Josef Kastein
Sabbatai Zewi
Josef Kastein

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Neuntes Kapitel

Echo

Die Nachrichten von den Ereignissen in Ismir beginnen sich auszubreiten, gleichmäßig nach allen Seiten hin wie Schallwellen. Und die Verbreitung hat durchaus nicht jene mittelalterliche Langsamkeit, an die man für die damaligen Verhältnisse denken möchte. Juden sind immer irgendwo auf Wanderschaft und tragen Briefe und Botschaften mit sich. Und während der Bote sich in einer Gemeinde ausruht, geht schon ein anderer mit der Abschrift seiner Berichte zur nächsten weiter. Es waren ja auch durch Primos Fürsorge die beiden offiziellen Sendboten in die Welt hinaus geschickt worden, die als wandelnde Stationen für die Aufnahme und Verbreitung von Nachrichten sorgten. Ihnen kamen die zahllosen Privatbriefe zur Hilfe, die vom Orient nach Europa gingen, und die in sich wieder durch mündliche und abschriftliche Wiedergabe zu einer neuen Quelle der Berichterstattung wurden. Und in dem Maße, in dem der jüdische Orient nicht nur von den Nachrichten, sondern in aller Tatsächlichkeit von der Bewegung selbst ergriffen wird, setzt eine neue und sehr wichtige Reihe von authentischen Berichten ein: die der europäischen Kaufleute und der politischen Vertreter auswärtiger Staaten, die auch wohl im wesentlichen die wirtschaftlichen Interessen ihrer Nationen wahrzunehmen hatten.

Zu Anfang hatten sie sich um die Bewegung nicht viel gekümmert. Aber in überraschend kurzer Zeit berühren die Ereignisse schon den Nerv ihrer Interessen. Nicht nur, daß – wie schon dargestellt – ein Mangel an Arbeitskräften eintritt; auch die jüdischen Kaufleute werden zurückhaltend. Sie gehen keine neuen Verbindlichkeiten mehr ein. Sie treiben 216 ihre Außenstände ein und beginnen mit der Auflösung ihrer Geschäfte. Auch diejenigen orientalischen Juden, die nicht an den Messias glauben, tragen doch der Stoßkraft dieser Bewegung Rechnung und legen sich in ihren Geschäften äußerste Zurückhaltung auf. Im Ergebnis wird also der europäische Handel im Orient erheblich betroffen, und die Kaufleute und diplomatischen Vertreter beginnen, die Bewegung zu verfolgen und zu erforschen, Einzelheiten zu ermitteln und sie nach Europa zu berichten. Ein Herr Plettenberg, als »Resident des Kaisers in Dresden« bezeichnet, vermerkt: »Der Grund, warum unsere Kaufleute in Ismir nicht über diesen König bis jetzt berichtet haben, ist der, daß er sich wegen der Ungläubigkeit der Juden, sowohl in Ismir wie in Konstantinopel, solange zurückhielt. Er wird jetzt nach Konstantinopel gehen, und im nächsten Juni wird die Erlösung Israels in der ganzen Welt bekannt gegeben werden. Es sind jetzt noch mehr Nachrichten aus Venedig und Wien gekommen, daß Sabbatai Zewi schon in Konstantinopel eingetroffen und dort ehrerbietig empfangen worden sei.«

Auch der französische Gesandte, Monsieur de Chaumont, berichtet seiner Regierung von der ». . . Aufregung über den Messias, der in Kürze erwartet wird. Es wird gesagt, daß der Sultan damit einverstanden ist, ihm die Herrschaft über ganz Palästina abzutreten. Der größte Teil der Juden treibt seine Geschäfte nicht mehr, sondern bereitet die Übersiedlung nach Jerusalem vor. Erst haben wir uns darüber lustig gemacht. Aber allem Anschein nach droht die Sache jetzt Ernst zu werden.« Im gleichen Sinne berichtet der französische Konsul in Ismir an Sir Rosano in Livorno von dem Messias: ». . . vor dem 217 die Türken großen Respekt haben. Unsere Nation bleibt in einiger Besorgnis. Gott möge geben, daß die Sache uns nicht schadet.« Die Signoria von Venedig läßt sich von ihrem diplomatischen Vertreter Bellario ausführlich berichten. Der Großherzog von Toscana und der Herzog von Savoyen werden weiter unter denen genannt, die sich schriftliche Aufklärung geben lassen. Im weiteren Verlauf der Dinge wachsen dann die Berichte über die kurze Form eines Briefes hinaus und werden Abhandlungen, die kleinere Schriften und größere Bücher füllen.

Stoff zu solchen Werken bietet die Zeit schon jetzt in Fülle, allein durch das Übergreifen der sabbatianischen Bewegung auf die türkische Judenheit. Wachsend mit der Entfernung vom Zentrum der Bewegung steigert sich die Unkontrollierbarkeit der Berichte, ohne aber der Intensität des Glaubens Abbruch zu tun. Aber auch die Gegnerschaften werden im gleichen Maße heftiger, weil sie nicht gleich zu Beginn von einer erdrückenden Mehrheit der Anhänger erstickt werden. Zu einer Neutralität konnte es bei der heftigen Erregung der Gemüter aber nicht kommen. Die türkische Judenheit spaltet sich in Anhänger und Gegner, in Meaminim und Kofrim. Zwischen ihnen werden erbitterte Kämpfe ausgetragen, bei denen jedes Mittel erlaubt ist. Von Jakob Aschkenasi, dessen Nachkommen später erbitterte Antisabbatianer sind, wird berichtet, daß er über die Gegner des Messias sogar die Todesstrafe verhängt habe. Was aber auf die Länge den Sabbatianern das entscheidende Übergewicht gibt und die Kofrim mindestens in das Schweigen der Angst und Vorsicht drängt, ist der Umstand, daß sie etwas Positives zu verteidigen haben und mit der Vorbereitung ihres 218 Schicksals auf die ernsthafteste, oft erschreckende Weise beginnen.

Im Vordergrunde ihres Tuns steht die Buße, Buße in ihrer besonderen Form und dem besonderen Sinne, den die hebräische Sprache diesem Worte zuweist. Sie hat für Buße und Rückkehr und Antwort das gleiche Wort zur Verfügung: Te'schuwah. Was sie tun, ist also Antwort geben auf den Anruf des Gewissens, Rückkehr in den Zustand der Sündenlosigkeit. Getreu uralten Vorstellungen greifen sie daher zur Kasteiung. Was von den Juden der Stadt Saloniki berichtet wird, wiederholt sich überall und mag als Paradigma berichtet werden. Die Juden hier sind in ihrer Mehrzahl schon seit langem mit der kabbalistischen Lehre und insbesondere mit Art und Anforderungen der praktischen Kabbala vertraut. Sie sind weniger enthusiastisch als die Leute von Ismir, aber sie sind härter, strenger, fanatischer. Es ist ihnen unheimlich ernst mit ihrer Buße. Sie drängen sich zu ihren Gelehrten hin und tragen ihnen vor, was sie an Sünden begangen haben. Vier Chachamim sind ständig damit beschäftigt, diese Beichten entgegenzunehmen und zu bestimmen, was einer als Buße dafür zu leisten habe. Aber meistens genügt es den Bußfertigen nicht. Sie gehen weit über das auferlegte Maß hinaus. Die Fasten werden bis zur letzten Grenze körperlicher Erschöpfung ausgedehnt. Sie lassen sich mit Schnee und mit Eisstücken bedecken. Sie steigen in das Meer und stehen im kalten Wasser bis zum Umsinken. Sie gießen sich heißes Wachs über den Körper. Sie lassen sich bis zum Halse in die Erde eingraben und verharren dort bis zur Ohnmacht. In dunkler, flagellantischer Sucht schlagen sie sich gegenseitig mit Geißeln und mit Nesseln. Bündel von 219 Nesseln tragen sie unter ihrer Kleidung auf der nackten Haut. Es ist ein solcher Bedarf an diesem Züchtigungsmittel, daß weitum in den Feldern vor der Stadt nichts mehr davon gefunden wird, und daß es von weither für teures Geld beschafft werden muß. Immer dunkler, immer freudloser werden die Bußübungen. Da sind Menschen, die sich schwere Steine auf den Leib wälzen lassen und darunter verharren. Andere lassen sich mit Steinen bewerfen, zum Zeichen dessen, daß sie wert seien, gesteinigt zu werden. In hundert Symbolen von erschreckender Erfindungskraft drücken sie den Jammer über ein sündhaftes Leben und die Hoffnung auf ein Dasein in Reinheit aus.

