Josef Kastein
Sabbatai Zewi
Josef Kastein

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Elftes Kapitel

Katastrophe

In der ›Machtburg‹ hat das Leben eines Residenten begonnen. Nichts fehlt von den Dingen und Vorgängen, die das Leben eines Herrschers im alten, romantischen Sinne begleiten. Es kommen diejenigen, über die der Herrscher gebietet, und die ihm ihre Treue und Ergebenheit bekunden wollen. Das sind nicht nur die einzelnen unter seinen Anhängern, es sind vor allem die offiziellen Vertreter der Gemeinden von weit her. Allerdings haben diese Abordnungen einen doppelten Sinn. Sie sollen, ehe sie huldigen und anerkennen, zugleich Klarheit in das Übermaß der Gerüchte bringen und den Behauptungen der Gegner nachgehen, daß hier nicht ein Messias am Werke sei, sondern ein ungewöhnlich geschickter Betrüger. Es ist kaum ein Land, daß nicht seinen Vertreter entsendet.

Und es ist seltsam: keine der Abordnungen, die nach Abydos kommt, verläßt diesen Ort, ohne auf das tiefste geblendet und ergriffen zu sein. Dabei sind es zumeist Männer, die mit allen Feinheiten des Talmuds wie der Kabbala vertraut sind, die zu denken verstehen, die nicht zu blindem Vertrauen neigen, und die aus der Fülle der Enttäuschungen, die ihr Volk zu tragen hatte, an Zweifel gewöhnt sind. Es erweist sich, daß nicht nur das Volk mit seiner schlichten Bildung oder gar seiner Unbildung an ihm hängt, sondern daß fast alle bedeutenden Gelehrten, insbesondere Rabbiner von Asien, Afrika, Deutschland, Polen, Italien und Holland mit ganz geringen Ausnahmen Anhänger des Sabbatai sind. Sie legen damit das erschütternde Bekenntnis von der ständigen Gegenwärtigkeit und Bereitschaft der messianischen Idee ab. Da der Glaube an einen Messias und an eine 278 messianische Zeit eine unlösbare Verbindung mit ihrem Alltag eingegangen ist, steht ihnen die Verwirklichung jenseits des Wunderbaren. Und steht sie ihnen im Wunderbaren, so ist eben für sie das Wunder kein Ausnahmezustand im Bild der Welt, sondern nur eine Manifestation des Göttlichen, mit der sie ehrfürchtig vertraut sind. Sie brauchen nicht den unfruchtbaren, kümmerlichen, in seiner Rationalität so armseligen Umweg des modernen Menschen, alle Wunder und Wunderberichte auf das kleine Maß des logisch Deutbaren und Abwägbaren zurückzuführen. Der undeutbare Rest, aus dem immer das Leben besteht, und in dem sich das Leben immer wieder ausdrückt, ist ihnen die gelebte, die unabweisbare, die letzte Wirklichkeit.

Es hätte allerdings keine noch so lebendige innere Bereitschaft vermocht, ihnen den Glauben zu erhalten, oder gar noch zu stärken, wenn nicht von dem, der Mittelpunkt eben dieses Glaubens war, eine Suggestion von ungewöhnlicher Gewalt ausgegangen wäre. Nie ist diese seine Kraft größer und wirksamer, nie imponierender und erfolgreicher gewesen als in diesen Monaten, da er als ein Gefangener zu Abydos sitzt, zwar in prunkvollen Räumen, aber doch in einer Festung; zwar ständig von Menschen umgeben, die ihm huldigen, aber doch von solchen, die dem Gefängniswärter erst die Erlaubnis abkaufen müssen; zwar in der freien Haltung eines Königs, aber doch durch den Zwang einer fremden Gerichtsbarkeit an seinen Ort gebunden. Nichts kann den Hellsichtigen darüber täuschen, daß man es hier mit einem politischen Gefangenen zu tun hat, dem man eben aus politischen Gründen ein großes Maß persönlicher Freiheit zugesteht, der aber im übrigen ein Gefangener 279 ist und bleibt, in vorsichtiger Entfernung von Wachen und Soldaten umgeben, in allem blendenden Schein doch zur Ohnmacht verurteilt.

Alles das fegt Sabbatai Zewi mit einer großen Gebärde zur Seite. Er sieht es nicht; will es nicht sehen. Und wenn er es doch sieht, macht er es für die anderen unsichtbar. Vor ihre prüfenden Blicke, die sicher oft von einem stillen Argwohn geschärft sind, drängt er sich seine Erscheinung, seine Worte, seine Edikte, seine Hofhaltung, seine Gläubigen, daß sie blind werden wie er selbst, berauscht wie er selbst, und daß sie nichts spüren als die ungeheuer tragfähige Gewalt der Bewegung. Sie übersehen dabei, daß die Tragkraft der Bewegung jenseits der Festung Abydos liegt und nicht drinnen; daß die Tausende sie darstellen und nicht Sabbatai Zewi; daß sie selbst sich willig als neue Stütze in das Gebäude einordnen, während auf dem First nur einer steht, der ekstatisch eine Flagge schwingt.

In immer neuen Manifestationen entlädt Sabbatai Zewi sein Ichgefühl. Der 9. Ab kommt heran, der Tag der Zerstörung des zweiten Tempels. Aber dieser Tag ist zugleich der Geburtstag Sabbatais. Er schickt Boten nach Ismir und läßt Sarah, die Königin holen. Und kurz vor dem dunklen, schweren Erinnerungstage geht ein Edikt Primos an die Judenheit der Welt hinaus:

»Der erstgeborene Sohn Gottes, Sabbatai Zewi, der Messias und der Befreier der Juden, entbietet allen Kindern Israels seinen Frieden!

Nachdem Ihr gewürdigt worden seid, den großen Tag der Erlösung zu erleben und die Erfüllung des Wortes Gottes, das er durch die Propheten und unsere Väter gegeben hat, müssen Eure Klagen und Sorgen 280 in Freuden verwandelt werden, o meine Kinder Israels. Erfreut euch mit Gesang und Lied, weil Gott Euch Trost gegeben hat, und wandelt den Tag, den Ihr einst in Trauer und Sorge verbracht habt, in einen Jubeltag, weil ich erschienen bin. Ihr sollt euch nicht fürchten, denn Ihr werdet die Herrschaft bekommen über alle Völker, und nicht allein über die, die auf der Erde sind, sondern auch über die Kreaturen, die in der Tiefe des Meeres verborgen liegen . . .«

Und aus Eigenem fügt Sabbatai hinzu: »Höret auf mich und eßt gut und freuet Euch und kommt zu mir. Höret auf mich und sorgt nicht um eure Seele, denn ich werde den ewigen Bund schließen zwischen Euch und der Welt. So sagt David ben Isai, der größte unter den Königen der Erde, der erhaben ist über jeden Segen und jeden Lobspruch, der Löwe, stark wie ein Bär, Sabbatai Zewi.«

Aber Primo kennt die Bedeutung von Segen und Lobspruch besser. Er verfaßt und verordnet für die Feier des 9. Ab dieses Gebet: »Gib uns, Gott unser König, in Liebe Feste zum Freuen und Feiertage und Gezeiten zur Freude, den Tag des Trostes, den Tag, an dem unser König, unser Messias Sabbatai Zewi geboren wurde, dein Knecht und dein ältester Sohn, in Liebe, zum Gedenken an den Auszug aus Ägypten.«

Er gibt ferner für die Feier des Geburtstages des Messias folgende Anweisungen an die Juden: sie dürfen an diesem Tage mit keinem Nichtjuden umgehen. Sie dürfen keine Arbeit verrichten, es sei denn die, Musik in der Synagoge zu machen. Sie haben besondere Stellen aus dem Buche der Schöpfung »Im Anfang« zu lesen, besondere Psalmen und das Gebet, das er ihnen verfaßt hat. Und im besonderen: sie sollen sich freuen und gut essen. 281

Was Sabbatai Zewi da unternimmt, dieser Angriff auf den großen, heiligen, unendlich tief in den Herzen aller Juden verankerten Tischa be'Ab, ist eine Kraftprobe. Sie ist für den Gläubigen und den Widerstrebenden eine unerhörte Provokation. Aber die Probe wird bestanden. Das Volk besteht die Probe. Das neue Element, das in ihr Leben getreten ist, bricht die heiligsten Fesseln und begehrt endlich zu seinem Recht zu kommen: die Freude am Dasein. Wer bräche nicht die schwerste Fessel, die um einen Menschen liegt, wenn er ihm Freude gäbe?

