Josef Kastein
Sabbatai Zewi
Josef Kastein

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Vierzehntes Kapitel

Sinngebung des Geschehens

Wenn bis hierher mit der Treue, zu der Geschehen verpflichtet, berichtet wurde, so darf jetzt gewertet und geurteilt werden, muß geurteilt werden, um die Berechtigung darzutun, von der Gegenwart Aufmerksamkeit für ein Stück Vergangenheit zu verlangen.

Es ist hier, scheint uns, ein Stück Vergangenheit gegeben, dessen Kernfragen sich in ewiger Wiederholung zu allen Zeiten zur Antwort stellen, zu einer Antwort, die die Menschen immer noch nicht erteilt haben. Daß aber eine Zeit sich darum bemüht, macht allein sie schon fruchtbar.

In jeder Zeit – und heute mehr denn je – stehen Menschen auf, die von sich aussagen, sie seien zu Führerschaft und zu Wirkung berufen, zu Bedeutsamkeit und zu geistiger Vorherrschaft. Es sei nicht von denen gesprochen, die sich bei ihrem Tun dem Beruf viel zu tief verstricken, als daß sie sich einer Berufung ausliefern könnten. Über sie fällen Vergeßlichkeit und Mode einer Zeit ihr Urteil. Es sei von denen gesprochen, die, gleich Sabbatai Zewi, sich einem Ziel und einer Idee hemmungslos ausliefern, und die doch daran scheitern, deren Wirken doch nur ein Chaos zurückläßt und den Fluch derer, die ihnen Gefolgschaft geleistet haben. Wo liegt da der Bruch in der Kette zwischen Wollen und Wirken, zwischen Berufung und Ergebnis?

Ein anderes ist es, Dinge der Technik, der Erfindung, der Wirtschaft bewirken zu wollen, und ein anderes ist es, in das lebendige Dasein der Menschen hineinwirken zu wollen. Beiden Wirkenden sind verschiedene Gesetze vorgeschrieben, obgleich beide etwas bewirken wollen. Wir verstehen landläufig darunter 368 das Wirken im Sinne der Kausalität. Wir wissen aus Erfahrung um bestimmte Regelmäßigkeiten zwischen Ursache und Wirkung, und deren Gesamtheit nennen wir Kausalität. Das Wirken auf dieser Ebene bedeutet, daß ein Mensch sich in einen ihm bekannten Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung hineinstellt, sich hineinbegibt als Ursache, um Wirkung zu erzielen. Jener darf das tun; diesem ist es verwehrt. Denn für ihn besteht gar keine Ebene, auf der es Ursache und Wirkung, auf der es diese Kausalität gibt. Kausalität ist nur eine Hilfskonstruktion, mit der einer die Notwendigkeiten des praktischen, technischen Lebens übersichtlich machen kann, oder mit der er sich aus reinen Gründen der Bequemlichkeit die Zusammenhänge des Daseins klarstellt. Aber da, wo es um Leben und Dasein geht, in der wesenhaften Wirklichkeit, gibt es überhaupt keine Verknüpfung in Ursache und Wirkung. Da gibt es nur eine Folge von Begebenheiten, die miteinander verbunden sind in einer Weise, die wir nie zulänglich zu erkennen vermögen. Wir sehen nur, daß Begebenheiten auf einander folgen und daß sie in einem Zusammenhang miteinander stehen. Wer hier sagen will: ich setze mich selber zur Ursache, ich stelle mich in das Zentrum des Geschehens und will, daß eine Wirkung daraus entstehe – der bleibt ein Techniker. In der wesenhaften Wirklichkeit kann kein Mensch Ursache einer Wirkung sein. Er kann nur mit etwas, was noch nicht geschehen ist, verbunden werden durch das, was er tut. Er darf nicht als Persönlichkeit auf eine Persönlichkeit, als Erscheinung auf eine Erscheinung wirken wollen. Er muß sich in das Wesen des Lebens, des Daseins, der Dinge hineinbegeben, wirken wollen als das, was er wirklich ist (aber was er nicht 369 umschreibt und nicht umschreiben kann) auf das, was ist. Er muß den vollen Einsatz zahlen, ohne Abstrich und ohne Abzug: seine volle Person. Mit seinem ganzen Wesen muß er eingehen in die Beziehung zu dem, worauf er nun in Wahrheit wirken will. Mit seinem ganzen Wesen muß er das Seiende anreden. Sonst wird er nie Antwort bekommen. Sonst wird nie eine wirkende Verbindung entstehen, nie eine Wirkung erzeugt werden.

