien mit Heinrichs ältestem Sohne Artur bekräftigt worden. Artur war bei seiner Verlobung sechs Jahre alt. Im elften Jahre heiratete er und starb ein Jahr darauf. Sieben Jahre später vermählte sich Arturs jüngerer Bruder, Heinrich VIII., mit Arturs Witwe. Die Ehe hatte sich so lange verzögert, weil Heinrich seinem geliebten Schwiegervater nicht recht traute, der mit der versprochenen Mitgift nicht herausrücken wollte.

Im Laufe der Regierung Heinrichs änderten sich indessen die Beziehungen Englands zu Spanien. Karl V. hatte durch die Vereinigung von Spanien, den Niederlanden und der deutschen Kaiserkrone in seiner Hand eine furchtbare Macht erlangt, der Frankreich nicht gewachsen schien. Dadurch wurde das spanisch-englische Bündnis überflüssig, das sich gegen Frankreichs Übergewicht gerichtet hatte: die Freundschaft Englands zu Spanien geriet ins Schwanken und wurde mehreremal durch ein Bündnis mit Frankreich ersetzt. So war die Ehe mit Katharina zwecklos geworden. Nicht nur Heinrich betrieb die Scheidung von ihr, sondern auch sein Minister, der Kardinal Wolsey. Letzterer allerdings nicht, um Anna Boleyn, sondern um eine französische Prinzessin an ihre Stelle zu setzen.

Dieselben Gründe, die Heinrich und Wolsey bewogen, die Scheidung zu betreiben, bewogen den Papst, ihr zu widerstreben. Gerade in der Zeit, in der die Scheidungsangelegenheit ihre akuteste Form annahm, von 1527 bis 1533, hing der Papst am vollständigsten von Karl V. ab, dessen Tante Katharina war. Clemens VII. bot alles auf, um Heinrich zu befriedigen; auch die Scheidung hätte er ihm bewilligt, und er wäre ein schlechter Papst gewesen, wenn er nicht einen kanonischen Grund dafür gefunden hätte, aber Karl wollte von einer solchen Konzession nichts wissen. So spitzte sich der Streit dahin zu, ob der Papst ein Werkzeug Englands oder Spaniens sein solle.

Die Lutheraner erklärten, die Scheidung auch nicht billigen zu können, sie rieten aber Heinrich VIII., nach dem Vorbild Abrahams und Jakobs zwei Frauen zu nehmen. Für Könige und Patriarchen habe Gott besondere Ehevorschriften gemacht. Luther erlaubte auch dem Landgrafen von Hessen, in Bigamie zu leben, »wegen der Versoffenheit und Häßlichkeit der Landgräfin«. Heinrich wies jedoch die Luthersche Erlaubnis verächtlich zurück.

Er hatte sich in seinem Größenwahn eingebildet, mit den Mächten konkurrieren zu können, die damals um die Beherrschung und Ausbeutung des Papsttums rangen: mit Franz I. von Frankreich und dem spanisch-deutschen Habsburger Karl. Auch nach der deutschen Kaiserkrone hatte er gestrebt. Und als der Papst Leo X. starb, bewarb sich Wolsey um die Tiara, ebenso 1523, nach dem Tode von dessen Nachfolger. Beidemal mußte Heinrich die Demütigung erleben, daß an Stelle seiner Kreatur Kreaturen Karls gewählt wurden: Hadrian VI. (1522 bis 1523) und Clemens VII. Die Ehescheidungsangelegenheit überzeugte Heinrich vollends, daß an eine Beherrschung des Papsttums durch ihn nicht zu denken sei, daß daher, wollte er diesem nicht unterwürfig werden, wollte er Herr im Lande, Herr der Kirche sein, nichts anderes übrig blieb als Losreißung vom Papsttum.