Der Jubel in Konstantinopel ist ungewöhnlich groß. Wörtlich wird alles befolgt, was Primo vorschreibt. Niemand bezweifelt, daß Sabbatai Zewi die Quelle neuer religiöser Gesetzgebung darstellt. Mit tiefster Teilnahme und Ehrerbietung wird auch die Verheissung empfangen, die er in einem Briefe an seine Gemeinde nach Ismir zum Ausdruck bringt: jeder, der an das Grab seiner Mutter geht und die Hand darauf legt, soll so viel Verdienst vor Gott dadurch erwerben, als ob er den heiligen Tempel zu Jerusalem besucht habe. So macht er das Grab seiner Mutter zu einem heiligen Ort und legt ihm die historische Bedeutung bei, die das Grab der Urmutter Sarah in der Höhle zu Machpelah bei Hebron hatte.

Im weiteren Verlauf hebt Sabbatai auch den Fasttag des 17. Tammus auf, den Tag, der dem Andenken an die Einnahme der Stadt Jerusalem dient. Aber dafür bestimmt er einen neuen Festtag, den 23. Tammus, der zuerst auf den 26. Juli 1666 fällt. Es ist dieser Tag, sagt er, sieben Tage nach seinem Erwachen zur messianischen Berufung. Darum muß er wie der heiligste Sabbath gefeiert werden. 4000 Juden befinden sich an diesem Tage in Abydos. Sie 282 gehorchen stumm und freudig und feiern einen Sabbath, der auf einen Wochentag fällt.

Von außen her strömen ihm Bestätigungen zu. Nichtjuden verfallen der Suggestion, die von der jüdischen Umgebung ausgeht, und treten zum Judentum über. Ein Derwisch, weiß gekleidet, tritt auf, predigt und verkündet den Messias Sabbatai Zewi. Die Türken nehmen Ärgernis daran und verprügeln den Derwisch. Er predigt weiter. Sie sperren ihn in das Irrenhaus, aber er läßt nicht von seinen Verkündigungen. Sie entlassen ihn, und er predigt weiter von Sabbatai Zewi.

Da ist ein Jude, Moses Suriel, der in ekstatischen Anfällen durch die Gassen schreit, die Erlösungszeit ankündigt und die Menschen zur Buße aufruft. Er hat großen Zulauf. Wo er erscheint, gibt es erregte Szenen, wilde Zusammenstöße. Die Türken beschweren sich darüber beim Großvezier. Der weiß nicht, was er solchen Erscheinungen gegenüber tun soll, und gibt den Vorständen der Gemeinde auf, selber für Ordnung zu sorgen. Aber was können die noch an Ordnung befehlen? Sie wenden sich an Sabbatai, und der befiehlt Suriel, vor ihm zu erscheinen. Er kommt. Sie haben ein Gespräch unter vier Augen. Dann geht Suriel wieder wie sonst durch die Gassen und schreit ekstatisch nach Erlösung und Buße.

Wer unter den Gläubigen und Anhängern noch den letzten Zweifel hat und meint, es könne nicht immer so weiter gehen mit Hofhaltung und Edikten und Wunderzeichen, sondern es müsse etwas Neues und Entscheidendes geschehen, der wird beruhigt durch einen Brief Nathans aus Gaza, der jetzt in Abydos eintrifft. Darin wird verkündet, daß Sabbatai Zewi noch vor dem Ende dieses Jahres gekrönt werden 283 würde. Weithin wird der Brief verbreitet. Sabbatai entschließt sich zu einer vorsorgenden, königlichen Maßnahme. Er ernennt drei Personen, die er nach Amsterdam, Venedig und Livorno absenden will. Sie sollen in diesen drei Städten als seine königlichen Gesandten residieren. Die Ernennung ist erfolgt, aber Primo hat die Abreise der Gesandten verhindert. Er ist immer der klügere Diener gewesen.

Was sich jetzt noch gelegentlich als Gegner zu bekunden wagt, verfällt einer schnellen Justiz. Da ist in Konstantinopel ein wohlhabender Kaufmann, dem bei der Sache nicht geheuer ist. Er begibt sich – ein Tatbestand von ewiger Aktualität – zum Großvezier und erklärt, er persönlich sei mit der Bewegung nicht einverstanden. Für alle Fälle wolle er hier zu Protokoll erklären, daß er an allen Vorgängen unbeteiligt sei und sie mißbillige. Das Volk erteilt ihm die Quittung für sein Verhalten. Es kauft sich einige Zeugen, die vor Gericht bekunden, daß dieser Kaufmann Hochverrat getrieben habe. Er wird zur Galeerenstrafe verurteilt. Von Ismir aus beklagen sich einige Leute, wahrscheinlich auf Betreiben la Papas, über den irreligiösen Lebenswandel Sabbatais. Aber das Konstantinopel von heute ist nicht mehr das Konstantinopel von einst. Als Antwort erhalten sie, von über zwanzig Gelehrten unterschrieben, einen Nidui, eine Ausstoßung zugestellt, eine Form des Bannes. »Alles Schlechte soll an Euch haften, wie es in der Thora geschrieben steht, bis Ihr Euch bekehrt habt!« Alle diese Vorgänge erhellen den Tatbestand dahin: der Messias ist kein Gefangener. Er ist der Allgewaltige, dessen Macht täglich und stündlich wächst, und für den die Krone schon bereit gehalten ist. 284

Es ist darum nicht sonderbar, daß viele Gemeinden, in denen kluge, kritische, philosophisch geschulte und sehr aufgeklärte Köpfe sitzen und beschließen, von jeder Prüfung des Messias absehen und sich bedingungslos der Huldigung anschließen. Aus Amsterdam machen sich die Führer der sabbatianischen Partei, Pereyra und Naar, auf den Weg, weil sie zusammen mit Sabbatai von Konstantinopel nach dem heiligen Lande ziehen wollen. Wie sie auf dem Wege sind, wird ihnen ein Schreiben der Notabeln der Amsterdamer Gemeinde nachgesandt, das sie in Abydos übergeben sollen. Es ist die bescheidene Frage des Nachfolgers an den Herrn, was er tun solle. »Sag' an, unser König und Gebieter,« heißt es darin, »welchen Weg wir einschlagen und was wir tun sollen: sollen wir uns unverzüglich rüsten und in das Gotteshaus ziehen, um uns Deiner Heiligkeit zu Füßen zu werfen, oder aber der Gnade Gottes bis zu dem Tage harren, da alle unsere Zerstreuten versammelt werden?« Die besten Männer der großen Gemeinde haben diesen Brief unterschrieben. Die erste Unterschrift leistete der angesehene Philosoph und Freidenker Benjamin Mussafia.

Auch die portugiesische Judengemeinde in Hamburg hatte sich zu einer gleichen Huldigung entschlossen. Es vermerkt das Protokollbuch: »Angesichts der guten Nachrichten, welche uns durch Berichte aus Ismir und anderen Gemeinden geworden waren und unsere Hoffnungen auf das ersehnte Heil bestätigen, hatte der Präsident . . . von Eifer beseelt« eine Versammlung einberufen. »In jener Versammlung wurde beschlossen, Gesandte abseiten dieser Gemeinde nach Konstantinopel zu schicken, um unserem König Sabetay Seby, dem Gesalbten des Gottes Jaakobs (dessen Herrschaft sich entfalten möge und dessen Name 285 verewigt werde), die schuldige Huldigung darzubringen.« Nachträglich gibt man allerdings diesen Plan auf, einmal, weil man befürchtet, der Brief könne in fremde Hände fallen; sodann aber – und hier wird die Unbedingtheit des Zutrauens offenbar – wird der Brief zu spät nach Konstantinopel kommen, denn bis der Bote den Weg zurückgelegt hat, ist Sabbatai längst in Jerusalem. »Wir hoffen aber und halten es für ganz sicher, daß nosso Rey, unser König, vor Ablauf dieser Zeit in Erez Israel sein wird . . . der Gott Israels erfreue uns mit den ersehnten Nachrichten und gebe, daß wir bald diese große Zeit erschauen, zu Ehren seines heiligen Dienstes.«

Hier dringt die Gegenwärtigkeit ihrer Beziehung noch bis in die ganz kleinen Ordnungen ihres Alltages hinein. So erweist es sich für sie als nötig, ein Gesetz über Majestätsbeleidigung zu schaffen. Sie belegen mit einer Strafe von fünf Reichstalern zugunsten der Armenkasse jeden, der über den Messias oder über seinen Propheten Ungünstiges sagt, und mit dergleichen Strafe den, der solche Lästerungen von anderen hört und ihn nicht dem Vorstand der Gemeinde anzeigt. Sodann wurde, unter Androhung der gleichen Strafe, von der Kanzel der Synagoge der Beschluß verkündet, »daß alle Wetten auf das Eintreffen unseres Heils (dessen uns Gott bald teilhaftig werden lasse) fortan verboten seien. Wer mit Nichtjuden eine derartige Wette abschließt, verfällt einer Buße von zehn Reichstalern.«

Wir wissen, daß Gesetze immer einem Tatbestand nachhinken, wenn er bedrohlich geworden ist.

