Karl Kautsky
Thomas More und seine Utopie
Karl Kautsky

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Dritter Abschnitt: »Die Utopia«

Erstes Kapitel. More als Ökonom und Sozialist.

1. Die Wurzeln von Mores Sozialismus.

Als Humanist, als Politiker stand More in erster Reihe unter seinen Zeitgenossen, als Sozialist war er ihnen allen weit voraus. Seine politischen, religiösen, humanistischen Schriften werden heute nur noch von einer sehr geringen Zahl von Historikern gelesen. Hätte er seine »Utopia« nicht geschrieben, sein Name wäre heute kaum bekannter als etwa der seines Freundes und Schicksalsgenossen, des Bischofs Fisher von Rochester. Sein Sozialismus hat ihn unsterblich gemacht.

Woher stammt dieser Sozialismus?

Wir glauben nicht, wie die Historiker der idealistischen Schule, an einen heiligen Geist, der die Köpfe erleuchtet und mit Ideen erfüllt, denen sich die politische und ökonomische Entwicklung anzupassen hat. Wir gehen vielmehr von der Ansicht aus, daß die Widersprüche und Gegensätze, welche die ökonomische Entwicklung in der Gesellschaft erzeugt, besonders glücklich veranlagte und situierte Menschen zum Denken anregen und zum Forschen bewegen, um die vor ihren Augen vor sich gehende Entwicklung zu verstehen und die Leiden, die sie mit sich bringt, zu beseitigen. Auf diese Weise entstehen die politischen und sozialen Ideen, die um so mehr auf ihre Zeitgenossen oder mindestens bestimmte Klassen derselben wirken, je mehr sie den tatsächlichen augenblicklichen Verhältnissen entsprechen, je mehr sie im Interesse der aufstrebenden Klassen liegen, je richtiger sie sind. Daher kommt es, daß bestimmte Ideen nur unter bestimmten Verhältnissen wirken, daß Ideen, die zu einer gewissen Zeit auf Gleichgültigkeit, ja Hohn stoßen, einige Jahrzehnte später mit Enthusiasmus, oft ohne tiefere Prüfung als selbstverständlich aufgenommen werden. Die idealistischen Geschichtschreiber sind nicht imstande, zu erklären, wieso das kommt; sie müssen also, wie alle idealistischen Philosophen, in letzter Linie zum lieben Gott ihre Zuflucht nehmen, zu einem Mysterium: es ist der »Zeitgeist«, der entscheidet, ob eine Idee in der Gesellschaft Geltung erlangen soll oder nicht. Dieser Zeitgeist ist, wenn auch von Freidenkern und Atheisten akzeptiert, nichts als eine Neuauflage des heiligen Geistes.

Nur die materialistische Geschichtsauffassung erklärt die jeweilige Wirkung bestimmter Ideen. Es fällt ihr nicht ein, zu leugnen, daß jede Epoche ihre besonderen Ideen hat, die sie bestimmen, daß diese Ideen die Lokomotiven der gesellschaftlichen Entwicklung bilden. Sie bleibt aber dabei nicht stehen, sondern forscht nach der Triebkraft, welche diese Lokomotiven in Bewegung setzt, und findet sie in den materiellen Verhältnissen.

Es ist klar, daß sich Ideen einige Zeit vorher bilden müssen, ehe sie auf die Massen eine Wirkung ausüben können. Man wirft den Volksmassen gern vor, daß sie zu neuerungssüchtig seien. Sie hängen im Gegenteil ungemein zäh am Alten. Der Gegensatz der neuen ökonomischen Verhältnisse zu den überlieferten und den diesen entsprechenden Ideen muß schon ein ziemlich hochgradiger geworden sein, ehe sich die Masse seiner bewußt wird. Wo der Scharfblick des forschenden Denkers bereits unüberbrückbare Gegensätze der Klassen sieht, da bemerkt der Durchschnittsmensch nur zufällige persönliche Zwistigkeiten; wo der Forscher soziale Übel sieht, die nur durch soziale Umwälzungen beseitigt werden können, da tröstet sich der Durchschnittsmensch noch immer mit der Hoffnung, die Zeiten seien nur vorübergehend schlecht, sie werden bald wieder besser werden. Wir reden da gar nicht von den Mitgliedern verkommender Klassen, die in ihrer Mehrzahl nicht sehen wollen, sondern haben die aufstrebenden Klassen im Auge, deren Interesse es ist, zu sehen, die aber nicht sehen können, ehe sie nicht mit der Nase auf die neuen Verhältnisse gestoßen werden.

So kommt es, daß es so oft hochbegabte Denker gegeben hat, die ihrer Zeit voraus waren, das heißt ihren Zeitgenossen. Auch sie konnten nicht bestimmte Ideen entwickeln, ehe die denselben entsprechenden materiellen Verhältnisse vorhanden waren. Auch ihre Ideen wurden durch neu sich bildende materielle Verhältnisse bedingt, aber diese waren noch nicht scharf genug ausgeprägt, um die aufstrebenden Klassen für jene Ideen empfänglich zu machen.

Ein Denker kann aber, auf den materiellen Verhältnissen fußend, seiner Zeit noch um eine ganze Epoche weiter voraus sein, wenn er eine neuauftauchende Produktionsweise und ihre sozialen Konsequenzen nicht nur früher erkennt als die Mehrzahl seiner Zeitgenossen, sondern, davon ausgehend, durch einen dialektischen Prozeß im Kopfe bereits zu einer Ahnung der Produktionsweise gelangt, die ihr Gegenteil bildet, die sich aus ihr entwickeln wird.

Thomas More ist einer der wenigen, denen dieser kühne Gedankensprung gelungen ist: zu einer Zeit, wo die kapitalistische Produktionsweise noch in ihren ersten Anfängen war, gelang es ihm bereits, in deren Wesen so weit einzudringen, daß die gegensätzliche Produktionsweise, die er in seinem Kopfe ausmalte und jener entgegenstellte, um ihre Schäden zu beseitigen, schon mehrere der wesentlichsten Grundzüge des modernen Sozialismus enthält. Seine Zeitgenossen haben die Tragweite seiner Darlegungen natürlich nicht begriffen. Er selbst gelangte nicht zum vollen Bewußtsein derselben. Erst heute können wir sie voll ermessen: trotz der kolossalen ökonomischen und technischen Umwälzungen der letzten drei Jahrhunderte finden wir in der »Utopia« eine Reihe von Tendenzen, die heute noch in der sozialistischen Bewegung wirksam sind.

Da wir, wie gesagt, nicht zu den Historikern gehören, die die Ideen vom heiligen Geiste ableiten, so ist die erste Frage, die sich uns bei einer so außergewöhnlichen Erscheinung aufdrängt, die nach ihren Ursachen. Wollen wir nicht auf Spiritismus und Hellseherei verfallen, dann muß es eine eigentümliche Verkettung von Umständen gewesen sein, die den einzigen More zu seiner Zeit geneigt und befähigt zu sozialistischen Theorien machte – der Sozialismus Münzers war ganz anderer Natur als der Mores und kann daher hier nicht in Betracht kommen.

Trotzdem keiner der Biographen Mores sich bisher – aus naheliegenden Gründen – mit dieser Frage befaßt hat und More selbst uns darüber nur wenig Aufschlüsse gibt, glauben wir wenigstens einige dieser Ursachen, teils persönlicher, teils lokaler Natur, aufzeigen zu können, die im Zusammenhang mit der allgemeinen Situation, die wir im ersten Abschnitt schilderten, es verständlich machen, daß der Sozialismus früher als der Kapitalismus, sein Vater, einen theoretischen Ausdruck gefunden hat.

Diese Umstände sind, kurz zusammengefaßt, Mores persönlicher Charakter, seine philosophische Schulung, seine ökonomische Tätigkeit und die ökonomische Situation Englands.

Mores persönlicher Charakter darf wohl als eine der Ursachen seines Sozialismus betrachtet werden. Wir haben von Erasmus gehört, wie liebenswürdig, hilfsbereit, voll Mitleid für die Armen und Unterdrückten More war: er nennt ihn den Schutzpatron aller Armen.

Nur in den nordischen Ländern des Abendlandes waren im sechzehnten Jahrhundert die materiellen Verhältnisse der Bildung so uneigennütziger Charaktere günstig. Je näher nach Italien, desto ungünstiger wurden diese Bedingungen, desto mehr waltete in den Städten der eigensüchtige und eifersüchtige Kaufmannsgeist vor. In den Kaufmannsrepubliken Italiens wie an den Höfen der romanischen Monarchien herrschte die Selbstsucht unumschränkt, der große Charakterzug der neuen Produktionsweise; sie herrschte damals noch offen, kühn, voll herausfordernden revolutionären Trotzes. Es war eine großartige Selbstsucht, gänzlich verschieden von der feigen, verlogenen, niederträchtigen Selbstsucht von heute, die sich selbst als gemein betrachtet und hinter konventioneller Heuchelei verbirgt.

