Josef Kastein
Herodes
Josef Kastein

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10. Kapitel

Von der Untreue

In dem Willen einer Gemeinschaft, ihre Geschichte als Volk fortzusetzen, muß notwendig die Bereitschaft enthalten sein, vom bisherigen Ablauf ihrer Geschichte Kenntnis zu nehmen. Geschichte in diesem Sinne ist das Erinnerungsvermögen einer Gemeinschaft. Sie ist zugleich das Fundament, von dem aus die Gemeinschaft zu neuer Willensbildung und zu neuen Leistungen aufbrechen kann. Sie enthält die Motive der Vergangenheit und die Zielsetzungen der Zukunft.

Das Erinnerungsvermögen: so wie eine Summe nie identisch ist mit der Anzahl der Einheiten, die in ihr enthalten sind, sondern mehr und anderes darstellt; und so, wie ein Volk nie identisch ist mit der Vielzahl der Menschen, durch die es gebildet wird, sondern ein Übergeordnetes und Selbständiges ist: so ist auch das Erinnerungsvermögen eines Volkes nicht gleich dem seiner Mitglieder. Der Einzelne erinnert und vergißt anders als die Gemeinschaft, der er zugehörig ist. Die Kette seiner persönlichen Erinnerungen kann er nicht zerreißen; zur Kette der historischen Erinnerungen seines Volkes steht er im Verhältnis der Wahl und der Entscheidung. Er kann sie nach seinem Willen ablehnen oder annehmen. Den persönlichen, den individuellen und privaten Erinnerungen kann er nur entgehen durch seine Selbstauslöschung. Den kollektiven Erinnerungen, denen, die ihn aus der Geschichte seines Volkes her begleiten, kann er sich durch jeden Akt der Verneinung entziehen; und noch wenn aus der Geschichte seines Volkes her Schicksalhaftes mit ungeheurer Wucht 352 über ihm zusammenschlägt, kann er dieses Ereignis zu einem privaten Schicksal umdeuten, das ihn als einen isolierten und nicht als einen der Gemeinschaft verbundenen Menschen trifft. In diesem Augenblick begeht er eine andere Form des Selbstmordes: die historische Selbstauslöschung. Das Bekenntnis zur Geschichte eines Volkes als zur Summe seiner Erinnerungen ist ein Akt der Entscheidung; das bewußte Ablehnen und Vergessen dieser Erinnerungen ist ein Akt der Untreue. Die Motive der Vergangenheit: zwischen der Erinnerung eines Volkes und den Motiven der Vergangenheit besteht eine unlösbare Verknüpfung. Selbst wenn das Gedächtnis des Volkes ein kontinuierliches Phänomen wäre, das die Fähigkeit besäße, jedes geschehene Faktum zu erinnern; selbst wenn eine bis zur Akribie getriebene Aufzeichnung aller Einzelheiten die Möglichkeit zur lückenlosen und detaillierten Erinnerung gäbe; selbst dann stände einer solchen mechanischen Vollständigkeit ein Doppeltes entgegen: der Wille des Volkes, dieses zu erinnern und jenes zu vergessen, und die Notwendigkeit, diesem und jenem Faktum in der Erinnerung einen besonderen Sinn zu unterstellen, den es nicht von allem Anfang her hatte. Jedes Volk erinnert genau das, was es erinnern will, und vergißt genau das, was es vergessen will und vergessen muß. Aus solchem Prozeß her wird Historie eines Tages nur das, was in der Erinnerung noch besteht, und sogar das, was niemals geschehen ist, was irgend einmal erdichtet und von der Erinnerung als Faktum übernommen worden ist. Und von hier aus wird selbst das, was einmal geschehen ist, durch die Nicht-Erinnerung 353 zu einem Nicht-Geschehenen. Das Vergessene in der Historie hat nicht existiert. Es ist eine eitle Fiktion der Soziologen, daß es dennoch gewesen sei. In diesem Erinnern und Vergessen, in diesem Prozeß der Auswahl dessen, was tradiert werden soll und folglich allein tradierbar ist, liegt überdies keine Willkür, sondern ein gestaltendes Prinzip: das Prinzip der Selbstmotivierung von Gemeinschaften. Völker geben sich selber einen Sinn. Je früher sie Geschichte notieren, desto früher arbeiten sie an der Formung des Ich. Je lebendiger sie aus der notierten Geschichte Erfahrungen sammeln und ableiten, desto tief er wird ihr Bedürfnis, im Geschehenen und Erfahrenen die Motive ihres Daseins aufzuspüren. Aus dieser Selbstmotivierung baut ein Volk sich seinen Mythos. Die Grundlage des Volksmythos ist dasjenige historische Geschehen, daß durch Erinnerung und Sinngebung in die Zukunft, das heißt: in die jeweilige Gegenwart des Volkes tradiert wird.

Die Zielsetzung der Zukunft: für eine Betrachtungsweise, die die äußerlichen Sichtbarkeiten eines Volkslebens, seine soziologischen Bedingtheiten, seine jeweilige gesellschaftliche Situation als einzige Ursache seiner Reaktionen und damit der sogenannten Entwicklung nimmt, gibt es nur jeweilige Zielsetzungen eines Volkes als Antwort auf eine jeweilige Situation. Für sie ist – eine genügende Kenntnis der soziologischen Fakten vorausgesetzt – jede Reaktion und jede neue Zielsetzung errechenbar. Geschichte wird so zum Rechenexempel, eine Gleichung mit nur bekannten Größen. Aber dabei wird die eine große und entscheidende Konstante vernachlässigt: die 354 Selbstmotivierung als jene Kraft, die nicht nur das Gewesene mit einem Sinn versieht, sondern auch zum Kommenden hin die Direktiven des Verhaltens gibt; die den Weg frei macht zum Erlebnis, insbesondere zum religiösen Erlebnis, zu einem Vorgang, der sich auf keine Weise in das soziologische Schema einsperren läßt; die jeweils die Initiative ergreift und damit das Geschehen in eine vom Soziologischen nicht voraussehbare Richtung drängt. Aus gleichen soziologischen Voraussetzungen antworten Völker nicht gleichartig, sondern so verschieden, wie die Kraft ihrer Selbstmotivierung es ihnen nur ermöglicht. Den Sinn, den ein Volk seiner Vergangenheit entnimmt, will es in neuen Akten des Tuns und im Bedrängen und Gestalten der umweltlichen Bedingungen je und je von neuem realisieren. Von da aus gesehen gibt es ewige Zielsetzungen eines Volkes. Damit wird Geschichte der Erlebnisraum von Gemeinschaften, die den Sinn ihres Daseins in der Verwirklichung ihres Mythos sehen. Jedes Geschehen in die Zukunft hinein wird damit im Prinzip ein originärer Akt, in dem sich der Mythos – vollkommen oder im Versuch – manifestiert.