Da Sabbatai Gehorsam findet, wächst ihm der Mut zu königlichen Erklärungen. Es lautet ein Schreiben, 286 das er an die Rabbiner von Konstantinopel richtet, wie folgt: »So spricht der große König, unser Herr: meinen Gruß an alle gläubigen Völker, die mich lieben, damit ich sie mache zu Freunden durch Erbschaft, zu besitzen das Gute, und ich ihre Schätze fülle mit Segen, so geistig wie leiblich, auch daß meine Sanftmütigen mit Güte gesegnet werden mögen, spricht der Herr: also seien auch gesegnet alle Menschen meines Glaubens, so Männer als Weiber, Brüder und Schwestern, Söhne und Töchter. Gesegnet seien sie, sage ich, aus dem Munde des großen Gottes, und aus dem Munde seines Knechtes, seines Auserwählten. Es sei Euch hiermit kund und offenbar, daß an dem Sabbath, an welchem dieser Abschnitt des Gesetzes gelesen wird, welcher beginnt: Werdet Ihr in meinen Satzungen gehn . . . (›Er rief‹ 26, 3), Gott mein Elend und aufrichtiges Gemüt angesehen und mich mit großer Freude überschattet und erfüllt, woraus ich sah und klar merken konnte, daß die lange begehrte und ersehnte Zeit der Hoffnung Israels nunmehr gekommen sei. Damit sei Euch für dieses Mal genug gesagt . . .«

So geben Könige ihre Verheißung: mit sicherer Stimme und unbestimmten, klangvollen Worten. Und da er daran denkt, wie sehr die Menschen noch der unbestimmten Verheißung glauben, liebt er sie um des Vertrauens willen, von dem er lebt, und wird milde, herzlich, teilnehmend: »Der Allerhöchste gebe nach seiner Wahrheit und Barmherzigkeit, daß dieser Trost, den ich bei mir empfunden, als ich die Worte las: Ich gebe meine Wohnung in eure Mitte, meine Seele schleudert euch nicht weg, ich ergehe mich in eurer Mitte und bin euch Gott – immerwährend sein und sich vermehren möge.« 287

Denkbar, wahrscheinlich sogar, daß nicht Sabbatai diese Dekrete und Briefe abgefaßt habe, daß er nur unterschrieb, was Primo ihm vorlegte. Wer so hemmungslos sprechen, singen, weinen und jubeln kann wie Sabbatai, dem steht nicht die Hand mit dem Federkiel darin zu der ruhigen, in schwerem Pathos gleitenden Geste des geschriebenen Wortes. Wir kennen aus dieser Zeit mit Sicherheit nur einen Brief von seiner Hand, und der ist kurz, stoßweise und zuckend im Ausdruck, konvulsivisch geladen wie das, womit er seine Anhänger und Besucher anspricht.

Aber für die Wirkung nach außen hat diese Frage keine Bedeutung. Für die Welt sind diese Dokumente von höchster Einmaligkeit. Darum wirken sie, und wie ihr messianischer Glaube in ihren Alltag eingewoben ist, dringen die Wirkungen bis in die Funktionen ihres Alltags. Sie stehen in aller Wirklichkeit am Vorabend der großen Ereignisse. Folglich wird es hohe Zeit, daß sie mit den Vorbereitungen beginnen. In sehr vielen Synagogen werden die Initialen Sabbatai Zewi's angebracht, ein Kranz von Blumen darum, eine Krone darüber mit den Worten: die Krone des Sabbatai Zewi. Die Gebete werden ergänzt, und Gott wird angesprochen: »Segne unseren Herrn und König, den heiligen und gerechten Sabbatai Zewi, den Messias des Gottes Jaakobs. »Und da es hier und dort noch Ungläubige gab, die sich weigern, diesen Segen auszusprechen, zwingt man sie mindestens, in der Synagoge zu bleiben, den Segen stehend anzuhören und ihn durch ein lautes Amen zu bekräftigen. In den Gebetbüchern kommt das Bildnis Sabbatais neben dem des Königs David zur Darstellung. Einem Bericht aus Siena entnimmt man, daß die Kinder, die in Italien geboren werden, den Vornamen 288 Sabbatai bekommen. Man erfährt aus Livorno, daß viele Juden sich mitsamt ihren Familien nach Alexandrien begeben, um näher an Jerusalem zu sein, und daß sich täglich viele andere zu gleichem Beginnen rüsten. Menschen sitzen da mit gepackten Bündeln voll Kleidung und getrockneten Lebensmitteln, damit sie Wegzehrung auf der langen Reise haben. Es schimpft und spottet der Pfarrer und Superintendent Michael Buchenroedern aus Heldburgk, ein cholerischer Ketzerriecher: »Sie (die Juden) horchen und hören, lauern und lauschen Tag und Nacht nur auf Messias-Zeitung, treiben ihre Schulden ein, nehmen mit Schaden quid pro quo, verschleudern ihre Ware . . . Noch lächerlicher aber ist es, daß heutigen Tages etliche Jüden sich die Haare abscheeren lassen, desto leichter und leiser das Blasen des neuen Messias-Düthorn zu vernehmen. Wie bald könnte ein Schalk bei der Nacht auf einem Berg stehend gegen eine Stadt oder Dorf, darinnen Jüden wohnen, mit einem Horn blasen, die Jüden aufwischend machen und ihnen Hörner mit dem Horn aufsetzen?«

Und er vermerkt weiter mit Unlust: »Weil . . . das mit Mund und Feder erschollene ausgebrochene Geschrei von dem neuen Messias und seinem Propheten Nathan die Juden noch mehr irre und stutzig macht, daß etliche nicht mehr wollen heiraten, die anderen nicht mehr wie vorhin so stark den Handel mit Kaufen und Verkaufen betreiben, die dritten sich großer Dinge vernehmen lassen, gleich als wenn in der Christen Länder auf viele Staffeln sie höher steigen würden, die vierten behaupten und ausgeben, es seien schon etliche Christen ihrer, der Juden Meinung . . .« Es ist diese väterliche Besorgnis, die da aus den letzten Zeilen mit kindlicher Schlichtheit spricht, nur 289 eine der Stimmen, wie sie damals sonst noch, nur ernsthafter und tiefer begründet, aus vielen Christen angesichts dieser Entwicklung der Dinge sprachen. Wir wissen, daß in Hamburg christliche Kaufleute sehr bestürzt zu ihrem Prediger Edzardi kamen und ihn fragten, was denn aus der christlichen Lehre vom Messias werden solle, wenn die Berichte, die sie von ihren Korrespondenten aus der Türkei empfingen, auf Wahrheit beruhten. Es schreibt ein anderer Kaufmann im Juli dieses Jahres aus Amsterdam:

». . . Aber nun muß man außer allem Zweifel stellen, daß Sabathai Sebi'een herlich Instrument Godes is' und daß kein Zweifel an der Erlösung Israels mehr obwaltet.«

Es ist schon früher dargestellt, welche innere Beziehung die christliche Welt jener Zeit zu dem apokalyptischen Jahr 1666 hatte. Es haben aber nur wenige sich darüber Gedanken gemacht, wie die Ursprünglichkeit des Eindrucks und die Tiefe der Auswirkung bei den Juden zu rechtfertigen sei. Nur der Pfarrer Buchenroedern, schimpfend und wetternd, zählt eine Reihe wahrer und plump erfundener falscher Messiasse der Juden auf und schließt zürnend: »Also ist es abermals garnichts Neues, wenn die Juden in diesem 1666. Jahr so große Lust und Begierde haben, den vermeinten neuen Messias anzunehmen und nach dem alten Vaterland fortzuwallen. Es ist ihnen solches nicht angeflogen, sondern angeboren, von Vätern gleichsam ererbt und mit der Mutter-Milch eingeflößt und gesogen.«

Wie recht der Pfarrer Buchenroedern hat! Es geht hier um Erbteil, um Bestandteil des lebendigen Wesens. Darum gab sich alles Geschehen schlicht und im Grunde selbstverständlich. Hier war Zweifel eine 290 sinnlose Haltung. Es wurde geglaubt, was die Brüder des Messias, Elias und Joseph, an Legenden in die Welt trugen. Es wurde geglaubt, was die Vertreter der italienischen Gemeinden und die Abgeordneten aus Aleppo berichteten. Es war eigentlich schon nicht mehr wichtig, was an Einzelheiten da gesagt und übertragen wurde. Es kam einzig noch darauf an, daß der Messias sich zu einer entscheidenden Tat erhebe.

