Josef Kastein
Sabbatai Zewi
Josef Kastein

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Viertes Kapitel

Anrufung des Namens

Das Jahr 1648, das Jahr der messianischen Verheißung, geht seinem Ende zu. Von den vier Enden der Welt her wächst in einem Volke die Bereitschaft und die Vorbereitung. Aber es geschieht nichts, was sich als Erhörung und Erfüllung deuten läßt. Kein Anzeichen läßt sich wahrnehmen. Es weiß niemand, daß zu dieser Zeit sich in Ismir ein junger Kabbalist von 22 Jahren seinen engsten Freunden als Messias bekannt hat. Die Spannung ist straff bis zum Zerreißen.

Auch Sabbatai bewegt sich an der äußersten Grenze zwischen Erwartung und Ausgeliefertsein an die Bilder seiner Vorstellungen. Wenn jetzt noch einige Wochen vergehen, dann hat das Schicksal alle Erwartungen und Verheißungen Lügen gestraft. Dann bricht mit dem Ablauf des Jahres alle Sicherheit des Glaubens zusammen. Das ist so unvorstellbar, daß es schlechthin nicht sein darf. Da der Messias verheißen ist, muß er kommen. Und da nirgends in der Welt einer aufsteht und sagt: »Ich bin es«, so geht es immer wieder ihn selbst an, ist er immer wieder von neuem und jetzt dringender als je vor die Frage gestellt: »Wenn nicht ich, wer sonst?«

Möglich, daß ein anderer als er berufen ist. Aber er bekennt sich nicht. Warum nicht? Fehlt es ihm an der letzten Bestätigung von oben? Dann wird jener vermeinte andere wohl nicht der wahre Messias sein. Dann bleibt es doch wohl bei ihm haften, bei Sabbatai Zewi. Zwar ist auch bei ihm noch nicht alles geklärt und die letzte Eindeutigkeit des Anrufes noch nicht erfolgt. Aber er hat doch schon einen Versuch gemacht, hat das Göttliche herausgefordert und ist von keinem Blitzstrahl als Lästerer erschlagen 68 worden. Er hat sich in der Heimlichkeit bekannt und gewann dadurch nur neues Vertrauen in sich selbst. Vielleicht braucht es zu allem nur noch das Bekennen in der hellen Öffentlichkeit. Die Zeit drängt. Es ist kein Verbrechen, wenn man ihre Not aufnimmt und ihr antwortet. Es mag sein, daß es ihn zerschlägt und für sein Leben vernichtet. Aber es muß gewagt werden.

Stammelnd, erschüttert und aufgewühlt wankt Sabbatai unter der halben Erkenntnis einher, wankt durch die Nächte und die Gassen, unwiderstehlich hingezogen zur Synagoge, wo die täglichen Bekenntnisse und Gebete aufsteigen in den Raum, der keine Antwort gibt. Er steht da, den Blick auf die verhüllten Betenden gerichtet, zerberstend unter dem Widerstreit von Furcht und dem Drang nach einer erlösenden Manifestation, und während alle Dinge und Menschen sich zu einem wirren Haufen von blendendem Licht vor ihm zusammenballen, betritt er den Almemor, den erhöhten Platz, von dem aus die heilige Schrift vorgelesen wird, und schreit hemmungslos den vollen, nie in der Zerstreuung ausgesprochenen Namen Gottes in das Gewirr der Stimmen hinein. Es wird mit einem Schlage grabstill. Was war das? Das war doch der Schem ha'mforasch, der volle Name Gottes, den allein in Jerusalem und an der Tempelstätte der Hohe Priester aussprechen durfte! Und dann darf man ihn noch aussprechen, wenn man sich um der Heiligung eben dieses Namens willen dem Geschick des Märtyrers ausliefert. Aber dieser junge Chacham ist doch kein Dummkopf, daß er diese Gebote nicht kennt! Also ein Lästerer seines Gottes? Unvorstellbar, denn in der allgemeinen Frömmigkeit der Zeit ist er der Frommsten einer. Aber sie 69 wissen, daß die Zeit nicht nur fromm, sondern auch übermäßig von innen her erregt ist. Vielleicht hat es den jungen Menschen auf dem Almemor überrannt und umgestoßen, daß er nicht weiß, was er tut und folglich nichts zu verantworten hat. Aber wie dem auch sei: es bleibt ein Verstoß von unvorstellbarer Schwere. Es ist vielleicht nicht ihre Aufgabe, in einer so zerrissenen Zeit das Amt des Richters zu übernehmen. Mag Gott sich selber wehren, wenn er sich hier zu Unrecht angerufen und beschworen fühlt. Es ist eine Beschwörung, denn wer den vollen Namen Gottes ausspricht, ruft ihn bei seinem Wesen an, zwingt ihn herbei, beschwört ihn. Der Priester darf es, denn er ist dazu eingesetzt. Der Märtyrer darf es, denn es ist seine letzte Heimkehr. Und einmal wird es der Messias dürfen, weil dann sein Ruf nur Antwort auf die Ernennung durch Gott ist. Da dieser junge Mensch aber alles drei nicht ist, muß es böse Folgen geben. Sie haben Angst davor. Man darf diesen Vorgang nicht laut werden lassen. Man muß ihn unterdrücken, damit es draußen nicht Aufsehen und Unruhe gibt. Man muß sich blind und taub stellen, vertuschen, weiter beten, vergessen, was da geschehen ist. Und die Stimmen der Beter erfüllen von neuem und mit lauteren Gesängen den Raum der Synagoge. Es ist nichts geschehen. Es darf nichts geschehen sein. Einige Jünger Sabbatais heben erregt die Hände und wollen etwas rufen. Aber das tote Schweigen lähmt sie; der turbulente Lärm der Gebete erdrückt sie. Sie schweigen. –

