Karl Kautsky
Thomas More und seine Utopie
Karl Kautsky

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Viertes Kapitel. Die Familie der Utopier.

1. Darstellung.

Von der Produktionsweise ist die Form der Haushaltung abhängig, von dieser die Formen der Familie und Ehe, die Stellung der Frau. Sehen wir zu, wie More in seinem idealen kommunistischen Gemeinwesen diese Verhältnisse gestalten wollte. Am passendsten dürfte in diesem Zusammenhang auch seine Stellung zur Bevölkerungsfrage abgehandelt werden.

»Jede Stadt besteht (in Utopien) aus Familien, die soweit als möglich aus Verwandten zusammengesetzt sind. Denn die Frau zieht, sobald sie im gesetzlichen Alter geheiratet hat, in das Haus ihres Gatten. Die männlichen Kinder aber und deren männliche Nachkommen bleiben in ihrer Familie, an deren Spitze der Älteste steht. Ist dieser vor Alter kindisch, dann tritt der Nächstälteste an seine Stelle. Damit aber die vorgeschriebene Anzahl der Bürger weder zu- noch abnehme, ist es bestimmt, daß keine Familie, deren es 6000 in jeder Stadt gibt (neben denen auf dem Lande), weniger als zehn und mehr als sechzehn Erwachsene haben soll; die Zahl der Kinder ist nicht festgesetzt. Dieser Maßstab wird mit Leichtigkeit innegehalten, indem man die überschüssigen Mitglieder der übergroßen Familien unter die zu kleinen Familien versetzt. Sollte aber in der ganzen Stadt die Zahl der Bewohner über das richtige Maß steigen, dann füllt man mit dem Überschuß die Lücken geringer bevölkerter Städte aus. Wenn aber die Einwohnerschaft der ganzen Insel das richtige Maß übersteigt, dann lesen sie aus jeder Stadt eine gewisse Anzahl von Bürgern aus, die eine Kolonie nach ihren Gesetzen auf dem benachbarten Kontinent einrichten, in einer Gegend, wo die Eingeborenen viel Land wüst und leer stehen haben. In diese Kolonie werden auch die Eingeborenen aufgenommen, die sich zu ihnen gesellen wollen. Freiwillig verbunden zu gleicher Lebensweise und gleichen Sitten, verschmelzen die Eingeborenen rasch mit den Kolonisten, und das gereicht beiden Teilen zum Vorteil. Denn sie bewirken durch ihre Einrichtungen, daß das Land jetzt für beide im Überfluß hervorbringt, das früher für die einen nur spärlichen Unterhalt bot.

»Wenn aber die Eingeborenen des Landes nicht mit ihnen nach ihren Gesetzen leben wollen, dann vertreiben sie sie aus dem Gebiet, das sie für sich in Anspruch nehmen. Und wenn diese Widerstand leisten, greifen sie zu den Waffen. Denn sie halten es für die gerechteste Ursache eines Krieges, wenn ein Volk einen Landstrich wüst und nutzlos hält und andere an dessen Besetzung und Bebauung hindert, die seiner nach den Gesetzen der Natur zu ihrer Ernährung bedürfen.

»Wenn die Bewohnerschaft einer ihrer Städte so sehr sinkt, daß sie nicht ergänzt werden kann, ohne in anderen Städten Lücken zu reißen (was sich erst zweimal seit dem Bestehen ihres Reiches infolge großer Seuchen ereignet haben soll), dann lassen sie die Bürger aus der Kolonie wieder zurückwandern; denn lieber sehen sie diese eingehen, als daß eine einzige Stadt ihrer Insel sich verringerte.

»Doch kommen wir auf den Verkehr der Bürger untereinander zurück. Der Älteste ist, wie schon gesagt, das Oberhaupt jeder Familie. Die Frauen dienen den Männern, die Kinder den Eltern, die Jüngeren überhaupt den Älteren.

»Jede Stadt ist in vier gleiche Teile geteilt. In der Mitte jedes Stadtviertels ist ein Marktplatz mit allen Arten von Gütern. Dorthin werden die Arbeitserzeugnisse jeder Familie in gewisse Häuser gebracht und in diesen jede besondere Gattung für sich aufgespeichert. Von dort holt jeder Familienvater oder jeder Vorsteher einer Haushaltung, was immer er und die Seinen brauchen, und nimmt es mit sich ohne Geld und überhaupt ohne jede Gegengabe. Denn warum sollte man ihm etwas verweigern? An allen Dingen ist Überfluß, und man hat keinen Grund, zu befürchten, daß jemand mehr fordert, als er braucht. Warum sollte man annehmen, daß jemand über seine Bedürfnisse hinaus fordern wird, wenn er sicher ist, nie Mangel zu leiden? Sicherlich werden Habsucht und Raubgier bei allen lebenden Wesen nur durch ihre Furcht vor Mangel hervorgerufen, beim Menschen auch noch durch Stolz, da er es für etwas besonders Großartiges hält, andere Menschen durch ein verschwenderisches und eitles Prunken mit allen möglichen Dingen zu überragen. Zu solchen Lastern ist bei den Utopiern keine Gelegenheit.«