Aber außer Dekreten, Anweisungen, Verkündigungen und Sendschreiben kommt keine Tat aus der Festung Abydos. Sabbatai sitzt da, Wochen und Monate, hält Empfänge ab, wirbt und lockt und verschwendet, treibt in einem geschlossenen Kreise mit immer neuen, erstaunlich aufzuckenden Akzenten, und doch für den Beschauer mit einer bedrückenden, quälenden Einförmigkeit. Seine Kraft reicht nur dazu, die Ekstase am Leben zu erhalten. Um diesen Ring zu durchbrechen und zur Tat zu schreiten, hätte es wieder einer Kraft von außen bedurft. Aber die wirkt jetzt nicht. Vor ihm liegen lauter Bereitschaften. Sie anzurufen, wäre seine Mission gewesen. Es waren schon damals etliche der Meinung, es müsse ihm ein Leichtes sein, aus seinen zahlreichen Anhängern 20 000 Menschen auszuwählen, sie mit der Unsumme Gelder, die ihm zur Verfügung stand, zu bewaffnen, und den Sultan, der genug mit seinem Lande und seinen Nachbarn zu schaffen hatte, zur Abtretung des heiligen Landes zu zwingen. Aber solche Realpolitiker übersahen, daß die messianische Idee den Gedanken an Gewalt nicht kennt, daß gerade die Gewaltlosigkeit ihr Signum ist, weil dann doch die Entscheidung von oben gegeben und nicht auf der Erde mit Blut erkauft wird. Es ist nicht abzusehen, was 291 geschehen wäre, wenn Sabbatai sich wirklich der Macht bedient hätte, die ihm zur Verfügung stand. Er hätte immerhin ein historisches Faktum von nachhaltigster Bedeutung geschaffen. Aber dazu konnte es nicht kommen, da noch niemals Sabbatai sich zu anderer Tat als der des Wortes oder des Symbols entschlossen hatte. Sein Wirken erschöpfte sich immer darin, Bereitwillige zum Handeln aufzustacheln.

Es kann nicht der Zweifel an dem Maß der Bereitschaft gewesen sein, der Sabbatai hinderte, in dieser einzigartigen Situation seines Lebens das entscheidende Wort zu sprechen. Es muß der Zweifel gewesen sein, ob dieses Wort, wenn er es aussprach, genug tragende und zündende Gewalt hatte. Es muß der immer wache Rest des schwankenden, unsicheren Gewissens gewesen sein, der ihn auf der Höhe seines Ruhmes noch einmal ausspähen läßt nach einer andersgearteten Bestätigung seiner selbst, nach einem anderen Propheten als Nathan Ghazati, nach einem Verkünder, dem man nicht wie dem Ekstatiker aus Gaza den Vorwurf der Unklarheit machen konnte, dem vielmehr die Welt Klugheit, Nüchternheit und Autorität der Gelehrsamkeit zubilligte. Er späht nach einem solchen Propheten aus, er findet ihn, er ruft ihn . . . und ruft seinen Henker . . . tiefer, tragischer noch: er ruft seinen Judas Ischariot.

Es sind im Sommer des Jahres 1666 zwei Vertreter der polnischen Judenheit zu ihm gekommen, um Botschaft und Huldigung darzubringen. Der eine Loeb-Herz, der andere Jesaja, Sohn des Lemberger Rabbiners David Halevi. Sabbatai weiß sehr wohl, welche Bedeutung die polnischen Juden für die Bewegung haben, wenn auch nicht mehr dem Vermögen und der Masse nach, so doch vermehrt um ihres 292 Martyriums willen, das sie in den Augen der ganzen jüdischen Welt zu lebendigen Zeugen des Elends macht, das der Erlösung vorangehen mußte. Wenn es ihm gelingt, auch diese beiden Abgesandten für sich zu gewinnen, so gibt er damit der Bewegung vielleicht die entscheidende Anhängerschaft. Und um sie zu gewinnen, verläßt er sich nicht auf die Kraft, mit der er sonst Menschen gläubig und gefügig gemacht hat. Er läßt vielmehr die ganze Pracht, den ganzen komödienhaften Apparat eines Herrschers spielen, entfaltet die letzte ausgeklügelte Regie, um seines Erfolges ganz sicher zu gehen.

Sie werden nicht sogleich vorgelassen. Man verweist sie zunächst an Abraham Jachini und den Kreis seiner Verkünder, der sich um ihn gesammelt hat. Zu diesem Zwecke müssen sie sich zunächst von Abydos nach Konstantinopel begeben. Dort wird ihnen die wunderbare Auffindung der schriftlichen Prophezeiung bestätigt. Dort werden sie getränkt und überschwemmt mit den Berichten göttlicher Verkündigungen, Offenbarungen, Wunder und Zeichen. Was bleibt ihnen da anders als zu glauben? Von Jachini aus werden sie an Primo weitergegeben. Sie müssen also zurück nach Abydos. Sie treffen dort am 23. Tammus ein, dem von Sabbatai neu geschaffenen Sabbath. Sie haben davon noch nichts gehört und schicken arglos einen Diener aus, um Lebensmittel einkaufen zu lassen. Dafür müssen sie eine strenge Strafpredigt Primos über sich ergehen lassen.

Von Primo erfahren sie dann eine weitere, entscheidende Vorbereitung. Wenn die Bewegung von Sabbatai jeweils die verführerische Unmittelbarkeit des Eindrucks, den momentanen Impuls und das gefühlsgeladene, stammelnde Wort erfährt, so erhält 293 sie von Primo die große, dekorative, repräsentative Geste des Tonfalles, des pathetisch schreitenden Wortes. Er ist der Redakteur der Ekstase. Er ist der geniale, fast dämonische Journalist dieser Ideen, die er mit einer eigenartigen Fernwirkung versieht. Von ihm stammen die Fassungen der Dekrete. Seine Äußerungen stehen gegen die eines Jachini und eines Nathan Ghazati wie ein Kristall gegen einen bunten Tuchknäuel. Er verdichtet das Unwägbare des Augenblicks zu der weithin sichtbaren und erkennbaren Präzision einer Verkündigung. Er kennt Note, Art und Weise, wie sie den Gehirnen und Herzen der Glauben-Wollenden eingehen. Aber mehr noch: er gibt allen Vorgängen, halben Entschließungen, unbestimmten Andeutungen, unverbürgten Gerüchten die gefährliche Note der Unwiderrufbarkeit, indem er sie mit dem schweren Rhythmus des geschriebenen Wortes fixiert. Er gibt der Sekunde samt ihrem Inhalt die Dauer, versieht sie mit der Eigenschaft, erinnert zu werden, lauert auf jede Äußerung des Messias, um sie festzuhalten, sie zu materialisieren, und häuft so hinter ihm einen Berg von Tatsachen auf, den der Messias nie mehr wird ableugnen können, der mit seinem Eigengewicht immer hinter seiner Furcht vor der letzten Entscheidung stehen wird. Und darum ist er sein Dämon. Er erlaubt ihm kein Vergessen. Zwar kann auch er ihn nicht zwingen, sich zur Tat zu entscheiden, aber er sammelt um ihn her die Zeugnisse von gestern und vorgestern, aus deren Massenhaftigkeit die Tat eines Tages mit Notwendigkeit von selbst, von der inneren Triebkraft her geboren werden muß.