Ganz andere ökonomische Zustände als in den Städten Italiens und, in abgeschwächtem Maße, Frankreichs und Spaniens herrschten im ganzen und großen in denen Deutschlands und Englands. Noch war vielfach die Landwirtschaft und damit die Marktverfassung, also der urwüchsige Kommunismus, die Grundlage auch der städtischen Produktionsweise; die Trennung von Stadt und Land war noch nirgends in voller Schärfe vollzogen. »Noch im Jahre 1589 erkannte der Herzog von Bayern selbst an, daß die Bürgerschaft Münchens ohne gemeine Weide gar nicht bestehen könne. Der Ackerbau muß demnach damals noch ein Hauptnahrungszweig der Bürger gewesen sein.« (G. L. v. Maurer, Geschichte der Städteverfassung, 1. Bd., S. 273.) Im Beginn des sechzehnten Jahrhunderts bestand noch der urwüchsige Agrarkommunismus in England, der sich unter der Decke des Feudalismus erhalten hatte und erst damals anfing, einem anderen System der Landwirtschaft Platz zu machen. Noch herrschten damals, namentlich in der niederen Bevölkerung, die Charakterzüge vor, die dem urwüchsigen Kommunismus entsprachen, und wir finden sie bei More vollständig vor, nur wenig versteckt durch den modernen humanistischen und Höflingsanzug und die Selbstzensur, die ihm die Verhältnisse auferlegten. In seiner Heiterkeit, Zähigkeit, Unbeugsamkeit, Uneigennützigkeit und Hilfsbereitschaft sehen wir alle Charaktereigenschaften des kommunistischen »merry old England« ausgeprägt.

Aber das Mitleid mit den Armen macht noch nicht den Sozialisten. Allerdings, ohne Interesse für das Proletariat wird man kein Sozialist, am allerwenigsten dann, wenn man selbst kein Proletarier ist. Aber damit aus diesem Interesse sozialistische Gesinnungen und Ideen erwachsen, dazu gehört einmal eine eigenartige ökonomische Situation, das Vorhandensein eines arbeitenden Proletariats als dauernder Massenerscheinung und andererseits eine tiefgehende ökonomische Erkenntnis.

Das Bestehen eines bloßen Lumpenproletariats erzeugt die Mildtätigkeit, das Almosen, nicht einen modernen Sozialismus. Ohne ökonomische Erkenntnis gelangt man zu sentimentalen Phrasen und sozialen Schönheitspflästerchen, nicht zum Sozialismus.

In bezug auf die ökonomische Entwicklung war nun England zu Mores Zeit sehr begünstigt, viel mehr, als zum Beispiel Deutschland. In bezug auf die Gelegenheit zu ihrer Erkenntnis war aber Mores Stellung in den nordischen Ländern überhaupt fast einzig. Die einzigen Leute, die damals gelernt hatten, wissenschaftlich, methodisch zu denken, zu generalisieren, von denen also ein theoretischer Sozialismus ausgehen konnte, waren die Humanisten. Der Humanismus war aber im nordischen Europa ein exotisches Gewächs, an dem keine Klasse ein besonderes Interesse hatte. Während die Humanisten in Italien mitten im praktischen Leben standen und daher den ökonomischen und politischen Tendenzen ihrer Zeit und ihres Landes Ausdruck gaben, waren die deutschen Humanisten in ihrer überwiegenden Mehrzahl bloße Schulmeister, die vom praktischen Leben keine Ahnung hatten, die nicht aus der Vergangenheit ihre Waffen holten für die Kämpfe der Gegenwart, sondern sich vor diesen Kämpfen scheu in ihre Studierstuben zurückzogen, um ganz in der Vergangenheit zu leben.

Die Entwicklung Deutschlands trug nicht dazu bei, die Kluft zwischen der Wissenschaft und dem Leben zu schließen. Im Gegenteil, die Roheit, die Barbarei, die Verbauerung, der Deutschland vom sechzehnten Jahrhundert an in immer steigendem Maße verfiel, um sich erst am Ende des achtzehnten Jahrhunderts aus seiner Verkommenheit wieder zu erheben, machte die Erhaltung der Wissenschaft in Deutschland nur möglich dadurch, daß sie sich völlig vom wirklichen Leben abschloß.

Die Grundursache dieses Verkommens Deutschlands lag in der Veränderung der Handelswege seit dem Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, welche in Deutschland die ökonomische Entwicklung nicht nur hinderte, sondern für einige Zeit geradezu in einen ökonomischen Rückgang verwandelte.

Die Entdeckungen der Portugiesen in der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts eröffneten einen Seeweg nach Indien. Gleichzeitig wurden die alten Verbindungen mit dem Orient über Kleinasien und Ägypten durch das Vordringen der Türken unterbrochen, nachdem früher schon die Karawanenstraßen von Zentralasien durch Umwälzungen der dortigen Bevölkerungen verschlossen worden waren. Damit wurde nicht nur der Handel der Länder im Mittelmeerbecken lahmgelegt, sondern auch der der Städte an den großen deutschen Wasserstraßen, die nicht bloß den Handel zwischen Italien und dem Norden vermittelt, sondern zum Teil auch auf anderen Wegen mit dem Orient gehandelt hatten – über Trapezunt und das Schwarze Meer sowie auf dem Landweg über Rußland. Den deutschen Städten, vor allem den Hansastädten an der Ostsee und den Städten im südlichen Deutschland, Nürnberg, Augsburg usw., waren damit die Lebensadern unterbunden. Weniger litten die Städte am Rhein und an den Flußmündungen der Nordsee, aber der Handel, den sie vermittelten, war ein unbedeutender und seine Richtung hatte gewechselt. Er ging nicht von Ost nach West, von Süd nach Nord, sondern umgekehrt. Antwerpen wurde für das sechzehnte Jahrhundert, was Konstantinopel im vierzehnten Jahrhundert gewesen und London im achtzehnten Jahrhundert werden sollte, das Zentrum des Welthandels, der Vereinigungspunkt der Schätze des Orients, zu denen sich nun auch die Amerikas gesellten, die sich von dort aus über ganz Europa ergossen.

Die Nähe Antwerpens mußte auf den Handel Englands, vor allem Londons, die anregendste Wirkung üben. Und bereits zur Zeit Mores versuchte England selbständig überseeische Besitzungen zu erwerben, allerdings anfänglich noch ohne großen Erfolg. In demselben Maße, in dem der Handel Deutschlands sank, hob sich der Englands.

Und schon begannen sich aus dem Kaufmannskapital die Anfänge des industriellen Kapitals zu entwickeln: die Engländer begannen Wollmanufakturen nach flämischem Muster im eigenen Lande anzulegen, und bereits in der Zeit Heinrichs VIII. beginnen die Klagen über den Verfall des selbständigen Handwerkes in der Wollweberei. Italienische Kaufleute in England werden schon zu Richards III. Zeit in einem Parlamentsakt (an Act touching the merchants of italy) angeklagt, daß sie große Mengen Wolle aufkaufen und bei den Webern verarbeiten lassen. Bei dieser Gelegenheit eine kleine Bemerkung: Herr Professor Philippson erzählt uns in seinem »Westeuropa im Zeitalter von Philipp II., Elisabeth und Heinrich IV.«, Berlin 1882, S. 49, daß unter Heinrich VIII. »der kleine Handwerker aufgesogen, ja vernichtet« wurde durch – »die Großindustrie«! Von einer solchen war damals natürlich noch nicht die entfernteste Spur vorhanden, es sei denn, daß man jede von Kapitalisten ausgebeutete Industrie, auch die Hausindustrie, Großindustrie nennen wollte.

Viel mehr aber als diese Keime des industriellen Kapitals machten sich in England zu Mores Zeit die Anfänge der kapitalistischen Produktionsweise in der Landwirtschaft bemerkbar. Es ist eine der merkwürdigsten Eigentümlichkeiten Englands, daß sich der Kapitalismus dort früher in der Landwirtschaft als in der Industrie entwickelte.

Die Ursache davon haben wir schon erwähnt: sie ist in der Güte der englischen Wolle zu suchen, welche sie zu einem weit und breit gesuchten Rohmaterial für die Wollmanufakturen machte. Neben der Wolle waren wichtige landwirtschaftliche Waren in England Bau- und Brennholz – wohl infolge des Anwachsens der Städte – und Gerste für die flämischen Bierbrauereien. Die Nachfrage nach der Wolle wuchs in dem Maße, in dem sich einerseits die Manufakturen, andererseits die Transportmittel entwickelten. Zunächst fand die englische Wolle vornehmlich ihren Markt in den Niederlanden; am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts ging sie aber bereits bis nach Italien einerseits, Schweden andererseits. Man ersieht dies deutlich unter anderem aus zwei Handelsverträgen, die Heinrich VII. 1490 mit Dänemark und Florenz abschloß. (Geo. J. Craik, The history of british commerce. 1. Band, S. 203, 204.)

Mit dem Markte wuchs auch das Streben der Kaufleute und großen Grundbesitzer Englands nach Ausdehnung der Wollproduktion. Das einfachste Mittel hierzu war, daß die letzteren die Gemeindeweiden, auf deren Benutzung die Bauern ein Anrecht hatten, in immer steigendem Maße für sich allein in Anspruch nahmen. Damit verlor der Bauer immer mehr die Möglichkeit, Vieh zu halten, der nötige Dünger ging ihm verloren, sein ganzer Betrieb geriet in Unordnung, die Bauern eilten dem finanziellen Ruin entgegen. Aber die Gier der großen Grundbesitzer nach Land wuchs rascher als die »Befreiung« der Bauern von Grund und Boden vor sich ging. Mit allen möglichen Mitteln wurde nachgeholfen. Nicht bloß einzelne Bauern, nein, mitunter die Bewohnerschaft ganzer Dörfer und selbst kleiner Landstädte wurde verjagt, um den Produzenten der wertvollen Ware, den Schafen, Platz zu machen.