Verbindet ein Volk auf diese Weise seine Zeiten – die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft – zu einer Einheit der Motivierungen, so ist es zugleich gezwungen, den einzelnen Gestalten seiner Geschichte einen bestimmten Ort und einen bestimmten Sinninhalt zuzuweisen. Die Isolierung geschichtlicher Fakten kann nur aufgehoben werden durch ihre entschlossene Einfügung in den Ablauf der Gesamtgeschichte, in eben jenen Ablauf, dessen Richtung durch das Bedrängen aus 355 der Selbstmotivierung her entscheidend bestimmt wird. Damit wird das individuelle Leben geschichtlicher Gestalten nicht ausgelöscht; es bekommt im Gegenteil seine Erhöhung und Verallgemeinerung dadurch, daß es nicht aus dem Zufall begriffen, sondern aus der notwendigen Verknüpfung der Glieder einer Kette verstanden wird. Ihm wird die geschichtliche Zeitlosigkeit verliehen. Ihm wird im Raume des geschichtlichen Erinnerns die Unsterblichkeit zuteil. Wenn solche Gestalt nicht irgendwo steht, (dort also, wo es dem Zufall chronistischer Aufzeichnungen beliebt), sondern an seinem Orte, (dort also, wohin das Erinnerungsvermögen der Gemeinschaft sie gestellt hat), so kann sie von jeder rückschauenden, von jeder sich nach der Vergangenheit orientierenden Betrachtung ohne weiteres aufgefunden werden, um das abzugeben, was ihren Sinn im Gefüge ausmacht: Lehre, Beispiel, Warnung zu sein.

Der Verlust an objektivem Gehalt, den eine Geschichte durch solche Art der Betrachtung erleidet, ist nur ein scheinbarer. Geschichtliche Objektivität existiert überhaupt nur im sehr begrenzten Rahmen der Möglichkeit, Fakten und Geschehnisse im ausreichenden Umfange zu notieren. Diese tote Anhäufung von Material bekommt aber ihr Leben erst durch die Bereitschaft eines Volkes, sich ihrer gestaltend zu bedienen. Aus der Gesetzmäßigkeit, mit der das geschieht – das heißt: aus der Selbstmotivierung her – bekommt Geschichte im geschichtlichen Leben eines Volkes seine eigene und nur ihm eigene Objektivität. Eine andere existiert nur im leeren und fruchtlosen Raume der Wissenschaft; dort, wo nicht geschieht, sondern 356 nur registriert wird. Aber wo ein Volk leben und sich seinen Raum in jedem Sinne erkämpfen will, besteht die Objektivität seiner Geschichte im Dienst am Aufbau seines Lebens. Diese Funktion hat die jüdische Geschichte für das Judentum bis vor wenigen Jahrhunderten in erheblichem Umfange ausgeübt. Dabei hat – vom Material der Geschichte aus gesehen – innerhalb dessen, was wir Tradition im Judentum zu nennen pflegen, eindeutig eine Geschichtsfälschung stattgefunden. Das bezieht sich sowohl auf die historische Chronologie im allgemeinen, wie auch auf die geschichtliche Fixierung und Motivierung von Festen, Riten und Gebräuchen, auf die Konkretisierung dichterischer Gestalten und literarischer Erzeugnisse, auf die Umdeutung und Umwertung geschichtlicher Fakten und Perioden und so fort. Dabei hat – vom gewollten Sinn der Geschichte aus gesehen – durchaus keine Fälschung stattgefunden, sondern eine Korrektur nach dem Maßstab jener Wahrheit, als deren Ausdruck und Vertreterschaft das jüdische Volk immer wieder zu leben sich bemüht hat. Das Medium der Betrachtung war der Glaube, und zwar der Glaube in jener spezifischen Ausprägung, wie sie durch die lebendige Gegenwart der Begriffe Monotheismus, Theokratie und Offenbarung entstanden war. Von diesen drei Begriffen widerstreitet der letzte, der der Offenbarung, einer historischen Treue objektiv am meisten und subjektiv am wenigsten. Er kann, ohne je einen Gegenbeweis fürchten zu müssen, jede Tatsache zu einer geoffenbarten Wahrheit machen. Darum gibt es weder eine Diskussion über den Begriff der Offenbarung noch über die Einordnung 357 historischer Fakten durch den Glauben an die Offenbarung. Beide haben im Bezirk des Glaubens ihre selbständige und nicht antastbare Wahrheit. Wenn ein Volk in seiner Geschichte mit einem solchen Offenbarungsglauben leben will, also mit einer im Uranfang stehenden, alles umfassenden und begründenden historischen Tatsache, so muß es zwischen dieser Grundtatsache und allen folgenden die Kette schließen, um nicht dem Offenbarungsakt nachträglich seine Größe zu nehmen oder ihn mit einem unzureichenden Sinn zurückzulassen. Die Funktion, diese Kontinuität herzustellen, ist im Judentum erfüllt worden durch den Begriff der Tradition. Er war ursprünglich streng in diesem historischen Sinne gemeint, und das Gebiet, auf dem er sich praktisch betätigte, war die Kleinwelt der historischen Fakten, das alltägliche Leben mit seiner Summe profaner Tatbestände. Allerdings – und das ist eine ungeheuer bedeutsame Tatsache – wurde der profane Tatbestand des Lebens eben durch seine Beziehung auf den Ursprungsakt seiner Profanität entkleidet. Er wurde der gleichen religiösen Gewichtigkeit teilhaftig wie der Anfang, auf den er mit Hilfe der Tradition bezogen wurde. Um das auszudrücken und sichtbar zu machen, konnte allein die Form des Tuns dienen, und zwar die Form nicht als schlichter Brauch oder übernommene, auf Konvention beruhende Sitte, sondern die Form in ihrer Meinung als Vorgang mit sakralem Charakter. Solche sakral gemeinten Formen gibt es bei allen Völkern; aber wohl bei keinem Volke so ausgeprägt und massiert wie im Judentum. Die Bedeutung einer solchen Formbindung des Lebens hat 358 schon das heidnische Altertum verstanden. Schon Tacitus sagt, wie er von der Verteidigungsmöglichkeit des Tempels in Jerusalem spricht: »Die Gründer sahen voraus, daß die Verschiedenheit der Bräuche Kriege verursachen würde.« Läßt man die Wahrheit dieser Voraussicht auch dahingestellt, so verbleibt immer der richtige Blick, mit dem er so geprägten Bräuchen, so sanktionierten eigenen Lebensformen das entsprechende Gewicht beimißt. Es genügt ein flüchtiger Überblick über die jüdische Geschichte – und der Bericht, der hier über Herodes und seine Epoche gegeben wurde, ist nur eine der vielen möglichen Illustrationen – um aufzuzeigen, daß das jüdische Volk für die Wahrung und Durchsetzung dieser Formen immer wieder das Leben im umfassendsten Sinne des Wortes eingesetzt hat.