Zu diesem politischen gesellte sich noch ein ökonomisches Motiv: der große Schatz, den der geizige Heinrich VII. hinterlassen hatte, war längst in Krieg und Prunk verschwendet. Das Parlament von 1523 hatte aber gezeigt, daß, wie gefügig es auch sonst sich erwies, auf große Geldbewilligungen durch dasselbe nicht zu rechnen war. Was lag da näher, als nachzumachen, was die Herren Vettern in Deutschland so schön vorgemacht: die Geldnot durch die Einziehung des Kirchenvermögens zu beenden? Allerdings wurde die Auflösung der Klöster erst nach Mores Tode ins Werk gesetzt, aber angedroht wurde sie schon vorher, dadurch die Geistlichkeit eingeschüchtert und bewogen, durch große Geldbewilligungen die Gunst des Despoten zu erkaufen. Erst, als es nichts Erhebliches mehr zu erpressen gab, ging man an die Einziehung der Güter.

Nirgends trat die Kirchenspaltung so offen, so schamlos als bloßes Ergebnis der Wollust, des Größenwahns und der Habsucht des Absolutismus auf, wie in England. An den Dogmen, am Ritual wurde nichts geändert, als daß an die Stelle des Papstes der König trat: der Lutheranismus wurde ebenso verpönt wie der Papismus.

Daß More sich mit dieser Art Reformation ebensowenig befreunden konnte, als mit den Anfängen des Lutheranismus, ist klar. Von seinem internationalen Standpunkte mußte er jede Bildung einer nationalen Kirche bekämpfen. Ebensowenig konnte er aber einer Vermehrung der fürstlichen Macht zustimmen. Im Gegenteil, er wollte sie beschränken, allerdings nicht so sehr von unten, als von oben. Er fühlte die Notwendigkeit einer Beschränkung, einer Unterordnung des Absolutismus; er glaubte jedoch im Volke nicht die nötigen Elemente hierzu zu finden, und so suchte er seine Zuflucht bei einer doktrinären Illusion, die er mit vielen Humanisten teilte, und die wir schon im ersten Abschnitt berührt haben: die Fürsten sollten vom Papst geleitet werden, dieser aber unter dem Konzil stehen und letzteres wieder mit dem Geiste des Humanismus erfüllt werden. Der alte Schlauch sollte bleiben, der Wein sollte erneuert werden. Und nun kam das Königtum und verwandelte die Kirche aus einer Schranke in ein Werkzeug! Da konnte More nicht mithelfen.

Lange hat er seine Einwendungen gegen die »Reformation« Heinrichs verschwiegen. Erst nachdem er in seinem Prozeß schuldig gesprochen worden war, rückte er mit der Sprache heraus und erklärte, daß England, welches nur einen kleinen Teil der ganzen Christenheit bilde, ebensowenig Gesetze erlassen könne, die den allgemeinen Gesetzen der Kirche widersprächen, als die City von London Gesetze gegen einen Parlamentsakt machen könne. Und er sagte weiter: »Wenn vielleicht auch nicht in diesem Königreich, so sind doch in der gesamten Christenheit die Bischöfe, Universitäten und gelehrten Männer in ihrer Mehrheit auf meiner Seite. ... Ich bin daher nicht verpflichtet, meine Überzeugung der Ratsversammlung eines Königreichs anzupassen entgegen der Vertretung (council) der gesamten Christenheit.«

Das ist in der Sprache seiner Zeit deutlich genug gesprochen.

Der Standpunkt Mores war ebenso kühn, als er haltlos war. Wir haben schon im ersten Abschnitt auf die Haltlosigkeit des deutschen und englischen Humanismus hingewiesen und daraus sein rasches Verschwinden erklärt. Die Mehrzahl der Humanisten waren jedoch bloße Theoretiker, Professoren und Literaten, die sich duckten und zurückzogen, als der Sturm der Reformation losbrach. Ein Feuergeist wie More tat das nicht. Und wenn er es gewollt hätte, er hätte es nicht gekonnt. Sein politischer Einfluß war zu groß, als daß man ihn hätte unbeachtet verschwinden lassen: er mußte entweder dem König dienen oder untergehen. Mit dieser Alternative war sein Schicksal angesichts seines Charakters besiegelt.