Zu diesem selbstgewählten Amt gehört auch, daß er zuvor die Abordnungen der Gemeinden empfängt 294 und in ihnen den Boden der Empfänglichkeit vorbereitet. Er bindet nicht nur den Messias an seine eigenen Worte, sondern er belädt ihn ständig von neuem mit der verpflichtenden Last des Vertrauens, das von weither ihm zugetragen wird. Eines Tages wird eben doch der Messias unter dem Druck von innen und außen nachgeben müssen.

Aber woher kommt diese Tiefe, diese stille Heftigkeit der Verknüpfung? Hängt er an dem Menschen Sabbatai Zewi? Hängt er, wie Tausende, an der Idee? Oder gar an dem verlockenden Amt, der nächste zum Throne des Messias zu sein? Oder treibt hier nur die Dämonie seines Wesens ihr Spiel und sorgt sich nicht, wem nun gerade sie dient? Dieser Dienst war so ausschließlich, und er selbst trat so sehr hinter der Aufgabe zurück, die er übernommen hatte, daß über ihn als Mensch und einzelnen nichts als unbestimmte Legenden verblieben sind. Nur für den Rest seines Lebens notiert die Chronik mit hartem Griffel Tatsachen von schwerem inneren Gewicht: wie alles längst vorüber ist, der Messias gestürzt und die große Bewegung verdammt zur Unfruchtbarkeit der Sekte, finden wir Primo, reumütig dem Irrtum einer brennenden Jugendzeit entsagend, als Rabbiner in Adrianopel. Er ist es, der gegen den größten, schöpferischen geistigen Vollender der sabbatianischen Ideen, den leidenschaftlichen Abraham Cardozo, den Cherem, den großen Bann ausspricht!

Aber in diesem Augenblick sorgt Primo noch für seinen Messias und für die Idee. Wohl vorbereitet entläßt er die polnischen Gesandten endlich zur Audienz vor Sabbatai.

Sie kommen zu ihm wie Kinder zu einem Vater. Sie wollen ihm die ganze grauenhafte Not und das Elend 295 klagen, das über sie und die ihrigen in Polen hereingebrochen ist und noch bis auf diesen Tag nachwirkt. Aber Sabbatai ist kein liebender Vater. Er läßt sie nicht zu Ende erzählen. Er kennt ja auch diese Tatsachen alle. Es gibt genug Schriften darüber, und eine davon, »Unter dem Druck der Zeiten«, Zok ha' ittim, liegt ihm vor. Es ist ein Bericht in gereimter Prosa, angefüllt mit allem Grauen der Einzelheiten und durchweht von einem an Haß grenzenden Gefühl der Empörung. Die zeigt ihnen Sabbatai als Beleg seiner Sachkunde und als Beweis für die Entbehrlichkeit ihres Berichts. Denn es liegt ihm nicht daran, daß man zu ihm redet. Er will reden. Auf ihn und seine Wirkung kommt es ihm im Augenblick allein an. Und er entfaltet die große Regie. Er trägt ein rotes Gewand und hat die Thorarolle, die in seinem Zimmer steht, mit einem roten Mantel versehen lassen. Er weist auf beide und fragt: »Wißt Ihr, warum mein Kleid und dieser Mantel rot sind?« Und da sie in ehrfürchtiger Erwartung schweigen, erläutert er mit dem Spruch aus Jesaja: »Denn ein Tag der Ahndungen ist in meinem Herzen angebrochen, und das Jahr meiner Erlösten ist gekommen.«

Das verstehen die Gesandten, verstehen es sogar feiner als er, der im Augenblick der nahenden Erlösung und Befriedung der Welt von Rache spricht. Sie entgegnen ihm, daß sich gerade die Juden in Polen durch die Tiefe ihres Martyriums alles Anrecht auf Erlösung verdient hätten.

Aber er läßt ihnen nicht den Trost der Klage. Er ist schon wieder mit vollem Schwung bei sich, bei seiner Sendung und seiner Geltung. Er gibt ihnen einen Bibelvers: »Ich will meine Pfeile mit Blut trunken machen.« Und da er immer der Suggestion seiner eigenen Worte 296 zu unterliegen bereit ist, wird er von Augenblick zu Augenblick trunkener, und so kann wieder von ihm die Wirkung ausgehen, der schon so viele erlegen sind. Er beginnt zu reden, zu verheißen, zu trösten. Er zieht Schriften der Kabbala heran, erzählt und deutet dunkle Stellen, begeistert sich und seine Hörer, schlägt unvermittelt in tiefe Trauer um und singt mit klangvoller Stimme den Vers aus den Klageliedern: »Gedenke Herr, wie es uns geht.« Es übermannt ihn der Inhalt dieser schmerzlichen Bekenntnisse, und die Tränen der wirklichen Ergriffenheit brechen aus ihm hervor. Auch die Gesandten weinen, aus dem Augenblick und der Erinnerung doppelt aufgewühlt. Dann reißt er sie und sich mit einem jähen Übergang aus dieser Trauer zu ekstatischer Heiterkeit hinauf. Er tanzt wie in Verzückungen durch den Raum und singt, darunter sein Lieblingslied: »Die Rechte des Herrn behält den Sieg.« Er folgt aber nicht dem Text in seiner unantastbaren Überlieferung, sondern nimmt eine kleine Änderung vor, die gleichwohl den gelehrten und hellhörigen Gesandten wie die große Kühnheit einer Verkündigung erscheinen muß. Er singt: »Die Rechte des Herrn behielt den Sieg.« Er nimmt eine große Verheißung unbekümmert und selbstsicher vornweg. Und wo es in dem folgenden Verse heißt: »Ich werde nicht sterben, sondern leben«, sagt er: achaje, ich werde lebendig machen. Ich werde die Toten auferwecken! Die beiden Gesandten senken demütig und ergriffen das Haupt. Er sieht, diese beiden hat er gewonnen. Er wird menschlicher und persönlicher zu ihnen. Er fragt sie aus und läßt sie erzählen. Den Vater des Jesaja, den Lemberger Rabbi, kennt er schon aus Berichten und erkundigt sich nach ihm; da er hört, er sei krank, gibt 297 er dem Sohn ein goldgewebtes Halstuch für den Kranken. Wenn er es umlegt, wird er geheilt sein. Aber noch ein anderes erfährt er bei dieser Gelegenheit. Es lebt in Polen ein bekannter und sehr weiser Kabbalist, Nehemia ha'Kohen. Auch er hat verkündet, daß bald, in dieser Zeit, der Messias kommen werde. Er hat in einer Vision gesehen, daß Gott selbst im Jahre 5408 einem Messias die Krone auf das Haupt gesetzt hat. Allerdings hat er den Namen des Messias nicht genannt. Aber darauf legt Sabbatai kein Gewicht. Ihm genügt, daß da einer sein Messiastum verkündet hat, und daß ein neues Zeugnis für ihn gewonnen werden kann. Und wird Nehemia erst in Abydos sein, so kann es nicht ausbleiben, daß er den allein wahren und echten Namen findet.

Sabbatai gibt dem Jesaja, wie die Gesandten sich verabschieden, einen Brief für seinen Vater mit. Es heißt darin: »Bald werde ich Euch rächen und Euch wie eine Mutter ihrem Kinde Trost spenden. Zwiefach soll der Trost sein, denn in meinem Herzen ist der Tag der Rache angebrochen, und das Jahr meiner Erlösten ist gekommen.« Er unterschreibt mit der Wucht seiner Überzeugung: »David ben Isai, der über die irdischen Könige eingesetzte Gesalbte des Gottes Jaakobs und Israels, Sabbatai Zewi.« Und als wolle er nicht den eigentlichen Sinn seiner Bemühung allzu deutlich betont sehen, setzt er in der Nachschrift des Briefes hinzu, er wünsche so bald wie möglich »den Propheten Nehemias« bei sich zu sehen.

Die Gesandten machen sich auf den Heimweg, und wohin sie kommen, werden sie zu begeisterten Verkündern des unerhörten Eindruckes, den sie mitgenommen haben. Die Wirkung des Briefes, den sie 298 vorzeigen, und der ausgeschmückten Berichte ist stärker, als Sabbatai sie je erwartet haben mag. Es bleibt ein Taumel der Erregung hinter ihnen auf dem ganzen Reisewege, besonders in den deutschen Gemeinden.