In dem Augenblick, in dem die Form des Verhaltens jeweils feststand – und diese Formen sind keineswegs in ihrer Gesamtheit am Sinai normiert worden, sondern haben sich durch lange Jahrhunderte hin aus dem Gemeinschaftsleben und seiner Sinngebung herauskristallisiert – bekamen sie einen ganz neuen Sinn, der als durchaus selbständiger Faktor an der Geschichtsbildung des Volkes mitwirkt: sie wurden zur eigenen Welt hin verpflichtende Gesetze und zur Umwelt hin unterscheidende Wesenseigenschaften. Die nationale Disziplin, die durch diese Gesetze geschaffen wurde, hatte eine derartige Bindungskraft, daß sie es ermöglichte, das Judentum sowohl numerisch als auch im Sinne einer Gemeinschaft selbst dann noch am Leben zu erhalten, als die Voraussetzungen der Form – das Leben der Gemeinschaft 359 unter den Bedingungen eines Volkes – schon längst erloschen waren. Und die Wesensprägung erfolgte mit einer Gründlichkeit, daß die ganze Welt darauf reagierte und daß nicht nur bei jeder Begegnung mit ihr das Unterscheidende sichtbar wurde, sondern auch in der eigenen Welt und zu den anderen Welten hin aus dem Unterscheidenden gedacht und reagiert wurde. Das geschah nicht immer mit gegenwärtigem Bewußtsein. Es geschah eben so oft aus dem viel Wirksameren: aus dem gegenwärtigen Unterbewußtsein, also aus der Tiefe und Eindringlichkeit der Prägung, die das Wesen des Juden erfahren hatte.

Diese Prägung war ein Prozeß, an dem, so lange die staatliche Gemeinschaft bestand, alle Gemeinschaftsfaktoren gemeinsam mitwirkten: das Land und seine Lebensbedingungen, die Gemeinschaft und ihre geistige Atmosphäre, und die Umwelt und die Möglichkeit, als geschlossene Einheit zu ihr in bejahende oder ablehnende Spannung zu treten. Diese Basis verschmälerte sich erheblich, als das neben der umfangreichen Diaspora noch bestehende staatliche Zentrum aufgerieben wurde und die Diaspora, die Zerstreuung schlechthin, als Lebensraum des Volkes akzeptiert werden mußte. Die Erzeugung neuer Lebensformen hörte zwar damit nicht generell auf; diese Formenwelt entließ sogar aus sich im Laufe der langen Jahrhunderte eine neue, wenn auch verminderte Gestalt der Form: den Brauch, den Minhag, das, was nur noch regionale Gültigkeit hat, was aber zugleich ein Hinweis darauf ist, daß noch Gemeinschaftskräfte am Werke waren, die solche Formen überhaupt hervorbringen konnten. Dennoch 360 bekam die Form – eben wegen ihrer grundsätzlichen und immer größer werdenden Entfernung vom Grunde, der sie schuf: vom Gemeinschaftsleben – allmählich eine spezielle Aufgabe: die der Konservierung, und zwar nicht so sehr des Judentums, als vielmehr der Judenheit, also letztlich wirklich eine nationale Aufgabe. Die Konservierung des Judentums lag im Messianismus, in der Kabbala, im Chassidismus, in denjenigen Kräften, die selbständige geistige Bemühungen darstellten und in denen die stärkste Selbstmotivierung des Volkes am Werke war. Die Konservierung der Judenheit lag im Rabbinismus und seiner Ausdruckswelt: der Orthodoxie.

Über die historische Mission, die sie erfüllt hat, ist ein Zweifel nicht zulässig. Es kann auch in keiner Weise die Möglichkeit verneint werden, daß ihr eine solche Mission eines Tages wieder zufallen werde. Daß ihr eine solche Mission heute noch generell zukäme, ist eine subjektive Wahrheit und – der gegebenen historischen Situation gegenüber – ein objektiver Irrtum. Darin liegt kein Verschulden, sondern darin drückt sich eine unvermeidliche historische Entwicklung aus, von der um deswillen nicht genügend Kenntnis genommen wird, weil es historische Einsichten und Erkenntnisse wohl auf der Ebene der Gläubigkeit gibt, aber nicht auf der Ebene des Orthodoxen. Der Grund dieser Entwicklung ist die Zersprengung und Atomisierung der Gemeinschaft und des Gemeinschaftsraumes in der Galuth, seine zentrifugale Auflösung zu den umgebenden Welten hin. Hier entsteht ein Zwischenraum der Formangleichung, deren Notwendigkeit sich aus der 361 Teilnahme am Alltag der Umwelt ergibt. Die eigene Form kann daneben nur noch ein abgesondertes Dasein führen, meist nur ein sekundäres. Die alte, die traditionell jüdische Form muß deswegen nicht verschwinden, aber sie deckt sich nicht mehr mit den Tatbeständen des Lebens; sie wird nicht mehr von ihnen erzeugt, und sie wird in sich selbständig und zum Selbstzweck. Die Form aber, die nicht aus dem jeweiligen Leben der Gemeinschaft als aus einer opinio necessitatis geboren wird, besitzt keine geschichtsbildende Eigenschaft mehr. Ihre Innehaltung bedeutet keine notwendige Voraussetzung mehr für das Bekenntnis zur Gemeinschaft. Sie verliert – und die letzten Jahrhunderte jüdischer Geschichte beweisen das ganz eindeutig – nicht nur ihre verpflichtende, sondern auch ihre bindende und damit ihre konservierende Kraft. Was heute im »modernen« Judentum mit ernsthafter Gebärde als Bekenner einer Gottlosigkeit einherstolziert, ist zumeist unmittelbar aus dem Bezirk der Orthodoxie gekommen und in das Extrem hinübergegangen. Das sind Abfallprodukte eines Prozesses, auf dem letzten Endes auch die Verflüchtigung und Entwertung der Form beruht: der Säkularisierung der jüdischen Religion. Das besagt, daß der Glaube an die sinaitische Offenbarung und an die Offenbartheit der jüdischen Glaubenssätze für sehr erhebliche Teile der Judenheit nicht mehr existent ist. Sich dieser Tatsache mit Absicht oder aus geistiger Trägheit oder aus Furcht zu verschließen; das nicht sehen wollen, was die geschichtliche Entwicklung uns als Bürde und Hemmung und als Aufgabe zugleich auf den Weg geworfen hat, 362 bedeutet eine strafwürdige Unachtsamkeit gegenüber den Wirklichkeiten, den Ansprüchen und den Erfordernissen der Epoche. Denn diese Entwicklung ist eine Bürde und eine Hemmung deshalb, weil die geistige Struktur des Judentums – mit dem Glauben an die Offenbarung oder ohne sie – ein Dasein ohne die Bindungen einer Form, einer beseelten und sakral gemeinten Form, nicht verträgt. Nicht der äußerlichen Unterscheidbarkeit willen, sondern der inneren Unterscheidung willen ist Formgebundenheit ein Lebenselement des jüdischen Volkes. Darum bedeutet diese Entwicklung zugleich eine Aufgabe: das Suchen nach neuer Formgebundenheit. Denn der Verzicht auf den Glauben an die Offenbarung bedeutet nicht einen Verzicht auf die Bereitschaft zur Gläubigkeit, bedeutet nicht einen Verzicht auf den unbedingten Willen zur Selbstmotivierung, bedeutet nicht eine Verminderung des Glaubens, daß vom Juden und vom Judentum aus Selbständiges, Einmaliges und Entscheidendes in der eigenen Welt und in der Welt überhaupt zu geschehen habe. Ein geringerer Glaube als dieser würde jede Anstrengung für jüdische Dinge belanglos machen.