Sein Untergang ging jedoch nur zögernd, Schritt vor Schritt, vor sich; er bereitete sich schon vor, indes More immer höher stieg und zur höchsten Würde im Reich nach dem König erhoben wurde. Allerdings hatte er von Anfang an sich gegen dessen Ehescheidung ausgesprochen und geweigert, für sie einzutreten. Heinrich hoffte jedoch bis zum letzten Moment, ihn zu gewinnen, und er hatte um so mehr Ursache, dies anzustreben, da Mores Popularität damals womöglich im Steigen war. 1529 wurde dieser mit Cuthbert Tunstall und John Haclet nach Cambray abgesandt, um bei den Friedensverhandlungen zwischen England und Frankreich auf der einen und Spanien auf der anderen Seite England zu vertreten. Der Friede war namentlich für die englischen Kaufleute sehr wichtig, da der Handel mit den Niederlanden durch den Krieg sehr gelitten hatte. More und seine Genossen führten die Verhandlungen mit großer GeschicklichkeitRabelais läßt in seinem »Gargantua und Pantagruel«, 2. Buch, 18. bis 20. Kapitel, einen großen englischen Kanzler (un grand clerc d'Angleterre) Thaumaste auftreten, der Pantagruel in Paris aufsucht und mit ihm eine höchst komische Unterredung durch bloße Zeichen führt. Mit diesem Thaumaste soll unser More (Thomas) gemeint sein, und die für jedermann unverständliche Zeichensprache soll die diplomatischen Finessen der Friedensverhandlungen von Cambray persiflieren. Inwieweit das letztere richtig ist, vermögen wir nicht zu entscheiden. Dagegen halten wir es für zweifellos, daß mit Thaumaste More gemeint ist, nach der eingehenden Untersuchung von Esmangard (Oeuvres de Rabelais, edition variorum, augmentee.... d'un nouveau commentaire historique et plilologique par Esmangard et Eloi Johanneau. Paris 1823. 3. Band S. 437 bis 444). Manche französische Humanisten scheinen auf More nicht sonderlich günstig zu sprechen gewesen zu sein, seit seinem Streit mit Germain de Brie (Germanus Brixius), einem Zeitgenossen und guten Bekannten Rabelais'. Brixius schrieb 1513 ein Gedicht Herveus, sive Chordigerae navis conflagratio, in dem er ein Seegefecht zwischen einem englischen und französischen Schiff besang und die Franzosen auf Unkosten der Engländer herausstrich. More, darüber erbost, antwortete mit einem beißenden Epigramm gegen Brixius: »In Brixium Germanum false scribentem etc.«, welches dieser mit einem Kampfgedicht von 400 Versen erwiderte, dem »Antimorus«. Welch großes Aufsehen der Streit erregte und welches Ansehen More bei den Humanisten genoß, ersieht man daraus, daß der »Antimorus« drei Auflagen erlebte. Wir haben die Pariser Ausgabe von 1519 benutzt. Von den beiden anderen haben wir nur durch Esmangard Kunde erhalten. Erasmus schlichtete den Streit und bewog More, von einer weiteren Antwort gegen Brixius abzustehen. und erlangten einen über alles Erwarten günstigen Vertrag, mit dem die Engländer und namentlich die Kaufleute höchlich zufrieden waren. Einen so brauchbaren und beliebten Mann mußte man womöglich zu gewinnen suchen.