Und immer wieder geben sie Almosen und liefern sich freiwillig einer immer wachsenden Armut aus. Sie halten die Läden geschlossen, und wenn sie doch geöffnet sind, so nur zu dem Zweck, die Waren und den überflüssigen Hausrat um jeden Preis zu verschleudern. Sie haben unter sich ein strenges Gesetz aufgestellt, daß niemand von Juden kauft, oder an Juden verkauft. Sie wollen nicht, daß der Besitz nur unter ihnen den Herrn wechsle. Bei Androhung des Bannes, verschärft um Geld- und Leibesstrafen, war das verboten, weil es doch nur bekunden würde, daß einer nicht an den Messias glaubt und sich heimlich für ruhigere Zeiten Reichtum zusammenscharren will. Sie verheiraten auch ihre Kinder in großer Anzahl. Von sieben bis acht Hundert solcher Ehen wird berichtet. Die Bevölkerung von Saloniki steht, wie die Bewegung gerade ihren Höhepunkt erreicht hat, in einer ausgesprochenen Verarmung und in der letzten seelischen Bereitschaft.

Nicht in dieser düsteren Form, aber doch mit 220 angespannter Aufmerksamkeit und mit einem sehr bereiten Willen antwortet als nächste die italienische Judenheit auf die aufflammende Bewegung. Die Stadt Livorno geht voran. Sie bestätigt als Durchgangspunkt der Juden aus dem Orient und insbesondere der palästinensischen Spendensammler von neuem ihre Wichtigkeit. Sie mißt sich auch als dem Orte, von dem aus Sarah zur Königin berufen wurde, besondere Bedeutung zu. Die Sabbatianer bekommen hier ohne weiteres die Oberhand.

Nicht so still erledigen sich die Dinge in Venedig. Hier ist intelligenter Boden, wo viel geforscht und viel gezweifelt wird. Hier ist kein phantasiebegabter Orient mehr. Bis 1649 hat hier noch Leon Modena gewirkt, in seiner Jugend ein Wunderkind, als Mann ein Polyhistor, den sein Amt als Rabbiner nicht hinderte, mit geistiger Betätigung jeder Art Geld zu verdienen, um es dann im Kartenspiel und bei rollenden Würfeln lebensfreudig zu vertun. Darum war er auch ein Gegner der Kabbala. Sehr aufgeklärt und seinen eigenen Volksgenossen sehr kritisch gegenüberstehend, war auch sein Freund und Amtsgenosse Luzzatto. Aber im Augenblick wird die Geistigkeit der Stadt von einem überzeugten Anhänger der Kabbala beherrscht, von Moses Zacuto, der einmal Mitschüler des Baruch Spinoza gewesen ist. Er hat Amsterdam verlassen mit dem Ziele, nach Palästina auszuwandern, aber er ist in Venedig haften geblieben. Sein Interesse für die sabbatianische Bewegung ist groß, aber die Führer der Gemeinde wollen die Verantwortung eines blinden Glaubens nicht tragen. Sie beschließen, in Konstantinopel anzufragen, wo man inzwischen doch zuverlässige Einzelheiten festgestellt haben wird. Der Briefwechsel, wie ihn Baruch 221 de Arezzo mitteilt, ist ein anschauliches Dokument der Zeit.

»Wenn in unseren Tagen die Welt aufgespalten ist von allen vier Enden her, vom Osten und vom Westen, vom Norden und vom Meer, und wenn sie in Teile und Parteien zerfällt und großes Geschrei ertönt wegen der Botschaft, die zu uns kommt und von unserer Erlösung spricht, und die Menschen sich teilen in solche, die glauben und solche, die nicht glauben: warum sollten wir da nicht kommen und von dem, der sie weiß, die Wahrheit erfahren? Er möge uns sagen, ob es da nicht um eine schlechte und wertlose Sache geht. Es steht doch die ganze Welt jetzt in Sorge und großer Furcht und Bedrängnis. Und damit nicht, Gott behüte, ein Unheil entstehe, haben wir uns entsprechend der Aufforderung unserer Gemeinde und ihrer großen Anführer entschlossen, diese unsere armseligen Worte in das Lager Eurer Heiligkeit zu schicken, um zu erfahren, ob man uns einen Tag der guten Botschaft bereiten wird, um von der Krone bis zur Wurzel alles zu hören. Wenn die Stimmen, die wir hörten, nur wie ein schwebender Turm in der Luft sind, werden wir wissen, wie gut es ist, die Leute unserer Gemeinde zu beruhigen und sie in ihrer Trauer zu trösten, wenn ihr Traum ihnen wie Schuppen von den Augen fällt. Wenn Er es ist, aber wenn er sich nicht beeilen wird, so werden wir auf ihn mit Zuversicht warten, denn so ist unser Los, und darin wird unsere Erlösung sein. Wenn es aber zweifelhaft ist, so sagt uns, wohin Eure Ansicht geht. Die Augen von ganz Israel sind auf Euch nach Konstantinopel gerichtet. Dieses sind die Worte der Schüler der Heiligen Schule in Venedig, am 8. Adar 426.« Konstantinopel antwortet, und zwar in einer 222 kaufmännischen Einkleidung, die sie aus Vorsicht wählen, weil der Kurier von den Türken abgefangen werden könnte: »Die schönen Worte von Euren Händen, die die Thora und das Gesetz gerichtet haben, die heiligen Seiten kamen zu uns und fragen und verlangen Auskunft über Nozath haisim, über die Ziegenfelle, die Rabbi Israel aus Jerusalem gekauft hat. Da fiel der Widersacher unter seine Brüder und sagte, daß er eine große Sünde begangen habe, daß daher sein Geschäft schlecht ausgehen und er seine Ware nicht an den Käufer bringen würde, und daß er schon das Vermögen seiner ganzen Familie verschleudert habe. Da haben wir die Angelegenheit geprüft und uns das angesehen, was der Rabbi Israel hier gekauft hat, denn hier ist seine Ware ausgestellt. Wir haben sie als sehr wertvoll befunden. In jedem Lande nimmt man sie auf, und wer ihn verleumdet, wird es noch vor dem Gericht verantworten müssen. Und wie gute und erfahrene Händler es nach Art und Güte der Ware beurteilen, wird noch ein großer Gewinn dabei sein. Aber man muß abwarten, bis der große Jahrmarkt kommt. Mit Hilfe Gottes wird er im nächsten Jahr sein, und dann wird für teures Blut verkauft werden. Denn die Hand Gottes ist darüber. Die höchsten Gründe und die Ursache der Ursachen haben wir untersucht und sie erforscht und sie geprüft, und die Wahrheit ist mit Rabbi Israel. Das hat die Untersuchung mit aller Bestimmtheit ergeben. Und für Euch, die Priester, besteht die Pflicht, diese Wahrheit zu erfüllen, wie es sich gebührt, und Gott wird den Frieden richten zwischen den Streitenden, daß ihre Taten gut gedeihen, und sie nicht mehr an jener Sache zweifeln, denn Rabbi Israel ist gottergeben. Damit die Wahrheit allen kund sei, haben wir diesen 223 Brief geschrieben und unterschrieben, und ist alles richtig und wahr und fest und sicher:

Jomtow Chananjah Ninjakar, Mosche Sagis, Mosche Galante, Abraham Jachini, Kelew Schemuel.«

Mit dem Eintreffen dieses Briefes beginnen auch in Venedig die Kämpfe für und wider Sabbatai Zewi. Sie sind heftig, aber kurz. Soweit nicht Zacuto mit seiner Autorität den Gläubigen hilft, erledigen die Anhänger den Rest der Gegner unter Anwendung von Gewalt. Wie Sabbatai von diesen Vorgängen erfährt, gibt er Primo auf, der Gemeinde seinen Dank auszusprechen. Beide, der Messias und sein Sekretär, begrüßen die Brachialgewalt als Argument für die Bewegung mit erstaunlicher Offenheit. Dem Sendboten Venedigs, Rabbi Mosche ben Nehemias, gibt Primo eine Antwort mit, in der es heißt: »Ich hörte von den Enden der Welt Gesänge, als jener Mann zu mir kam und mir von den Einwohnern Venezias erzählte, wie stark und zuverlässig sie sind, und wie ihr Herz glühend wurde . . .« Einen Gegner haben sie sogar am heiligen Sabbath geschlagen. Dafür spricht Primo ein besonderes Lob aus: »Da komme ich, sie zu loben, weil sie das Gute getan haben, denn das sind die Worte Sabbatais: es gibt keine größere Heiligung des Sabbaths als jene, die diese Leute vornehmen.« Und Sabbatai vermerkt in einer Nachschrift zu diesem Briefe: »Ihr habt Euch würdig gezeigt. Eure Kraft möge wachsen, denn Ihr habt den Grund Eures Glaubens bekräftigt. Ich werde Euch Euren Lohn zahlen, der ich ihn an alle Gläubigen mit vollem Maße zahle. Bezahlt bekommen werdet Ihr von dem Herrn des Friedens und von mir, Israel, Euerm Vater, dem Bräutigam, der unter dem Trauhimmel herkommt, dem Gemahl der Thora.« Und die Unterschrift: 224 »Der Mann, der der göttliche Messias ist, wie ein Löwe, stark wie ein Bär, der auserwählte Sabbatai Zewi.«

Sabbatai darf sich so unterzeichnen. Er darf so sprechen, ohne die Wirklichkeit verzerrt zu sehen. Die Bewegung hat eine Tragfähigkeit erreicht, die sie zur Durchführung jedes Experimentes befähigt. Eine planvolle Zusammenfassung und Leitung der Massen hätte einen Zustand von historischer Dauer geschaffen. Man braucht für die werbende Kraft der Idee nur die Auswirkung unter den polnischen Juden betrachten. Allerdings geht sie diese Bewegung im erhöhten Maße an. Sie sind am äußeren Leid der Zeit und darum am Willen zur Befreiung am meisten beteiligt. Dennoch sagt die Spontanität, mit der sie antworten, Entscheidendes über die suggestive Macht der Bewegung aus. Sie befinden sich noch mitten in einer schweren Atempause nach einem Martyrium sondergleichen. Sie sind kaum mit dem nackten Leben davon gekommen und recken doch plötzlich den Kopf ganz hoch auf. Sie verkünden mit solcher Sicherheit und Unbekümmertheit die Wendung in ihrem Schicksal, daß davon die christliche Bevölkerung betroffen wird und nicht nur an den baldigen Eintritt dieses Wandels glaubt, sondern auch in Sorge darüber gerät, was denn nun mit ihrem, dem christlichen Messias geschehen werde. Wesentlich um diese Zweifel zu beseitigen, verfaßt Goljatowsky, Theologe in Kiew, ein Buch, »Der wahre Messias«, in dem er ungewollt zum Chronisten der damaligen Zustände wird: »Sie verließen Haus und Herd, ließen ihr Tagewerk im Stich und faselten davon, daß der Messias sie bald auf einer Wolke nach Jerusalem führen würde. Manche fasteten ganze 225 Tage hindurch, entzogen selbst den kleinen Kindern jegliche Nahrung und badeten bei grimmigster Winterkälte in den Flüssen, wobei sie irgend ein neu verfaßtes Gebet zu sprechen pflegten. Auf die Christen blickten die Juden voll Hochmut und drohten mit ihrem Messias, indem sie sprachen: wartet nur, bald werden wir Eure Herren sein.« Nicht ihre talmudische Gelehrsamkeit, nicht ihr Deuteln an Wort und Sinn und nicht ihre generationenalte Entfremdung von der Ursprünglichkeit der Bibel bewahrte sie vor dem Schicksal, zu gläubigen Empfängern jedweder Nachricht über den Messias zu werden. Vielleicht hat auch die Übersteigerung des formalen Intellekts sie schon wieder auf die andere Seite und zu einem Begreifen tief aus dem Gemüt her gebracht, wie denn auch die Gegenbewegung gegen überspitzten Kabbalismus und überkonsequenten Sabbatianismus unter ihnen und mit den Mitteln des Chassidismus lebendig wurde.

Auch Frankreich, das eine verhältnismäßig geringe Judenschaft hat, nimmt die sabbatianische Idee auf. In Avignon, wo die Juden von den Päpsten und ihren Beamten ständig und mit einer stumpfsinnigen Gehässigkeit gequält werden, zieht die Gemeinde still und unauffällig die Folgerungen aus dem, was ihnen berichtet wird. Im Frühjahr 1666 stehen sie mit Kind und Kegel bereit zur Abwanderung nach Jerusalem.

Paris ist in großer und andauernder Aufregung. Ein Bericht der Zeit verlautet von dort: »Sie sammeln sich unter einem Manne, der nicht, wie berichtet wird, sagt, daß er der Messias sei, sondern nur, daß er sich auf göttlichen Auftrag hin erhoben habe, die zerstreute Nation zu sammeln . . . Abraham Perena, 226 ein reicher Jude dieser Stadt, ist am letzten Montag mit seiner Familie nach Jerusalem abgereist. Man sagt, er habe ein Landhaus im Werte von 3000 £ zu viel weniger Geld zum Kauf angeboten, und zwar unter der Bedingung, daß der Käufer keinen Pfennig eher zu zahlen braucht, bis er sich davon überzeugt habe, daß die Juden einen König hätten.«

In England reagieren Juden wie Nichtjuden, die einen verhalten, die andern mit einem sportlich gefärbten Interesse. Die Londoner Judenschaft ist noch neu und gering. Über die offizielle Zulassung ist noch nicht entschieden, aber sie sind trotzdem vorhanden und bilden eine Gemeinde, an deren Spitze Sasportas steht, von dem noch zu sprechen sein wird. Kaum seßhaft geworden, wird ihnen die Nachricht vom Ende ihrer Zerstreuung zu einer Quelle der Zwiespältigkeit. Ein Bericht der Zeit gibt die treffendste und kürzeste Formel für ihre innere Verfassung: »Es sind nur wenige, die daran glauben; doch wünschen es viele.« Die Puritaner sind ihnen in der Bestimmung des messianischen Jahres 1666 ja voran gegangen, und darum besteht deren Interesse nur in der Abschätzung des Zeitraumes, den die Verwirklichung in Anspruch nehmen wird. Es werden offiziell Wetten mit der Quote 100:10 daraufhin abgeschlossen, daß Sabbatai Zewi spätestens binnen 2 Jahren als König von Jerusalem ausgerufen werden würde. Über den Abschluß solcher Wetten werden regelrechte und rechtsverbindliche Urkunden ausgestellt.