Neben diesen Marktplätzen stehen die Lebensmittelmärkte, auf die das Vieh bereits geschlachtet und gereinigt gebracht wird, wie wir bereits im vorigen Kapitel gesehen. Die Schlachtung findet außerhalb der Stadt am Flusse statt, damit diese von Unrat und Verwesungsgerüchen frei bleibe, die Krankheiten erzeugen.

»In jeder Straße stehen in bestimmten Entfernungen voneinander große Paläste, jeder mit einem bestimmten Namen bezeichnet. In diesen wohnen die Syphogranten. Und jedem dieser Paläste sind 30 Familien zugeteilt, die zu beiden Seiten desselben wohnen. Die Küchenverwalter dieser Paläste kommen zu bestimmten Stunden auf den Markt, wo jeder die nötigen Lebensmittel holt, der Stärke der Familien entsprechend, die zu seinem Palast gehören. Das Erste und Beste aber kommt zu den Kranken in die Spitäler, die vor der Stadt liegen, und die so vorzüglich eingerichtet sind, daß fast jeder Kranke die Behandlung im Spital der zu Hause vorzieht.

»Zu bestimmten Stunden mittags und abends begibt sich die ganze Syphograntie auf ein gegebenes Trompetenzeichen in ihren Palast, ausgenommen diejenigen, die krank in den Hospitälern oder zu Hause daniederliegen. Niemand ist es verboten, nachdem der Bedarf der Paläste befriedigt ist, vom Markte Lebensmittel heimzutragen, denn sie wissen, daß niemand das ohne triftigen Grund tut. Es gibt keinen, der freiwillig zu Hause speiste, da es nicht anständig und in der Tat höchst töricht wäre, mühsam ein schlechtes Mahl zu Hause herzustellen, wenn ein gutes Mahl im nächsten Palast bereit ist.

»In diesen Palästen wird alle unangenehme, beschwerliche und schmutzige Arbeit von den Knechten verrichtet. Das Kochen und Herrichten der Speisen und die ganze Besorgung der Mahlzeit fällt jedoch den Frauen jeder Familie abwechselnd zu.

»Je nach ihrer Zahl sitzen sie an drei oder mehr Tischen. Die Männer sitzen nächst der Wand, die Frauen an der anderen Seite der Tafel, so daß, wenn eine von einem plötzlichen Unwohlsein befallen wird, wie das bei schwangeren Frauen häufig vorkommt, sie sich ohne Störung erheben und in die Ammenstube zurückziehen kann. Die Frauen mit Säuglingen sitzen nämlich in einer Stube, die für sie besonders bestimmt ist, und in der es nie an Feuer und reinem Wasser fehlt und ebensowenig an Wiegen, so daß sie ihre Kinder niederlegen, aus den Windeln nehmen und diese trocknen und die Kleinen mit Spiel ergötzen können.

»Jede Mutter säugt ihr eigenes Kind, außer wenn Tod oder Krankheit das unmöglich machen. Tritt das ein, dann besorgen die Frauen der Syphogranten rasch eine Amme, und das ist nicht schwer, da die dazu fähigen Frauen sich zu keinem Dienste so gern anbieten als zu diesem. Denn dieser Beweis von Mitleid wird hochgepriesen, und das gesäugte Kind erkennt auch später die Amme als Mutter an.

»Neben den Frauen mit Säuglingen befinden sich auch die Kinder unter fünf Jahren in der Ammenstube. Die älteren Knaben und Mädchen bis zum heiratsfähigen Alter bedienen entweder bei Tische, oder, wenn sie zu jung dazu sind, sehen sie stehend und schweigend zu. Sie essen, was ihnen von den Tischen gereicht wird, und haben keine besonderen Essenszeiten.«

Es folgt nun eine eingehende Schilderung der gemeinsamen Mahlzeit, die wir übergehen müssen, so anmutende Züge sie auch bietet, da sie nichts Wesentliches und Wichtiges enthält und uns zu weit ab von unserem Wege führen würde. Die Schilderung schließt folgendermaßen:

»Ihre Mittagsmahlzeit (prandium, der englische lunch) dauert kurz, das Abendessen (coena, die Hauptmahlzeit) lang, denn nach jener gehen sie an die Arbeit, nach diesem ruhen und schlafen sie, was nach ihrer Ansicht die Verdauung befördert. Bei keiner Abendmahlzeit fehlt Musik, und stets gibt es einen Nachtisch mit Leckereien (bellaria). Sie verbrennen wohlriechende Harze und besprengen den Speisesaal mit duftenden Ölen und Wassern, kurz, bieten alles auf, um Behaglichkeit und Fröhlichkeit hervorzurufen. Denn sie huldigen sehr stark dem Grundsatz, daß jedes unschädliche Vergnügen erlaubt sei.

»So leben sie in den Städten. Auf dem Lande aber leben die Familien weit voneinander entfernt und speisen daher jede für sich, und sie leiden an nichts Mangel, denn von ihnen kommen ja alle Lebensmittel für die Städtebewohner.«

So viel über den Haushalt der Utopier. Nun zu ihrer Ehe, die komischerweise im Kapitel von der Knechtschaft abgehandelt wird: »Die Mädchen heiraten nicht vor dem 18., die Jünglinge nicht vor dem 22. Jahre. Wer vor der Ehe, Mann oder Weib, verbotener Lust gefrönt hat, wird strenge bestraft und die Ehe ihm verboten, es sei denn, daß der Fürst Gnade für Recht ergehen läßt. Ein solcher Fehltritt gereicht aber auch dem Vorsteher und der Vorsteherin der Familie, in der er sich ereignete, zum schweren Vorwurf, denn man nimmt an, daß sie ihre Pflicht vernachlässigt haben. Sie bestrafen den Fehltritt deshalb so streng, weil man fürchtet, daß wenige eine Verbindung eingehen würden, die sie für ihr ganzes Leben an eine Person fesselt und manche Lasten mit sich bringt, wenn nicht eine strenge Verhinderung aller unsteten Verbindungen stattfände.

»Bei der Wahl der Gatten befolgen sie ein Verfahren, das uns (Hythlodäus und seinen Genossen) lächerlich erschien, unter ihnen aber ernst und streng eingehalten wird. Vor Eingehung der Ehe zeigt eine ehrwürdige Matrone die Braut, sei sie Jungfrau oder Witwe, nackt dem Bräutigam und dann ein gesetzter Mann den Bräutigam nackt der Braut. Wir lachten darüber und verurteilten es als anstößig. Sie dagegen wunderten sich über die Narrheit aller anderen Nationen. Wenn ein Mann ein Pferd kauft, sagen sie, wo es sich nur um ein bißchen Geld handelt, so ist er so vorsichtig, es genau zu untersuchen und, obwohl es fast nackt ist, den Sattel und das Geschirr abzunehmen, um zu sehen, ob nicht etwa ein Geschwür darunter verborgen sei. Bei der Wahl einer Gattin aber, von der Glück oder Unglück des ganzen Lebens abhängt, gehen die Leute aufs Geratewohl vor und binden sich an sie, ohne mehr von ihr gesehen zu haben als eine Handbreit vom Gesicht. Nicht alle Männer sind so weise, eine Frau bloß ihrer guten geistigen Eigenschaften wegen zu wählen, und selbst die Weisen halten dafür, daß ein schöner Körper die Reize des Geistes erhöht. Es ist unzweifelhaft, daß die Kleidung eine Häßlichkeit verbergen kann, die den Mann seinem Weibe entfremdet, wenn eine Trennung nicht mehr möglich ist. Entdeckt er den Fehler erst nach der Ehe, dann bleibt ihm nichts übrig, als sich geduldig ins Unvermeidliche zu fügen. Sie halten es daher für sehr vernünftig, einen solchen Betrug unmöglich zu machen.Es ist bezeichnend für die englische Prüderie, daß in der englischen Übersetzung des Raphe Robynson dieser ganze Absatz weggelassen ist.

»Das ist in Utopien um so gebotener, als es das einzige Land in jenem Himmelsstrich ist, in dem die Vielweiberei nicht gestattet wird und die Ehescheidung nur im Falle des Ehebruchs oder unerträglicher schlechter Aufführung des einen Teils: in solchen Fällen löst der Senat die Ehe und gibt dem nichtschuldigen Teil das Recht, wieder zu heiraten. Der Schuldige ist ehrlos und darf keine zweite Ehe mehr eingehen. Keiner darf je sein Weib aus dem Grunde verstoßen, weil sie ein körperliches Leiden oder Gebrechen befällt; denn sie halten es einesteils für den Gipfel der Grausamkeit, jemand dann zu verlassen, wenn er des Trostes und der Hilfe am meisten bedarf, und andererseits glauben sie, daß die Möglichkeit einer solchen Trennung eine trübe Aussicht für das Alter biete, das so viele Krankheiten mit sich bringt, und das selbst eine Krankheit ist.