Wieder daheim, übergeben sie die Aufforderung des Messias an Nehemia ha'Kohen. Ohne ein Wort des Widerspruches, ohne eine Sekunde des Zögerns macht der »Prophet« sich auf den Weg. Er ist kein Jüngling mehr und die Strapazen einer Reise nicht gerade gewohnt. Aber er ist mit einem stillen, selbstverständlichen Eifer drei Monate unterwegs, um dem Befehl zu gehorchen. Daneben ist er zugleich Träger eines Auftrages, denn verschiedene Gemeinden in Polen, die ihm das Geld zur Reise verschafft haben, erwarten von ihm als Gegenleistung genauen Bericht über das, was es mit dem Messias auf sich habe. Der Geist des polnischen Juden, nicht minder zum Glauben und Hoffen geneigt und nicht minder in Erwartung einer verheißenen Erlösung, hat gleichwohl durch seine ausschließliche Beschäftigung mit dem Talmud sich weiter als alle anderen von der bibelnahen Ursprünglichkeit entfernt. Er gefällt sich sehr in der Erwägung von Möglichkeiten und folglich im Zweifel. Glauben ist gut, aber Wissen ist besser. Wenn auch das Herz ja sagt, so muß doch noch das Gehirn seine Autorisation erteilen. Und einer, der so von innen her aufgebaut ist, ist Nehemia ha'Kohen.

Anfang September 1666 trifft er in Abydos ein und wird mit den größten Ehren empfangen. Es wird seiner möglichen Bedeutung als neuen Propheten des Messias von vornherein Rechnung getragen. Aber das Weltliche und Äußerliche hat für ihn zu wenig Gewicht, um Eindruck auf ihn zu machen. Er sieht 299 diesen ganzen Pomp und diesen übermäßigen Reichtum mit verhaltenem Mißtrauen. Gewiß: dem Messias gebührt ein glanzvolles Auftreten, und mit dem Begriff des Königs ist die Vorstellung von Reichtum und Pracht unlösbar verbunden. Aber Nehemia lebt nicht nur für sich in einer bedürfnislosen Armut. Er kommt zudem aus einem Bezirk, in dem das Sterben der Hunderttausende und die grenzenlose Not ihres Alltags noch allzunahe und eindringlich sind. Der Kontrast ist von störender Deutlichkeit.

Vor der Erlösung kommt das Leiden. Das Leiden, weiß und hofft Nehemia, hat sein Volk hinter sich gebracht. Aber welcher Mensch findet aus solchem Absturz über Nacht die sorglose, etwas lärmende und ungebundene Freude, wie sie Sabbatai ihm vorführt? Wer noch so nahe diesem massenweisen Sterben steht, für den ist der Gedanke an die Erlösung mit den schweren, unheimlichen Tönen des Schofar-Hornes verbunden, nicht mit Tänzen und Liedern und festlichen Mahlzeiten. Es ist ihm alles zu unruhig und zu laut und zu wenig ernsthaft. Es verletzt ihn, den weltfremden Einsiedler, den sinnenfeindlichen Menschen zu sehr diese orientalische Üppigkeit und Fülle. Gegen sein Schamgefühl steht die aufreizende Erscheinung einer Sarah, wie sie neben dem Messias Hof hält, wie sie mit ihrer Schönheit um Gefolgschaft wirbt und sich in Dinge mischt, die nur Männer angehen. Er möchte das alles mit einer großen Handbewegung forträumen, er möchte den Raum klar und durchsichtig machen für den Zweck, um dessen willen er zugleich gerufen und gesandt ist. Und ungleich den Gesandten aus Polen vor ihm, wehrt er sich gegen das Getöne und den Überschwall der Gefühle und den Nebel der Worte, die auf ihn 300 eindringen, erzwingt es, daß aus dem unruhigen Monolog ein klarer Dialog werde, und beginnt hart und unerbittlich zu fragen.

In dem messianischen Gebäude, das sich da vor ihm enthüllt, sind zwei Lücken, die ihm schon von weitem sichtbar sind. Sabbatai Zewi nennt sich den Messias ben David. Gut, dagegen hat auch der große Kabbalist nichts einzuwenden, denn er weiß so gut oder besser noch als die anderen, daß ein solcher Messias kommen muß und daß die Zeit dafür überreif ist. Er ist sogar bereit, anzuerkennen, daß dieses Jahr, das im Abrollen ist, das entscheidende Jahr darstellt, obgleich es nach dem Sohar 1648 und nicht 1666 sein müßte. Wer weiß, ob da nicht Gott eine Verzögerung eingeschaltet hat? Aber darum ist er doch noch nicht bereit, auch nur ein Jota dessen aufzugeben, was geschrieben steht, und was folglich unumstößlich richtig ist.

Es steht nun geschrieben, daß der Messias der leiderfüllte Mensch sei. Er ist der Mensch der Verfolgungen, der Erduldungen, der Erniedrigungen und des Elends. Er muß es sein, weil er das Böse, das die Welt getan hat, durch sein Erleiden abtragen und tilgen muß. Abtragen nicht durch den Tod, sondern durch das Leben. Nicht sein Opfertod befreit die Menschen, sondern sein opfervolles Leben.

Wie ist es da mit Sabbatai Zewi bestellt? Was hat er gelitten, erduldet und ertragen? Nehemia ha'Kohen berührt da eine Stelle, die auch von Nathan Ghazati schon als schwach erkannt wurde, und die er in jeder Bekundung hat verdecken wollen durch den Hinweis auf die 18 Jahre ruheloser Wanderschaft des Messias. Auch Sabbatai Zewi weist darauf hin. Jeden Widerstand, den er gefunden hat, jede Ablehnung, 301 die ihm begegnete, jedes Ereignis, über das er sich bekümmern mußte, sind ihm eben so viele Stationen seines Leidens. Aber Nehemia ha'Kohen sieht darin recht wenig Anlaß, sich als Märtyrer zu fühlen. Sabbatai hat doch nie Not gelitten. Schon von seiner Jünglingszeit an ist er ein Kind aus reichem Hause gewesen. Immer konnte er Pomp entfalten. Immer waren Feste für ihn gerichtet, wenn er sie nur haben wollte. Und daß Menschen ihm gegnerisch gesinnt waren, hat ihn nie um seine Ruhe und Selbstsicherheit gebracht. Was er als Flucht im tragischen Sinne bezeichnet, scheint Nehemia ha'Kohen nur ein ruhmloses Ausweichen, ein unheroischer Mangel an Mut. Aber er will anerkennen, daß in Sabbatai innere Vorgänge, Seelenkämpfe, Mitleiden, Zweifel und Erschütterungen die Summe dessen ausgemacht haben, was man Leid nennt. Dann bleibt die andere Erwägung: es steht doch geschrieben, daß vor dem Messias ben David, der die endgültige Erlösung bringen wird, sein Vorläufer kommen wird, der Messias ben Joseph. Dem ist in den Schriften ein besonderes Geschick bestimmt: er wird mit allen Feinden seines Volkes kämpfen müssen, mit denen, die in der Bibel Gog und Magog genannt werden, er wird darin unterliegen, und vor den Toren Jerusalems wird er fallen. Aber mit diesem Tode, der den Sinn eines Opfertodes trägt, wird er seinem Nachfolger, dem Messias ben David, den Weg ebnen und ihm die letzte Wirkung ermöglichen.