Keine Gemeinde und kein Land kann sich der Erregung entziehen. In Wien, das Schutzjuden in gesicherter und wohlhabender Position hat, ist die Erwartung und Bereitwilligkeit überaus groß. In Mähren nehmen die Tumulte unter den Juden einen 227 solchen Umfang an, daß der Landeshauptmann Graf von Dietrichstein öffentliche Manifeste zur Beruhigung der Bevölkerung verbreiten lassen muß. Von den Juden in Ungarn wird behauptet, daß sie schon begonnen hätten, die Dächer ihrer Häuser abzudecken. Von Marokko kommt eine Meldung, daß der Emir eine Verfolgung der Juden angeordnet habe, weil sie sich allzu offen und nach Auswanderung begierig zu ihrem Messias bekannt hätten.

Den lebhaftesten und aus seinen inneren Ursachen lebendigsten und wertvollsten Widerhall findet die messianische Botschaft in den beiden großen Judenzentren Amsterdam und Hamburg. An beiden Orten wird das äußere und innere jüdische Leben durch die Menge der spanischen und portugiesischen Juden bestimmt und beeinflußt. Sie haben, insbesondere in Amsterdam, keine materiellen Sorgen, sind sogar zum Teil recht wohlhabend. Sie genießen in Holland Rechte, die schon jetzt im Begriff sind, volle staatsbürgerliche Gleichheit darzustellen. In Hamburg sind sie davon noch weit entfernt und müssen noch Beschränkungen hinnehmen, deren einziger Sinn oft die Schikane ist. Aber die Hamburger sind Kaufleute und sitzen am Meere, zwei Vorbedingungen von Weitsichtigkeit und aus der Vernunft erwachsenden Duldsamkeit. So ist das Leben für die Juden also auch hier erträglich und für die Zukunft hoffnungsreich. Dennoch beginnen sie zu zittern und zu fiebern, wie die Nachrichten aus dem Orient kommen. Es ist das innere Leid des Marranentums, das hier angerufen wird, ein Leid, das nicht so brutal ist wie das der polnischen Juden, sondern ein sublimiertes Leid, und darum vom Geistigen her mit seiner besonderen Wirkungskraft ausgestattet. Sie sind 228 allesamt Rückkehrer in den heimatlichen Bezirk ihres Glaubens, und die Botschaft vom Messias ist folglich nur die Fortsetzung ihres Weges, logische Ergänzung ihres Heimweges, Abschluß und Vollendung ihrer Sehnsucht nach einem Ausruhen im Umkreis ihres Volkes. Aber gemäß dem Wege, den sie gegangen sind, nach ihrer Vorgeschichte und Entwicklung begreifen sie die messianische Idee zwar nicht ohne ihren mystischen Gehalt, aber doch weltlicher, sachlicher, politischer als das orientalische und polnische Judentum. Was den andern ein neuer Beginn ist, erleben sie als Fortsetzung auf einer höheren und klareren Ebene. Darum überwiegen in der Art, wie sie antworten, die leidenschaftliche Freude und der entfesselte Jubel über die dunklen und schmerzlichen Bußwerke.

Amsterdam ist schon seit langem der Ort, an dem gute Köpfe und offene Herzen sich um den letzten Sinn ihres jüdischen Inhaltes bemüht haben. Der Wille zu einem jüdischen Dasein ist dort in immer neuen Manifestationen ausgebrochen. Das Schicksal des Uriel da Costa ist hier noch nicht vergessen. Er, Sprößling einer alten Marranenfamilie, dessen Vater ein strenger Katholik ist, erwacht eines Tages zur Erkenntnis seiner blutmäßigen und geistigen Zusammenhänge, tritt spontan wieder zum Judentum über und entflieht nach Amsterdam. In dieser Stadt, von der die Marranen heimlich, wie von einem Paradiese flüstern, hofft er jede Erfüllung zu finden. Aber was er sieht, enttäuscht und bekümmert ihn. Dieses rabbinische Gebäude soll das Judentum sein, das er sich aus dem Lesen der Bibel vorgestellt hat? Er verneint es. Er ignoriert eine Entwicklung, die ihm falsch und widerspruchsvoll scheint. Er beginnt, so 229 zu leben, wie er es nach seiner Auslegung der Bibel für richtig hält. Aber unter dem Regime eines de Herrera ist das unmöglich. Es wird der Bann gegen ihn ausgesprochen. Da Costa erträgt diesen Ausschluß aus seiner Gemeinschaft nicht lange. Er kriecht zu Kreuze und wird wieder aufgenommen. Aber der Rebell in ihm lebt weiter. Er zweifelt an allem, auch an der Unsterblichkeit der Seele. Seine Schrift darüber wird verurteilt und verbrannt. Wieder steht er an der Grenze des Ausschlusses. Er widerruft seine eigenen Gedanken, Trotz im Herzen. Und dieser Trotz eines liebenden Kindes liefert ihn zum zweiten Male dem Bann aus. Wieder beugt er den Nacken, weil er, der Heimkehrer aus innerer Not, nicht wieder vor den Toren stehen kann. Erniedrigend und demütigend sind die Zeremonien, unter denen man seine Freisprechung zuläßt: er liegt auf der Schwelle der Synagoge, und die Frommen gehen Mann für Mann über ihn hinweg. Da hat es ihn zerbrochen. Er verewigt sein Schicksal, seinen Trotz und seinen Zweifel in der Schrift »Ein Beispiel des menschlichen Lebens«. Er wartet nicht ab, bis die anderen ihm beweisen, daß er ein Irrender und Lügner sei. Er erschießt sich im Jahre 1640.

Sein Genosse und dennoch sein Widerpart im Zweifel und im Schicksal ist ein anderer Marranensprößling, Baruch de Spinoza, Heimkehrer gleich ihm, der die Räume des väterlichen Hauses zu eng findet. Aber der sieht nicht auf sein persönliches Schicksal, sondern auf das des Menschen, der Wahrheit, des Geistes. Kein persönliches Sentiment biegt ihm den Nacken. Während noch immer Marranen eintreffen, um sich endlich zum Judentum bekennen zu dürfen, streift er es von sich ab, als zu eng, als in seiner Idee 230 zu wenig verpflichtend für die Menschheit. Während Sabbatai Zewi durch den Orient wandert, um sich auf eine Messianität aus letzter jüdischer Tradition vorzubereiten, verfällt Spinoza, 1656, dem großen Bann wegen seiner Irrlehren, die die jüdische Tradition in Gefahr bringen. Und während Sabbatais Ausrufung zum Messias in Amsterdam bekannt wird, sitzt er abseits, nur noch objektiver Beschauer der Vorgänge, und äußert nach eingehender Prüfung des Für und Wider, es bestehe sehr wohl die Möglichkeit, daß die Juden von dieser günstigen Konstellation Gebrauch machten und das jüdische Reich wieder herstellten.