Solange die Grundherren selbst ihre Güter bewirtschafteten, oder, was eine kurze Zeitlang vorkam, Teile derselben durch Pächter bewirtschaften ließen, denen sie das nötige Betriebsmaterial, Ackerbaugeräte, Vieh usw. vorschossen, hatte die Ausdehnung ihrer Güter immer noch eine gewisse Grenze an der Beschränktheit des Betriebsmaterials, das der Grundherr besaß. Eine Erweiterung des Gutes war zwecklos, wenn er nicht die Mittel hatte, gleichzeitig sein Betriebsmaterial zu vermehren. Diese Grenze fiel weg und der Landhunger der großen Grundbesitzer wurde ein maßloser, als der kapitalistische Pächter erstand, der den gepachteten Grund und Boden mit eigenem Kapital durch Lohnarbeiter bewirtschaftete. Diese Klasse tritt in England auf im letzten Drittel des fünfzehnten Jahrhunderts. Sie wächst rasch an im sechzehnten Jahrhundert infolge der unerhörten Profite, die sie damals machte, und die nicht nur die Akkumulation ihres Kapitals beschleunigten, sondern auch Kapitalisten aus den Städten anzogen.

Das Steigen der Profite ist namentlich der Entwertung von Gold und Silber zuzuschreiben, die durch die massenhafte Einfuhr von Edelmetallen aus Amerika nach Europa, zunächst nach Spanien, veranlaßt wurde: die Wirkung dieser Geldentwertung mag durch die Geldfälschungen der Fürsten wohl gefördert worden sein.Rogers (Six Centuries etc., S. 345 ff.) legt den Geldfälschungen unseres Erachtens zu große Bedeutung in diesem Zusammenhang bei.

Die Geldentwertung hatte im Laufe des sechzehnten Jahrhunderts ein Steigen der Preise der Produkte der Landwirtschaft um das Zweieinhalb- bis Dreifache zur Folge. Die Grundrenten stiegen dagegen oft lange Zeit gar nicht, da die Pachtkontrakte für lange Termine liefen, sie wuchsen längst nicht in dem Maße wie die Preise der landwirtschaftlichen Produkte, sie sanken also, wenn nicht nominell, so doch tatsächlich. Der Profit der Pächter wuchs auf Kosten der Grundrente. Das vermehrte nicht nur die Kapitalien und die Zahl der Pächter, sondern es bildete auch einen neuen Sporn für die großen Grundbesitzer, nach Ausdehnung ihrer Güter zu streben, um auf diese Weise ihre Verluste wettzumachen.

Die Folge war eine rasche Proletarisierung der kleinen Bauern. Dazu kam gleichzeitig noch die Auflösung der feudalen Gefolgschaften, auf die wir hier nicht näher einzugehen brauchen, da wir sie schon im ersten Abschnitt behandelt haben und sie in England keine besonderen Eigentümlichkeiten aufweist. Die Gefolgschaften waren auf jeden Fall eine Last für das arbeitende Volk: dort, wo sie blieben, für die tributpflichtigen Bauern, von denen sie zu ernähren waren; dort, wo sie aufgelöst wurden, für die Lohnarbeiter, indem sie die Zahl der Arbeitslosen schwellten.

Das vierzehnte und fünfzehnte Jahrhundert bildeten das goldene Zeitalter für die Bauern und Lohnarbeiter Englands. Am Ende dieses Abschnitts stürzten beide plötzlich und unvermittelt in das tiefste Elend. Die Zahl der Arbeitslosen wuchs zu entsetzlicher Größe an. Die scheußlichsten Strafen waren natürlich weder imstande, ihre Zahl zu vermindern, noch auch sie von Verbrechen abzuhalten: die Strafe des Verbrechens war unsicher; sicher dagegen die Strafe der Enthaltung vom Verbrechen: der Hungertod.

Nicht viel besser als die Lage der Arbeitslosen war die Zahl der besitzlosen Arbeiter, die damals anfingen, in der Landwirtschaft eine zahlreiche Klasse zu bilden. Was die Gesetze der Parlamente in den vorhergehenden zwei Jahrhunderten nur unvollkommen erreicht hatten, das wurde vom sechzehnten Jahrhundert an leicht erreicht durch das erdrückende Gewicht der Reservearmee der Arbeitslosen. Die Reallöhne verringerten sich, die Arbeitszeit wuchs. Die Preise der Lebensmittel stiegen um 300 Prozent, die Löhne nur um 150 Prozent. Von Mores Zeit an begann das stetige Herabsinken der englischen Arbeiter in Stadt und Land, deren Lage im letzten Viertel des achtzehnten und dem ersten des neunzehnten Jahrhunderts ihren tiefsten Stand erreichte, um sich von da an wenigstens für gewisse Schichten zu verbessern infolge der strammen Organisationen der Arbeiter, die sich seitdem bildeten, und der Konzessionen, die sie den herrschenden Klassen abrangen. Die günstige Lage, die ihre Brüder im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert einnahmen, haben jedoch die englischen Arbeiter bisher nicht erreicht, über ein gewisses Maß können sie unter der kapitalistischen Produktionsweise nicht hinaus.

Die Löhne sanken ebenso wie die Grundrenten, die Profite wuchsen und damit der Kapitalismus.

Wenn sich der Kapitalismus zuerst der Industrie bemächtigt und dann erst der Landwirtschaft, so tritt er anfangs anscheinend wohltätig auf. Er muß auf beständige Erweiterung des Marktes, der Produktion hinarbeiten, indes die Zufuhr von Arbeitskräften nur langsam vor sich geht. Die stete Klage einer solchen Industrie am Anfang ist der Arbeitermangel. Die Kapitalisten müssen Handwerker und Bauern überbieten, um ihnen die Gesellen und Knechte wegzulocken; die Löhne steigen.

In dieser Art hat der Kapitalismus in manchen Ländern begonnen, er wurde als ein Segen begrüßt. Anders in England, wo er sich zuerst auf die Landwirtschaft warf und dieselbe revolutionierte, um ihre extensivste Form, die Weidewirtschaft, auszubreiten. Hand in Hand damit ging Überflüssigmachung von Arbeitern durch Verbesserung der Kulturmethoden. Der Kapitalismus in der Landwirtschaft bedeutet stets absolute, direkte Freisetzung von Arbeitern. In England ging diese Freisetzung in ihren schärfsten Formen vor sich, und das zu einer Zeit, wo sich die Industrie nur langsam entwickelte und nur wenig zuschüssige Arbeitskräfte verlangte – und am wenigsten die ungelernter Landarbeiter. Und Hand in Hand mit der Trennung der Arbeiter auf dem Lande von ihrem Produktionsmittel, dem Boden, ging die rasche Konzentration des Grundbesitzes in wenigen Händen.

Nirgends in ganz Europa lagen daher die der Arbeiterklasse ungünstigen Tendenzen der kapitalistischen Produktionsweise gleich in ihren ersten Anfängen so klar zutage, wie in England; nirgends schrien sie dringender nach Abhilfe.

Daß eine solche ökonomische Situation einen Mann von dem Charakter Mores zum Nachdenken veranlaßte und ihn Mittel suchen hieß, den unerträglichen Zuständen abzuhelfen, ist einleuchtend. More war nicht der einzige, der solche Hilfsmittel suchte und vorschlug. Aus zahlreichen Schriften jener Zeit, aus zahlreichen Parlamentsakten ersehen wir, welch tiefen Eindruck die ökonomische Revolution machte, die damals vor sich ging, wie allgemein die schmutzigen Praktiken der Landlords und ihrer Pächter verurteilt wurden.

Aber keiner von denen, die Vorschläge zur Abhilfe machten, hatte einen weiteren Horizont, keiner von ihnen kam zur Überzeugung, daß den Leiden der neuen Produktionsweise nur ein Ende gemacht werden könne durch den Übergang zu einer anderen, höheren Produktionsweise, keiner von ihnen war ein Sozialist, außer More.

Nur im Bereich des Humanismus konnte, wie schon erwähnt, ein theoretischer Sozialismus erstehen. Als Humanist lernte More methodisch denken, generalisieren. Als Humanist erhielt er einen weiteren Gesichtskreis über den Horizont seiner Zeit und seines Landes hinaus: er lernte in den Schriften des klassischen Altertums Gesellschaftszustände kennen, die von denen seiner Zeit verschieden waren. Platos Ideal eines aristokratisch-kommunistischen Gemeinwesens mußte ihm Veranlassung geben, gesellschaftliche Zustände zu ersinnen, die, weil das Gegenteil der bestehenden, von ihrem Elend frei wären. Platos Autorität mußte ihm den Mut geben, ein solches Gemeinwesen für mehr als ein bloßes Hirngespinst zu halten, es der Menschheit als ein erstrebenswertes Ziel hinzustellen.

Insofern war der Humanismus der Entwicklung Mores günstig. Aber die Situation in England war in wissenschaftlicher Beziehung eine ähnliche wie in Deutschland: der Humanismus blieb auch in England ein importiertes exotisches Gewächs, ohne Wurzeln im nationalen Leben, eine bloße Schulmeisterangelegenheit. Wäre More bloßer Humanist gewesen, dann wäre er wohl kaum zum Sozialismus vorgedrungen. Wir wissen jedoch, daß Mores Vater, sehr zum Leidwesen des Erasmus und seiner anderen humanistischen Freunde, ihn den Studien bald entriß, um ihn zunächst an die juristische Schulbank, dann aber mitten in das praktische Leben zu versetzen. Wir wissen, in wie enger Verbindung More mit der Kaufmannschaft Londons stand, wie er ihr Vertrauensmann ward, der bei jeder wichtigen Gelegenheit ausgesandt wurde, ihre Interessen zu vertreten. Die Mehrzahl der Ämter, die More bekleidete, zwangen ihn zur Beschäftigung mit ökonomischen Fragen; die Übertragung dieser Ämter auf ihn beweist aber auch, daß er als ein der Ökonomie kundiger Mann galt.