Als Wolsey den Intrigen der Anna Boleyn erlegen war, wurde daher More an dessen Stelle zum Lordkanzler von England ernannt (1529), der erste Laie in dieser Stellung, der nicht aus dem hohen Adel stammte. Wider Willen übernahm er die Stellung, aber ihm blieb keine Wahl. Seine Antrittsrede läßt uns seine Gemütsstimmung ahnen. Die Herzöge von Norfolk und Suffolk geleiteten ihn in öffentlichem Aufzuge in die Westminsterhalle, wo More sein Amt vor versammeltem Volke antrat. Der Herzog von Norfolk hielt eine schmeichelhafte Rede, in der er die Verdienste des neuen Lordkanzlers pries. Darauf antwortete More, daß er sich über seine Beförderung nicht so erfreut fühle, als andere Leute glaubten, wenn er seines weisen und mächtigen Vorgängers und dessen Falls gedenke. »Ich besteige diesen Sitz als einen Platz voll von Mühen und Gefahren und ohne jegliche wahre Ehre. Je höher die Ehrenstellung, desto tiefer der Fall, wie das Beispiel meines Vorgängers beweist. Wäre nicht des Königs Gnade, so würde mir dieser Sitz nicht angenehmer sein, als dem Damokles sein Schwert, das über ihm hing.«

Seine düsteren Ahnungen sollten sich nur zu bald erfüllen. Er versuchte es, neutral zu bleiben, aber es ging nicht. Er wurde bald vor das Verlangen gestellt, seinen Namen zu Handlungen herzugeben, die er aufs tiefste verabscheute. Heinrich zwang ihn, im Unterhaus die Gutachten der Universitäten von Paris, Orleans, Angers, Bourges, Toulouse, Bologna, Padua, die erkauft, und die von Oxford und Cambridge, die erpreßt waren, vorzulesen: diese Gutachten erklärten die Ehescheidung Heinrichs für eine kanonisch gültige. Da erkannte More, daß ein weiteres Bleiben im Amte mit seiner Überzeugung unverträglich sei, und er legte seine Stellung nieder (1532).

8. Mores Untergang.

Mit seinem Rücktritt war Mores Schicksal entschieden. Er hatte sich gegen den Tyrannen erklärt in einem Moment, wo dieser aller seiner Diener bedurfte, in einem Moment, als er einen Kampf gegen eine Klasse von Bürgern des eigenen Reiches unternommen. Unter solchen Umständen zurücktreten, hieß in den Augen des Königs Rebellion und Hochverrat begünstigen. Jene Sorte von Historikern, die man als die Staatsanwälte der Vergangenheit bezeichnen kann, haben denn auch nicht ermangelt, so oft sie auf die Gerichtskomödie zu sprechen kamen, die zu Mores Verurteilung aufgeführt wurde, sich mit dem Nachweis abzumühen, daß More wirklich ein Rebell und Hochverräter gewesen sei. So sagt der von uns schon einmal gekennzeichnete Froude: Der Hauptpunkt, um den sich der Kampf drehte, war der, ob der König das Haupt der Kirche sein solle oder nicht. Die Behauptung, er solle es nicht sein, war gleichbedeutend damit, daß die Exkommunikation gültig, daß Heinrich nicht mehr König sei(!). Die Leugnung, daß Heinrich das Haupt der Kirche sei, war also Hochverrat (Froude, History of England, 2. Band, S. 220, 221). Die bewußte Verlogenheit dieser geschraubten Logik kann man daraus ersehen, daß die Exkommunikation in Wirklichkeit nicht die Ursache, sondern die Folge der Hinrichtungen Mores und der anderen »Märtyrer« war. Die Bannbulle wurde erst nach diesen Hinrichtungen abgefaßt und erst 1538 veröffentlicht, drei Jahre nach Mores Tode.Einer der hervorragendsten Kenner des Zeitalters Heinrichs VIII., F. J. Furnivall, sagt von Herrn Froude, dem jetzigen bürgerlichen Modehistoriker Englands: Die englischen Volkslieder »bieten eine sehr nützliche Berichtigung zu dem überschwenglichen Bild, das Herr Froude in seiner Geschichte von dem Zustand Englands in den Anfängen Heinrichs VIII. entwirft – einem Bild, welches eine ganz einseitige und falsche Darstellung der wirklichen Verhältnisse liefert«. (Vorrede zu »Ballads from Manuscripts. I. Ballads on the condition of England in Henry VIII. and Edward VI. reigns.« Edited by Frederick Furnivall. London 1868 bis 1872.) Die Volkslieder einer Zeit sind ein wichtiger Beitrag zu ihrer Erkenntnis. Die geschriebenen Quellen enthalten meist nur die Darstellungen der herrschenden Klassen; im Volkslied lernen wir den Standpunkt der Beherrschten kennen. Speziell die Volkslieder aus Heinrichs VIII. und seiner nächsten Nachfolger Zeit sind für uns deswegen bedeutsam, weil sie zeigen, wie unpopulär die Heinrichsche Reformation war und wie tief die »Utopia« ins Volk drang. Mehrfach finden sich Hindeutungen auf sie in den Balladen; namentlich ist das Wort von den Schafen, die Menschen fressen (vergl. nächsten Abschnitt), eine beliebte Wendung.