Die Amsterdamer Juden sind diesmal mit ihm einer Meinung, aber aus Geschick und Temperament her verfügen sie nicht über diese kühle Objektivität. Zwar sind auch unter ihnen viele Gelehrte von Ruf und Ansehen, aber ein besonderes Kolorit des geistigen Lebens, eine wichtige Nuance der Empfindsamkeit, des Pathos, der Romantik und der Schwärmerei, eine besondere Phantasie für das Aufnehmen von Nachrichten und Situationen sind durch die große Anzahl marranischer Poeten gegeben und in Wirksamkeit gesetzt. Es sind keine großen Schöpfer, aber das Dichten in jeder Gattung ist ihnen Lebensbedürfnis. Seit Manuel de Belmonte ihnen eine poetische Akademie gegründet hat, blühen sie im wahren Sinne des Wortes auf. Es sind interessante und lebendige Menschen unter ihnen, so Fray Vicente de Rocamora, ein Mönch aus Valencia, ehemals Beichtvater der Infantin Maria, die später Kaiserin von Deutschland und überzeugte Judenfeindin ist. Jetzt ist er Arzt, Gemeindevorsteher und zufriedener Hausherr in Amsterdam. Da ist der spanische Offizier Enrique Enriquez de Paz, 231 dessen Bild man verbrannte, da man seiner selbst nicht habhaft werden konnte. Jetzt ist er wieder Jude und schreibt in Amsterdam Komödien. So gibt es ihrer viele, und es ist verständlich, daß sie aus vollem Überschwang auf das Erscheinen des Messias reagieren. Ihre Freude ist wie die eines David, der vor der Bundeslade tanzt. Sasportas, der große Gegner, berichtet: »Amsterdam wogte und brauste. Durch die Plätze und Straßen bewegten sich im tanzenden Schritt unter Trommelschlag große Haufen von Menschen. Auch die Synagogen waren voll von Tanzenden, die die Thorarollen in den schön bestickten Überzügen aus dem Schrein hoben, um sie auf die Straße hinaus zu tragen. Der Mißgunst und der Feindseligkeit der christlichen Bevölkerung wurde nicht die geringste Aufmerksamkeit geschenkt, vielmehr verkündete man überall mit lauter Stimme die neu eintreffenden Nachrichten, ohne sich durch den Spott der Christen irgendwie beirren zu lassen.«

Amsterdam wird, schon wegen seiner weiten Handelsbeziehungen, zu einer Nachrichtenzentrale. Der Ort, an dem sie bekannt gegeben werden, ist nicht nur die Synagoge, sondern vor allem auch die tägliche Börse. Dort laufen insbesondere die Briefe der Handelskorrespondenten ein. Bedenkliche, die ihre Vertreter im Orient noch einmal um besondere Auskunft ersucht haben, ob Sabbatai Zewi wirklich der Messias sei, bekommen die lakonische Antwort: »Huh, welo acher; er und kein anderer.« Der Brief geht auf der Börse von Hand zu Hand. Ein Kaufmann ist unter ihnen, Anatia, der Wasser in ihren Wein gießen will. Er versucht, den anderen aus dem Talmud zu beweisen, daß der Messias nicht kommen könne, da nicht einmal seine Vorgeschichte erfüllt 232 sei. Sie sehen ihn scheel und abweisend an. Wie sie zum Mittagessen heimgehen, erfahren sie, daß den Anatia während der Mahlzeit der Schlag getroffen habe. Das ist ein eindrucksvoller Vorgang, weil ihnen der Zusammenhang völlig klar ist. Es gibt von da an nicht mehr sehr viele offene Gegner.

Die Nachrichten und ihre Urheber sind nicht immer sehr zuverlässig, und mancher Wunsch wird als Tatsache berichtet. Aber das verschlägt bei dem Zustand der Gemüter nichts. Es genügt etwa ein Brief der Rabbiner von Jerusalem, in dem sie ihrem Glauben Ausdruck geben, daß der Tempel nun bald wieder hergestellt würde. Das ruft unmäßige Freude hervor. Sie veranstalten große Illuminationen. Die Synagogen und jeder Winkel ihres Hauses sind voll von Lichtern.

Sie machen in ihrer Weise auch völlig Ernst mit den Ereignissen und ihrer Bereitschaft. Es werden besondere Festtage veranstaltet, die mit Lichtern und Psalmensingen und in Anwesenheit vieler Nichtjuden in den Synagogen gefeiert werden. Die Druckereien sind überlastet mit der Herstellung eines kleinen Buches in hebräischer, spanischer und portugiesischer Sprache, in dem Anweisungen für die innere Vorbereitung auf die Messiaszeit gegeben werden, Beschreibungen von Bußübungen und Gebete und Anrufungsformeln. Es taucht auch ein kleines Buch auf, in dem schon die Feierlichkeiten und Zeremonien verzeichnet stehen, mit denen der Messias empfangen und gekrönt werden soll. Es setzen Änderungen der Gebetsordnungen ein. Während der große Priestersegen sonst nur an den hohen Feiertagen gesprochen wird, sagt man ihn jetzt an jedem Sabbath, weil die Zeit der Erfüllung doch so nahe ist. Schon beginnt man hier und da, 233 wie an anderen Orten, mit dem Verkauf der Häuser. Alles das geschieht von sehr klugen, aufgeklärten und nachdenklichen Menschen. Sie erhalten ihre besondere Legitimation dadurch, daß sich die angesehensten Vertreter der Gemeinde und Gelehrte wie Abraham Pereyra, Isaak Naar, Benjamin Mussafia, de Castro und andere der Bewegung anschließen. So wird die Stadt der »Gelehrten und Dichter« zu einem lauten Echo auf den Anruf eines Menschen und einer Idee. Die Anwesenheit von Marranen in Hamburg bedingt es, daß sie in ähnlicher Weise wie ihre Schwestergemeinde Amsterdam antwortet. Sie stehen auch in einem ständigen Austausch der Nachrichten miteinander. Ihre Freude über die Ereignisse bekommt noch eine besondere Note dadurch, daß sie daraus eine bewußte Demonstration gegen die Schikanen ihrer Umgebung machen. Die Anhänger Sabbatais, die Sefardim, sind auch hier in der Überzahl. Unabhängig von ihrer Gemeinde besteht die jüngere, aschkenasische Gemeinde, die aus polnischen und deutschen Juden besteht. Bei denen ist aus Temperament und Entwicklung die Begeisterung weniger stürmisch, aber die allgemeine Freude können sie darum nicht verkümmern. In den Memoiren der Glückel von Hameln spiegeln sich diese Zustände. »Was für Freude herrschte, wenn man Briefe (aus der Türkei) bekam, ist nicht zu beschreiben. Die meisten Briefe haben die Sefardim bekommen. Sie sind immer damit in ihre Synagoge gegangen und haben sie dort vorgelesen. Auch Deutsche, Jung und Alt, pflegten sich dann dort einzufinden. Die jungen Portugiesen haben allemal ihre besten Kleider angetan und sich grüne, breite Seidenbänder umgebunden, – das war die Livree von Sabbatai Zewi. So sind sie alle »mit 234 Pauken und Reigentänzen« in ihre Synagoge gegangen und haben mit einer Freude »gleich der Freude beim Wasserschöpfen« die Schreiben vorgelesen. Manche haben Haus und Hof und alles ihrige verkauft und erwarteten jeden Tag die Erlösung. Mein seliger Schwiegervater, der in Hameln wohnte, ist von dort weggezogen, hat sein Haus und seinen Hof und alle guten Hausgeräte stehen lassen und seine Wohnung nach Hildesheim verlegt.« Der Schwiegervater der Glückel ist ein sehr sorgsamer Mann. Er schickt an seine Kinder nach Hamburg einige Fässer mit Leinenzeug und getrockneten Lebensmitteln, da er annimmt, man werde von Hamburg aus auf dem direkten Wege nach Palästina fahren. Nach langen Monaten, wie alles vorüber ist, packt man die Fässer endlich aus, damit die Sachen nicht verderben.