Wir wissen, daß er ein beliebter Advokat war, daß er seiner Popularität wegen 1509 zum Untersheriff gemacht wurde, in welcher Stellung er genugsam Gelegenheit hatte, Einblick in das ökonomische Leben des Volkes zu gewinnen. Wir haben auch mehrere Gesandtschaften erwähnt, denen er beigesellt wurde, um die kommerziellen Verhandlungen zu führen. Die erste 1515 nach Brügge. In demselben Jahre ernannte ihn das Parlament zu einem der Kommissare der Kanäle (commissioner of sewers), »eine Anerkennung seines praktischen Geschicks«, wie Seebohm sagt (Oxford Reformers, 2. Auflage, S. 337). Seine zweite Gesandtschaft ging 1517 nach Calais, Streitigkeiten zwischen englischen und französischen Kaufleuten beizulegen. 1520 sehen wir ihn als Gesandten in Brügge, um Streitigkeiten zwischen englischen Kaufleuten und den Hanseaten auszugleichen. Dann wird er Schatzkanzler, 1523 Sprecher im Unterhaus, beides Ämter, welche Erfahrung im Finanzwesen voraussetzen, und kurz darauf Kanzler des Herzogtums Lancaster, das heißt oberster Verwalter einer königlichen Domäne: wahrlich, wenn jemand Gelegenheit hatte, das ökonomische Leben seiner Zeit kennen zu lernen, so war es More. Und er lernte es kennen von dem modernsten damaligen Standpunkt aus, von dem des englischen Kaufmanns, vor dem sich eben der Welthandel erschloß. Diese innige Verbindung Mores mit dem Handelskapital kann unseres Erachtens nicht scharf genug hervorgehoben werden. Ihr schreiben wir es zu, daß More modern dachte, daß sein Sozialismus ein moderner ward.

Wir glauben damit die wesentlichsten Wurzeln des Sozialismus Mores bloßgelegt zu haben: sein liebenswürdiger, dem urwüchsigen Kommunismus entsprechender Charakter; die ökonomische Situation Englands, welche die der Arbeiterklasse nachteiligen Folgen des Kapitalismus besonders scharf erkennen ließ; die glückliche Verbindung klassischer Philosophie mit praktischer ökonomischer Tätigkeit – alle diese Umstände vereint mußten in einem so scharfen, so unerschrockenen, so wahrhaften Geiste, wie dem Mores, ein Ideal erstehen lassen, das als eine Vorahnung des modernen Sozialismus gelten darf.

2. Die ökonomische Kritik der »Utopia«.

More hat keine ökonomischen Theorien aufgestellt; dazu war die Zeit noch nicht gekommen. Wie scharf er aber die ökonomischen Verhältnisse seiner Zeit beobachtete und wie klar er bereits den großen Grundsatz erkannte, der eine der Grundlagen des modernen Sozialismus bildet, daß der Mensch ein Produkt der materiellen Verhältnisse ist, in denen er lebt, und daß eine Menschenklasse nur gehoben werden kann durch eine entsprechende Änderung der ökonomischen Verhältnisse, das hat er in seiner »Utopia« bewiesen, deren kritischer Teil in manchen Punkten heute noch den vollen Reiz der Aktualität besitzt.

Wir können Mores ökonomischen Scharfblick, seine Kühnheit und gleichzeitig seine Liebenswürdigkeit nicht besser zeichnen, als wenn wir ihn selbst sprechen lassen.

Wir wollen eine Stelle des ersten Buches der »Utopia« wiedergeben, die eine lebendige Schilderung des ökonomischen Zustandes Englands enthält. Die Stelle bildet eine Episode der Szene beim Kardinal Morton, aus der wir schon im dritten Kapitel des vorigen Abschnitts (S. 137 ff.) einige für Mores kirchlichen Standpunkt charakteristische Ausführungen wiedergegeben haben.

Es ist Raphael Hythlodäus, der uns erzählt, was ihm passierte, als er nach England zum Kardinal Morton gekommen. »Eines Tages, als ich an seiner Tafel saß, war auch ein weltlicher Rechtsgelehrter an derselben, wohlbewandert in den Gesetzen deines (Mores) Landes. Dieser begann, ich weiß nicht, aus welcher Veranlassung, jene strenge Justiz zu loben, welche dort damals gegen Diebe geübt wurde; er erzählte, daß mitunter zwanzig an einem Galgen aufgeknüpft wurden, und es sei um so mehr zu verwundern, meinte er, da so wenige der Strafe entrönnen, welches widrige Geschick es verursache, daß trotzdem noch überall so viele herumstrolchten.

»Darin liegt nichts Wunderbares, erwiderte ich (Raphael), denn ich nahm mir heraus, vor dem Kardinal ungescheut meine Meinung zu sagen, da diese Bestrafung der Diebe ungerecht und dem Gemeinwesen nicht nützlich ist: denn sie ist zu grausam als Bestrafung des Diebstahls und ungenügend zur Abschreckung. Einfacher Diebstahl ist kein so großes Verbrechen, daß es den Tod verdiente. Und es gibt keine Strafe, die schrecklich genug wäre, diejenigen vom Stehlen abzuhalten, denen nur das eine Mittel übrig bleibt, um nicht Hungers zu sterben. In dieser Beziehung gleicht nicht bloß ihr, sondern der größte Teil der Menschen schlechten Lehrern, die ihre Schüler lieber prügeln als belehren. Statt über die Diebe große und entsetzliche Strafen zu verhängen, wäre es besser, Vorkehrungen zu treffen, daß sie ihren Lebensunterhalt finden könnten, so daß kein Mensch gezwungen wäre, zuerst zu stehlen und dann dafür zu sterben.

»Dafür ist völlig ausreichend gesorgt, erwiderte er, sie könnten im Handwerk und in der Landwirtschaft ihr Brot verdienen, wenn sie nicht vorsätzlich nichtsnutzig wären.

»Damit sollst du mir nicht entschlüpfen, erwiderte ich. Ich will nicht von denen reden, die verstümmelt und verkrüppelt aus den Kriegen heimkehren: so vor nicht langer Zeit aus der Schlacht gegen die Leute von Cornwall1497 empörten sich die Bewohner von Cornwall gegen Heinrich VII. und marschierten auf London, wurden aber in der Schlacht von Blackheath geschlagen. und vordem noch aus den Kriegen gegen Frankreich. Von diesen, die ihr Leben für das Gemeinwesen oder den König eingesetzt haben und nun zu schwach oder verkrüppelt sind, um ihr früheres Handwerk fortzubetreiben, und zu alt, um ein neues zu lernen, von denen will ich nicht reden, da Kriege sich nur von Zeit zu Zeit ereignen. Aber betrachten wir die Dinge, die täglich vorkommen. »Da ist zuerst die große Menge von Edelleuten, die müßig, gleich Drohnen, von der Arbeit anderer leben, nämlich von der Arbeit ihrer Bauern (colonis), die sie bis aufs Blut aussaugen, indem sie ihre Abgaben erhöhen. Einzig diesen gegenüber sind sie geizig, sonst von einer Verschwendungssucht, die nicht einmal die Aussicht auf den Bettelstab zügelt. Aber sie begnügen sich nicht damit, selbst müßig zu leben, sie halten auch ungeheure Scharen von müßigen Gefolgen (stipatorum), um sich, die niemals eine Kunst gelernt haben, durch die sie ihr Brot verdienen könnten. Stirbt ihr Herr oder werden sie selbst krank, dann weist man ihnen ohne weiteres die Tür, denn die Edelleute ernähren lieber Faulenzer als Kranke, und oft ist der Erbe des Verstorbenen nicht imstande, ein so großes Haus zu führen wie dieser und so viele Leute zu halten. Die so auf die Straße Geworfenen haben nur die Wahl, entweder ruhig zu verhungern oder zu stehlen und zu rauben. Was könnten sie denn sonst tun? Sind sie so lange herumgewandert, bis ihre Kleider schäbig geworden sind und ihre Gesundheit gelitten hat, dann nimmt sie kein Edelmann mehr in seinen Dienst. Die Bauern aber wagen es nicht, ihnen Arbeit zu geben, da sie sehr wohl wissen, daß solche Leute nicht das Zeug dazu haben, einem armen Manne mit Karst und Spaten für geringen Lohn und schmale Kost ehrlich zu dienen, die aufgewachsen sind in Müßiggang und Lustbarkeiten, gewohnt, mit Schwert und Schild durch die Straßen zu stolzieren und herausfordernd um sich zu blicken, zu hochmütig, um sich zu einem gewöhnlichen Menschen zu gesellen.

»Gerade diese Menschenklasse müssen wir hochhalten, erwiderte der Rechtsgelehrte. Denn in ihnen als Männern mit kraftvollerem Herzen,In der englischen Übersetzung ist nicht vom Herzen, sondern vom Magen die Rede, aus dem die realistischen Engländer gern die Gemütsbewegungen und Temperamente ableiten. So wie hier von »stowter stomackes« und etwas später von »bolde stomackes« die Rede, so heißt es auch in der englischen Bibelübersetzung im 101. Psalm, 5: »whoso hath a proud look and high stomach«; in der Lutherschen Bibel lautet die Stelle: »der stolze Gebärden und hohen Mut hat«. kühnerem Geiste und männlicherem Mute, als wir bei Handwerkern und Bauern finden, beruht die Kraft und Stärke unserer Armee, wenn es zum Kriege kommt.