»Hin und wieder kommt es jedoch vor, daß Mann und Weib sich nicht vertragen können und andere Genossen finden, mit denen sie hoffen, glücklicher zu leben; dann trennen sie sich mit gegenseitiger Zustimmung und gehen neue Ehebündnisse ein, jedoch nicht ohne Erlaubnis des Senats; diese wird erst nach einer genauen Untersuchung der Angelegenheit durch die Senatoren und ihre Frauen gewährt. Und nicht allzuleicht, da sie glauben, daß zu große Leichtigkeit der Ehescheidung gerade nicht das Mittel sei, die Zuneigung der Gatten zu einander zu festigen.

»Die Ehebrecher werden mit der härtesten Knechtschaft bestraft. Sind beide Schuldige verheiratet, dann können die beiden beschimpften Gatten einander oder wen sie sonst wollen heiraten. Fährt jedoch einer der Beleidigten fort, den untreuen Gatten zu lieben, so darf er die Ehe fortsetzen, wenn er gewillt ist, dem schuldigen Teil in die Sklaverei zu folgen. Mitunter bewegt die Reue des Schuldigen und die unerschütterliche Zuneigung des unschuldigen Gatten den Fürsten so sehr, daß er jenen begnadigt. Wer aber danach wieder einen Ehebruch begeht, wird mit dem Tode bestraft.«

Diesen Ausführungen sind nur noch einige Sätze hinzuzufügen, welche für die Stellung der Frau in Utopien charakteristisch sind: »Die Männer züchtigen ihre Frauen, die Eltern ihre Kinder, wenn nicht das Vergehen ein solches ist, das öffentliche Bestrafung verdient.«

»Niemand wird gezwungen, wider seinen Willen in einen Krieg außerhalb der Landesgrenzen zu ziehen. Andererseits aber werden die Frauen, die ihre Gatten in den Krieg zu begleiten wünschen, daran nicht gehindert, sondern vielmehr dazu ermuntert und dafür gepriesen. Im Felde kämpfen sie an der Seite ihrer Gatten, umgeben von ihren Kindern und Verwandten, so daß diejenigen, die zusammenstehen, am meisten Ursache haben, einander gegenseitig zu helfen. Es gilt als große Schande für einen Gatten, ohne die Gattin, für den Sohn, ohne den Vater heimzukehren.«

»Ihre Priester heiraten die durch ihre Eigenschaften hervorragendsten Frauen des Landes; die Frauen selbst sind keineswegs vom Priestertum ausgeschlossen, werden indes selten dazu erwählt, und dann nur ältere Witwen.«

Diese Zitate dürften genügen, die Formen der Familie und Ehe usw. der Utopier erkennen zu lassen. Die Ausführungen darüber vollständig wiederzugeben, würde zu weit führen, da sie sehr ausgedehnt sind.

2. Kritik.

Wir haben bereits darauf hingewiesen, mit welcher liebevollen Ausführlichkeit die gemeinsamen Mahlzeiten der Utopier beschrieben sind. Das ist nicht Zufall, nicht persönliche Liebhaberei Mores, sondern entspringt aus dem Wesen seines Kommunismus. Die Großindustrie, von der der moderne Sozialismus ausgeht, ist ein System gesellschaftlicher Arbeit; ein großindustrieller Betrieb erheischt das gemeinsame und planmäßige Zusammenarbeiten Hunderter, ja Tausender von Männern, Frauen und Kindern. Was der moderne Sozialismus anstrebt, ist die Ausdehnung dieses gesellschaftlichen Charakters der Arbeit innerhalb der einzelnen Betriebe auf die gesamte Produktion des Gemeinwesens und die Anpassung der Aneignungsweise an die Produktionsweise. Der kommunistische, oder wenn man will, sozialistische Charakter des ganzen gesellschaftlichen Wesens, wie ihn der moderne Sozialismus anstrebt, geht aus dem heute bereits bis zu einem gewissen Grade bestehenden gesellschaftlichen Charakter der Arbeit hervor.