Aus solcher Unbedingtheit ist einmal vor Jahrtausenden Kunst entstanden. Kein Wille, auf Menschen zu wirken, hat dem ägyptischen Bildhauer die Hand geführt. Sondern er wollte in das Herz der Welt hineinstoßen. Wenn er die Felswand anging und einen König herausmeißelte, der auf seinem Throne saß, dann saß er dort, so, wie es kein andres Sitzen gibt, war da hingesetzt nicht für das Heute, sondern in die Jahrtausende hinein. Er schuf kein Porträt; er sah nicht sich als Ursache einer Wirkung. Er bannte die Seele dessen, den er meinte und in seinem Innern anredete, in den Stein und gab ihm die Dauer. Sein Glaube schuf, nicht sein Wille zur Wirkung.

Noch kritischer, noch verantwortungsvoller wird die Position eines Menschen, wenn er sich in Beziehung zu einer Zeit begibt, die – wie die sabbatianische Zeit – stumme Hände nach einem Helfer und Heiler ausgestreckt hat. Da wird der eine zum Arzt als Techniker, der andere zum Arzt als Geschöpf. Jener will die Heilung bewirken, indem er die Krankheit isoliert begreift und angreift, indem er verschreibt und appliziert, indem er als Mensch, der bestimmte Fähigkeiten hat, auf den Körper des Kranken vor ihm einwirkt. Aber als helfender Mensch rührt er nicht an den hilfsbedürftigen Menschen. Nie wird er dieses empfinden 370 und anerkennen: wenn ein Kranker an ihn herantritt und Heilung von ihm begehrt, so sind sie beide, Kranker und Heilender, nicht mehr Subjekt und Objekt, nicht mehr Handelnder und Erduldender. Sie sind eingestellt in eine Verbundenheit mit Dasein und Leben und dem Ursprung des Lebens. Wer da wirken will, muß auf den gemeinsamen Ursprung des Leidens einwirken. Den Quell des Lebens muß er dabei angehen und sich mit dem verbinden, von wo der Prozeß ausging.

Aus solchem Bilde begriffen, ist Sabbatai Zewi weder ein Wirkender noch ein Heilender. Was hat er eingesetzt um zu wirken? Wirklich seine Person, wirklich sein Wesen, das ganze Lebewesen? Nein. Er hat immer nur die Kraft seines Geltungswillens eingesetzt. Von dieser meßbaren Kraft verlangte er die meßbare Wirkung. Und daran ist er gescheitert. Vom Wesen läßt sich nicht ausrechnen, welchen Teil des Wesens man hergeben muß. Man rede, will man Wirkender einer Zeit sein, das Geschehen mit seinem ganzen Wesen an; oder man schweige. Echo ist noch keine Antwort. Das Echo, die Heimkehr der eigenen Stimme, ist die Antwort für den, der den Ehrgeiz hat und zur Wirkung nur den Willen einbringt. Das wahre Wirken vollzieht sich durch das Nicht-mehr-wirken-wollen, durch das Zurückhalten dessen, was wir gewöhnlich Willen nennen. Über dem Wesen kann es nicht mehr den Willen geben. Darum duldet die Einsetzung des Wesens kein Dominieren des Willens. Der Wille ist eingetan in die Hergabe. Es gibt ihn als solchen außerhalb der wahren Hingebung nicht mehr.

Sabbatai Zewi ist nie ein Mensch gewesen, der wahrhaft aus der Tiefe seines Herzens her den Menschen 371 verbunden war. Er war noch, als eine Welt sich vor ihm verneigte, ein Einsamer, der vor tausend Gesichtern wie vor einem Spiegel stand und sich tausendfach selber erblickte. Wo aber der einsame Mensch dem Sein gegenüber steht, kann er es nur fassen durch die Beschwörung in irgend einer Form. Und als Beschwörer muß er zeitlebens die Furcht mit sich herumschleppen, daß die Geister ihm eines Tages nicht mehr gehorchen.

Um sich immer erneut in seinem Amt und seiner Berufung zu bestätigen, hat Sabbatai sich je und je auf die Propheten bezogen. Er konnte sie deklamieren, aber er konnte sie nicht begreifen. Er verstand nicht, was es bedeutete, daß sie mit so ungeheurem Protest gegen den Opferkult anrannten. Sie wehrten sich nicht gegen die sakramentale Handlung des Opfers. Aber sie verlangten, daß dieser leibhaftige Akt des Opfers, der Darbringung, geschehe unter Einsatz und Hergabe der Person und nicht als leere Formel, nicht als beschwörende, magische Handlung. Denn nicht sich einsetzen, sondern den Kaufpreis sparen wollen und nur beschwören, ist das Verbrechen des religiösen Menschen. Darum kann die Religion in den Händen des Magiers zu einer verhängnisvollen Macht werden. Nichts kann das Angesicht Gottes so sehr entstellen wie die Religion.