Man hat in Hamburg das Schicksal Sabbatais schon seit längerer Zeit aufmerksam verfolgt, und es ist immer ein Zweifel geblieben, als welcher der erwarteten Messiasse er sich erklären werde, als der endgültige, als der Messias aus dem Stamme David, oder als sein dem Untergang geweihter Vorläufer und Wegbereiter, als der Messias aus dem Hause Benjamin. Die Selbstausrufung Sabbatais in Ismir im Dezember 1665 beseitigt diese Zweifel. Er ist nach seinen eigenen Erklärungen der endgültige Messias aus dem Hause David. Diese Nachricht wird mit Zufriedenheit und Jubel empfangen. Leute von gewichtigem Ansehen entscheiden sich für den Anschluß an die Bewegung, so Manuel Texeira, der Resident und Bankier der Königin Christine von Schweden, ebenso ihr Leibarzt, der angesehene und befähigte Benedikt de Castro. Nur Sasportas, der unentwegte Gegner, bleibt der Bewegung fern. In ohnmächtigem Zorn 235 muß er feststellen, daß er der einzige Nüchterne in einem Kreise von Trunkenen ist. Er klagt: »Und als ich dies alles mit ansah, vergoß ich ob dieses Schauspiels, wiewohl es des Gelächters würdig wäre, stille Tränen, voller Kummer über die Leichtgläubigkeit dieser Menschen, aus deren Geiste jede Erinnerung an unsere wahren Propheten und an unsere Überlieferung geschwunden war.«

Jacob Sasportas

Sasportas klagt vielleicht zu Recht über die Leichtgläubigkeit dieser Menschen, aber er trifft damit nicht den Kern der Sache. Entscheidend ist, daß alle Nachrichten einer generationenalten, stets lebendigen und überzüchteten Erwartung immer neue Nahrung gaben, und daß bei solcher inneren Situation die Kontrolle der Vernunft eine theoretische Forderung bleibt. Gewiß kommen neben authentischen auch falsche, übersteigerte, phantastische Berichte, aber schon daß sie solche Verbreitung erfahren, beweist, daß auch nach den Wunderberichten und Legenden ein Bedürfnis besteht. Und sie entstehen in immer neuen Varianten, und zwar zumeist aus nichtjüdischen Quellen. Sie lassen Sabbatai neue Wunder tun. Er hat den Tod von Verschiedenen vorausgesagt, die unmittelbar darauf gestorben sind. Er hat auf einem öffentlichen Platz ein Feuer anzünden lassen und ist mehrmals hindurchgegangen, ohne Schaden zu nehmen. Er ist eines Nachts, als er seiner Gewohnheit gemäß ausging, um das Tauchbad zu nehmen, der türkischen Wache begegnet, die ihn festnehmen will. Der Anführer will ihm eins mit der Hellebarde versetzen. Da erstarrt er plötzlich und sein rechter Arm ist verkrüppelt. Und in Jerusalem, wo gestern noch Sabbatais Gegner saßen, ereignen sich große Wunder. Langsam beginnt der versunkene und zerstörte 236 Tempel aus der Erde zu steigen. Schon heben sich die Mauern; Räume, die sonst unter Schutt lagen, beginnen sichtbar zu werden. Das hat den türkischen Gouverneur verdrossen, und er hat Soldaten ausgeschickt, die auch noch die Reste des salomonischen Bauwerkes niederreißen sollten. Aber wie sie an die Mauer kommen, werden sie von einer unsichtbaren Hand erschlagen. Er schickt neue Soldaten. Es widerfährt ihnen das gleiche Schicksal. Ihn packt der Zorn und er bewaffnet sich selber mit einem Hammer. Wie er auf die Mauer einschlagen will, wird er plötzlich gelähmt. Aus Mitleid heilt ihn ein Rabbiner durch sein Gebet.

Auch die Nachricht von den zehn verlorenen Stämmen taucht in vielfacher Form wieder auf. Es kommt über Jerusalem eine Meldung, »daß in Persien auf der Seite von Susa fast 8000 besondere Haufen, in der Barbarey aber und in den Wüsten von Tafilette mehr als 100.000 Juden bereit wären, ihm als ihrem König und Propheten zu folgen . . .« Andere wissen, daß ein Mann namens Jerobeam die Juden »in der ansehnlichen Stadt Aden und im glücklichen Arabien in dem Königreich Elal« zu einem Aufstand bewogen habe. Sie hätten sich bereits mit bewaffneter Hand der Städte Sidon und Mekka bemächtigt, Mohammeds Grab gestürmt und 30.000 Türken dabei niedergesäbelt. Es vermerkt dazu ein Chronist, daß die Türken auf die Zerstörung von Mekka mindestens mit großen Geldstrafen für die Juden, wenn nicht mit ihrer Ausrottung antworten müßten. Und da solches noch nicht berichtet sei, könne die Zerstörung der Stadt nicht als bewiesen gelten.

Der Orient ist in dieser Zeit überhaupt mit Wundern gesegnet. Gelehrte und heilige Männer, die 237 schon vor mehr als hundert Jahren gestorben sind, beginnen aus ihren Gräbern zu reden. Der Prophet Zacharjah ist wieder auferstanden, um seinen Teil an Vergebung für die Sünden der Juden auszusprechen. Ständig steht ein geheimnisvolles Licht über Jerusalem.

Bei allen Antworten, die die Juden auf die Nachricht von ihrer baldigen Befreiung geben, vermißt man eine: die Dichtung. Sie singen, sie tanzen, sie jubeln; aber sie dichten nicht. Was hier geschah, war schon eine Dichtung. Es blieb bei der engen Folge der Ereignisse auch keine Zeit für das Ausreifen von Dichtwerken. Und als sie Zeit hatten, nachzudenken und erneut Vergangenheit in sich zu bilden, verschloß ihnen die Scham den Mund. Von Litaneien abgesehen, die den Charakter von Gebeten tragen, ist nur ein einziges, unbeholfenes, schlichtgläubiges Lied überliefert. Es hat einer von jenen geschrieben, die schon alles Erdulden hinter sich hatten und die darum ganz unbeschwert und hoffnungsfreudig sein konnten, einer aus dem Osten. Jakob Taussk ist der Verfasser. Er ist kein Dichter, und sein Lied ist zudem aus dritter Hand überliefert, wie der Titel lehrt: »Ein schön neu Lied vom Messia, anfangs dem vermeinten jüngsten Messiae im Morgendland Schabbasi Zebbi von Jakob Taussk von Prag zu Ehren aufgesetzt und im Jahr 1666 in Amsterdam mit jüdischer Schrift gedruckt; jetzo aber, damit der Juden blinde Torheit unter den Christen bekanter werde. Auhs dem holländischen Jüdischen Exemplar, mit behaltenem Dialecto, nachgedruckt in Breslau, Im Jahre unseres wahren Messias 1670«.