Da ist einer unter den Betenden, Isaac Silveyra, der genau so wie die anderen Beter die drei Möglichkeiten durchdenkt, und den es doch bei der dritten wie eine plötzliche Erkenntnis durchzuckt: dieser Mensch 70 da sieht aus wie einer, der das Recht auf solches Bekenntnis hat! Er sieht zu ihm auf und fragt verschüchtert: »Messias?« Seine Worte sind im aufbrausenden Chorus der Gebete nicht zu verstehen, aber Sabbatai, dessen Augen gierig an jedem Gesicht hängen, versteht aus der Formung der Lippen, daß wenigstens einer ihn verstanden, wenigstens einer das Symbol seines Bekenntnisses richtig aufgenommen hat. Vielleicht sind da noch andere, die glauben möchten, und die sich doch feige an der Offenbarung vorbeischleichen. Sie beten laut und schreien nach einem Messias, und vor dem, der sich ihnen dort auf dem Almemor anbietet, schließen sie die Augen. Eine wilde Bitternis ist in Sabbatai Zewi. Ist alle Selbstzucht, ist alles Beten, Kasteien, Sich-härmen, Zweifeln und Ringen nur dafür gewesen, um dieses laute, ablehnende Schweigen zu ernten? Er bedenkt nicht, ob dieses Verneinen der Menschen nicht eine Antwort sei, die von dem untrüglichen Instinkt gegeben ist, und die er folglich demütig hinnehmen muß. Er ist kein demütiger Mensch. Er ist hochmütig, weil er seine Anerkennung fordert. Er fühlt sich als ein verkannter Messias. Der wahre Messias, weiß er, wird von den Menschen verleugnet werden. Darum fühlt er sich doppelt als Messias. Darin ist Trotz. Er wird sie zur Anerkennung zwingen, wie er schon den einen, Isaac Silveyra gezwungen hat. Dieser ist sein erster Anhänger. Und diesem gibt er später zum Lohn eine Krone.

Es gibt eine Erzählung voll tiefen Sinnes aus jener Zeit: in einem Lehrhaus sitzen junge Menschen um einen Tisch und fragen einen berühmten Rabbi: »Woran erkennt man den Messias? Daran, daß er Wunder tut?« Der alte Rabbi zieht erstaunt die Augenbrauen 71 hoch. »Wunder? Wunder hat auch der Jehoschuah aus Nazareth getan. Und er ist doch nicht unser Messias gewesen. Den Messias erkennt man daran, daß alle an ihn glauben und keiner an ihm zweifelt.« Nach dem ekstatischen Bekenntnis in der Synagoge zu Ismir verläuft Sabbatais Tagewerk nun in den kleinen Bemühungen, eben dieses Ziel zu erreichen, daß alle an ihn glauben und keiner an ihm zweifelt. Die große Gebärde vor der Masse der Betenden war ein Schlag ins Leere. Dieser Augenblick war vielleicht der ehrlichste und ungewollteste in seinem Leben. Aber da es nach solchem Augenblick kein Zurück gibt und solche Ekstase nicht willkürlich von neuem herbeigerufen werden kann, muß er sich auf die nüchterne, sachliche, wühlende und unterminierende Kleinarbeit beschränken. Silveyra bringt ihm zwei andere, bedeutende Anhänger, den Mose Calmari und den Mose Pinheiro, den Schwager des großen italienischen Rabbiners und Kabbalisten Joseph Ergas. Sie bilden den Kern eines Konventikels, der Sabbatai ohne Frage und Voraussetzung als den berufenen Messias anerkennt. Sie sind darauf bedacht, ihren Kreis langsam, aber mit unbedingt gläubigen und zuverlässigen Menschen zu erweitern. Dafür ist es vor allem nötig, daß nichts geschieht, was sie in den Augen der großen Masse verdächtig oder bedenklich macht. Sie machen sich daher strenge Beobachtung aller Gesetzesvorschriften zur Pflicht. Man könnte sie nach ihrem Verhalten in dieser Zeit für eine Gruppe besonders frommer Menschen halten, wenn von ihnen nicht immer wieder kleine Bewegungen und Unruhen ausgingen. Es sind insbesondere die Armen, denen sie ihre Aufmerksamkeit zuwenden. Arme gibt es in dieser Zeit der Not selbst in der wohlhabenden Stadt Ismir, denn 72 es drängen sich zu viele dorthin, die an dem Aufblühen der Stadt und der Gemeinde teilhaben wollen. Besonders aus dem nahen Palästina kommen von der Not getriebene Menschen. Denn bis dahin wirkt sich die Ungunst der Zeit aus. Der Strom der Spenden aus Polen ist unterbrochen. Die einst Almosen gaben, brauchen jetzt selber Unterstützung. Die Sammlungen in der jüdischen Welt werden zugunsten der tatarischen Gefangenen veranstaltet. In der heiligen Stadt Jerusalem ist Hungersnot ausgebrochen. Und an diese Menschen, die der Hunger vertrieben hat, wendet sich Sabbatai. Denn die müssen am ersten verstehen, daß es etwas Ungeheuerliches ist, wenn Juden in dieser Zeit selbst von dort noch vertrieben werden, wohin sie zurückkehren sollen. Solche Diaspora ist nur vor dem letzten Ende, vor der endgültigen Sammlung möglich.

Er findet Anhänger unter ihnen, und zuweilen, wenn seine Tröstungen und Verheißungen sehr eindringlich sind, brechen kleine Tumulte aus. Sie gehen in die Synagogen und Lehrstätten und wollen die anderen aufrütteln und sie für das Erkennen des Messias zugänglich machen. Es gibt Dispute, die sehr heftig werden und in Streitigkeiten ausarten. Es entstehen daraus Spannungen und Feindschaften, die den Frieden der Gemeinde gefährden.