Sabbatai Zewi hat sich einen König genannt und wollte ein König sein. Er hat nicht begriffen, aus welchem Sinn in seinem eigenen Volkstum einmal Könige erwählt wurden. Einstmals hatte das jüdische Volk keine Könige. Es lebte in einer wirklichen Theokratie, unter der Herrschaft seines Gottes. Und immer, wenn es nötig war, daß etwas für das Volk geschehe, wurde für eben dieses Geschehen, für diesen 372 besonderen Akt des Notwendigen, ein Richter aufgerufen, benannt, erwählt. War sein Auftrag beendet, dann sank er in die Bedeutungslosigkeit zurück. Aber das Volk versagte in der Theokratie. Es wollte irdische, leibliche Könige. Und es bekam sie. Ihre Ernennung ist immer eine Berufung, eine Erwählung, begleitet von dem sakramentalen Akt der Salbung. Mit dieser Salbung soll der Kraft, die sie erwählt hatte und die sich auf sie niederließ, Wirkung und Dauer verliehen werden, so wie der Auftrag, der an den König erging, nicht ein einmaliger, sondern ein dauernder war. Salbung bedeutet nicht einfach, daß hier zu den gegebenen Kräften eines Menschen eine neue hinzugefügt werde. Sondern sie reißt ihn los aus seinen bisherigen kleinen Zusammenhängen. Sie wirft ihn um, gestaltet ihn um, wandelt ihn um, setzt mitten in sein Leben einen neuen Beginn, schafft ihn neu und zu größerem Beginnen media in vita.

Sabbatai Zewi hat sich nie gewandelt. Der Chacham von 18 Jahren ist der gleiche Mensch wie der Fünfzigjährige, der in der Verbannung zu Dulcigno stirbt. Nichts in seinem Wesen und in seinen Taten spricht dafür, daß er je in sich diesen großen Anruf vernommen habe, der in das Dasein eines Menschen die entscheidende Wandlung wirft. Er war kein Erwählter. Er war einer, der aus brennender Liebe zu sich und möglich auch aus brennender Liebe zu seinem Volke ein Erwählter sein wollte. Das kann man nicht wollen. Man muß berufen sein. Das zu entscheiden verlangt das tiefste, demütigste, völlig Ichbefreite Aufhorchen. So wollen, und so nicht berufen sein, gibt die großen Betrüger, auch wenn sie an sich selbst glauben. Er hat nie gehorcht. Er hat immer die Erfüllung bedrängt und ist gegen sie angerannt. Dann 373 begegnen sich Fordern und Versagen, wie der Lügner und der Dichter sich treffen, der falsche und der wahre Schöpfer. Sie treffen sich in dem Punkte, der sich der rationalen Begründung entzieht, den man nur erfühlen kann: im Punkte der Wahrheit, die das Berufensein ist.

Und hier beginnt ein Doppeltes: seine Tragik und seine Verantwortlichkeit.

Jede Unwahrhaftigkeit wird für den, der sich ihr einmal untergeordnet hat, zu einem unentrinnbaren Zwang, der sein Wesen durchsetzt, zu einer anderen Natur, zu einer, zu seiner Wirklichkeit, die er lebt, und zu seiner Wahrheit, an die er glaubt. So steht Sabbatai denn eines Tages vor uns als der tief Gläubige seiner Lüge. Vor seinem Gewissen, das in der entscheidenden Stunde nicht wach war, kann er zu Recht bestehen. Alles Gute geschieht ihm zu Recht, alles Böse zu Unrecht. Wenn das ewig gerechte Schicksal ihn straft, darf er anklagend die Hände zum Himmel hinaufheben.