Taussk dichtet ungelenk, so wie schlichte Menschen aus dem Volke dichten, wenn ihnen das Herz 238 übergeht und ihre Alltagssprache nicht mehr hinreichen will, ihnen ein Ausdruck zu sein. Er glaubt alles, was er an Nachrichten gehört hat. Er knüpft daran bewegliche Mahnungen an seine Brüder, das alte Leben von sich zu tun. Was sollen jetzt noch Geschäft und Verdienst und Ansammeln von Geld?

Thut eich nit saumen, Brider mein,
Kein Geld solt ihr nit sparen.
Wenn wir kummen in heiligen Land,
sein mir nei geboren:
Weil uns wil geben der libe Gott
was er uns versprochen hot . . .

Er spricht ihnen Mut zu: habt keine Angst, liebe Brüder. Die Türken werden unsere Knechte sein. Sie werden uns die Gläser ausschwenken, aus denen wir auf das Wohl unseres Messias trinken. Wir werden nicht mehr arbeiten. Wir werden nur noch Thora lesen. Gott wird uns dabei behüten, und wir brauchen keine Furcht mehr zu haben. – Und dann beginnt er, der Mensch des abgeschlossenen Raumes, des Buches, des Lernens, des Grübelns, plötzlich die Sonne und den Mond und die Sterne anzurufen, hat plötzlich wieder Beziehung zu einem Ding in der Natur:

Nun scheine Sonn und zich dich aus,
und schein uns wakker fleissig.
Josua hast Du ach gedint,
da er hat der schlagen Mlochim (Könige) ein und dreißig . . .
Lebhanah (Mond) kum du ach einher
leicht mit all die Steren. 239
Da unser Eltern aus Golus Mizrajim (ägyptische Zerstreuung) gingen,
leicht du ihn ach gar geren.
Du bist eitel derbarmkeit,
derlihs uns ach mit gruhser Freid . . .

Wenn ein solches Gedicht auch nichts für die poetische Qualität der Zeit bedeutet, so besagt es doch viel für die geistige Verfassung der Zeit. Menschen, die so denken und empfinden, sind für Gegenargumente sehr unzugänglich. Die Gegnerschaft erreicht sie einfach nicht. Zudem ist die Zahl derer, die Sabbatai ablehnen, recht gering. Hier und da zeigt sich Widerstand bei den Orthodoxen im strengeren Sinne. Sie zweifeln nicht einmal an Sabbatai oder dem Eintritt der messianischen Zeit noch in ihren Tagen. Aber die verpflichtende Heiligkeit von Gesetz und Tradition ist für sie so übermächtig, daß sie es nicht ertragen, sie angetastet zu sehen. Sie wissen genau, daß mit dem Anbruch der verheißenen Zeit die Gesetze hinfällig werden. Aber nun es so weit ist, schrecken sie davor zurück. Sie haben sich, um bis zur Befreiung ihres Volkes nicht unterzugehen, mit so starken Sicherungen umgeben, daß sie daran zugrunde gegangen wären, auch wenn die Zeit ihnen die wirkliche Befreiung gegeben hätte. So hat nicht ihre Gläubigkeit und nicht ihr Instinkt sie gerettet, sondern nur ihre Beharrung. Allerdings gibt ihnen im Augenblick diese Beharrung keine wirksame Waffe gegen die Sabbatianer. Sie werden so befehdet und verfolgt und angegriffen, daß sie sich nur in das Schweigen hinein retten können. Auch die Gegner aus anderen Gründen müssen schweigen, da Vernunft und Zweifel keine Waffen gegen Gläubigkeit 240 und Begeisterung sind. Sie sichern sich inzwischen für die Katastrophe, die sie als gewiß voraussehen, dadurch, daß sie heimlich Ersparnisse zurücklegen und ihre Sachen, die sie doch im Glauben an die baldige Auswanderung hätten verkaufen sollen, verstecken.

Bußübungen der Sabbatianer in Saloniki

Nur ein Mann ist in der Zeit, der es sich zur Aufgabe macht, Gegner des Sabbatai Zewi zu sein, ihn mit allen Mitteln zu bekämpfen und die Juden immer von neuem vor der Bewegung zu warnen: Jakob Sasportas. Er ist 1610 in Oran geboren und amtiert schon mit 24 Jahren in seiner Heimat als Rabbiner. Falsche Anklagen bringen ihn auf einige Zeit in das Gefängnis. Er bricht von dort aus und entflieht nach Amsterdam. Dort lernt er Manasse ben Israel kennen und begleitet ihn nach London, um ihn bei den Verhandlungen über die Zulassung der Juden zu unterstützen. Er bleibt in dieser neuen, inoffiziellen Heimat als Rabbiner, bis ihn 1665 die Pest aus London vertreibt. Er begibt sich nach Hamburg. Dort erreichen ihn die ersten Nachrichten von den Vorgängen in Ismir. Spontan lehnt er sich gegen alles auf, was dort ist und was dort geschieht: gegen Sabbatai, gegen sein Messiastum, gegen die Anhänger und die Wundergläubigen, gegen den Propheten Nathan, gegen Primo, gegen Sarah, gegen jede Äußerung und jeden Vorgang. Er ist an sich keine kämpferische Natur, sondern ein wohlwollender und gütiger Mensch. Er erkennt auch die Grundlagen der Kabbala an, wohl schon aus dem Grunde, weil es in der Zeit keine anderen Möglichkeiten gibt, religiös-mystische Bedürfnisse zu befriedigen. Aber daneben ist er nicht nur ein ausgezeichneter Kenner des Talmud, sondern auch ein geschulter Rationalist. Vor allem aber 241 verfügt er über zwei Eigenschaften, die ihn notwendig zum Gegner machen: er ist im Orient aufgewachsen, kennt die Menschen und ihre Art, auf Worte und Vorgänge zu reagieren, weiß, mit welchem Ausmaß an Phantasie sie die Dinge erleben, und welche Vorsicht demnach geboten ist, wenn man ihnen glauben soll, und sodann: er hat einen guten Instinkt für Menschen und einen besonderen, aus der wachsenden Feindschaft gestärkten Instinkt für den Menschen, der sich da in Ismir aus eigener Machtvollkommenheit zum Messias aufgeworfen hat. Jede seiner Handlungen wertet er kritisch, wie mit Recht an jedem Menschen, der das Ungewöhnliche für sich in Anspruch nimmt, doppelte Kritik zu legen ist. Und da verbleibt fast nichts, was vor seinem abwägenden Verstand bestehen kann. Da begreift er als Ergebnis nur eine ungeheure seelische und politische Gefahr für die gesamte Judenheit. Diese Erkenntnis legt ihm Verantwortung auf, und er beginnt, an die Rabbiner in der ganzen Welt Briefe zu schreiben, daß sie als Führer ihrer Gemeinden in ihrem Kreise die Bewegung aufhalten sollten.

Es ist für den Augenblick eine nutzlose Bemühung. Er bekommt ausweichende Antworten. Andere bekennen sich offen und ausdrücklich zu Sabbatai und zur Bewegung. Andere beschimpfen ihn als einen Ungläubigen. Er muß Drohungen über sich ergehen lassen. Er wird verfeindet und verachtet und isoliert. Es hat endlich keinen Zweck mehr, daß er den Mund auftut. Es hört ihm niemand mehr zu, geschweige denn, daß man ihm antwortet. So verstummt er ohnmächtig, wird Zuschauer, wird ein eifriger, beharrlicher Sammler aller Nachrichten und Dokumente über Sabbatai Zewi und seine Anhängerschaft, und 242 vollendet in Hamburg im Jahre 1673 seine große Antisabbatiana, einen Vorwurf zu einer Tragödie, in der Ruf und Antwort sich verfehlen.