»Ebensogut könntest du sagen, erwiderte ich, daß man um des Krieges willen Räuber züchten soll. Denn daran wird es euch nie fehlen, solange diese Klasse besteht. Und in der Tat, Räuber sind nicht die schlechtesten Soldaten, und Soldaten nicht die furchtsamsten Räuber; so gut passen beide Beschäftigungen zusammen. übrigens ist dies Übel nicht auf England beschränkt, sondern fast allen Nationen gemein. Frankreich leidet an einer noch verheerenderen Pest. Das ganze Land ist da selbst in Friedenszeiten (wenn man das Frieden nennen kann) von Söldnern erfüllt und belagert, die unter demselben Vorwand zusammengebracht werden, unter dem ihr die müßigen Gefolgschaften erhaltet. Die verrückten Staatsweisen (morosophi) glauben, das Staatswohl erfordere es, eine starke und zuverlässige Besatzung ständig unter den Waffen zu halten, besonders aus Veteranen bestehend, denn zu Rekruten haben sie kein großes Zutrauen. So daß es den Anschein hat, als wenn sie Kriege anzettelten, um geübte Soldaten zu bekommen und gewandte Totschläger, damit nicht, wie Sallust gut sagt, ihre Hände oder ihre Herzen in der Ruhe des Friedens erschlaffen. Aber wie gefährlich und verderblich es ist, solche wilde Tiere zu halten, haben die Franzosen auf ihre Unkosten kennen gelernt, und die Beispiele der Römer, Karthager, Syrier und vieler anderer Völker sprechen laut genug. Bei diesen wurde nicht nur die Staatsgewalt, nein, auch das Landvolk, ja oft sogar die Städte von den eigenen Armeen unversehens angefallen und geplündert. Wie überflüssig ein stehendes Heer ist, kann man daraus ersehen, daß die französischen Söldner, die von den Kindesbeinen in den Waffen geübt werden, sich nicht rühmen, über eure (die englischen) ungeübten, rasch zusammengebrachten Kriegsleute oft den Sieg davongetragen zu haben. Doch darüber will ich kein Wort weiter verlieren, sonst könnte man glauben, ich wollte euch schmeicheln. Aber eure Handwerker der Städte und eure rauhen Ackersknechte scheinen auch keine Furcht vor den Gefolgschaften eurer Edelleute zu besitzen, ausgenommen einige Schwächlinge und vom Elend Gebrochene. Es ist also nicht zu befürchten, daß diese Gefolgen entnervt und kriegsuntüchtig würden, wenn man sie dazu erzöge, durch Handwerk und Landarbeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen und ihre Arme zu kräftigen. Eher werden diese kraftvollen Leute (denn die Edelleute wollen nur auserlesene Männer in ihren Diensten zugrunde richten) heute durch ihren Müßiggang entnervt oder durch weibische Beschäftigungen verweichlicht. Auf keinen Fall scheint es mir von irgend welchem Nutzen für das Gemeinwesen, um des Krieges willen, den ihr nie habt, außer wenn ihr ihn wollt, unzählige Scharen dieser Menschensorte zu halten, die eine solche Plage in Friedenszeiten sind; und auf den Frieden solltet ihr doch tausendmal mehr bedacht sein als auf den Krieg. Aber das ist nicht die einzige Ursache des Stehlens. Es gibt eine andere, die euch Engländern ausschließlich eigentümlich ist.

»Welche ist das? fragte der Kardinal.

»Das sind eure Schafe, erwiderte ich, die sonst so sanft und genügsam waren, und nun, wie ich höre, so gierige reißende Bestien geworden sind, daß sie selbst Menschen verschlingen und ganze Felder, Häuser und Gemeinden verzehren und entvölkern. In den Landesteilen, in denen die feinste und kostbarste Wolle wächst, da bleiben Barone und Ritter und hochwürdige Prälaten nicht zufrieden mit den jährlichen Einnahmen, die ihren Vorfahren und Vorgängern aus dem Lande erwuchsen, nicht zufrieden damit, daß sie ein müheloses und lustiges Leben führen können, dem Gemeinwesen nicht zum Vorteil, sondern eher zur Last: sie verwandeln den Ackerboden in Viehweide, hegen die Weiden ein, reißen Häuser nieder und ganze Städte und lassen nichts stehen als die Kirchen, die sie in Schafställe verwandeln. Und obwohl wenig Grund und Boden bei euch durch Anlegung von Wildgehegen und Parks nutzlos gemacht worden ist, haben diese braven Leute alle bewohnten Plätze, alles Ackerland in Einöden verwandelt.

»So geschieht's,Dieser Absatz ist in der Verdeutschung von Marx (»Kapital« 1. Band, S. 761) wiedergegeben. daß ein gieriger und unersättlicher Vielfraß, die wahre Pest seines Geburtslandes, Tausende von Acres Land zusammenpacken und innerhalb eines Pfahles oder einer Hecke einzäunen, oder durch Gewalt und Unbill ihre Eigner so abhetzen kann, daß sie gezwungen sind, alles zu verkaufen. Durch ein Mittel oder das andere, es mag biegen oder brechen, werden sie genötigt, fortzutrollen, arme, einfältige, elende Seelen! Männer, Weiber, Gatten, Frauen, vaterlose Kinder, Witwen, jammernde Mütter mit ihren Säuglingen, und der ganze Haushalt, gering an Mitteln und zahlreich an Köpfen, da der Ackerbau vieler Hände bedurfte. Wegschleppen sie sich, sage ich, aus der bekannten und gewohnten Heimstätte, ohne einen Ruheplatz zu finden; der Verkauf von all ihrem Hausgerät, obgleich von keinem großen Wert, würde unter anderen Umständen einen gewissen Erlös geben; aber plötzlich an die Luft gesetzt, müssen sie ihn zu Spottpreisen losschlagen. Und wenn sie umhergeirrt, bis der letzte Heller verzehrt ist, was anders können sie tun, außer stehlen, um dann, bei Gott, in aller Form Rechtens gehangen zu werden, oder auf den Bettel ausgehen? Und auch dann werden sie ins Gefängnis geschmissen als Vagabunden, weil sie sich herumtreiben und nicht arbeiten; sie, die kein Mensch an die Arbeit setzen will, sie mögen sich noch so eifrig dazu erbieten. Denn die Arbeit des Ackerbaues, die sie verstehen, wird nicht betrieben, wo nicht gesäet wird. Ein einziger Schäfer genügt, um das weidende Vieh auf einem Landstrich zu überwachen, zu dessen Bestellung ehedem zahlreiche Hände erforderlich waren. »Infolge des Rückganges des Ackerbaues werden aber auch in vielen Gegenden die Lebensmittel teurer. Ja, nicht nur das, auch der Preis der Wolle ist gestiegen, so daß die armen Leute, die sonst die Tücher zu weben pflegten, sie nicht mehr kaufen können und ohne Arbeit sind. Denn nachdem man so viel Land in Weidegrund verwandelt hatte, ging eine Menge Schafe an einer Seuche zugrunde; als wenn Gott so sehr über die unersättliche Habsucht sich erzürnt hätte, daß er die Viehseuche unter die Schafe sandte, die besser die Schafsbesitzer selbst befallen hätte. Und wie schnell sich auch die Schafe vermehren, der Preis der Wolle fällt doch nicht. Denn haben die Verkäufer auch kein Monopol, da es mehrere sind, so doch ein Oligopol.Oligos = wenig (griechisch). Poleo = ich handle. Monos = einzeln, einzig. Sind doch die Schafe fast alle in den Händen einiger weniger und zwar sehr reicher Leute, die es nicht notwendig haben, zu verkaufen, wenn es ihnen nicht beliebt, und denen es nicht beliebt, ehe nicht die Preise hoch sind.

»Wegen der Zunahme der Schafe ist auch ein Mangel an anderen Viehsorten eingetreten, da nach Beseitigung der Bauernhöfe niemand mehr sich mit der Aufzucht von Jungvieh abgibt. Denn die reichen Leute züchten nur Schafe. Das Großvieh aber kaufen sie auswärts um ein Billiges, mästen es und verkaufen es dann ungemein teuer wieder. Daher werden meines Erachtens die schlimmen Folgen der jetzigen Zustände noch nicht voll empfunden. Denn die Teuerung macht sich bis jetzt nur dort bemerkbar, wo sie ihr Vieh verkaufen. Aber wenn sie von dort, wo sie ihr Vieh kaufen, mehr fortziehen, als nachwachsen kann, dann wird auch in diesen Gegenden Mangel an Vieh und Teuerung entstehen.

»So hat die blinde Habgier einiger weniger gerade das, worauf das Wohlergehen eures Landes vornehmlich beruhte (die Schafzucht), in die Ursache eures Ruins verwandelt. Denn die Teuerung der Lebensmittel zwingt zur Einschränkung, zur Verminderung des Gesindes, zur Auflösung der Gefolgschaften. Was bleibt den Gefolgen übrig, als zu betteln, oder, wozu edles Blut eher neigt, zu rauben?

»Die Sache wird nicht besser dadurch, daß neben dem Elend und der Not unzeitige Üppigkeit einreißt. Und nicht nur die Gefolgen der Edelleute, nein, selbst die Handwerker und beinahe die Landleute, alle Stände gewöhnen sich an auffallende Kleidermoden und an zu reichliche Mahlzeiten. Und Delikatessen, Kupplerinnen, Bordelle, Weinstuben, Bierstuben, Spielhöllen mit so vielen nichtsnutzigen Spielen, Würfel, Karten, Brettspiele, Kugel- und Ballspiele: werden dadurch nicht alle, die sich damit einlassen, direkt stehlen gesandt, sobald ihr Geld beim Teufel ist?