Wäre More wirklich Rebell gewesen, so würde uns das nicht mit Entrüstung erfüllen. Wenn wir diese Behauptung zurückweisen, so geschieht es also nicht, um More »reinzuwaschen«, sondern allein im Interesse der historischen Wahrheit. Die Fälschung der Herren Froude und Konsorten gibt nicht bloß dem Despotismus Heinrichs VIII., sondern auch More einen von seinem wirklichen ganz verschiedenen Charakter.

More zog sich vom öffentlichen Leben völlig zurück, ohne sich einen Augenblick darüber zu täuschen, was ihn erwartete. Aber der Schlag ließ länger auf sich warten, als er dachte. Mores Einfluß und Ansehen war zu groß, als daß Heinrich nicht alles versucht hätte, ihn zu gewinnen, ehe er ihn vernichtete. Durch Belohnungen und Ehrenstellen ließ derselbe sich nicht verlocken. Vielleicht ließ er sich aber durch Drohungen beugen, durch die Not zwingen.

Ein System von Schikanen und Quälereien begann. Mores Güter, die ohnehin nicht sehr ausgedehnt waren, wurden vom König konfisziert. An Bargeld besaß More nicht viel, er hatte seine Laufbahn bei Hofe ärmer beschlossen, als er sie begonnen. In großer Dürftigkeit lebte er nun in Chelsea bei London.

1533 wurde eine Anklage wegen Hochverrats gegen eine Nonne von Canterbury, Elisabeth Barton, erhoben, genannt die heilige Jungfrau von Kent, eine Betrügerin, die Visionen und dergleichen Zeug simulierte. Sie hatte prophezeit, der König werde keinen Monat nach Eingehung seiner Ehe mit Anna Boleyn am Leben bleiben. More wurde in den Prozeß verwickelt, weil er einmal zufälligerweise mit der Nonne zusammengetroffen war, der gegenüber er sich jedoch sehr reserviert verhielt, da er sie von vornherein als Betrügerin erkannte. Die Anklage war so unbegründet und Mores Ansehen so groß, daß die Lords sich weigerten, die Bill (Gesetzvorschlag) anzunehmen, durch welche die Nonne von Kent und Genossen des Hochverrats schuldig erklärt werden sollten, wenn nicht Mores Name von ihr gestrichen werde. Heinrich mußte sich dazu verstehen. Die Nonne wurde mit sechs anderen hingerichtet, More kam für diesmal mit heiler Haut davon. Als seine Tochter Margarete ihre Freude darüber aussprach, meinte er: »Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.«

Der Herzog von Norfolk redete ihm zu, sich dem König zu beugen: »Es ist gefährlich, mit Fürsten zu kämpfen, und ich wünschte daher, Ihr würdet dem Wunsche des Königs nachkommen. Denn, bei Gott, des Fürsten Zorn bedeutet Tod.« »Ist das alles, Mylord?« erwiderte More. »Das macht zwischen mir und Euch nur den Unterschied, daß ich heute sterbe und Ihr morgen.«