Die Rabbiner haben auf dieses Treiben ein sehr wachsames Auge. Sie lassen sich jede Einzelheit berichten, die in dem Kreise um Sabbatai vor sich geht. Bei ihnen ist die Aussprechung des Schem ha'mforasch nicht vergessen. Insbesondere Escapa, der ehemalige Lehrer des Sabbatai, kennt seinen Schüler sehr gut; zu gut, um nicht zu wissen, daß es ihm nicht darauf ankommt, eine Wirklichkeit mit einem 73 Phantasiebilde zu vermengen. Er weiß, daß Sabbatai nicht nur ein frommer Mensch ist, sondern auch ein ehrgeiziger. Ehrgeiz ist aber das Gegenteil von Frömmigkeit. Zwar wird im Augenblick von Sabbatai nur die gesteigerte Frömmigkeit sichtbar, und so muß Escapa sich angesichts der kleinen Unruhen, die um seinen ehemaligen Schüler entstehen, darauf beschränken, ihm eine Verwarnung zugehen zu lassen. Er solle Ruhe geben. Die Zeit sei unruhig genug. Sie bedürfe keiner besonderen Erregung mehr.

Und in der Tat setzten die Erregungen aus dem tatsächlichen Geschehen nicht aus. Im November 1648, als Jan Kasimir, der Kardinal und Primas von Gnesen, als Nachfolger Wladimirs IV. zum König von Polen gewählt worden war, hatte er Friedensverhandlungen mit Chmelnicky eingeleitet, und das Gemetzel hatte für kurze Zeit geruht. Dann begann es im Sommer 1649 von neuem. Zwar wurde Chmelnicky von den reorganisierten polnischen Truppen geschlagen, aber doch fand er im folgenden Jahre erneute Gelegenheit zum Angriff auf Polen und Juden. Langsam begann die Zahl der jüdischen Opfer sich der Kontrolle zu entziehen. Aber es schien der letzte Anprall des Sturmes gewesen zu sein. Mit einem Male wurde es still. Mit der tragischen Anpassungsfähigkeit, die sie sich im Laufe ihrer Geschichte erworben hatten, richteten die geduckten Juden sich wieder auf. Sie sahen: Jan Kasimir hat den Chmelnicky entscheidend geschlagen, mindestens ihn für lange Zeit unschädlich gemacht. Ihr Leben und ihre Existenz waren für heute und morgen garantiert. Und schon sahen sie wieder Zukunft und Lebensmöglichkeiten. Sie begannen sogleich, ihre Organisation, das Rückgrat ihrer Existenz, wieder aufzubauen. Sie 74 beriefen für das Jahr 1650 nach Lublin die Vertreter der vier polnischen Länder, den Vier-Länder-Waad, und bauten die zertrümmerte Ordnung und den zerbrochenen Zusammenhang wieder auf. Sie erwirkten von Jan Kasimir, daß die unter den Drohungen zum Christentum Übergetretenen wieder zum Judentum zurückkehren durften. Sie bewirkten die Freilassung der gefangenen Frauen und Kinder. Sie kauften mit ihren letzten Mitteln die Gefangenen von den Tataren los. Sie vermehrten die Zahl ihrer schwarzen Gedenktage um den Fasttag des 20. Siwan, den Tag der Zerstörung von Nemirow. Sie untersagten einander, um das Andenken der Märtyrer zu ehren, für die Dauer von drei Jahren Brokat und Samt oder Seide zu tragen. Sie beginnen schon wieder mit der Dauer zu rechnen. Sie beginnen schon wieder, alles Leid in Gedichten und Klageliedern und Gebeten zu sublimieren. Ihre Begabung für das Leben ist nicht geringer als die für das Sterben.

Etwas von diesem ungewöhnlichen Willen zum Leben und zur Wirklichkeit geht auch auf die übrige jüdische Welt über. Zwar kommen die messianischen Ideen nicht zur Ruhe, weil sie immer latent vorhanden sind. Aber da die erregenden Vorgänge in der Außenwelt stiller werden, bleibt auch die Idee im Geistigen verhaftet und drängt nicht übermäßig nach ihrer Gestaltung. Nur ein Mensch wie Sabbatai Zewi kann sich mit diesem Zustand der Dinge nicht abfinden. Er hat den Schritt jenseits der Grenze gemacht. Er ist nicht bereit, ihn zurückzunehmen. Er übersieht ganz klar die Einmaligkeit dieser Konstellation, daß der latente Messianismus vor der Explosion steht, daß Hunderttausende trotz allem bereit 75 sind, einen Messias in aller Wirklichkeit anzunehmen, wenn er sich darbietet. Vor der Zeit, die nach einem erlösenden Menschen sucht, steht ein Mensch, der nach einer aufnahmebereiten Zeit sucht. Die beiden können sich begegnen und eine große Bewegung auslösen. Sabbatai ist bereit, das Seinige dazu zu tun.