»Vernichtet alle diese Scheußlichkeiten, erlaßt Gesetze, welche diejenigen zwingen, die Häuser und Dörfer niedergerissen haben, sie wieder aufzubauen oder die Ländereien solchen zu übergeben, die sie wieder bebauen wollen. Duldet nicht, daß die reichen Leute alles aufkaufen und mit ihren Monopolen den Markt beherrschen. Laßt nicht so viele müßig gehen, erweckt den Ackerbau wieder, erneuert die Tuchweberei, so daß die Arbeitslosen ehrlichen Erwerb finden, die bisher aus Armut Diebe wurden oder Landstreicher, oder die müßige Gefolgen wurden und bald Räuber sein werden. Solange ihr für alle diese Übel keine Heilung findet, ist es umsonst, mit strenger Justiz gegen Raub und Diebstahl vorzugehen, einer Justiz, die mehr dem Schein dient als der Gerechtigkeit oder dem Gemeinwohl. Ihr laßt die Menschen in Nichtsnutzigkeit aufwachsen und sie vom zartesten Alter an von Lastern anstecken. Dann straft ihr sie, wenn sie herangewachsen sind und das tun, wozu ihnen von Jugend auf die Neigung eingeflößt worden ist. Ich bitte euch, was tut ihr anderes, als zuerst Diebe züchten und nachher aufhängen?«

Nachdem More durch seinen Helden Raphael Hythlodäus diese scharfe Kritik der ökonomischen Mißstände seiner Zeit gegeben, geht er über zur Untersuchung des besten Strafsystems. Im Gegensatz zu der scheußlichen Blutgesetzgebung seiner Zeit schlug er als Bestrafung des Diebstahls nicht den Galgen, nicht einmal das Gefängnis vor, sondern die Zwangsarbeit. Für seine Zeit eine unerhörte Milde.

Auf diese Ausführungen folgt dann die Kritik der politischen Zustände, von der wir einen bedeutenden Teil schon im letzten Kapitel des zweiten Abschnitts gegeben haben.

Wie nun all diesem Elend, diesen Mißständen abhelfen?

»Es scheint mir zweifellos, lieber More,« erklärte Raphael, »um offen, ohne Hinterhalt zu sprechen, daß, wo das Privateigentum herrscht, wo Geld der Maßstab aller für alles, es schwer, ja fast unmöglich ist, daß das Gemeinwesen gerecht verwaltet werde und gedeihe. Es sei denn, daß man es für Gerechtigkeit hielte, wenn alles Gute den Schlechtesten zufällt, oder für Gedeihen, wenn einigen wenigen alles gehört, welche wenige sich aber auch nicht behaglich fühlen, indes der Rest ein wahrhaft elendes Dasein führt.

»Wie viel weiser und erhabener erscheinen mir dagegen die Einrichtungen der Utopier, bei denen mit wenigen Gesetzen alles so wohl verwaltet ist, daß das Verdienst gebührend geehrt wird, und wo jeder Mensch im Überfluß lebt, trotzdem keiner mehr hat als der andere. Man vergleiche damit andere Nationen, die ununterbrochen neue Gesetze fabrizieren und doch nie gute Gesetze haben, wo jeder Mensch sich einbildet, zu eigen zu besitzen, was er erworben hat, und wo doch die unzähligen Gesetze, die tagaus tagein erlassen werden, nicht imstande sind, jedermann sicherzustellen, daß er sein Eigentum erwerbe oder erhalte, oder genau von dem des anderen unterscheide, wie man deutlich aus den vielen Prozessen ersieht, von denen täglich neue entstehen und keiner endet. Wenn ich alles das überlege, dann muß ich Plato Recht widerfahren lassen und wundere mich nicht darüber, daß er für Völker keine Gesetze machen wollte, welche die Gütergemeinschaft zurückwiesen. Dieser Weise erkannte, daß der einzige Weg zum Heil des Gemeinwesens in der wirtschaftlichen Gleichheit aller bestehe, was meines Erachtens nicht möglich ist, wo jeder seine Güter als Privateigentum besitzt. Denn wo jeder unter gewissen Vorwänden und Rechtstiteln so viel zusammenscharren darf, als er kann, da fällt der ganze Reichtum einigen wenigen anheim, und der Masse der übrigen bleiben Not und Entbehrungen. Und das Schicksal jener wie dieser ist meist gleich unverdient, da die Reichen in der Regel habgierig, betrügerisch und nichtsnutzig sind, die Armen dagegen bescheiden, schlicht und durch ihre Arbeit nützlicher für das Gemeinwesen als für sich selbst.

»Ich bin daher fest überzeugt, daß weder eine gleiche und gerechte Verteilung der Güter noch Wohlstand für alle möglich sind, ehe nicht das Privateigentum verbannt ist. Solange es besteht, werden die Lasten und die Kümmernisse der Armut das Los der meisten und der besten Menschen sein. Ich gebe zu, daß es andere Mittel als das Gemeineigentum gibt, diesen Zustand zu lindern, nicht aber ihn zu beseitigen. Man kann durch Gesetze bestimmen, daß kein Mensch mehr als ein gewisses Maß von Grundeigentum und Geld besitzen soll, daß weder der König eine zu große Macht haben, noch das Volk zu übermütig sein soll, daß Ämter nicht auf Schleichwegen oder durch Bestechungen und Kauf erlangt werden und kein Prunk mit ihrer Bekleidung verbunden sei: da alles das entweder Ursache wird, das verausgabte Geld wieder aus dem Volke herauszuschinden, oder die Ämter den Reichsten zufallen läßt, anstatt den Fähigsten. Durch dergleichen Gesetze können die Übel in Staat und Gesellschaft etwas gelindert werden, etwa wie ein unheilbarer Kranker durch sorgfältige Pflege noch eine Zeitlang aufrecht erhalten werden kann. Aber an eine völlige Gesundheit und Kräftigung ist nicht zu denken, solange jeder Herr seines Eigentums ist. Ja, gerade indem ihr durch solche Gesetze einen Teil des Gesellschaftskörpers bessert, verschlimmert ihr das Geschwür an einem anderen Teil; indem ihr dem einen helft, schädigt ihr dadurch einen anderen, denn ihr könnt dem einen nur geben, was ihr einem anderen genommen habt.«

»Ich bin der gegenteiligen Meinung,« erwidert More, das heißt der More der »Utopia«, denn Thomas Mores wirkliche Ansichten werden von Raphael ausgesprochen. »Ich glaube, die Menschen werden unter der Gütergemeinschaft sich niemals wohl befinden. Wie kann ein Überfluß von Gütern herrschen, wenn jeder suchen wird, sich der Arbeit zu entziehen? Niemand wird durch die Aussicht auf Gewinn zur Arbeit angespornt werden, und die Möglichkeit, sich auf die Arbeit anderer zu verlassen, muß Trägheit erzeugen. Und wenn nun Mangel unter ihnen einreißt und niemand durch das Gesetz in dem Besitz dessen geschützt wird, was er erworben hat, muß da nicht beständig Aufruhr und Blutvergießen unter ihnen wüten? Jede Achtung vor den Behörden muß ja schwinden, und ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, welche Rolle sie spielen werden, wenn alle Menschen gleich sind.«

»Ich wundere mich nicht über diese Ansichten,« erwiderte Raphael, »denn du stellst dir ein solches Gemeinwesen entweder gar nicht oder falsch vor. Wärst du mit mir in Utopien gewesen und hättest du die dortigen Sitten und Gesetze kennen gelernt, wie ich tat, der ich dort über fünf Jahre lebte und das Land nie verlassen hätte, wäre ich nicht vom Wunsche getrieben worden, es hier bekannt zu machen: du würdest zugeben, daß du nie eine besser eingerichtete Gesellschaft gesehen hast.«

Damit ist der Anknüpfungspunkt gegeben, um zur Darstellung der Moreschen Idealgesellschaft überzugehen.

3. Die ökonomischen Tendenzen der Reformation in England.

Ehe wir unserem Kommunisten in sein Utopien folgen, müssen wir noch auf eine Frage eingehen, ohne deren Beantwortung unsere jetzige Untersuchung unvollständig wäre: Wie reimt sich Mores Abscheu vor jeder Ausbeutung mit seiner Verteidigung des Katholizismus, der Ausbeutung durch Klöster und den Papst?

Die Antwort darauf ist einfach folgende: Die Ausbeutung des Volkes durch den Katholizismus war in England zur Zeit Mores eine geringe geworden. Viel mehr als diese trat dort die andere Seite des Katholizismus hervor, ein Hindernis der Proletarisierung der Volksmassen zu sein. Gerade als Gegner dieser Proletarisierung durfte also More für den Katholizismus eintreten, ganz abgesehen von den von uns bereits erörterten politischen und humanistischen Motiven, die ihn dazu bewogen.

England war eines der Länder gewesen, die am frühesten und stärksten der päpstlichen Ausbeutung verfallen waren. Seit dem vierzehnten Jahrhundert schwand aber immer mehr die Abhängigkeit Englands vom Papsttum, wie bereits im vierten Kapitel des zweiten Abschnitts ausgeführt, und damit verringerte sich auch zusehends die Ausbeutung Englands durch den römischen Stuhl. Es lag völlig im Belieben der Könige, wie weit sie diese duldeten. Die Päpste konnten nur dadurch Geld aus England herausbekommen, daß sie die Beute mit den Königen teilten. Der »Heilige Vater« und der »Verteidiger des wahren Glaubens« feilschten miteinander wie polnische Juden um den Anteil an dem Ertrag der päpstlichen Spekulationen auf die Dummheit. Als es sich um den Ablaßverkauf handelte, der den Anstoß zur Reformationsbewegung geben sollte, da bot der Papst Heinrich VIII. ein Viertel des Geldes, welches für die Ablässe in England gelöst werde, wenn dieser die Erlaubnis zum Verkauf gebe. Heinrich aber erklärte, mit weniger als einem Dritteil könne er sich nicht zufrieden geben. Die Ablässe wurden so eine Einkommensquelle der Könige, eine neue Steuer, welche die Päpste für sie eintrieben, um dafür, gegen einen Anteil, das volle Odium der Ausbeutung auf sich zu nehmen. Die Päpste waren in England Steuersammler der Könige geworden.