Die Absicht, dieses Suchen nach neuer Formbindung durch das Angebot der Gesamtheit der alten Formen zu befriedigen, entbehrt der logischen und der psychologischen Zulänglichkeit. Es gibt eine wirksame Rückkehr zur verlorenen oder aufgegebenen Form niemals für eine Gesamtheit oder für eine größere Gruppe von Menschen, sondern immer nur für diesen und jenen Einzelnen aus seiner individuellen Entscheidung; und diese Entscheidung muß den Glauben an die Offenbarung im 363 Sinne der alten Religion mit umfassen. Jede andere Rückkehr ist eine unwirksame Rückkehr, denn sie kann die Form nur akzeptieren um der Form willen, nicht um ihres immanenten Inhaltes willen. Darum ist jeder Zwang zur Form, der aus politischen Gründen gefordert oder akzeptiert wird, kein Fortschritt, sondern eine Verfälschung. Wer die Form ohne Inhalt akzeptiert, belügt die Form. Wer die Annahme der Form ohne Annahme des Inhalts als Erfolg ansieht, belügt den Inhalt der Form. Für diesen Kreislauf gibt es keine Auflösung, denn die Heiligung, die Beseelung der Form kann nicht von außen in sie hineingetragen werden. Die Form kann nur aus ihr als der zugrunde liegenden Gesinnung geboren werden. Es gibt aber auch keine von der Willkür oder der Zweckmäßigkeit diktierte Auslese und Auswahl der Formen. Es gibt keine Instanz, die solche Auswahl legitimieren und legalisieren könnte. Glaube und Form gehören zusammen, und an der Entwicklung der letzten Jahrhunderte im Judentum wird deutlich, daß sie bei überdehnten Voraussetzungen auseinanderfallen können, daß eine Situation eintreten kann, in der die Form um der Form willen, das Gesetz um des Gesetzes willen erhalten wird. Zur Auflösung dieser Diskrepanz dient auch nicht der Kompromiß, der Liberalismus aller Schattierungen. Dafür dient nur die entschlossene Rückkehr zum Anfang aller Formbildung und alles Glaubens: zur Gemeinschaft. Es gibt keine Restauration eines Glaubens. Es gibt nur die Restauration seiner Voraussetzungen.

Um die Schaffung dieser Voraussetzungen geht es in der gegenwärtigen Epoche des Judentums. Der 364 geographische Raum dafür und die geistigen Zugangsstraßen sind sichtbar geworden. Die Kurve des historischen Geschehens im Judentum zeichnet sich wieder mit größerer Deutlichkeit ab. Die eine entscheidende Grundströmung des jüdischen Bewußtseins, die ungeheuer fruchtbare Selbstmotivierung aus dem Glauben an den Messianismus, hat sich einen Weg in die Wirklichkeit gezwungen. Der geographische Raum dieser Realisierung ist Palästina. Die geistige Zugangstraße bildet die geistige Einstellung der Diasporajudenheiten zum Faktum Palästinas und zum Geschehen in ihm. Schon heute ist eine sachliche und geistige Anordnung im Judentum sichtbar, die im Bilde eines magnetischen Pols und seines Feldes von Kraftlinien begriffen werden kann. Hier – und nur hier – geschieht jüdische Geschichte im aktiven, gestaltenden Sinne; Geschichte vom Juden aus. Was sonst in der Welt an Feindschaften gegen den Juden tobt und ihn bedrängt und verarmt und entwertet und vernichtet: alles das ist nur Geschichte, die zum Juden hin geschieht; erneute Illustration zu einem uralten Thema, das so lange ein stummer Bericht bleibt, wie der Jude es nicht selbst zu einer redenden Aussage macht. Darum gibt es in der Gegenwart ein wirksames Judentum nur, so weit es sich auf diesen historischen Prozeß hin orientiert. Man mag der Weltorthodoxie zubilligen, daß sie durch vermehrte Tätigkeit und Werbung den Versuch macht, ihre geistige Einstellung am Leben zu erhalten und ihre Tradition fortzusetzen; aber im Geschehen der neuen jüdischen Geschichte wird sie nur dann stehen, wenn sie sich aus aktivem 365 Gestaltungswillen, aus tatsächlicher vorbildlicher Leistung, aus realen Aktionen, die im Grunde und nicht am Rande des Neubaus stehen, in den historischen Prozeß selbst hineinbegibt. Das setzt voraus, daß man ihn mit allen seinen Gegebenheiten zunächst einmal bedingungslos als Faktum bejaht. Er ist vorhanden; er wirkt; er erzeugt neue Tatsachen. Das legitimiert ihn als existent. Es ist nicht entscheidend, daß sein materieller Umfang noch gering ist und nur einen Bruchteil der Judenheit umfaßt; entscheidender ist, daß er jüdische Realitäten schafft. Es ist auch nicht entscheidend, daß viel materielle Zielsetzung und wirtschaftliche Kalkulation in diesen neuen Strom eingehen; entscheidend ist, ob es gelingt, die Intention des Anfangs, die nationale Restauration des Judentums, von ihren Urmotiven, von ihrem messianischen Gestaltungswillen aus am Leben zu erhalten und zum gestaltenden Faktor der entstehenden Gemeinschaft zu machen. Daß hier eine Gemeinschaft entsteht, ist unbezweifelt. Der Kampf kann nur um den Sinn der entstehenden Gemeinschaft gehen, um die grundsätzliche, im Weltanschaulichen tief verankerte Frage, ob hier nur die Funktionen eines wirtschaftlichen Mechanismus und Fragen der sozialen Normalisierung gemeint sind, oder aber Fragen wirklicher Gemeinschaftsgestaltung, das heißt: spezifisch jüdische Probleme.