Aber seine Umgebung ist nicht bereit, das zu dulden. Sie erkennt an, daß ein Messias kommen muß. Aber sie anerkennt nicht diesen jungen Menschen, der unter ihren Augen aufgewachsen ist, dessen Klugheit sie bewundert, dessen Sonderbarkeit sie belächelt, dem sie insgeheim nachträgt, daß er sich mit Geheimnis umgibt, dem sie die frevelhafte Aussprechung des heiligen Namens noch nicht verziehen hat, und dem sie es sehr verargt, daß er sich der Armen bemächtigt und Unruhe unter ihnen stiftet. Er hat sich zwar noch nicht offen als Messias bekannt, sondern hat es bei der symbolischen Demonstration bewenden lassen. Aber daß er eines Tages Ernst mit seinem Anspruch machen wird, steht sicher zu erwarten. Und dem wollen sie vorbeugen; nicht nur, weil sie ihm persönlich den Anspruch streitig machen, sondern auch, weil sie einen klugen, wägenden, kaufmännisch rechnenden Instinkt für die Zeit haben. Diese Zeit braucht außen und innen Ruhe, Ruhe um jeden Preis, damit die offenen Wunden heilen können. Wer diesen Heilungsprozeß stört, zieht sich die Feindschaft derer zu, die über das Wohl des Volkes wachen: der Rabbiner.

Sabbatai weiß das. Er hält sich zurück, vermeidet jedes offene und demonstrative Auftreten und wirkt unter der Oberfläche und im kleinen Kreise weiter. Da sind seine Erfolge allerdings beträchtlich. Es muß 76 schwer gewesen sein, ihm zu widerstehen, wenn er einen Menschen überzeugen wollte. Und andererseits hat er einen großen Bundesgenossen: die Erwartung der Menschen. Er nützt sie aus, um seine Anerkennung zu mehren. Wie ein Krämer sammelt er Anhänger um Anhänger, bis seine Gefolgschaft so groß sein wird, daß er sich ohne Gefahr des Mißlingens nach außen hin bekennen kann. In ihm ist nichts mehr von der leidenschaftlichen Geste, aus der er die Aussprechung des heiligen Namens gewagt hat. Er ist so verhalten, daß er den Eindruck der Feigheit macht, und er duckt und versteckt sich vor den Rabbinern.

Sie verfolgen und beobachten ihn so scharf, daß sie endlich genug Material in Händen haben, um einen entscheidenden Schlag gegen ihn zu führen. Sie tun ihm nicht die Ehre an, ihn als Messias zu bekämpfen; sondern sie verhängen über ihn als Unruhestifter und als Verbreiter von Irrlehren den Bann, den Cherem. Sie sprechen gegen ihn die großen Verwünschungen aus, die eigentlich ein Schrei der Notwehr sind, die eine gefährdete Gemeinschaft ausstößt: »Nach dem Beschluß der Engel und dem Urteil der Heiligen bannen, verstoßen, verwünschen und verfluchen wir Sabbatai Zewi, mit der Zustimmung des heiligen Gottes und dieser ganzen Gemeinde, vor der heiligen Thora mit den sechshundertdreizehn Vorschriften, die in ihr verzeichnet sind, mit dem Fluche, mit dem Elias die Knaben verfluchte, und mit allen den Verwünschungen, die im Gesetz geschrieben sind. Verflucht sei er am Tage, und verflucht sei er bei Nacht; verflucht, wenn er sich niederlegt, und verflucht, wenn er aufsteht; verflucht, wenn er ausgeht, und verflucht, wenn er heimkehrt. Gott soll ihm nicht 77 verzeihen. Zorn und Grimm Gottes sollen gegen ihn entbrennen und über ihn alle Flüche bringen, von denen im Gesetz geschrieben steht. Verlöscht werde sein Name unter dem Himmel und sein Andenken ausgeschieden aus der Gemeinschaft Israels. Und soll niemand mit ihm umgehen, nicht mündlich, nicht schriftlich, niemand ihm eine Gunst erweisen, niemand unter einem Dache oder vier Ellen in seinem Umkreis weilen, und niemand eine Schrift von seiner Hand lesen.«

Wenn die Rabbiner von Ismir um die Wirkung ihres Bannspruches gewußt hätten, dann wäre er unausgesprochen geblieben. Sie hätten Sabbatai sich selbst und seinem kleinen konspiratorischen Wirken überlassen, bis seine Bemühungen sich verzettelt und erschöpft hätten. Aber so haben sie in sein Leben das Element gebracht, aus dem er fortan weiter lebt, und das ihm zu einem unaufhaltsamen Aufstieg verhilft: das Angestoßenwerden durch eine Kraft von außen, die Passivität, die die Dinge mit fast weiblicher Inbrunst aufnimmt und sie im feigen Erdulden und Unterordnen zu einer Macht verarbeitet und umwandelt. Das hat der Urheber dieses Bannspruches, sein Lehrer Escapa, sehr wohl bedacht, denn er kannte nicht nur das Gehirn, sondern auch das Gemüt seines Schülers. Darum war der Rat, den er den Rabbinern zur Beseitigung dieses Ärgernisses gegeben hatte, auf nichts weniger gegangen als auf die Beseitigung Sabbatais. Man konnte ihm daraus nicht einmal einen Vorwurf machen, denn das jüdische Gesetz verhängte über den, der den heiligen Namen unbefugt aussprach, die Todesstrafe. Das Bußgeld, schlug Escapa vor, solle die Gemeinde übernehmen, und die Rabbiner sollten dem Täter, weil er ein gutes Werk 78 verrichtete, im voraus die Sünde verzeihen. Aber das schien den anderen ein Mittel, das in keinem Verhältnis zur Wirkung stand. Sie entschieden sich für den Bann und damit im Ergebnis für den Beginn der größten messianischen Bewegung, die das Judentum je in der Zerstreuung erlebt hat.