Doch mindert solche Tragik in nichts die Last der Verantwortung, die er auf sich genommen hat. Es sei hier nicht von der religiösen Verantwortung gesprochen, sondern von der gegenüber seinem Volke. Während es noch scheint, als ob der Ruf des Volkes und die Antwort des Angerufenen sich träfen, gehen sie unrettbar, in dem denkbar tiefsten Mißverstehen aneinander vorüber. Was wollen diese Menschen? Sie begehrten eine andere Wirklichkeit. Sie wollten mit ihrem Leben und mit ihrem Gott eine neue Zwiesprache beginnen. Sie hatten aus einer maßlosen Häufung ihrer Geschicke endlich begriffen, daß ihre Stellung in der Welt und ihre Haltung im Dasein nicht ihrer Willkür unterlagen, daß sie vielmehr unter 374 einem unentrinnbaren höheren Gesetz standen. Sie legten es verschieden aus, je nachdem sie ihre Erlösung als mystische oder als politische begriffen. Eines aber verstanden sie gemeinsam: im Anbeginn ihres Volkstums stand ein göttlicher Anruf. Bis auf ihre Tage hin war er noch nicht verstummt. Immer noch stand ihr Gott da und wartete schweigend auf eine Antwort von ihnen. Sie hatten so viele Irrwege durchlaufen, daß sie daraus endlich einen Weg begriffen; hatten die Antwort so oft verfehlt, daß sie aus dem Leid endlich in ihnen gereift war. Religiös gesprochen: sie waren von Gott abgefallen. Soziologisch gesprochen: ihre lebendige Gemeinschaft war auseinander gebrochen.

Für diese Heimkehr zu ihrer Einheit suchten sie einen Führer. Und da riß der Abgrund eines Mißverstehens auf, wie er in unserer Gegenwart noch aufgerissen vor uns liegt. Sie riefen nach einem Führer, und es bot sich ihnen dar der Repräsentant. Den brauchten sie nicht. Sie waren noch in ihrer Zerstreuung und noch als Splitter für ihr Schicksal und für ihr Erlösungsbedürfnis repräsentativ genug. Wer einen Führer sucht, kommt daher mit Vertrauen beladen und will die Fülle der Verantwortungen für den weiteren Weg dem Führer in die Hände legen. Er soll nicht ihr Ausdruck sein, sondern er soll vorangehen, voranschreiten in das Ungewisse, in das Dunkel dessen, was noch nicht da ist, und was sich erst vor ihnen erheben soll. Sie kommen so zu ihm, wie die Menschen zu Ödipus kamen und ihn vertrauensvoll anflehten, die Pest in der Stadt zu bannen. Und der wahre Führer wird und muß aus eben der Kraft handeln, die von der Masse ihm zugetragen wird. Er muß sie in sich einströmen lassen und daraus 375 wirken. Wenn er aber alle Kraft, die ihm so zuströmt, nur dazu verwendet, sich bestätigt zu fühlen, sich als Mittelpunkt zu sehen und sein privates Schicksal daraus zu gestalten, dann liegt der Todeskeim der Führerschaft in dem Mißbrauch des Vertrauens, dann wendet alle Verantwortung, die die Gläubigen ihm darbringen, sich als vielfache Schuld gegen ihn selbst. Das nicht abgewogen zu haben, macht Sabbatai Zewi zu einem im höchsten Sinne Schuldigen. Das Volk wollte eine Erlösung. Er gab ein Versprechen. Das Volk wollte eine Wirklichkeit. Er gab eine grandiose Schaustellung. Er begriff nicht, daß hier eine Welt sich wieder mit ihrem Gott und ihrem Dasein versöhnen wollte. Er begriff nur, daß er Messias sein müsse. Er tat, was die Heutigen tun, gleich, welchem Zwecke sie dienen: er ahmte eine historische Form des Führertums ohne zulängliche innere Mittel nach. Er trieb Mimikry. Was heute in der Zeit den Namen Führer in seiner besonderen und tiefen Bedeutung noch verdient, ist anonym. Es hat keinen Namen und keine Kontinuität.

Die Geschichte der sabbatianischen Bewegung bis zum Zusammenbruch des Messias ist weder, wie die Historiker vorgeben, eine Geschichte der gelehrten religiösen Dinge, noch eine Geschichte der soziologischen Zusammenhänge. Sie ist schlechthin eine Geschichte des Herzens, vom Einzelnen und von der Gemeinschaft aus gesehen, eine Geschichte, die überall möglich ist, in jeder Religion, in jeder Gemeinschaft, vor Jahrtausenden und heute, akut oder latent, tumultarisch oder unter der Oberfläche eines Alltags. Die Besonderheit im Schicksal des jüdischen Volkes hat ihr nur die Kraft gegeben, mit einem solchen Versuch Ernst zu machen. Er stellt sich dar 376 als ein Kreuzzug ohne Waffen, ohne Haß und Angriff, mit den Mitteln des menschlichen Herzens . . . und ohne Erfolg. Aber nicht die Menschen haben versagt. Ihr Führer hat versagt.