Es spricht für die äußere und innere Atomisierung der aus dem Weltexil Heimkehrenden, daß die Frage nach der Existenz spezifisch jüdischer Probleme überhaupt gestellt werden kann. In der großen und bedeutsamen Parallelepoche, in der Zeit der Rückkehr aus dem babylonischen Exil, 366 war die Existenz einer jüdischen Aufgabe die gegebene und selbstverständliche Voraussetzung. Das Problem, das es zu lösen gab, war nur die Form, die am besten und wirksamsten den existenten Willen der neuen Gemeinschaft auffing, ausdrückte und in seiner Verwirklichung sicherte. Der Grund für diese verschiedene Einstellung liegt nicht darin, daß jene Zeit einen Esra und einen Nehemja hatte und bereit war, sich ihnen aus der Anerkennung ihrer Autorität unterzuordnen, während die intellektuelle Überspitzung der Gegenwart – als Ergebnis einer unproduktiven Gehirnschulung – jede Autorität bezweifelt; er beruht auch nicht darauf, daß damals stärkere Bewußtseinsformen mitgewirkt hätten, denn es ist heute durchaus kein Mangel an Begründungen und Motivierungen vorhanden; er beruht auch nicht auf irgend einem materiellen Übergewicht der Heimkehrenden von damals, denn die materielle Gewichtigkeit der Gegenwart übersteigt die damalige erheblich. Er beruht vielmehr darauf, daß damals die Kategorien des Denkens intakt geblieben waren und in der Verbannung, aus dem Erlebnis der Galuth, aus der richtigen Projektion der Ereignisse auf den Hintergrund der eigenen, der nur eigenen Geschichte noch eine Verstärkung erfahren hatten; während die Heimkehrer der Gegenwart aus einer gesprengten Formwelt und aus zersplitterten, vom Geiste des Westens geformten und beeindruckten Denkprovinzen daherkommen. Schon die Vielzahl der nationalen Motivierungen, der politischen Konzeptionen, der geistigen und soziologischen Zielsetzungen macht das erkennbar. Und in dem Augenblick, in dem 367 sie auf einander treffen, um sich scheinbar in der Auseinandersetzung gegenseitig zu befruchten und einer Synthese anzunähern, enthüllt sich, daß unter der Vielzahl der Devisen, die da für das Judentum streiten, eine schwere Schicht von Vorstellungen und Zielsetzungen aus dem Bezirk der Gesellschaftskämpfe des Westens verborgen liegen; daß in den neuen Aufbau Gruppen eingehen und die Tarnkappe tragen, die die westliche Welt trägt, mit der großen europäischen Lüge, die nach dem Ideal ruft und den Profit meint, mit jener Gesinnung, aus der ein neues Barbarentum geboren wird. Das jüdische Denken, das in der Diaspora durch die Assimilation aller Grade und Schattierungen gegangen ist, das in Europa seine Schulung empfangen hat, bringt nicht nur das Wissen und die technische Erfahrung Europas als wertvolles Gut in den Osten; es bringt auch einen Inhalt mit, der schon in Europa in einem manifesten Bankrott steht und der – auch wenn er Europa das Glück und die Seligkeit beschert hätte und nicht das massierte Elend – bei seiner Anwendung auf den Bau einer jüdischen Gemeinschaft jede Spur des Unterscheidenden und des Unterschiedlichen ersticken würde.

Aber dieses Unterscheidende ist ein Kriterium des jüdischen Aufbaues, so, wie es durch Jahrtausende ein Kriterium des Volkslebens, seiner Religion und seiner Geschichte war. Wer die Andersartigkeit des Juden begreift, muß die Verpflichtung begreifen, die Gemeinschaft aus andersartigen Voraussetzungen aufzubauen und zum Geschehen hin in andersartigen Kategorien zu denken. Wer die Andersartigkeit ablehnt und in den 368 Vorgängen des jüdischen Aufbaus einen von den tausend soziologischen Prozessen der Welt sieht, einen der vielen Vorgänge, die unter die Formel materialistisch-dialektischer Geschichtsauffassung subsumiert werden können: der verneint implizite – bei eventueller Anerkennung eines jüdischen Volkes – die Existenz eines besonderen geistigen Inhalts dieses Volkes. Der Begriff der jüdischen Gemeinschaft wird nicht erfüllt durch eine Summierung von Menschen, die aus Geburt und Herkommen Juden sind. Der Begriff der Gemeinschaft ist allezeit im Judentum eine zu bewältigende Aufgabe und eine zu gestaltende Inhaltsfrage gewesen. Der gemeinschaftsbildende Charakter der jüdischen Ethik war immer darauf angewiesen, die Gemeinschaft aus mehr als den äußeren gesellschaftlichen Gegebenheiten zu gestalten. Der metaphysische Untergrund in seiner Ausprägung als religiöses Bewußtsein, das ethische Postulat, das nicht mühsam und nachträglich aus der Verfilzung gesellschaftlicher Zustände abgeleitet und als Regulativ eines verfehlten Verhaltens post festum aufgestellt wird, sondern das vom frühesten bewußten Anfang her als Gesetz vor die Dinge des Lebens und der Lebensformung gestellt wird: das hat den Begriff der jüdischen Gemeinschaft allezeit von der Vielheit menschlicher Gemeinschaften unterscheidend abgehoben. Die gleiche Verschiedenheit der Gemeinschaftsgestaltung, die den Juden zum Griechen und Römer in einen Gegensatz brachte, hat ihn erneut in einen Gegensatz zu der Welt des Westens zu bringen. Denn erst aus diesem Gegensatz her kann er den doppelten Sinn der Verschiedenheit erfüllen; den 369 einen Sinn aus der Tradition, aus der Vergangenheit her: altes, unerschöpftes und unerledigtes Erbgut des Volkes zur Beschließung und zur Wirklichkeit zu bringen; und den anderen Sinn aus dem unausrottbaren Messianismus, zur Zukunft hin: aus dem Geiste des Ostens – ex oriente lux! – dem Westen die Möglichkeit einer Gemeinschaftsbildung zu demonstrieren, mit der die ungeordneten, weil metaphysisch unzulänglich gebundenen Kräfte der westlichen Welt einen Schritt auf dem Wege zur Befriedung und Erhöhung des Daseins vorwärts machen können. Am mechanischen oder am beseelten Sinn der Gemeinschaft scheiden sich die Geister. Diese Fragestellung ist weit mehr als ein Spiel mit weltanschaulichen Theorien. Für diejenigen Massen, die von dem Glauben an die Offenbarung nicht mehr getragen werden und denen das daraus abgeleitete Gesetz nicht mehr die leitende Notwendigkeit ihres alltäglichen Lebens und ihrer Feiertage darstellt, bedeutet sie mit aller Präzision die Frage nach der Existenzberechtigung des Judentums und eines jüdischen Volkes. Solche Frage ist keineswegs selbstverständlich zu bejahen, sondern sie steht in jeder Etappe des geschichtlichen Weges erneut zur Prüfung. Sie wird unter keinen Umständen bejaht und bestätigt durch eine wirtschaftliche Blüte; das um so weniger, je mehr man bereit ist, nicht nur die Auswirkungen, sondern auch die Motive und die leitenden Kräfte dieser Wirtschaft in Abhängigkeit von aller Welt und ihrer Wirtschaft zu bringen. Daß die Auswirkungen in solcher Abhängigkeit stehen, ist unbedingt zu bejahen. Daß es auch die Motive und die 370 leitenden Kräfte sein müssen, ist unter allen Umständen zu leugnen.