Darum ergeht an Sabbatai die Frage: »Du weißt, daß vor Dir der Messias aus dem Stamme Benjamin kommen muß.«

Sabbatai weiß es. Also weiter die Frage: »Wenn Du der Messias aus dem Geschlechte Isai bist, so muß 302 folglich der Messias ben Joseph schon dagewesen sein.« Und er erhält die Antwort: »Ja. Er ist dagewesen.« Nehemia ist durchaus bereit, ihm das zu glauben. Er ist bereit, alles zu glauben, was man ihm beweist. Aber eben ohne diesen Beweis glaubt er nicht den Bruchteil eines Buchstabens. Wenn der eine ein Fanatiker des Herzens ist, ist der andere ein Fanatiker des Gehirns. Beide sind entbrannt, aber beide von anderen Ebenen her. Beide sind bereit, zu dem gleichen Ergebnis des Glaubens ohne Vorbehalt zu kommen, aber ihre Wege verlaufen in jener verzweifelten Parallelität, die einen Schnittpunkt nur im Unendlichen kennt, es sei denn, es lege sich eine dritte, beiden gemeinsame Gerade über ihre Wege und stelle die starre, unlösbare Verbindung her. Diese Verbindung heißt: der Beweis. Sabbatai soll ihm beweisen, daß, wann und wo der Messias ben Joseph erschienen ist. Sabbatai ist aus vielen ähnlichen Vorwürfen auf dieses Argument vorbereitet und um eine Antwort nicht verlegen. Und so wiederholt er, ausgeschmückt vielleicht, aber mit jener Sicherheit, mit der die Wiederholung eines Phantasiebildes zur starren, subjektiven Wahrheit wird, diese Geschichte: während der Gemetzel hat in Polen ein unscheinbarer, armer unbekannter Jude mit Namen Joseph gelebt. Er hat das Martyrium auf sich genommen, er ist um der Heiligung des Namens willen gestorben, er hat erfüllt, was seine Aufgabe war: sterben als Opfer, als Wegbereiter des Messias nach ihm.

Noch niemand hat sich der Eindringlichkeit und Lebensechtheit entzogen, mit der Sabbatai solchen Bericht zu erzählen vermag. Nehemia ha'Kohen bleibt unbewegt und ungerührt. Er ist bereit, auch das zu glauben. Aber es fehlt wieder die Verbindung: der 303 Beweis. Was ist daran Sonderbares und Einmaliges, daß ein unbekannter polnischer Jude gestorben ist, weil er den Namen seines Gottes heiligen wollte? Tausende, Zehntausende haben das getan. Sie haben sich mit einer Schlichtheit und übermenschlichen Selbstverständlichkeit zerhacken und verbrennen lassen, daß jeder von ihnen ein Anrecht darauf hat, Messias ben Joseph genannt zu werden. Alle glaubten sie zutiefst, daß sie dem großen Zweck und endgültigen Ziel dienen. Aber nicht darauf kommt es an. Es kann nur einen einzigen Messias ben Joseph geben. Also möge ihm Sabbatai genau diesen einen bezeichnen, den aus der wirren Masse Gott zum Träger gerade dieses Amtes ausersehen hat. Dreihunderttausend Opfer: ja. Aber nur einer, dessen Opfertod das Erlösungswerk um den entscheidenden Schritt förderte. Wer also?

Sabbatai kommt in Bedrängnis. Dieser Mann da vor ihm ist eine beklemmende Erscheinung. Welche tiefe Grausamkeit liegt darin, den Tod von dreihunderttausend Menschen mit einer Handbewegung zu verwerfen, weil nicht der eine daraus benannt werden kann, dessen Sterben das Schicksal der messianischen Bewegung entschied! Alle anderen waren bereit, zu glauben, daß einer von den Vielen es schon gewesen sein müsse, der da unerkannt seine Mission erledigte. Aber dieser Mann, der selbst das Kommen des Messias als Prophezeihung ausgesprochen hat, verlangt Beweise, weil der Weg zum Glauben über sein Gehirn führt.

Aber Sabbatai hat auch die Fähigkeit, sich anzuschmiegen. Da er nicht Beweise anders als aus seiner Selbstüberzeugung erbringen kann, lenkt er ein und begibt sich auf das Gebiet, auf dem er den 304 Kabbalisten hofft, besiegen zu können. Er beginnt zu disputieren, von der heiklen Frage des Messias ben Joseph abzulenken, den allgemeinen Beweis zu führen, daß die Zeit gekommen sei und daß er, Sabbatai, in der Zeit berufen sei.

Das ist ein gefährliches Unternehmen, denn an Kenntnissen gibt ihm Nehemia ha'Kohen nichts nach und an Unstörbarkeit des klaren Verstandes durch Ekstasen und Affekte ist er ihm weit überlegen. So gehen die Fragen und Antworten, die Gründe und Gegengründe, Behauptungen und Widerlegungen Stunde um Stunde in hartnäckigem Fluß dahin. Es wird Abend. Keiner ist müde, keiner ist überzeugt. Es wird Nacht, und sie stehen immer noch um Welten getrennt einander gegenüber. Nehemia ist Prophet, aber er will nicht der Prophet dieses Messias sein. Wenn jener ihm nicht den Beweis gibt, wird ihm ewig das Recht auf den Anspruch fehlen. Sabbatai empfindet das mit brennender Angst. Heftiger wird sein Bemühen um diesen Menschen, und bald nicht mehr um diesen Menschen, sondern um die Rechtfertigung vor sich selbst.

Es vergeht die Nacht. Sie disputieren in den folgenden Tag hinein, und langsam vollzieht sich ein verhängnisvoller Tausch der Rollen. Je leidenschaftlicher Sabbatai um seine Anerkennung kämpft, desto vergrämter zieht Nehemia sich in Abwehr und wachsendem Mißtrauen zurück. Die schweren, massiven Belege aus Talmud, Midrasch und Sohar dienen schon nicht mehr dem allgemeinen Nachweis der Möglichkeit, daß hier und jetzt der Messias erscheinen könne, oder daß er noch nicht erschienen sei. Sie dienen schon der Nachprüfung, ob dieser Prätendent, Sabbatai Zewi, nach allem, was er sagt, weiß, 305 verkündet, nach den Umständen seiner Geburt, nach dem Ablauf seines Lebens, dem Gewicht seiner Taten, Drekrete und Sendschreiben und nach der seltsamen Lebensweise auf Abydos überhaupt das Recht habe, sich als Messias der Juden zu bezeichnen. Und wie dieser zweite Tag verläuft und nichts ungeprüft und unbezweifelt vor Nehemia bestehen kann, geht er von der Prüfung langsam zum Angriff über, rettet sich Sabbatai mühsam und doch leidenschaftlich in die Verteidigung hinein, stehen seine Anhänger atemlos und schon beunruhigt im Hintergrunde, wird die Katastrophe geboren: Gehirn gegen Herz, Beweis gegen Gläubigkeit, göttliche Bestimmung gegen menschlichen Anspruch, Klarheit des Wortes gegen die gefährliche Dämmerung des Selbstbetruges. Der zweite Tag geht zu Ende. Durch den überschnell gewachsenen Bau der messianischen Erfüllung geht ein bedrohliches, aus den Tiefen der Erde kommendes Zittern.

Am dritten Tage hat der Wechsel der Rollen sich in seiner letzten Tragweite offenbart. Aus dem schrittweisen Nachprüfen und Verwerfen, aus dem unbeirrbaren Urteil über das, was er gesehen und gehört hat, hat sich in Nehemia eine endgültige Überzeugung, ein fanatisches Wissen um den Menschen vor ihm verdichtet. Sein Amt als Prophet fällt ihm aus den Händen. Ein anderes wird ihm vom Gewissen und dem Gefühl der Verantwortung für das gesamte jüdische Volk aufgenötigt. Er wird zum Ankläger, Sabbatai zum Angeklagten. Übermächtig reckt Nehemia ha'Kohen sich auf und spricht das Urteil: »Du bist ein falscher Messias. Du hast das Volk belogen und es auf Irrwege geleitet. Deine göttliche Berufung ist eine Fälschung. Nach unserem Gesetz gibt es für Dich nur eine Strafe: den Tod!« 306

Unter dieser vernichtenden Anklage zieht Sabbatai sich in das Schweigen der Erschöpfung zurück. Er gibt sich noch nicht geschlagen, aber er ist zum ersten Male in seinem Leben wehrlos gemacht. Gegen das, was sonst an Angriffen ihn traf, fand er als Waffe immer noch das Ausweichen, das Abbiegen, oder selbst die Flucht. Gegen diesen Schlag kann er sich nicht wehren. Hier ist der Teil seines Wesens getroffen, aus dem er immer wieder die Anwandlung von Zweifeln besiegt, aus der ihm die Unbedenklichkeit kommt, selbst die auch ihm erkennbare Fälschung eines Jachini sich als Geglaubtes und als Wahrheit einzuverleiben: die Überdeckung der Wirklichkeit mit den Gestaltungen einer überaus erregbaren Vorstellungskraft. Und soweit diese Seite seines Wesens in Frage kommt, hat die Anklage des Nehemia die Wirkung einer Entlarvung. Denn die Bilder der eigenen Phantasie mit dem Willen zur Geltung ausrüsten, sie mit der Fluoreszenz seiner Persönlichkeit versehen und sie den Menschen als erlebte und gültige Wirklichkeit in dem Augenblick geben, wo sie als Antwort auf uralte Fragen eine Wirklichkeit erwarten, ist selbst dann Betrug, wenn die Täuschung in ihrer Plastik auf den Erfinder zurückwirkt und in ihm die Überzeugung der Wahrhaftigkeit entstehen läßt.