Und nicht nur die weltliche Macht, auch der Klerus war vom Papsttum fast völlig unabhängig geworden und verweigerte die Zahlung der kirchlichen Abgaben nach Rom, wenn es ihm oder dem Königtum nicht paßte. Derselbe Klerus, der Heinrich VIII. sechs Zehnte zahlte, lehnte es ab (1515, ein Jahr vor der Veröffentlichung der »Utopia«), dem Papst auch nur einen Zehnten zu bewilligen. Ja selbst, als dieser seine Forderung auf die Hälfte reduzierte, drang er nicht mit ihr durch.

Eine Losreißung vom Papsttum war also in England keineswegs, wie in Deutschland, das einzige Mittel, der Ausbeutung durch Rom ein Ende zu machen. Wir müssen aber die Stellung Mores gegenüber der deutschen Reformation nach den englischen, nicht nach den deutschen Verhältnissen beurteilen. More erkannte von vornherein, daß die Reformation nicht eine ausschließlich deutsche Angelegenheit bleiben werde, und der Lutheranismus machte sich bald in England bemerkbar. Was sich aber der Lutheranismus in England vor allem zum Ziele setzte, das war nicht so sehr die Losreißung vom Papsttum, als die Konfiskation der Klöster und frommen Stiftungen, die in zahlreichen Flugschriften verlangt wurde. Sie ist später auch in der Tat das mächtigste ökonomische Motiv der Heinrichschen Kirchenreformation geworden. Heinrich wurde zu dieser getrieben aus einem politischen Grunde: seiner Niederlage im Kampfe mit Spanien um den Papst, und aus einem ökonomischen: seiner wachsenden Geldnot, die ihn nach dem Kirchenvermögen greifen ließ, als es untunlich und gefährlich geworden war, den Steuerdruck zu erhöhen. Seine Umgebung ermunterte ihn dazu: Großgrundbesitzer und Landspekulanten, die gierig auf den Augenblick lauerten, der das kirchliche Grundeigentum der »freien Konkurrenz«, das heißt den Landräubern, preisgäbe.

Das Grundeigentum der Kirche war in England ein bedeutendes. Eine Reihe von Zeugnissen gibt es auf ein Drittel des gesamten Grund und Bodens an, ähnlich wie in Deutschland und Frankreich (vergleiche 1. Abschnitt, S.43). Die höchste Schätzung, die wir gefunden, ist bei Wade, History of the middle and working classes, London 1835, S. 38ff., der angibt, der Grundbesitz der Kirche habe in England sieben Zehntel des gesamten Grund und Bodens ausgemacht, eine ungeheuerliche Angabe, für die uns leider nicht einmal die Spur einer Begründung geliefert wird. Wir wissen nicht, woher Wade diese von allen anderen so abweichende Angabe genommen hat. Vielleicht beruht sie auf einem bloßen Mißverständnis.

Auf diesem riesigen Grundbesitz erhielt sich die überlieferte Produktionsweise länger als auf den anderen Gütern Englands. Der Feudalismus war die ökonomische Grundlage, auf der die Macht und das Ansehen der Klöster beruhte. Sie hielten an ihr fest solange als möglich. Natürlich mußten auch sie der neu auftauchenden Produktionsweise Konzessionen machen, aber sie taten es widerwillig. In diesen festgefügten Korporationen erhielten sich die Traditionen des Feudalismus viel lebendiger als in dem neugebackenen Adel, der dem alten von den Rosenkriegen verschlungenen Adel gefolgt war. Während der junge Adel sich kopfüber in die kapitalistische Strömung seiner Zeit stürzte und die Gier nach Profit zu seiner vornehmsten Leidenschaft machte, sahen die Klöster in bezug auf ihr Grundeigentum immer noch die Grundlage ihrer Macht in der Verfügung nicht nur über Land, sondern auch über Leute. Sie fuhren vielfach fort, wie sie im Mittelalter getan, einen Teil ihres Grund und Bodens mit zahlreichen halbfeudalen Arbeitskräften selbst zu bewirtschaften. Sie suchten die Hörigen an sich zu fesseln, indem sie sie gut behandelten, und wenn sie deren Verwandlung in Pächter nicht länger hindern konnten, suchten sie sich ihrer dadurch zu versichern, daß sie ungemein lange Pachtverträge mit ihnen abschlossen. Die Klöster trugen daher zur Proletarisierung des Landvolkes nur wenig bei, ihre Güter waren am dichtesten mit Bauern besetzt.

Man kann sich denken, wie es wirken mußte, wenn alle diese Güter mit einem Schlage der kapitalistischen Ausbeutung preisgegeben wurden. Nicht nur die zahlreichen Bewohner der Klöster wurden ins Proletariat geschleudert, sondern auch der größte Teil ihrer Pächter und Hintersassen. Die Zahl der arbeitslosen Proletarier mußte plötzlich ungemein vermehrt werden. Mit den Klöstern fiel aber gleichzeitig auch die große mittelalterliche Organisation der Armenunterstützung; wir haben diese Rolle der Kirche schon im ersten Abschnitt auseinandergesetzt. England bietet in diesem Punkte keine besonderen Eigentümlichkeiten, wir brauchen ihn also nicht weiter zu berühren. Genug: die Einziehung der Klöster hieß Vermehrung der Zahl der Armen und gleichzeitige Vernichtung ihrer letzten Zuflucht.

More sah, wie in Deutschland die erste Wirkung der Reformation die war, daß Fürsten und Adel das Kircheneigentum an sich zogen; er sah, daß die Lutheraner in England ebenfalls am ungestümsten nach der Konfiskation der Kirchengüter schrien: gerade als Gegner der Proletarisierung und Ausbeutung des Landvolkes mußte er sich also, angesichts der eigentümlichen ökonomischen Situation Englands, gegen die Reformation erklären.

Und die Lutheraner blieben mit ihren Forderungen nicht bei den Klöstern stehen. Sie forderten auch die Einziehung des Gildenvermögens. Das großenteils in Grundeigentum angelegte Gildenvermögen, meist aus Stiftungen bestehend, diente zur Erhaltung von Hospitälern, Schulen und Versorgungshäusern, zur Unterstützung verarmter Zunftgenossen, zu Heiratsausstattungen, Witwen- und Waisenversorgungen und dergleichen. Welch mächtiger Hemmschuh der Proletarisierung, namentlich des Handwerkes, diese Stiftungen waren, ist leicht einzusehen. Zum Teil trugen sie einen kirchlichen Charakter, der Zeit gemäß, in der sie entstanden; sie waren mit Bestimmungen wegen Abhaltung von Seelenmessen, Erhaltung von Kapellen und dergleichen verbunden. Diese Bestimmungen bildeten den Punkt, an den die englischen Lutheraner anknüpften, um ihrer Gier nach dem Gildenvermögen einen religiösen Anstrich zu geben und dessen Konfiskation zu verlangen zur Unterdrückung der »abergläubischen Gebräuche«, die damit verknüpft waren.

So wie die Vertreter der Konfiskation des Kirchen- und Gildenvermögens nicht so sehr mit ökonomischen als religiösen Motiven ihre Forderung begründeten, so auch ihre Gegner deren Zurückweisung. Auch More folgte seinen Widersachern auf dies Gebiet und verteidigte das Kirchenvermögen und die frommen Stiftungen durch eine Verteidigung der Seelenmessen (in seiner supplication of souls, 1529).

Der Kampf um das Kirchengut wurde erst entschieden, nachdem dessen energischster und fähigster Verfechter auf dem Schafott gefallen war. Ein Jahr nach Mores Hinrichtung wurden die kleineren Klöster eingezogen, 1540 die großen Klöster und Abteien. Da diese Konfiskationen infolge der liederlichen Wirtschaft Heinrichs VIII. und der schamlosen Betrügereien seiner Kreaturen der Ebbe im Staatsschatz kein Ende machten und auch die verzweifeltsten Geldfälschungen nichts mehr halfen, schritt man endlich zu dem gewagten Schritt der Vernichtung der Gilden und der Einziehung ihres Vermögens. Im vorletzten Jahre Heinrichs VIII. wurde ein dahin zielendes Gesetz erlassen, aber erst unter Heinrichs Sohn, Eduard VI., kam es zur Ausführung. Auch da wagte man sich an die mächtigen Gilden Londons nicht heran. Diese blieben verschont. (Vergleiche Thorold Rogers, Six Centuries, S. 110, 346 ff.)

Die englische Reformation unter Heinrich VIII. war eine der frechsten Handhaben, die Ausbeutung des Volkes zu steigern und einige charakterlose Kreaturen des Königs zu bereichern. Sie hatte demnach auch keine Wurzeln im Volke, sondern erregte vielmehr in steigendem Maße dessen Abneigung. Und als das, was More vorausgesehen und bekämpft hatte, zur vollendeten Tatsache geworden war, als das Volk den vollen Druck des begangenen Raubes empfand, da kamen die Tendenzen siegreich zum Durchbruch, für die More gestorben: das Volk empörte sich unter Heinrichs Sohne, Eduard VI., 1549 in furchtbarem Aufstand gegen die protestantische Kamarilla. Wohl wurde es niedergeschlagen, aber nach Eduards Tode (1553) gelang es den Volksmassen, die katholische Maria, Heinrichs Tochter von seiner ersten Gattin, der spanischen Katharina, auf den Thron zu erheben.