Es gibt für jedes Volk eine faktische und eine immanente Existenzberechtigung. Die erstere meint das bloße Vorhandensein, sein Agieren als Masse, die einen geographischen Raum besetzt, Dinge erzeugt oder verzehrt, Rechte und Ansprüche zur Nebenwelt hin aus der Tatsache des Vorhandenseins besitzt. Die andere meint den selbstgesetzten Grund von alledem, meint den inneren Sinn, die Selbstmotivierung, den Mythos. Um welche Selbstmotivierung soll es nun im neuen Aufbau der jüdischen Gemeinschaft gehen? Nur um jene so ganz selbstverständlichen Fragen des äußeren Vorhandenseins und der Prosperität, die die faktische Existenzberechtigung ausmachen? Soll es nur um die soziologische Normalisierung einer verhältnismäßig kleinen Menschengruppe gehen und um die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage von einer Million Menschen? Gewiß: das wäre schon viel; aber es ist zu wenig. Ginge es nur um diese Dinge, so müßte man einsehen, daß noch viel mehr Menschen in der Welt hungern und verfolgt und unterdrückt werden, und daß, vom Weltganzen und von der Idee der Gerechtigkeit aus gesehen, es nur eine Fürsorge für alle Benachteiligten des Lebens gibt, ohne das Recht auf abgesonderte nationale Befriedigung. Aber es geht um mehr. Es ist der Lebenssinn, mit dem die Besten sich in diesen historischen Prozeß hinein begeben, daß es um mehr gehen soll: um die Erhaltung und Realisierung einer geistigen Möglichkeit, die weltgestaltend werden kann. Alles, was im Judentum jemals versucht worden ist, um aus 371 transzendentem Bewußtsein her das Leben in seiner Totalität zu begreifen; alles, was auf der Tagesordnung jahrhundertelangen Bemühens stand, den Menschen zum Träger einer Idee und nicht zum Schlachtopfer von Interessen zu machen; alles was aus der Ethik her die furchtsame Unterordnung unter Strafgesetze ablösen wollte durch die im Glauben beruhende Selbstbindung; alles das, was nicht den kleinsten Ausschnitt des individuellen Alltags leben wollte, ohne die Gesamtheit der Welt, der Menschen, der Zeiten einzubeziehen, das Universale im Nationalen, das Welterlösende im Schicksal eines numerisch kleinen Volkes: alles das steht hier in dem großen Versuch einer Lebensgestaltung nach den Maßen der Gerechtigkeit erneut auf dem Spiele. Das gleiche Volk, das Probleme aufgeworfen und durchgekämpft, das sie in der Idee bestanden und in der Praxis verfehlt hat: dieses gleiche Volk muß in dem gleichen Lande die Probleme noch einmal – wer weiß, zum wievielten Male und ob es zum letzten Male ist? – formulieren und durchkämpfen. Nur das, nur die so geschaffene Wirklichkeit ist eine Fortsetzung der jüdischen Geschichte.

Die Formen, die eine so begriffene Gemeinschaft früher einmal gebunden haben, stehen heute nicht mehr zur Verfügung. Es soll hier nicht untersucht werden, ob sie, wenn sie zur Verfügung ständen, den realen Tatbeständen, den äußerlichen, wirtschaftlichen, politischen Erfordernissen einer Gegenwart in unveränderter Fassung genügen könnten. Denn die jüdische Restauration ist neben allem anderen auch eine reale, realpolitische, mitten in den ökonomischen Raum der Welt 372 gestellte; eine, die sich durch eine mechanische Loslösung von den Tatbeständen der Welt und durch eine künstliche Isolierung die sachliche Grundlage ihrer Existenz zerstören würde. Kein Wille zur geistigen Motivierung einer Gemeinschaft kann es verantworten, die Wirklichkeit ihres Lebens zu übersehen. Im Gegenteil: erst ihr Vorhandensein, ihre entschlossene Hineinnahme in den Kreis der Vorstellungen und die Bereitschaft, sie in ihrer Gesamtheit zu bewältigen, gibt einen Bewährungsraum für die Gesinnung, für das Motiv der Gemeinschaft. Im Anfang der Gemeinschaft steht aber nicht das Gesetz um des Gesetzes willen, sondern das Gesetz um des dazu gehörigen Tatbestandes willen. So wenig die strenge Befolgung aller Gesetze der Thora den Fortbestand der jüdischen Religion gewährleistet, und so wenig sie die mindeste Aussage für ihre lebendige Wirksamkeit darstellt, so wenig würde die Übertragung ererbter Formen etwas für den Aufbau der Gemeinschaft aus der Gesinnung her besagen.

Zwischen den Lebenstatbeständen von einst und denen von heute besteht kein grundsätzlicher, sondern nur ein quantitativer und ein technischer Unterschied. Geordnet werden können und müssen jene wie diese. Früher einmal tat es die Formgebundenheit aus dem Glauben. Heute kann es nur die Gesinnung und das Denken aus dieser Gesinnung tun. Der Form von einst entspricht die Denkkategorie von jetzt. Diese Denkkategorien, so eingehend man sie auch formulieren möchte, werden am sichtbarsten von ihrer Abgrenzung her, von der Bestimmung desjenigen Inhalts, der nicht der ihrige zu sein hat und der, Erbe des 373 Westens, als gewollte oder unbewußte Assimilation in sie hineingetragen wird. Das wird bei allen Grundfragen des Aufbaus und der Restauration erkennbar. Schon die eine Voraussetzung, die unbelastet und unproblematisch zu sein hätte: die Frage nach der nationalen Struktur der Gemeinschaft, ist ein Kampfgebiet geworden. Es gibt auch im Rahmen des scheinbar unbedingt Nationalen eine Assimilation. Sie ist bis auf ihre formale Benennung als jüdischer Nationalismus völlig europäisch, das heißt: völlig unjüdisch. Wer in die Bildung einer jüdischen Gemeinschaft nicht ihren Sinn und ihre seelische Struktur von vornherein und als Direktive mit einbezieht; wer nicht vor dem Bau des Hauses nach der Gesinnung fragt, die darin walten soll; wer die Mechanik der Masse will, um nachträglich aus der Summe den Sinn der Summe abzuleiten: der kann den Begriff der Gemeinschaft nur vom äußerlichsten Gesichtspunkt aus erfüllen, nur von einer ganz leblosen und belanglosen Konzeption her: vom Begriff der nationalen Disziplin. Aber selbst die Disziplin, deren Richtungssinn und deren geistiger Inhalt nicht von vornherein und von einem Postulat aus feststeht, ist eine ohnmächtige Form westlicher Gläubigkeit; ist eine Bindung um der Bindung und der Geborgenheit willen, weil kein gegenwärtiger Inhalt, kein vorgestelltes und vorgefaßtes Ziel die Entäußerung des lebendigen und gestaltenden Willens rechtfertigt. Eine Disziplin kann nur wirksam werden in einer Gemeinschaft, in der sie nicht als Selbstzweck und als mechanisches Prinzip waltet, sondern als Ausdruck einer Gesinnung der Durchführung erkannter Ziele und 374 der Innehaltung geprägter Formen dient. Was die Judenheit der Galuth in Bezug auf ihre Gesetze und Lebensformen jahrhundertelang getan hat, war Disziplin im vollendetsten Sinne des Wortes. Was heute an Disziplin in den neuen Aufbau hineingebracht werden soll, ist zumeist seinem Wesen nach aus den soldatischen Vorstellungen und den Diktaturen Europas abgeleitetes Gehorchen, ein Gehorsam gegen Vorgesetzte und Institutionen und Symbole, nicht ein Gehorsam gegen die Gemeinschaft und ihren Sinninhalt, im weitesten Sinne gegen sich selbst und das, was man zu realisieren und zu gestalten sich verpflichtet weiß. Am Griechentum, das seinen Staat nicht formen konnte, erkannte das Judentum, daß hier eine Frage der Gemeinschaft ungelöst geblieben war, und sie blieb ungelöst, weil ihr der metaphysische Grund mangelte, jene Gläubigkeit, die in der Gemeinschaft den Verwirklichungsraum von Ideen, Träumen, geistigen Zielsetzungen, Gottgebundenheiten, Gerechtigkeitsbegriffen, Zukunftserwartungen, Friedenshoffnungen und Erlösungsvorstellungen sieht; und die alles das nicht im luftleeren Raume sieht, sondern in der erdgebundenen Wirklichkeit, in jeder Gegenwart, auch in der Gegenwart der Nationalismen und Imperialismen, der Kartelle und Trusts, der unwahrhaftigen Parolen, der grundsätzlich überall im Stadium der Katastrophe befindlichen Gemeinschaften.