Soweit Sasportas in dieser Schrift nicht nur Tatsachen mitteilt, sondern sich mit der religiös-mystischen Idee, mit der Glaubenslehre, mit dem System des Sabbatianismus auseinandersetzt, leistet er zwar wichtige religionshistorische Arbeit, kann aber damit in der Zeit selbst nichts bewirken. Es mag einstweilen dahingestellt bleiben, ob Sabbatai überhaupt ein eigenes religiöses System geschaffen hat, und ob es nicht vielmehr die geistigsten seiner Anhänger waren, die ihm Worte in den Mund legten, Gedanken zuschrieben und Konsequenzen zumuteten, die ihre eigenen waren. Die große Masse war weder willens noch imstande, den theoretischen Teil der Bewegung zu begreifen. Daß hier die kabbalistische Welt an ihrem Krisenpunkt stand und die leidenschaftliche Konsequenz eines Abraham Cardoza im Begriff war, ihr den Todesstoß zu versetzen, mochten sie ahnen; aber sie sahen es nicht. Was sie in diesem Augenblick begreifen, ist nicht der religiöse Disput, sondern die Heilsidee. Der Bezirk ihres Glaubens ist voll davon. Sie haben nie ihren Propheten Hosea vergessen, der von dem »Tage von Jesreel« spricht. Das ist nicht die Stadt der Blutschuld Jehus, sondern ein Wort, das bedeutet: Gott worfelt, Gott zerstreut. In ganz frühen Zeiten ihrer religiösen Existenz ist ihnen eine strahlende Zukunft schlechthin verheißen worden, eine Zukunft, die ihnen von selber zufallen und zuwachsen mußte, wenn sie nur der Idee ihres Volkes und ihres Gottes treu blieben. Ihre Treulosigkeit hat diesen organischen Ablauf zerrissen. Was sie jetzt erwarten können, ist Gnadengeschenk, 243 auf das sie eine Hoffnung, aber keinen Anspruch haben. Ob das, was Sabbatai Zewi ihnen anbietet, aus diesem Gnadengeschenk kommt, kann nur im ganzen bejaht oder im ganzen verneint werden. Disputieren läßt sich darüber nicht. Darum ist ihr Haß und ihre Verachtung groß gegen alles, was in diesem Augenblick, statt zu glauben, Argumente gegeneinander abwägt.

Eine bei aller Ernsthaftigkeit ergötzliche Situation verdeutlicht solche Einstellung recht lebhaft. Tomas Coenen, der protestantische Geistliche in Ismir, sehr um Klärung und Aufklärung bemüht, begibt sich eines Tages, während Sabbatai Zewi schon in Konstantinopel ist, zu seinem jüngsten Bruder in dessen Haus, unterhält sich einiges mit ihm, und beginnt dann einen theologischen Disput. Zewi hört sich seine Argumente stillschweigend an und antwortet endlich: das wäre nicht sein Gebiet, aber Tuche und Gewebe kenne er gut. – Coenen muß von der Theorie ablassen und fragt den Zewi nach dem Messias. Zu seinem Verdruß beschränkt sich der Bruder darauf, den Messias sehr zu loben. Darum führt er ihm eine Reihe von Gründen an, mit denen er beweisen will, daß Sabbatai nicht der Messias sein könne. Da antwortet ihm Zewi: »Wenn Gott den Bruder auserwählt hat, wird er sich schon durch ihn beweisen«, und beendet das Gespräch.

Einer besonderen Gegnerschaft in dieser Zeit muß noch gedacht werden: der der nichtjüdischen Berichterstatter, insbesondere der Theologen unter ihnen. Sie sind sehr zahlreich. Sie greifen begierig diesen unerhörten Stoff auf und verarbeiten ihn, wenn sie auch meistens die tatsächlichen Vorgänge skrupellos bis zur seitenweise wörtlichen Übereinstimmung 244 einer vom anderen abschreiben. Sehr oft entstellen und verfälschen sie ihn auch und geben ihm Form und Wendungen, die auf das höhnische Gelächter der Leser spekulieren. Das ist, wenn auch nicht zu billigen, so doch sehr wohl zu verstehen, denn es geht ihnen garnicht darum, ehrliche Historiker zu sein, sondern es geht um die Dinge des Glaubens, die dahinter stehen. Und die werden mit einer erstaunlichen Gehässigkeit und Verächtlichkeit vorgetragen. Einige Zitate mögen das deutlich machen. ». . . was länger denn vor tausend Jahren von den Juden geschrieben Augustinus, tractat. 113 in Johannem: sie verlassen das Himmlische, begehren das Irdische: das ist und bleibt noch zur Zeit wahr an den heutigen fleischlichen Israeliten . . . Der Christengeist bekennt, daß Jesus Christus in das Fleisch gekommen sei. Darum ist der Christ Geist von Gott. Hingegen der heutige Judengeist bekennt nicht, daß Jesus (als Christus oder Messias) in das Fleisch gekommen sei. Folglich ist der Judengeist nicht von Gott«. »Es werden heutigen Tages etliche Christen gefunden, die mit allem Fleiß von der neuen Juden-Messias-Zeitung erdichten, schreiben, drucken lassen und als lauter messianische und prophetische Wahrheiten den ohne das verdüsterten Messias-begierigen Juden vorlesen, erklären . . .« Und ein anderer: »warum nimmt man unseres wahren Messias Wunder nicht an? . . . daß nicht etliche Judengenossen in der ersten Hitze sollten gewonnen worden sein, wollen wir nicht leugnen . . . Das ärgste ist, daß sie lebendige Höllenbrände sind. Dessen ungeachtet wollen sie doch lieber elende Juden als vornehme Christen sein. Das macht's: das Altertum und der ewige Bund stecken ihnen zu sehr im Kopfe.« 245

Alles das bedeutet: die theoretische Zustimmung der Nichtjuden zu dem jüdischen Erlösungsproblem hat in dem Augenblick eine erhebliche Verminderung erlitten, als die Sache Ernst zu werden begann. Es wird jetzt nicht mehr ein jüdisches, sondern ein christliches Problem aufgedeckt, nämlich das bittere Eingeständnis von dem Scheitern aller bisherigen Bekehrungsversuche, das Fiasko dieser für den jüdischen Geist so unverständlichen Anschauung, man müsse und könne einen anderen Menschen durch Überredung oder Gewalt zu einem anderen Glauben bringen. Die verschiedenartigen Auffassungen über das, was Glaube ist, werden noch einmal in ihrer Unvereinbarkeit an das Licht gehoben. Es unterläuft den Gegnern dabei jene blinde Ungerechtigkeit, die das Verständnis und den Ausgleich von vornherein ausschließen: die verschiedenartige Bewertung der Wunder, je nachdem sie hüben oder drüben geschehen. Hüben sind sie Wahrheiten, drüben gemeiner Betrug. So muß der mangelnde Respekt vor dem Erlebnisbezirk des anderen notwendig zu der Zahl der Feindschaften und Widerstände eine neue hinzufügen.

Derzeit haben die Juden solche Einstellung übersehen. Sie hatten es nicht nötig, sich um Feindschaften zu kümmern. Ihre Augen und Ohren, ihre Herzen und Gedanken waren in Konstantinopel, wo ihr Messias die Geschicke der Welt zur Entscheidung bringen will.

 


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