Im November 1533 nahm das Parlament die Suprementsakte an, durch welche der König zum obersten Haupte der englischen Kirche gemacht wurde. Außerdem verordnete das Parlament, daß Heinrichs erste Ehe ungültig, seine zweite gültig sei; es schloß Katharinas Tochter Maria von der Nachfolge aus und erklärte Annas Tochter Elisabeth als die rechtmäßige Nachfolgerin Heinrichs. Ein Eid wurde aufgesetzt, in dem man die Anerkennung dieser Sätze beschwor, und allen Priestern von London und Westminster, daneben auch More, vorgelegt. Er weigerte sich, den vollen Eid abzulegen, erklärte sich jedoch bereit, denjenigen Teil zu beschwören, der auf die Nachfolge Bezug habe. Infolge dieser Weigerung wurde er verhaftet und in den Tower als Gefangener gesetzt. Länger als ein Jahr blieb er dort, elend gehalten, bald auch seiner Bücher beraubt: umsonst, seine physische Kraft ließ sich brechen, seine moralische nicht, er verweigerte immer noch entschieden die Ablegung des Eides.

Da wurde ihm endlich der Prozeß gemacht.

Das Parlament hatte keine Strafen für Verweigerung des Eides festgesetzt. Um das gut zu machen, bestimmte es später, es sei Hochverrat, wenn jemand »böswillig (maliciously) wünsche, wolle oder erwarte, in Wort oder Schrift, daß des Königs Person, die Königin oder ihre Erben ihrer Würden und Titel verlustig gehen.«

More hatte seine Gründe der Eidverweigerung beharrlich verschwiegen. Schweigen war aber kein Hochverrat. In der Verlegenheit nahm man zu einem eigenartigen Zeugen seine Zuflucht, dem Staatsanwalt Rich, der erklärte, More habe sich ihm gegenüber ausgesprochen, das Parlament habe nicht das Recht, den König zum Haupte der Kirche zu machen.

Vergebens wies More darauf hin, wie unsinnig es sei, anzunehmen, daß er einem Menschen, den er seit langem als Lumpen kenne, ein Geständnis machen würde, das er niemand anderen gemacht habe. Vergebens erklärten andere Zeugen, die der Unterredung Richs mit More im Tower beigewohnt, daß sie nichts gehört hätten. Die Geschworenen waren des Zeugen würdig. Sie erklärten More ohne weiteres für schuldig, ohne auch nur die Anklageschrift gelesen zu haben. Das Urteil lautete: »Er soll zurückgebracht werden in den Tower mit Hilfe des Sheriffs William Bingston, und von da durch die City von London nach Tyburn geschleift, dort aufgehängt werden, bis er halbtot ist, dann abgeschnitten, solange er noch lebendig, seine Geschlechtsteile abgeschnitten, sein Bauch aufgeschlitzt, seine Gedärme ausgerissen und verbrannt werden. Dann soll man ihn vierteilen und auf jedem der vier Tore der City einen der vier Teile, den Kopf aber auf der Londoner Brücke aufstecken.«

Der König begnadigte More zur Enthauptung. Als More davon erfuhr, rief er aus: »Gott bewahre meine Freunde vor solcher Gnade!«

Der Humor ging More überhaupt nicht aus. Seine letzten Worte waren Witzworte.

Am 6. Juli 1535 wurde er im Tower hingerichtet. Das Schafott war schlecht zusammengefügt, es schwankte, als er es bestieg. Er sagte daher heiter zum Leutnant des Towers, der ihn geleitete: »Ich bitte, helft mir hinauf. Für das Herunterkommen will ich allein sorgen.« Er versuchte darauf zum Volke zu sprechen, wurde aber daran gehindert. »So wendete er sich nach einem Gebet«, berichtet Roper, »zum Scharfrichter und sagte ihm mit heiterer Miene: ›Nur Mut, Mann, fürchte dich nicht vor deinem Amte. Mein Hals ist kurz, ziele also gut, damit du keine Schande einlegst.‹«

So starb der erste der großen kommunistischen Utopisten.


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