Wenn More gegen die Reformation auftrat, handelte er also nicht im Widerspruch zu den Interessen des ausgebeuteten Volkes. Sein Verhängnis bestand darin, daß er weiter blickte als die Masse, daß er die Folgen der Reformation voraussah, indes sie dem größten Teile des Volkes erst später zum Bewußtsein kamen, und daß es ihn drängte, sein Leben für seine Überzeugung einzusetzen, in einem Zeitpunkt, als diese noch nicht von einer mächtigen Strömung im Volke getragen wurde.

Die Reformation Heinrichs VIII. war nicht ein Kampf gegen Ausbeutung, sie kam keinem Bedürfnis im Volke entgegen. Erst unter Maria der Blutigen, die auf Eduard VI. folgte, entwickelte sich ein ökonomischer Gegensatz zwischen dem englischen Volke und dem Katholizismus, erst damals erhielt die Reformation des Absolutismus ein ökonomisches Interesse für große Volksklassen, erst damals bereitete sich jener Protestantismus vor, durch dessen Durchführung die Nachfolgerin der Maria, Heinrichs VIII. Tochter von Anna Boleyn, Elisabeth, so populär geworden ist.

Der Gegensatz, der der Reformation in England breitere Volksschichten gewann, war nicht der zwischen England und Rom, sondern der zwischen England und Spanien. Die Ausbeutung Englands durch den Papst war, wie wir wissen, schon vor der Reformation Heinrichs unbedeutend geworden, der Papst deshalb auch in England nicht so verhaßt wie in Deutschland. Aber in dem Maße, in dem England als Handelsstaat in den Vordergrund trat, in dem Maße wurden seine Interessen denen Spaniens feindlicher, der großen Handelsmacht des sechzehnten Jahrhunderts, die das westliche Becken des Mittelmeers beherrschte und nach der Alleinherrschaft auf dem Ozean strebte. Fast überall, wo der englische Handel sich zu entwickeln suchte, fand er den Weg durch Spanien versperrt oder doch eingeschränkt. Er erstarkte in stetem Kampfe gegen den Handel Spaniens, gegen den er mitten im Frieden einen erbitterten Guerillakrieg führte, er erstarkte durch systematische Seeräuberei. Von den Küsten der Pyrenäenhalbinsel bis in die Nordsee lungerten stets englische Kaperschiffe, auf die spanischen Silberschiffe von Amerika lauernd oder auf die reichen Kauffahrer, welche die Schätze Indiens von Lissabon nach Antwerpen führten. (Von 1580 bis 1640 war Portugal eine spanische Provinz.) Neben dem Sklavenhandel ward der Seeraub eine der Grundlagen von Englands Handelsblüte; beide wurden offiziell gefördert. Elisabeth sandte selbst Sklavenschiffe aus, die Schiffe ihrer Kriegsflotte nahmen am Seeraub teil, und Sklavenhändler und Seeräuber, wie der bekannte Weltumsegler Francis Drake, waren ihre Günstlinge. Vergebens suchte die Inquisition Spaniens, der die Hafenpolizei in diesem Lande unterstand, die Seeräuber abzuschrecken, indem sie jeden derselben, dessen sie habhaft wurde, verbrennen ließ. Die Engländer antworteten mit gleichen Grausamkeiten. Schließlich riß Philipp die Geduld und er rüstete die große Armada aus, den Herd der Seeräuberei zu vernichten; aber sie scheiterte bekanntlich in der kläglichsten Weise – ein beliebter Anlaß für liberale Historiker, um auf Kosten des spanischen »Fanatismus« und zugunsten der bürgerlichen Piraterie »freisinnig« zu tun.

Das Ergebnis des steten Kampfes um die Seeherrschaft waren grenzenlose Wut und glühender Haß zwischen den beiden Nationen.

Der Spanier ward im sechzehnten Jahrhundert der »Erbfeind« Englands, der Ausbund aller Scheußlichkeit für einen Briten. Der Papst aber war das Werkzeug Spaniens. Katholisch sein, hieß spanisch sein, hieß dem Erbfeind dienen, hieß Verrat am Vaterland, das heißt an seinen Handelsinteressen.

Aus diesem Gegensatz erwuchs der populäre Protestantismus der Elisabeth; erst durch ihn wurde die Reformation eine nationale Tat, die unter Heinrich VIII. vom ökonomischen Standpunkt aus ein bloßer Diebstahl eines verschuldeten Fürsten und einiger ebenfalls verschuldeten Wüstlinge und habgierigen Spekulanten gewesen war.

Die Reformation des Absolutismus war jedoch nicht die einzige reformatorische Bewegung Englands. Schon lange vor ihr hatte sich eine Sekte gebildet, die nicht nur die Ausbeutung durch die Kirche, sondern auch die Ausbeutung durch den König und die weltlichen Grundherren bekämpfte, die also dem fürstlichen Protestantismus ebenso feindlich war wie dem Katholizismus. Diese Sekte wurzelte fest in den niederen Volksschichten, gerade denen, für die More eintrat, unter den Bauern und den städtischen kleinen Handwerkern und Proletariern. Es waren die von uns schon erwähnten Lollharden, die an die Lehre Wiklifs anknüpften, bis sie im Calvinismus eine ihnen zusagendere Lehre entdeckten, worauf sie im Puritanismus aufgingen. Die Lollharden hatten eine Art Sozialismus entwickelt; aber derselbe war von dem Mores total verschieden. Dieser zeigte sich noch ganz erfüllt, teils vom frischen Geiste des feudalen, urwüchsigen Katholizismus, teils dem genußfrohen Geiste der aufstrebenden Bourgeoisie, heiter und feingebildet. Der Sozialismus der Lollharden war der Ausdruck gequälter, verzweifelnder Klassen, die man so tief als möglich herabgedrückt hatte. Er war finster, trübselig, aszetisch, barbarisch.

Nimmt man zu diesem Gegensatz noch Mores Abneigung vor jeder Volksbewegung, dann wird man begreifen, daß er sich mit den Lollharden nicht befreunden konnte.

Von seinem englischen Standpunkt aus beurteilte er aber auch die deutschen Wiedertäufer, die ihm halb als Lutheraner, halb als Lollharden erschienen. Sein Urteil über sie war nichts weniger als günstig. So schrieb er an Johann Cochläus: »Deutschland bringt jetzt täglich mehr Ungeheuer hervor, als Afrika jemals tat. Was kann ungeheuerlicher sein als die Wiedertäufer? Und doch, wie hat diese Pest seit einigen Jahren um sich gegriffen!« Und in seiner »Confutacion of Tyndalls answere« aus dem Jahre 1532 schreibt er: »Und so mögt ihr sehen, daß Tyndall nicht bloß diese scheußlichen Ketzereien behauptet, die er vorher schon lehrte, sondern die der Wiedertäufer seitdem dazu gesellt hat. Und er erklärt, daß die wahre Kirche bei ihm sei, und daß diejenigen mit der heiligen Schrift und dem Worte Gottes übereinstimmen, die da sagen, daß die Taufe der Kinder ungültig sei, daß keine Herrscher in der Christenheit bestehen sollen, weder geistliche noch weltliche, und daß niemand etwas sein eigen nennen solle, da alles Land und alle Güter nach Gottes Wort allen Menschen gemeinsam sein müßten, und auch alle Weiber gemeinsam allen Männern, sowohl den nächsten Verwandten wie den Fremdesten, und jeder Mann Gatte jeden Weibes und jedes Weib Gattin jeden Mannes, und schließlich, daß unser heiliger Erlöser Jesus Christus ein bloßer Mensch war und gar kein Gott.«

Die Verdammung des Kommunismus als einer »scheußlichen Ketzerei« durch den Kommunisten More scheint eine seltsame Inkonsequenz. Und doch ist sie keine zufällige persönliche Erscheinung, sondern tief im Wesen der Anfänge des Sozialismus begründet. Der Gegensatz zwischen More und Münzer enthält den Keim des großen Gegensatzes, der sich durch die ganze Geschichte des Sozialismus zieht, und der erst durch das Kommunistische Manifest überwunden worden ist, des Gegensatzes zwischen dem Utopismus und der Arbeiterbewegung. Der Gegensatz zwischen More und Münzer, dem Theoretiker und dem Agitator, ist im wesentlichen derselbe wie der zwischen Owenismus und Chartismus, zwischen dem Fourierismus und dem Gleichheitskommunismus in Frankreich.

So sehnsüchtig auch More wünschte, seinen Idealstaat verwirklicht zu sehen, so scheu bebte er vor jedem Versuch zurück, der Ausbeutung von unten her ein Ende zu machen. Der Kommunismus konnte sich daher von seinem Standpunkt aus nicht im Klassenkampf durch die Logik der Tatsachen entwickeln, er mußte im Kopfe fertig sein, ehe man daran denken konnte, einen der Mächtigen für ihn zu gewinnen, der ihn der Menschheit von oben herab aufoktroyieren sollte. Das war eine Illusion. Aber gerade ihr verdankte More seinen höchsten Triumph, ihr verdanken wir den ersten Versuch, eine Produktionsweise zu malen, die den Gegensatz zur kapitalistischen bildet, gleichzeitig aber an den Errungenschaften festhält, die die kapitalistische Zivilisation über die vorherigen Entwicklungsstufen hinaus gemacht hat, eine Produktionsweise, deren Gegensatz zur kapitalistischen nicht in der Reaktion besteht.


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