Das Handwerk und die bäuerliche Landwirtschaft, von denen More ausging, bedingen dagegen bis zu einem gewissen, sehr hohen Grade die Isolierung der einzelnen Kleinbetriebe voneinander. Um so größeren Nachdruck mußte er daher auf den gesellschaftlichen Charakter der Mahlzeiten und der Vergnügungen legen. Für den modernen Sozialismus ist die Gemeinsamkeit auf diesem Gebiete ein Punkt von sekundärer Bedeutung, für den Moreschen Sozialismus eine Lebensbedingung. – In diesem Punkte berührt sich More mehr mit den sogenannten sozialistischen Erscheinungen des Altertums, vor allem dem platonischen Kommunismus, als mit dem heutigen Sozialismus.

Die gemeinsamen Mahlzeiten waren aber für More wichtig nicht nur als Mittel, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu festigen, sondern auch als Mittel, um die Frau, wenigstens zum Teil, von der Arbeit des Haushalts zu emanzipieren.

Damit sind wir auf ein Gebiet gelangt, das im allgemeinen einen guten Prüfstein für den Charakter eines sozialistischen Systems abgibt. Aus der Haltung, die ein Sozialist der Frau gegenüber einnimmt, kann man in der Regel bereits erkennen, selbst wenn man sonst nichts von ihm weiß, welcher Richtung er zuzuzählen ist.

Diejenigen, welche man als kleinbürgerliche oder gar als reaktionäre Sozialisten bezeichnen kann, verweisen die Frau in die Sphäre der Einzelhaushaltung und schließen sie damit vom öffentlichen Leben aus. Ganz anders der moderne proletarische Sozialismus. Er geht aus von der Großindustrie, von einer Produktionsweise, welche die verschiedenen Zweige der Arbeit des Einzelhaushalts in berufsmäßig betriebene öffentliche Industrien verwandelt und den Einzelhaushaltungen der Arbeiter, soweit sie noch bestehen bleiben, immer mehr den Stempel der Vergeudung von Arbeit und Material aufdrückt, einer Vergeudung, die für den Vorsteher des Haushalts nur dadurch einigermaßen erträglich wird, daß die Hausfrau ihre Arbeitskraft ins Ungemessene ausgibt und ihre Ansprüche ans Leben auf das mindeste Maß reduziert.

Die Arbeit der Frau im Einzelhaushalt des Arbeiters wird so nicht nur immer überflüssiger, sondern auch zu einer immer unerträglicheren Last, in erster Linie für die Frau, in zweiter Linie auch für den Gatten.

Gleichzeitig damit schafft aber auch die Großindustrie in immer steigendem Maße die Möglichkeit und die Vorteilhaftigkeit der industriellen Verwendung der Frauen. Und dadurch wird sie aus der Enge und Isoliertheit ihrer Haushaltung ans Leben der Öffentlichkeit gezogen, sie wird in den Klassenkampf gestoßen, damit wird ihr das Interesse an der politischen Entwicklung aufgedrängt und schließlich in ihr der Drang nach politischer Betätigung erweckt.

Die Emanzipation der Frau vom Haushalt zieht unfehlbar ihre politische Emanzipation nach sich. Die Gleichstellung der Geschlechter im öffentlichen Leben ist demnach die Forderung jedes modernen proletarischen Sozialisten, und ebenso die jedes der großen Utopisten, die nicht von einer kleinbürgerlichen, sondern einer kapitalistischen Grundlage ausgingen.

More ist es in diesem Punkte ähnlich gegangen, wie wir es schon bezüglich anderer Punkte beobachtet: er antizipierte einen Grundsatz des modernen Sozialismus, ehe noch die materiellen Bedingungen gegeben waren, auf denen dieser fußt. Er gelangte dazu durch eine logische Gedankenarbeit, indem er von den kapitalistischen Keimen ausging, die er vorfand.

Wir haben gesehen (im ersten Abschnitt), wie die Bourgeoisfrau, zunächst die Frau des Großkaufmanns, von der Arbeit des Haushalts emanzipiert und dadurch zu geistiger und öffentlicher Betätigung befähigt wurde. Wir haben ferner gesehen, wie More, der Humanist und Vertreter der kapitalistischen Kaufmannschaft, theoretisch und praktisch in weitgehender Weise die Idee der Frauenemanzipation vertrat. Aber dadurch, daß er in die Idee der Emanzipation der Frau den kommunistischen Grundsatz der gleichen Arbeitspflicht aller einführte, erhielt sie ein ganz anderes Gesicht, als bei den Frauenemanzipatoren des Humanismus; die Emanzipation der Burgeoisfrau auf Grundlage der Ausbeutung wurde zur Emanzipation jeder Frau im Gemeinwesen auf Grundlage ihrer beruflichen Arbeit. Hat More damit ein glänzendes Zeugnis dafür abgelegt, wie weit ein genialer Forscher die Ziele der gesellschaftlichen Entwicklung vorwegnehmen kann, wenn er die tatsächliche Entwicklung begreift, die vor seinen Augen vor sich geht, so hat More aber auch gleichzeitig bewiesen, wie unvollkommen eine solche Ahnung stets sein muß, da die Idee in denselben Verhältnissen, von denen sie ihren Anstoß erhält, auch ihre Schranken findet.