Die Schwere, die in einem Bannfluch liegt, berührt Sabbatai nicht im mindesten. Verständlich wird ihm dagegen sehr, daß ihm Gefahr drohe, und daß seines Bleibens in Ismir nicht länger sei. Er weiß, daß dieser Bann nur ein gemindertes Todesurteil ist, und er hat weder die Kraft noch den Willen zu einer trotzigen Haltung. Er beschließt vielmehr, auszuweichen, zu fliehen. Aber selbst dieses Ausweichen und Fliehen wird für ihn sogleich zur Quelle eines neuen Erlebens. Mag Escapa den Bann begründen wie er will: Sabbatai weiß, daß man in ihm den Messias treffen will. Mit tiefer Genugtuung stellt er fest, daß die Welt auf sein Tun reagiert. Es wird ihm damit der Beweis geliefert, wie wichtig sein Tun ist. Und weil es so wichtig ist, muß er die Folgen auf sich nehmen. Und diese Folgen – man sieht förmlich, wie sich alles in Zufriedenheit überschlägt – sind das Leid; jenes Leid, das dem Messias von alten Zeiten her verheißen ist, jenes Leid, das sehr tief im Messiasgedanken wurzelt. Der Messias wird verkannt und verfolgt und muß leiden. Das ist eines der Zeichen, an denen man ihn erkennt. Und diese Zeichen offenbaren sich jetzt sichtbar im Schicksal des Sabbatai Zewi. Der Fluch wird ihm zum Segen.

Ehe er Ismir verläßt, gibt er in vertrautem Kreise bekannt, was er weiß: diese Stadt, die ihn heute verjagt, wird ihn eines Tages wie einen König empfangen. Es mag Jahre dauern, bis er wieder kommt, 79 aber er kommt wieder. Und in dieser Gewißheit ernennt er für seine zukünftige Residenz zwei seiner Schüler als Stellvertreter: Chaim Dow aus Saloniki und Schalom Israel aus Ismir. Vor ihnen bekennt er sich feierlich als der wahre und berufene Messias. Von ihnen verlangt er, daß sie für die Dauer seiner Verbannung für ihn und in seinem Sinne wirken.

Dann begibt er sich auf Reisen, reich ausgestattet mit Geldern seines Vaters und seiner Brüder. Ein neuer Anstoß hat ihn getroffen. Tiefer wird das Verharren bei dem Amte, das er auf sich genommen hat. Sein Glaube an sich selbst wird wie Stahl. Jetzt hat die Welt tatsächlich einen Messias bekommen.

In dem Wege, den er jetzt einschlägt, liegt kein klarer und vorbedachter Plan, und die vielen Abweichungen der Quellen über die Reiseroute machen es wahrscheinlich, daß es ein hin und her, ein hierhin und dorthin gewesen ist, wie der Zufall von Begegnungen, von Zustimmung oder Ablehnung es gerade fügte. Aber immer ist er darauf aus, zu wirken, für sich zu werben, seinen Anspruch vorzulegen und Anerkennung und Gefolgschaft zu verlangen. Da sein Vater und seine Brüder an ihn glauben, wird es die Verwandtschaft nicht minder tun. Folglich begibt er sich nach Morea. Dort weiß man von ihm. Dort erfährt er zum ersten Male die tiefe Genugtuung, daß Gerüchte und halb legendäre Erzählungen ihm schon vorausgeeilt sind. Darum hält es ihn hier nicht lange. Wenn schon die kleinen, abgelegenen Orte von ihm wissen, werden es die großen Zentren des Judentums um so mehr. Vor allem schwebt ihm Jerusalem vor. Aber dieser Ort hat eine so verpflichtende Kraft zu Handlungen und letzten Entscheidungen, daß er sich lieber erst am Rande des Kreises versucht. Er taucht 80 in einer Reihe griechischer Städte auf, ohne daß greifbare Ereignisse zu verzeichnen sind. In Athen wird er als gelehrter Mann freundlich empfangen, aber sobald die Nachricht von dem verhängten Bann bekannt wird, isoliert man ihn, so daß ihm nichts bleibt, als abzureisen.

Er ist keineswegs entmutigt. Da die Umstände ihn dauernd in Bewegung halten, bleibt er auch innerlich in Bewegung. Er kalkuliert richtig, daß an sein Erscheinen doch überall Erinnerungen verbleiben werden, deren Summe eines Tages die Anerkennung sein kann. Schon daß seine reichen Geldmittel ihm ein pomphaftes Auftreten ermöglichen, ist wichtig und eindrucksvoll. Von diesem Umstand macht er ausgiebig Gebrauch, wie er sich jetzt entschließt, in Saloniki, der Hauptstadt Mazedoniens, die Probe aufs Exempel zu machen.

Saloniki ist eine überaus wohlhabende und gelehrte Judenstadt, beherbergt 10.000 Türken und 4000 Griechen, aber 22.000 Juden, Frauen und Kinder nicht mitgerechnet. Dreißig Synagogen sind in der Stadt und zwei große Lehrhäuser mit Tausenden von Schülern aus dem ganzen Orient her. Hier hat die Lehre der Kabbala sich eine Hochburg errichtet, und hier kann Sabbatai auf Verständnis hoffen. Aber die Erfahrungen haben ihn klug gemacht. Er hält mit seiner Offenbarung und mit seinem Anspruch zurück, weil er erst feststellen muß, wieweit diese Menschen bereit sind, der Idee eines lebendigen Messias ihre Zustimmung zu geben. So sagt er, wie er die Rabbiner besucht, nichts über sein Messiastum. Er kommt schlechthin als ein Gelehrter, und als solcher kann er überall gute Aufnahme erwarten. Dennoch ist er für die Rabbiner von Saloniki kein 81 unbeschriebenes Blatt. Vielleicht wissen sie nichts von dem Bann, bestimmt aber wissen sie, daß er vor Jahren einmal öffentlich in der Synagoge den Schem ha'mforasch ausgesprochen hat. Und sie begehren von ihm zu wissen, warum er es getan hat.