Die Anhänger des Sabbatai, die atemlose, bedrückte Zeugen dieses dreitägigen Disputes und seines Ausganges gewesen sind, verstehen von solchen Erwägungen vielleicht nichts. Dagegen begreifen sie eines mit äußerster Klarheit: wenn Nehemia, der Eiferer, jetzt diese Festung verläßt, wird er, wie er einmal das Kommen des Messias verkündet hat, jetzt die Kunde von der Entlarvung eines falschen Messias verbreiten. Er wird es mit der Eindringlichkeit tun, mit 307 der er in dieser dreitägigen Schlacht vom Erforschen bis zum Zweifel und bis zum Urteil sich durchgerungen hat. Er wird es mit der ganzen Autorität seines Wissens tun. Was einem Sasportas mit seinen Episteln nicht gelungen ist, wird diesem Fanatiker des Wissens und des Gehirns gelingen: er wird die Bewegung spalten, sie lähmen. Er wird es in der entscheidenden Stunde der Bewegung tun, jetzt, wo alle Kräfte sich willig zu einem gemeinsamen Vorstoß zur Verfügung stellen.

Das darf nicht sein. Die Bewegung darf jetzt nicht gestört, der Glaube der Anhänger jetzt nicht erschüttert oder auch nur auf eine Probe gestellt werden. Es ist auch der Gefahr vorzubeugen, daß Nehemia sich an die türkischen Behörden wendet und vom falschen Messias berichtet. Es ist doch allen offenbar, daß man an Sabbatai Zewi eben nicht die Hand zu legen wagt, weil man in ihm trotz seiner anfänglichen Leugnung den Messias sieht. Aber in der Sekunde, in der dieser Glaube erschüttert wird, wird nichts ihn vor dem Schicksal eines gewöhnlichen Rebellen schützen.

Diese Erwägungen, in den Zeitraum von Minuten zusammengedrängt, ergeben den harten Schluß: Nehemia muß zum Schweigen gebracht werden. Nehemia darf die Festung nicht lebendig verlassen! Um der Sache willen muß dieser eine geopfert werden. Nehemia spürt die Stille, die seiner Anklage folgt, mit überwacher Aufmerksamkeit. Er hört dieses Raunen und Flüstern im Hintergrunde, er sieht plötzlich diese Gesichter voll böser Entschlossenheit und die Bewegungen, die gegen ihn andrängen. Er versteht sofort: Todesgefahr! Mit einem Sprung ist er auf den Beinen. Jäh durchbricht er den noch 308 unvollkommenen Ring der Sabbatianer und erreicht die Türe des Raumes. Hinter ihm her über die Gänge und Treppen hasten und jagen und johlen die Verfolger. Aber die Todesangst oder der fanatische Wille, noch vor dem Tode seine Botschaft in die Welt zu schleudern, geben ihm Kräfte. Er erreicht das Tor. Er ist im Freien. Dicht hinter ihm Menschen, die ihn erschlagen wollen. Vor ihm die Menschenmassen, die, wie gewöhnlich, den freien Platz vor der Festung belagern, Juden und Mohammedaner durcheinander. Eine ungeheure Entschließung explodiert in ihm. Er wirft seine pelzbesetzte Mütze zu Boden, stürzt sich auf den nächsten Muselmanen, reißt ihm den grünen Turban vom Kopfe und setzt ihn sich selber auf. Der Kabbalist Nehemia ha'Kohen, der das Kommen des Messias ben David für das jüdische Volk angesagt hat, tritt mit dieser symbolischen Handlung in vollendeter und ausreichender Form zum Islam über. Seine Verfolger weichen entsetzt zurück. Einen Mohammedaner dürfen sie nicht berühren. Sie können auch nicht mehr an ihn heran, denn schon steht er in einem dichten Keil von Menschen, die sogleich begriffen haben, daß hier ein Jude auf der Flucht vor den Seinigen sich zu ihnen und dem allein wahren Glauben gerettet hat. Die Sabbatianer müssen den Dingen ihren Lauf lassen, und schon hören sie, wie Nehemia, hoch aufgerichtet und ganz starr im Ausdruck, mit lauter Stimme über den Platz hin verlangt, daß man ihn nach Adrianopel zum Sultan bringe, damit er ihm Aufklärung gebe über den falschen Messias Sabbatai Zewi . . .

Man entspricht seinem Wunsche mit verständlicher Eile. Während in der »Machtburg« das bange Schweigen und Horchen lastet, steht der Mohammedaner 309 Nehemia vor dem Vertreter Mehmeds IV. und denunziert mit klaren, kalten Argumenten den, an den zu glauben er gekommen war, als Lügner, Betrüger, Hochstapler und Rebellen.

Die Katastrophe ist geboren – – – – –

 

Eine Erwägung und ein Bericht seien hier eingefügt: Entsprang der Übertritt Nehemias zum Islam nur jener Spontanität, aus der einer handelt, der sein Leben bedroht weiß und es schützen will? Er war doch ein Mensch, den die Nähe des Sterbens nicht mehr schrecken konnte. Er selbst erklärte späterhin, als er die Türkei verlassen hatte und wieder zum Judentum zurückgekehrt war, er habe den Turban genommen, um den falschen Messias entlarven und sein Volk vor einer großen Enttäuschung retten zu können. – Es liegt aber, scheint mir, in diesem ungewöhnlichen Entschluß zugleich ein Unterton von Resignation und Verzweiflung, die Gebärde eines Menschen, der im Herzen doch Kind geblieben ist, und der auf die Zerstörung einer insgeheim unsagbar geliebten Hoffnung mit der Aufgabe, dem Hinwerfen seiner selbst, triebhaft antwortet.

Aber er ist dieser Rettung niemals froh geworden. Dieselbe Kraft, die ihn zwang, in sich den Glauben an den Messias zu zerstören, hat auch zugleich sein ganzes Dasein, seine innere Existenz bis in den Grund hinein zerstört. Denn wie die Zeit dahin geht, wie Sabbatai längst als peinliche, zweideutige Gestalt zum Führer einer Sekte herabgesunken ist, überrennt aus der unaufhörlichen Wiederholung des Geschehens das starke Herz des Nehemia doch endlich sein Gehirn, und der Vernichter des Messias bekennt sich plötzlich als einer seiner glühendsten Anhänger. Er 310 erzählt, verkündet und schwärmt von Sabbatai Zewi. Er berichtet von Wundern, die er nie gesehen und erlebt hat. Er beseitigt selbst aus seinem brennenden Herzen her den großen Einwand, mit dem er den Messias einmal zur Strecke brachte: das Fehlen des Messias ben Joseph, »denn ich selbst«, erklärt er, »bin der Messias ben Joseph. Ich werde vor den Toren Jerusalems sterben und meinem Messias den Weg bereiten.«

Aber niemand glaubt ihm mehr. Wohin er sich in den polnischen Gemeinden mit dieser Offenbarung wendet, wird er scheel angesehen und verstoßen. Er muß weiter und weiter gehen, unstet und flüchtig, mit einem geheimen Kainszeichen auf der Stirne. Er durchwandert Polen, Deutschland, Holland. Vielleicht ist er wirklich auf dem Wege nach Jerusalem, um vor den Toren zu sterben. Aber das Übermaß der inneren Kämpfe hat seinen Geist und seine Entschlußkraft zermürbt. Wie eine legendäre Figur zieht er umher, läßt das Volk in seinen Berichten ihn umherziehen. Man sagt, er sei ein Bettler geworden, der sich Jakob Namirow nannte, ein großer Kenner und Erklärer des Talmuds, und doch ein Irrsinniger. Man weiß nicht einmal genau das Jahr seines Todes (1682 sagen die einen, 1696 die andern), noch wo er gestorben ist. Er ist verschollen.

Aber das weiß man, daß er sich in den letzten Jahren seines Daseins so nannte, wie der Messias Sabbatai Zewi ihn einmal in aufkeimender Hoffnung gerufen hatte: Prophet Nehemia.

 


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