More erreichte durch seine Anordnung der gemeinsamen Mahlzeiten nur zum Teil die Emanzipation der Frau vom Einzelhaushalt, da er eine mächtige Grundlage desselben bestehen lassen mußte: die bäuerliche und handwerksmäßige Produktionsweise.

Dieselbe bedingt, daß jedem gesonderten Betrieb eine gesonderte Haushaltung entspricht, eine Familie, wie sie typisch in der römischen Familie entwickelt war. (Vergl. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates. Stuttgart 1886. S. 33.) Das römische Wort familia, bezeichnet in der Tat nicht die Gesamtheit der durch Blutbande Verbundenen, sondern die Gesamtheit der zu einem bestimmten Betriebe Verbundenen. Es war natürlich, daß vor allem die Gattin und die Kinder des Bauern mit ihm zur Bearbeitung des Bodens, Weidung des Viehes usw. verbunden waren; danach seine Enkel usw., wenn die Ausdehnung des Betriebs es erheischte. Aber die Sklaven, die außer diesen Nächststehenden auch im Betrieb mitwirkten, gehörten in Rom ebenfalls zur Familie; Kinder dagegen, die aus dem Betrieb austraten, zum Beispiel Töchter, die heirateten, hörten damit auf, zur Familie zu gehören. Das Familienhaupt war der Leiter des Betriebs und als solchem waren ihm die Familienmitglieder unbedingten Gehorsam schuldig. Ihm gegenüber nahmen in der römischen Familie die Kinder dieselbe Stellung ein wie die Sklaven, und es ist charakteristisch, daß der Sohn von der Oberhoheit des Vaters (patria potestas) nur dadurch frei werden konnte, daß dieser ihn wie einen Sklaven, wenigstens zum Schein, verkaufte, und zwar dreimal. Selbst die Familienmutter war dem Hausvater unterworfen.

In ähnlicher Weise, wenn auch nicht so schroff, stellt sich auch die bäuerliche patriarchalische Familie und Haushaltung im Mittelalter dar. Auch sie war die Gesamtheit derjenigen, die zur Führung eines bestimmten, abgesonderten bäuerlichen Betriebs verbunden waren, eine ökonomische Einheit.

Auch beim mittelalterlichen Handwerk bildet jeder Betrieb einen Haushalt, eine Familie für sich, zu der die Kinder des Meisters nicht gehören, die in anderen Betrieben tätig sind, zu der dagegen Lehrlinge und Gesellen gehören, auch wenn sie mit dem Meister nicht verwandt sind, was jedoch oft der Fall ist. Mancher Kunstgriff ist Familiengeheimnis, und leicht lernt vom Vater der Sohn, der ihm von Kindesbeinen an zugesehen hat. Mitunter ist ein Betrieb ausschließlich auf eine Familie (im Sinne der Blutsverwandtschaft) beschränkt und in ihr erblich. Wie beim Bauern sind auch beim mittelalterlichen Handwerker der Erwerbsbetrieb und die Haushaltung fest miteinander verbunden. Diejenigen, die gemeinsam produzierten, konsumierten auch gemeinsam. Der Hausvater war der Leiter der Produktion, aber nicht der ausschließliche Aneigner des Produktes der Familienarbeit.

Anders bei einem kapitalistischen Betrieb. Dieser ist von vornherein, wo er typisch auftritt, vom Haushalt des Betriebsinhabers und Betriebsleiters getrennt; damit einerseits die Möglichkeit für den Lohnarbeiter gegeben, einen eigenen Haushalt zu gründen, die dem zünftigen Gesellen fehlte; andererseits aber auch die Möglichkeit gegeben, daß der Arbeiter verhungert, indes der Betriebsinhaber im Überfluß schwelgt, während im zünftigen Handwerk beide am gleichen Tische speisten. Unter der Rückwirkung des Kapitalismus auf das Handwerk wurde auch bei diesem die Einheit von Betrieb und Haushalt nach und nach gelockert und schließlich völlig beseitigt. Beim Bauern dauert sie dagegen heute noch in der Regel fort.