Damit ist ihm eine einzigartige Möglichkeit gegeben, zu bekennen: ich durfte es, weil ich der Messias bin. Er macht keinen Gebrauch davon. Er fühlt sich wohl noch zu isoliert. Darum weicht er mit ernst abwehrender Gebärde aus: das sei ein Geheimnis, das er eines Tages enthüllen werde, wenn die Zeit dafür gekommen sei.

Aber wenn er schon nicht den Mut hat, zu bekennen, so kann er andererseits doch nicht darauf verzichten, sich in einer symbolischen Handlung zu entladen und abzuwarten, ob die anderen ihn nicht von selbst verstehen und ihm nicht spontan aus dem Begreifen zurufen: »Du bist der Messias«. So wie er es in Ismir getan hat, wo ihm ein Mensch antwortete. Vielleicht antworten hier mehrere.

Er lädt die Rabbiner der Stadt zu einem großen und prunkvollen Fest ein. Während sie essen und trinken und weise Gespräche führen, erhebt sich Sabbatai plötzlich und nimmt hinter einem Vorhang her eine Thorarolle. Alle sehen ihn erstaunt an. Was wird da kommen? Sabbatai tritt vor sie hin, glühend im Gesicht, die Rolle des Gesetzes dicht an sich gedrückt, als halte er einen Menschen, und verlangt, daß die Rabbiner zwischen ihm und der Thora die Eheschließung vollziehen!

Werden sie aufspringen, das Symbol verstehen und ihm zurufen, was er erwartet? Nichts dergleichen geschieht. Er stößt auf verlegenes, befremdetes, unwilliges Schweigen. Vom Ende der Tafel kommt eine 82 verärgerte, verächtliche Stimme: »Der Mensch ist verrückt!« Und die anderen nicken ihm zu: Ja. Sie erheben sich und wollen gehen. Da lacht Sabbatai kalt und höhnisch hinter ihnen her, daß sie sich noch einmal umwenden. Er ist der Situation völlig gewachsen und will seine Gäste nicht gehen lassen, ohne sie zuvor ins Unrecht gesetzt zu haben. Warum sie die Propheten lügen strafen wollen? fragt er sie. Es hätten doch die Propheten gesagt, daß die heilige Schrift, dieser Inbegriff der Wahrheit, die Gattin derer sein müsse, die die Wahrheit lieben. Und das sei der Sinn der Einladung gewesen, sie eine solche Feier erleben zu lassen.

Sie zucken die Achseln, etwas verlegen, etwas verärgert und noch mit dem Schimpfwort »verrückt« auf den Lippen. Aber wieder ist da einer, Isaac Levi, ein Verwandter seines Lehrers Escapa, den das Symbol mächtig angegriffen und erfaßt hat, der heimlich zurückbleibt, wie die andern gehen, und sich in furchtsamer Vertraulichkeit Sabbatai nähert. »Der wahre Sinn?« fragt er. Und Sabbatai, wissend um die Bedeutung des einzelnen, der ergriffen ist, läßt jede Hemmung vor ihm fallen und bekennt sich ihm als der in der Zeit erwählte und berufene Messias. Aber er beschwört ihn zugleich, davon zu schweigen, solange er in Saloniki sei, und erst zu reden, wenn er abgereist sei. Isaac Levi verspricht es, ein treuer und in der Folge wichtiger und wirkender Anhänger.

Wie er es nicht anders erwartet hat, geht Sabbatai am anderen Tage der Rat der Rabbiner zu, die Stadt möglichst bald zu verlassen, falls er nicht aus ihr vertrieben werden will. Sabbatai sträubt sich nicht. Leiden und Verfolgtwerden gehören doch zu seinem Amt. Er hat hier im Augenblick auch nichts mehr 83 zu tun. Ein anderer wird für ihn, wenn er erst fort ist, das Bekenntnis ablegen. Dann sieht es so aus, als kämen die Dinge auf ihn zu, und als müsse er nur gehorchen. Und daß dem so ist, glaubt er schon selbst, wie er sich anderen Tages auf den Weg nach Konstantinopel macht.

Konstantinopel war auch für die orientalischen Juden und für ihre Angelegenheiten die Hauptstadt des türkischen Reiches, und sie übertrugen den dort wohnenden Gelehrten und Rabbinern freiwillig eine besondere Autorität, insbesondere eine übergeordnete Gerichtsbarkeit. Aber auch die nichtgelehrten Juden profitierten von dem Wohlstand und der Kultur einer Hauptstadt. Hier war eine behaglich situierte und einflußreiche bürgerliche Oberschicht entstanden, die das jüdische Milieu der Stadt beherrschte. Während Sabbatai sich in Ismir zu den Armen geschlagen hatte, hält er sich hier zu den Wohlhabenden, da er doch ohne und gegen sie nichts ausrichten kann. Auch hier ist er schlechthin der Gelehrte, zugleich aber auch der weitgereiste, weltgewandte und vermögende Mann, alles in allem Eigenschaften, die ihm die volle Sympathie der jüdischen Bourgeoisie eintragen.

Es versteht sich, daß er mit dieser rein gesellschaftlichen Tätigkeit nicht lange zufrieden sein kann. Er verliert den Zweck seiner Reisen nicht einen Augenblick aus den Augen. Wo er nicht unmittelbar wirken kann, muß er die Wirkung mindestens vorbereiten. Darum sieht er sich in den Kreisen der Kabbalisten nach gleichgestimmten Seelen um. Und er findet sie. Da ist zunächst Elia Carcadchione, ein älterer einsiedlerischer Kabbalist, dem er sich zwar noch nicht bekennt, den er aber als treuen und zuverlässigen Freund und als Anhänger der Idee eines Messias in 84 der Zeit gewinnt. Aber entscheidender und nachhaltiger wird seine Bekanntschaft mit dem Kabbalisten Abraham Jachini, einem Schüler des berühmten Joseph di Trani.