Dem Begriff des Nationalen, auch dem Begriff des Nationalen im Judentum, kommt kein selbständiger Wert zu. Er kann immer nur eine Aussage sein über Wesen und Inhalt der 375 Gemeinschaft. Diese Aussage ist im Judentum schon einmal versucht worden. Damals waren die Vergleichsobjekte Rom und Griechenland, das Heidentum der Welt. Heute ist es der moralische Status der Welt, der allein im Hintergrunde aller Konflikte und Krisen steht. Die ökonomische Situation ist nicht das Ergebnis unabänderlicher Weltgesetze, sondern im letzten und entscheidenden Grunde eine Frage der moralischen und geistigen Haltung. Die wirtschaftlichen Gesetze haben kein Eigenleben. Sie sind eine Summe von gewalttätigen Fiktionen, deren jede sich im Prinzip durch das Verhalten der einzelnen Gesamtheiten auflösen ließe. Freilich bedarf es dazu einer Gesinnung, die über nationale Begriffe hinausgeht und die durch einen Glauben wirklich gebunden und gelenkt wird. Aber es gibt keinen Glauben in der Welt, auch wenn er sich noch so universalistisch gebärdet, der nicht die egoistischen Zielsetzungen der Gruppen und Völker heilig spräche. Es gibt keine Religion, deren Bekenner sich entschlossen einer Entwicklung widersetzten, die immer wieder Not über die Menschen bringt und alle Beziehungen zwischen den Gruppen und Völkern mit dem schwersten belastet, was es in solcher Beziehung geben kann: mit der Lüge, die der Gewalt eine geistige Motivierung mit auf den Weg gibt. Der Begriff des Nationalen in der Welt ist entartet durch seine Isolierung von der Gesamtheit der Menschen und durch die achtlose Aufteilung ihrer Gesamtziele in territoriale Motivierungen von kleinstem Ausmaße. Was nur ein Unterscheidungsmerkmal zu sein hatte, wurde eine feindliche Gegensätzlichkeit. Von daher ist 376 die faktische Existenzberechtigung der Gemeinschaften mit der immanenten verwechselt worden. Das Ergebnis ist, daß es immer noch – wie einst – eine heidnische Welt gibt, in der die Gemeinschaften sich unzulänglich, das heißt: nur national motivieren. Darum muß, ehe diese Fehlentwicklung aufgelöst werden kann, der Begriff des Nationalen bereinigt werden; zurückgeführt werden auf seinen tragbaren Sinn: organisatorische, sekundäre, der Wandlung von Fall zu Fall unterliegende äußere Form einer Gemeinschaft zu sein, die in der Motivierung ihrer eigenen Gemeinschaft das Gemeinsame aller Menschen begreift. Der gefährlichen Massensuggestion des Nationalen ist nur zu entgehen durch die Vision dessen, was mehr ist: durch die Vision der jüdischen Propheten, die als einzige ihr Volk zu desavouieren wagten, aus dem Glauben her und um des Glaubens willen. Diese Visionen sind zugleich eine ewige Zielsetzung für die Praxis des Völkerlebens. Sich im Glauben diesen Zielsetzungen verknüpfen, ist ein Denken in jüdischen Kategorien. Die nationalen Begriffe aller Welt akzeptieren und praktizieren, ist ein Denken in Formen der Assimilation. Die beiden Formen, auf den jüdischen Menschen und sein Verhalten zur jüdischen Geschichte bezogen, stehen zu einander wie die Treue zur Untreue.

Selbst in dem, was unmittelbar auf der Linie jüdischer Vorstellungen liegt und was zum Sinn der Gemeinschaft hin als eine der ersten und grundlegenden Aufgaben zu erfüllen ist: im Begriff der Gerechtigkeit und im Versuch seiner Realisierung, ist vom Weltanschaulichen her eine Diskrepanz 377 möglich und gegeben. (Vom Weltanschaulichen her; nicht vom Politischen her. Da werden hüben und drüben Interessen vertreten, die den Begriff der Gerechtigkeit zu einer Dekoration machen, die erst an der Grenze der eigenen Ansprüche aufgerichtet wird.) So wie es Gruppen gibt, die sich zur Erfüllung ihres Begriffes von der Gemeinschaft unter den Schutz des Nationalen schlechthin begeben, so gibt es Gruppen, die sich zur Erfüllung des Begriffes Gerechtigkeit unter den Schutz des Internationalen begeben. Auf der einen Seite eine sinnwidrige Einengung, auf der anderen Seite eine sinnwidrige Ausweitung, und beides erzeugt durch eine Mechanisierung der zugrunde liegenden Begriffe nach dem Muster des westlichen Geistes. Die gleiche Problemverschiebung, die im Übergang vom Glauben zur Orthodoxie, vom Inhalt zur Form stattgefunden hat, ist im Übergang vom ethisch motivierten Verhalten zur mechanisch-ökonomischen Motivierung erfolgt. Dort wie hier ist eine Orthodoxie entstanden. Die Orthodoxie des Internationalen kann ebenfalls auf Zielsetzungen hinweisen, die dem Klange nach eine religiöse Färbung haben. Aber es ist von je das Schicksal metaphysischer Begriffe gewesen, daß sie ihren letzten Sinn nur von der Intention her empfangen und daß die Verschiedenheit dessen, was die hebräische Sprache kawanah nennt, bei gleicher materieller Zielsetzung, selbst bei gleichem materiellen Resultat dennoch ein verschiedenes Weltbild und einen verschiedenen Zustand der menschlichen Gemeinschaft ergibt. Das wird am Begriff der Gerechtigkeit besonders deutlich. Es gibt eine Gerechtigkeit, die auf der 378 unprivilegierten Verteilung der Lebensgüter aufgebaut ist, auf dem Recht auf Freiheit und eine menschenwürdige Existenz, auf Beseitigung der Armut und Schutz vor der Unterdrückung und Verelendung der Massen durch den Besitzenden und seine ökonomische Macht. Die Gerechtigkeit, die hier angestrebt wird, ist als Weltgerechtigkeit gedacht und umfaßt logisch und konsequent alle Menschen. Aber dieser Universalismus hat eine seltsame Verschiebung erlitten. Ausgangspunkt der Betrachtung ist nicht der in der Zukunft stehende freie und glückliche Mensch an sich, sondern der in der Gegenwart stehende arme und unterdrückte Mensch; nicht ein Postulat in die Zeiten hinein, sondern eine Schlußfolgerung aus zeitlichen Zuständen. Das engt den Kreis der Objekte und der Motive schon erheblich ein. Mit übermäßigem und pessimistischem Respekt an die Wirklichkeiten des Lebens gebunden, wie sie sich aus dem ungehemmten Egoismus der Einzelnen und Gruppen und Völker herausgebildet haben, sehen sie im mechanischen, unkontrollierten, egoistischen Ablauf der Dinge zu Recht die Quelle der Not, und die Mittel zu ihrer Beseitigung müssen folglich gefunden werden in Gesetzen dieser Lebensumstände selbst; im wirtschaftlichen Raume, nicht im Menschen, der ihn erzeugt; in der Verfassung von ökonomisch interessierten Gruppen, nicht in der seelischen und moralischen und geistigen Verfassung des Einzelnen; in der Klasse, nicht in der Gemeinschaft; in dem, was nun einmal so ist, und nicht in dem, was sein soll. Das erscheint auf den ersten Blick als eine ungewöhnlich stabile Grundlage. Es ist dennoch nur eine mechanische und 379 unbeseelte, die sich mit ihrer Mechanik selber versklavt. Durch den eigenen Ausgangspunkt – die Klasse und ihre Situation – gefesselt, gibt es zur Bewältigung der Aufgabe nur die wirtschaftliche und daraus abgeleitet die politische Organisierung, den Verein, der seine Mitglieder als aggressiv abgesonderte Gruppe zum Machtkampf gegen jede andere Gruppe und Gruppierung führt. Das Heil liegt im Sieg der Organisation, in der Niederwerfung, Unterdrückung und sogar unter Umständen Ausrottung der anderen Klassen und ihrer Organisationsformen. Wenn durch diesen Sieg der Mechanismus der Güterverteilung funktioniert, ist die Gerechtigkeit realisiert.