Wenn einer nicht Führer sein kann, versteht es sich, daß er keine Losung geben und kein wirkendes Ideal hinterlassen kann. Es gehört nicht zu den Aufgaben dieser Darstellung, das religiöse Lehrgebäude zu beschreiben, das sich an Namen und Wirken des Sabbatai Zewi anknüpft. Wie es auch sei: es stammt nicht von ihm. Nachfolger haben ihn nur zu einem gefährlichen Grundstein benutzt. Und das jüdische Volk in seiner Masse hat die Lehre auch nicht aufgenommen. Es hat seine Hoffnung eingesargt, hat hin und wieder ein Aufflackern erlebt und ist, wie die Zeiten liefen, mehr und mehr zur Welt übergegangen. Untergründig ist weiter am Leben geblieben, was Erbteil in Wesen und Blut darstellt: eine Erlösungsidee. Im Chassidismus hat sie eine kurze, wundervoll farbige Blütezeit erlebt. In der Idee der sozialen Gerechtigkeit, wo Juden sie vertreten haben, schimmert sie unter allem Wust von Theorie und Dogmatik hervor. Im Zionismus hat sie als Versuch einer partiellen Lösung auf der Ebene der Wirklichkeit einen Niederschlag gefunden. Und in der Gegenwart keimt unter vielen zerstreuten Einzelnen, durch Wissen und Ahnungen miteinander Verbundenen ein neues Erlebnis und eine neue Sinngebung. So etwa, wie Martin Buber es seinen Freunden in erregend unvergeßlichen Stunden auf einem Hügel bei Ponte Tresa gesagt hat:

»So wie jeder Mensch in Wahrheit nur von der Wirklichkeit des realen Verhältnisses leben kann und auch sein persönliches Leben nur daraus leben kann; wie 377 irgendwie das ganze persönliche Leben, sein Wirken, seine Produktivität, sein Sichselbstfinden, sein je und je den Weg des Lebens neu finden, sein Weg also zwischen Geburt und Tod verknüpft ist mit der Wirklichkeit, von der aus er geboren ist, so muß auch der Mensch die Perspektivik der Wirklichkeit bewahren, daß dieses eben das Menschenleben sei, nicht nur sein Menschenleben. Was ihn trägt, trägt da und da in der Gestalt eines anderen realen Verhältnisses andere. Es geht also letztlich nicht um eine Skala auf der Ebene der Wahrheit, um wahr sein oder weniger wahr sein, sondern um die Verschiedenheit der realen Verhältnisse der Menschen zu der einen, von keinem Menschen als solche besitzbaren Wahrheit. Diese Verschiedenheit ist die vormessianische Geschichte des Menschengeschlechtes. Die messianische Welt bedeutet die Überwindung der Vielheit der realen Verhältnisse, das Aufschließen der einen Wahrheit, die den Menschen sich zuteilt in der Gestalt seiner vielfältigen, brüchigen und doch wirklichen Verhältnisse. Messianismus ist keine Konzeption, die auf Christentum und Judentum beschränkt ist. Alles wirkliche Menschenleben sehnt sich nach Erlösung. Die Gestalten der Erlösung sind verschieden nach der Verschiedenheit der Gestaltungen der Menschen, der Völker, der Gemeinschaften, vor allem der Religionen. Auch die Vielheit der Religionen, der Konzeptionen, der realen Verhältnisse ist ein Weg, ein notwendiger Weg. Es ist der Weg in die Einheit, in die Erlösung durch allen Widerspruch und Widerstreit und durch den Abgrund hindurch.«

So münden letztlich doch die Dinge, die unserem Alltag längst entrückt scheinen, wieder in unsere 378 Wirklichkeit ein. Man muß nur die Begriffe von ihrer engen dogmatischen Bindung befreien und sie wieder in das Leben hineinstellen als das, was sie sind: Bestandteile unserer moralischen Existenz, nicht unwichtiger und nicht unwirksamer als alle psychischen Elemente, von denen jeder weiß, und deren er sich oft und liebevoll zur Umreißung und Erläuterung der eigenen Person bedient. Aber nach dem Gesetz von Gläubigkeit und Ungläubigkeit, nach den Wertungen von Gut und Böse, nach dem Erfahren von Sünde und Vergeltung und nach dem Erlebnis von Befreiung und Verfangenheit lebt der Mensch viel tiefer als nach dem Gesetz des Eros, der längst schon wieder in die Dunkelheit des Dogma herabgesunken ist.

 

Ende

 


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