Jachini hat viele Fähigkeiten, die ihn in Konstantinopel und weit im Ausland bekannt machen. In Konstantinopel tritt er als Prediger in den Synagogen auf und erläutert die Kabbala. Er verfaßt auch selber kabbalistische Schriften, und wenn sie dem jüdischen Bürger der Hauptstadt nicht verständlich sind, so liegt das, wie er bescheiden meint, an ihrer geheimnisvollen Tiefe, und nicht etwa daran, daß sie mit unklarer Mystik, eigenwilligen, richtungslosen Phantasien und mit Traumerlebnissen voll geheimnisvoller Erotik geladen sind. Wenn Jachini nicht eigene Werke schreibt, schreibt er fremde Texte ab, und darin hat er es zu einer bedeutenden Kunstfertigkeit gebracht. Seine Kopien sind von Sammlern und Gelehrten der Welt sehr begehrt, und bis nach Amsterdam hin verkauft er seine kalligraphischen Meisterwerke.

Abraham Jachini und Sabbatai Zewi haben so viel innere Verwandtschaft, daß sie sich schnell befreunden. Aber die Führung bleibt bei Sabbatai, der zwar der Jüngere ist, aber nicht in das Uferlose hinausschwärmt. Darum kann er Jachini, ohne daß er es merkt, zu einem gefügigen Werkzeug erziehen, zu einem zuverlässigen Helfer, wenn er jetzt zum dritten Male eine symbolische Manifestation versucht, einen neuen Anlauf nimmt, um den träge auf einen Messias wartenden Menschen die Augen zu öffnen. Sie haben in ihren gemeinsamen Studien einen Beleg dafür gefunden, daß um das Jahr 1460 ein jüdischer Astronom namens Abraham verkündet habe, der 85 Messias würde zu der Zeit geboren werden, in welcher die Planeten Jupiter und Saturn im Zeichen der Fische vereinigt wären. Wahrscheinlich verstanden weder Sabbatai noch Jachini etwas von der Astronomie, aber für Sabbatai ist dieses kosmische Bild von einer solchen Eindringlichkeit, daß er sich seiner für seine Symbolhandlung bedient. Er nimmt einen Fisch, legt ihn wie ein Kind in eine Wiege und geht damit durch die belebten Straßen des Judenviertels. Die Leute drängen sich heran und fragen nach dem Sinn dieses sonderbaren Aufzugs. Er bedeutet ihnen, daß unter dem Zodiakalzeichen der Fische Israel aus seiner Sklaverei erlöst werden würde.

Da sind viele Menschen, denen ein solch greifbares Symbol und solch eine geheimnisvolle Ausdeutung gefällt. Aber die rabbinischen Autoritäten sind über diesen Vorgang höchst ungehalten. Wie kann ein so angenehmer und scheinbar so kluger junger Mensch solche Torheiten begehen? Er benimmt sich wie ein unreifes Kind, und man muß ihm bewußt machen, daß er sich wie ein Kind benommen hat, schon um es den Neugierigen und den immer nach Erregung und Sensation lüsternen kleinen Leuten zu beweisen. Darum schicken sie einen Schulmeister zu Sabbatai, damit er ihn belehre und zur Raison bringe. Der Schulmeister nimmt seine Aufgabe sehr ernsthaft, und wie Sabbatai wagt, seinen Belehrungen zu widersprechen, macht er von den Privilegien seines Amtes Gebrauch und verprügelt den renitenten Schüler.

Wäre Sabbatai nicht ein von seiner Idee Besessener gewesen, er hätte den Ort solcher Demütigung freiwillig verlassen. Aber er fügt diesen Vorgang völlig ungerührt in die Kette der Leiden und Verfolgungen ein, die ihm als Messias beschieden sind. Und wie 86 die Rabbiner bei schwerer Strafe den Juden verbieten, mit Sabbatai auch nur zu verkehren, nimmt er auch diese Isolierung gläubig als eine Notwendigkeit hin. Konstantinopel ist ihm noch zu wichtig und das Ergebnis noch zu gering, als daß er es ohne Druck von außen verlassen sollte. Und die kommenden Ereignisse rechtfertigen dieses würdelose Verweilen.

Es kommt aus Jerusalem der Almosensammler David Capio, ein kluger Mann und ein Eiferer seines Glaubens. Er bittet nicht um Almosen, sondern fordert sie. Für Wohltätigkeit und für Pflicht gibt es in der hebräischen Sprache und damit in der Vorstellung der Juden jener Zeit nur ein einziges Wort: Mizwah. David Capio verlangt Mizwah zugleich als Teil der Buße, die er den Juden dringend ans Herz legt, denn ohne Buße und Almosen kann das jüdische Volk nicht erlöst werden, und gerade in diesen Zeiten deutet alles darauf hin, daß eine Erlösung nahe sei. Da horcht Sabbatai auf. Er zieht Capio mit reichen Spenden für die Armen in Jerusalem zu sich heran. In der Folge hocken sie zu vieren zusammen, Capio, Jachini, Carcadchione und Sabbatai, und bereden die Möglichkeiten der kommenden Dinge. Es ist eine Verschwöreratmosphäre, das Abtasten eines Kreises mit einem geheimnisvollen Mittelpunkt. Aber ehe es noch zur Enthüllung kommt, verdirbt Sabbatai mit seinem Ungestüm alles.