Zu Mores Zeit war der Haushalt in Landwirtschaft und Industrie noch fest mit dem Betrieb verbunden. Lockerte More auch dieses Band durch seine gemeinsamen Mahlzeiten (wenigstens für die städtischen Handwerker, nicht für die Landbewohner), so konnte er es doch nicht völlig lösen. Wir finden daher bei ihm die patriarchalische Familie, man könnte fast sagen, in klassischer Gestalt, weil als bloßes Gedankending von jedem störenden Beiwerk befreit, welches das Wesen der realen Dinge umhüllt und oft so schwer erkennen läßt. Die Familien der Utopier sind Produktivassoziationen, wie die Handwerkerfamilien des Mittelalters, zum großen Teil, aber nicht notwendig, durch Blutbande zusammengehalten. Die Größe derselben wird durch technische Rücksichten bestimmt. Die bäuerlichen Familien sind größer als die Handwerkerfamilien; jene zählen mindestens 40, diese nur 10 bis 16 erwachsene Mitglieder, überschüssige Mitglieder aus einer Familie füllen die Lücken einer anderen aus. Der Älteste ist Leiter des Betriebs, Herr über alle Familienmitglieder.

Indem More den Einzelhaushalt, die patriarchalische Familie in sein utopisches Gemeinwesen übernahm, übernahm er selbstverständlich auch deren Konsequenzen, wenn er sich auch bemühte, sie möglichst abzuschwächen, soweit sie der Frau ungünstig waren.

Er ließ nicht nur die Unterordnung der Frau unter den Mann bis zu einem gewissen Grade bestehen, sondern auch die Formen der geschlechtlichen Beziehungen, die der patriarchalischen Familie eigentümlich waren, die Forderung der Keuschheit des Mädchens vor der Ehe, das strenge Verbot des Ehebruchs oder der Lösung der Ehe durch die Gattin usw. So tief haben sich diese Bestimmungen eingewurzelt, daß sie selbst heute noch vielfach unverändert gelten, obgleich manche ihrer materiellen Grundlagen sich bereits verändert haben.

Um so weniger konnte More vor bald vier Jahrhunderten darüber hinaus. Das einzige, was er tun konnte, war, die Strenge der ehelichen Beziehungen zu mildern. Aber vielfach hat er sie sogar verschärft, indem er in seinem Bestreben, die Gleichheit beider Geschlechter herbeizuführen, die für die Frauen geltenden Einschränkungen auf die Männer ausdehnte, statt den Frauen die Freiheit der Männer zu geben. So verlangt er von beiden Geschlechtern Keuschheit vor der Ehe, verbietet beiden den Ehebruch. In bezug auf die Ehescheidung ließ er sich zu Milderungen herbei, aber nur zu geringfügigen. Indes wollte er doch, daß die Ehen auf gegenseitiger Neigung beruhten, eine notwendige Forderung, wenn die Frau nicht die Sklavin des Mannes sein und wenn diesem jeder außereheliche Verkehr verboten sein sollte. Um also nachfolgende Reue und den Wunsch nach einer Ehescheidung auszuschließen, kam er auf den sonderbaren Einfall, Braut und Bräutigam einander vor der Ehe nackt besichtigen zu lassen, durch welchen Einfall uns der leise Seufzer unseres Thomas darüber durchzuklingen scheint, daß es ihm nicht vergönnt war, die Reize seiner Alice vor der Hochzeit zu Gesichte bekommen zu haben: er hätte damit vielleicht vollauf genug gehabt.

Solche Spintisierereien sind die naturnotwendigen Folgen des Bestrebens, die Möglichkeit der Realisierung einer Idee auszuklügeln, solange sich die tatsächlichen Verhältnisse nur gerade so weit entwickelt haben, um den Anstoß zu dieser Idee zu geben, ohne die Bedingungen zu bieten, die zu ihrer Verwirklichung nötig sind.

In seinen Ausführungen über Familie und Ehe hat das Genie Mores einen noch schwierigeren Kampf mit den ihn einengenden tatsächlichen Verhältnissen zu führen gehabt, als in seinen Ausführungen über die Produktionsweise. Noch viel mehr als in diesen finden wir daher in jenen neben Grundsätzen, die dem modernen Sozialismus eigentümlich sind, solche, die einer vergangenen Produktionsweise, einer vergangenen Familienform entsprechen. Modern ist sein Grundsatz der gemeinsamen Mahlzeiten, der Beteiligung der Frauen am öffentlichen Leben, natürlich in seinen damaligen Formen, am Kriegswesen und Priestertum und, wie wir noch sehen werden, an der Beamtenwahl und dem Studium.