Es kommen eines Tages zu Capio, während sie solche Besprechungen abhalten, mehrere Rabbiner und wollen von Capio hören, was er ihnen über das Leid der Zeit und über seine Beendigung sagen könne. Da explodiert Sabbatai. Er schreit sie an, daß sie nichts von der Zeit verstehen könnten, da sie nicht einmal etwas von Gott verständen. Gott, belehrte er sie, 87 habe die Welt nicht aus Notwendigkeit geschaffen, sondern aus reiner Liebe, und damit die Menschen ihn als Schöpfer und Meister anerkennten. Aber in ihnen wäre weder Liebe noch Achtung noch Bußfertigkeit. Eines Tages werde Gott sie furchtbar aufwecken.

Das sind Zornentladungen, von denen er selbst nicht ahnt, wie bald sie Wirklichkeit werden sollen, denn schon im folgenden Jahre, 1659, wird Konstantinopel von einer Feuersbrunst heimgesucht, unter der gerade die Juden schwer zu leiden haben, und dieser und jener erinnert sich des Mannes, der ihnen ein Symbol zeigte, und den sie als Antwort verprügeln ließen.

Aber im Augenblick läuft den Rabbinern bei dieser Zornrede die Geduld über. Es wird Sabbatai der knappe Befehl zugestellt, unverzüglich aus Konstantinopel zu verschwinden. Jetzt, wo ihm Gewalt angedroht wird, weicht er aus. Aber auch dieses Ausweichen wird ihm – wie immer – zum Anlaß einer ungewöhnlichen Machtbereicherung.

Abraham Jachini hat längst begriffen, um was es im Wollen und im Schicksal des Sabbatai Zewi geht. Er hat längst erfühlt, daß er auf einer heftigen, gierigen Suche nach einer Bestätigung seiner Berufung ist. Jachini, der Kabbalist, weiß, daß in dieser Zeit ein Messias kommen muß. Möglich, daß dieser es ist. Möglich daß es ein anderer ist. Wichtig ist allein, daß einer kommt. Und wer zuerst kommt und sich bekennt und anerkannt wird, der wird in Wahrheit der Messias sein. Das ist keine Blasphemie. Es ist darin das Wissen verdichtet, daß ein Messias ja nicht um seiner selbst willen kommt, sondern daß er nur mit einem Auftrag belehnt wird. Darum kann es getrost dieser sein, Sabbatai. Es fehlt ihm nichts zu seiner 88 Messianität . . . außer der Anerkennung. Ihm diese Anerkennung geben zu können, wäre ein verdienstliches Werk. Es ist ein erregender Gedanke, an der Enthüllung des Messias und an der Erlösung der leidenden Welt Teil zu haben. Es schüttelt und durchwühlt ihn die Vorstellung, er selbst stehe einmal als tätige und verursachende Kraft an den Stufen des messianischen Thrones, und vom Gestühl her zeigt einer auf ihn und sagt: Der da hat mich zuerst erkannt!

Aber was kann er dazu tun? Er kann nur die Kabbala auslegen und gut schreiben; besser noch: gut abschreiben, so schreiben und abschreiben, daß keiner das Original von der Kopie unterscheiden kann. Er kann Urkunden herstellen, in Papier und Tinte und Schriftführung und Zeitausdruck so genau, daß niemand zu sagen wagt, sie seien erst jetzt und unter seinen Händen entstanden. Wie viele solcher »echten« Urkunden hat er schon in den Handel gebracht und sie an reiche christliche Sammler verkauft . . .

Wie Sabbatai kommt, um sich von ihm zu verabschieden, empfängt er ihn mit geheimnisvollem Ernst. Er führt ihn in ein abgelegenes Zimmer des Hauses. Dort öffnet er eine Truhe und entnimmt ihr ein zusammengerolltes Pergament. Man sieht auf den ersten Blick: es ist sehr alt, es ist Jahrzehnte lang so eingerollt und zusammengebunden gewesen. Das Papier ist etwas zerknittert, die Schrift zittrig und leicht abgeblaßt. Ein altes, sehr altes Schriftstück. Er gibt es Sabbatai in die Hand. »Lies!«

Er liest die Überschrift: »Die große Weisheit Salomos.« Und wie er fragend aufsieht, bedeutet ihm Jachini: »Ich habe es vor einiger Zeit in einer Höhle gefunden. Es geht Dich an.« 89

Dieses ist der Inhalt: »Ich, Abraham Acher, war vierzig Jahre lang in einer Höhle eingeschlossen, in Betrübnis wegen der fortdauernden Herrschaft des großen Ungeheuers, das im ägyptischen Strome haust, und suchte das Geheimnis zu enträtseln, warum die Zeit der Wunder noch nicht kommen wollte. Und siehe, da ertönte die Stimme meines Gottes, welche rief: im Jahre 5386 wird dem Mardochai Zewi ein Sohn geboren werden, den man Sabbatai heißen wird. Er wird den großen Drachen bezwingen und die Schlange niederringen. Er wird der wahrhaft Gesalbte sein. Er wird auf meinem Thron sitzen. Sein Reich wird ewiglich währen, und außer ihm soll Israel keinen anderen Erlöser haben . . .«

Sabbatai hat zu Ende gelesen. Es ist zwischen den beiden ein schwerwiegendes, verständnisvolles Schweigen. In dieser Situation gibt es keinen Betrüger und keinen Betrogenen. Der eine gibt ein Mittel, und der andere nimmt es, weil sie Beide zutiefst an die Notwendigkeit des Zweckes glauben. Aus diesem Glauben her ist die Urkunde echt. Auf sie darf sich mit reinem Gewissen jeder berufen, der an ihren Inhalt und an den Messias Sabbatai Zewi glaubt. So ausgerüstet, verläßt Sabbatai die Hauptstadt zu weiteren Reisen. Abraham Jachini bleibt als sein Anhänger und Verkünder zurück.

 


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