Die Aufrechthaltung der Unterordnung der Frau und des patriarchalischen Einzelhaushaltes stehen dagegen im Widerspruch mit den Tendenzen des modernen Sozialismus und auch im Widerspruch zu den Tendenzen des Moreschen Sozialismus selbst.

Mit Plato hat er auch auf dem hier behandelten Gebiet wenig gemein. Ob More wirklich jemals für die Weibergemeinschaft schwärmte, ist schwer zu beurteilen. Erasmus, der uns das erzählt, besaß zu wenig Verständnis für den Sozialismus Mores, um als völlig sichere Quelle darüber zu gelten. Sicher ist, daß More in der »Utopia« die strenge Einzelehe und die freie Gattenwahl forderte und damit in direktem Widerspruch zu Plato stand, der mit lakonischer Ungeniertheit und attischer Weiberverachtung die Weibergemeinschaft pries und daneben geschlechtliche Zuchtwahl nach obrigkeitlicher Anordnung, beides Einrichtungen, die dem modernen Gefühl gänzlich widerstreben.

Steht More darin viel ferner von Plato als von uns, so sind beide einander viel näher und vom modernen Sozialismus verschieden in ihrer Stellung zur Bevölkerungsfrage. Jeder der beiden hält es für notwendig, daß die Bevölkerung seines idealen Gemeinwesens stationär bleibe. Die Mittel, durch welche das Gleichbleiben der Bevölkerungszahl erzielt werden soll, sind freilich bei beiden sehr verschieden. Die Kinderaussetzung und der Abortus, die Plato als etwas Naheliegendes vorschlägt, kamen More nicht in den Sinn. Er empfiehlt eine sozialistische Kolonial- und Auswanderungspolitik, die zu der wirklichen Politik seiner Zeit in schroffem Widerspruch steht. Nicht Unterjochung und Ausbeutung der Eingeborenen der Kolonie wollte er, sondern ihre Aufnahme als gleichberechtigte Bürger und ihre Teilnahme an den Vorteilen der höheren Produktionsweise, die ihnen die Kolonisten brachten.

Das Beharren der Bevölkerung auf einem bestimmten Stande mußte er jedoch ebenso wie Plato voraussetzen, da beide ihr Gemeinwesen auf der Grundlage von Bauerntum und Handwerk aufbauten. Diese Produktionsformen sind konservativ, sie entwickeln die Produktivkraft der Arbeit nur langsam und unmerklich; sie verknöchern oft, sobald sie eine gewisse Höhe erreicht haben. Wenn einmal der gesamte fruchtbare Boden eines Landes okkupiert worden, ist auf Grundlage der bäuerlichen Landwirtschaft ein merkliches Wachstum der Bevölkerung ohne Schädigung derselben nicht mehr möglich.

Anders gestaltet sich die Bevölkerungsfrage, sobald der großindustrielle Betrieb in Gewerbe und Landwirtschaft ersteht. Diese Produktionsform nimmt die Wissenschaft in ihren Dienst und wird durch deren unermüdliches Forschen und Entdecken unaufhörlich revolutioniert, die Produktivität der Arbeit ununterbrochen gesteigert und dadurch ein gewisses stetiges Wachstum der Bevölkerung ermöglicht. Mitunter wird ein solches Wachstum geradezu eine Vorbedingung weiterer Fortschritte dieser Produktionsweise. Die Produktivität der Arbeit kann um so mehr wachsen, je mehr die Arbeitsteilung in der Gesellschaft sich entwickelt, je mehr jeder einzelne Betrieb sich nur auf die Herstellung eines bestimmten Gegenstandes beschränkt, je massenhafter er diesen erzeugt. Das stetige Wachstum dieser Massenproduktion und des Massenabsatzes ist eine Vorbedingung des Fortschritts der Produktionsweise unter den heutigen technischen Verhältnissen. Ein solches Wachstum ist möglich durch Erhöhung der Lebenshaltung, also Steigerung des Konsums der einzelnen, und durch Vermehrung der Zahl der Konsumenten, also entweder durch Erweiterung des Absatzgebiets im räumlichen Sinne, oder durch Vermehrung der Bevölkerung.

Man kann eine Regelung dieser Zunahme unter gewissen Umständen für geboten halten. Eine Beschränkung der Bevölkerung auf eine bestimmte unüberschreitbare Zahl, wie More sie verlangte und verlangen mußte, ist jedoch dem Wesen der modernen Produktionsweise wie des modernen Sozialismus zuwider.


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