Dennoch wird hier der Begriff der Gerechtigkeit mehr als unzulänglich erfüllt. Man mag unterstellen, daß es der Organisation im Kampfe der Klasse gegen die Klasse gelingt, die große Klippe zu vermeiden, die darin liegt, daß sie als Folge ihrer geistigen Begründung in aller Ewigkeit doch nur den Typ des wirtschaftlichen Siegers züchtet, den, der nach mehr an Besitz und Macht verlangt; daß sie nur den latenten Anwärter auf die gestern noch bekämpfte, wirtschaftlich höhere Gruppe züchtet; daß sie selbst als Organisation, die ihn bis dahin großgezogen hat, ihn mit dem Zwange der Organisation an der freien Betätigung verhindern muß; – selbst das alles unterstellt, bleibt immer noch, daß der gefährliche und zu Recht bekämpfte Egoismus des Einzelnen nur durch einen Gruppenegoismus abgelöst wird. Das ist unvermeidlich. Aus wirtschaftlicher Motivierung kann kein altruistisches, kein ethisches Verhalten entstehen. Nur die umgekehrte Relation ist möglich. So lange 380 aus der ökonomischen Betrachtung her die Menschheit in zwei Gruppen aufgeteilt wird, in die der Unterdrückten und der Unterdrücker, so lange wird übersehen, daß die Quelle tiefer fließt; daß sie dort rinnt, wo im einzelnen Menschen selbst die Aufspaltung in zwei verschiedene seelische Gruppierungen, in autonome und einander widersprechende Provinzen der Seele begründet liegt; und daß diese tiefere Quelle zu bewältigen ist, ehe der oberflächliche und trübe Strom der gesellschaftlichen Äußerungen mit künstlichen Mitteln reguliert wird. Gerechtigkeit ist ein Verhalten. Sie ist nicht ein ökonomischer Zustand. Gerechtigkeit ist – nach einem alten jüdischen Wort – der Untergrund der Welt. Sie kann im Ziel und in der Realisierung nicht bestehen durch eine Organisation, sondern nur durch eine Gesinnung. Das bedingt, daß bei gleichem äußerlichen Resultat die Ergebnisse dennoch aus ihrem Gesinnungsinhalt verschieden sein müssen. Die mechanische Basis kann die geistige nicht ersetzen. Jene Gerechtigkeit steht und fällt mit der Organisation des Zweckes. Fällt die Organisation, so fällt auch die Gerechtigkeit. Diese Gerechtigkeit steht und fällt mit der Bereitschaft der Gesinnung und des Willens. Wird das Ziel verfehlt, bleiben dennoch alle Triebkräfte unvermindert, meist noch durch den Fehlschlag gesteigert, am Leben. Jene Gerechtigkeit ist so stark und so schwach, das heißt: so labil wie die äußere Form, mit der sie erzwungen werden kann. Diese Gerechtigkeit hat aus der nie aussetzenden kawanah die immer gleiche Möglichkeit ihrer Realisierung. Die klassenlose Gesellschaft ist nicht das gleiche wie die 381 befriedete Gemeinschaft; Organisation des Zweckes ist noch nicht Gerechtigkeit. Der Internationalismus europäischer Prägung und der jüdische Messianismus sind durch Welten von einander getrennt, noch da, wo ihre Ergebnisse dem äußeren Scheine nach mit einander verwechselt und ausgetauscht werden können. Das Motiv ist entscheidend, weil nur im Motiv die Voraussetzungen der Stabilität, der Dauer, der Freiwilligkeit liegen. Die Denkkategorie ist wesentlicher als die Organisation, die nur in abhängiger Funktion von ihr zu stehen hat. Nichts ist dagegen zu sagen, daß der jüdische Messianismus sich für das vorgestellte Ziel mit dem europäischen Sozialismus identifiziert; alles ist dagegen zu sagen, daß in dieser Zielsetzung für das Denken und für die Form auf den uralten Ausgangspunkt jüdischer Vorstellungen verzichtet werde: auf die Organisierung der Gesinnungen als Grundlage der zu gestaltenden Wirklichkeit.

Das kann nur geschehen im eigenen Raume, nicht im Raume der Verbannungen; und auch im eigenen Raume kann es nur geschehen, wenn die Intention des Anfangs: die Erlösung eines Volkes, das durch sein Beispiel Andere zur Erlösung aufrufen kann, mit den eigenen seelischen und geistigen Kräften und nicht mit entlehnten politischen Begriffen fortgesetzt wird. Diese Fortsetzung nicht versuchen wollen, würde eine Absage an den Geist des Judentums und eine neue Form der Assimilation bedeuten. Ihr ist nur zu entgehen durch den Versuch, dem jüdischen Denken eine neue Orientierung zu geben; nicht nur dem Denken des Einzelnen, sondern wesentlicher noch dem der 382 Gemeinschaft. Es ist eine Aufgabe der Erziehung, die zum Ziele hat, eine erneute Beziehung zwischen Geschichte und Gegenwart herzustellen, das kollektive Erinnerungsvermögen wieder in Funktion zu bringen, und ihm dort, wo es diese Funktion nie verloren zu haben vorgibt, die Richtung auf den Glauben zu geben, daß die Gegenwart die Geschichte von einst fortsetzen wolle. Das bedeutet mehr als die Ergänzung dessen, was dem jüdischen Volke bei seinem Durst nach europäischem Wissen in den Zerstreuungen abhanden gekommen ist: des fundierten jüdischen Wissens. Es bedeutet eine nationale und eine menschliche Erziehung, die wieder nach dem alten, ehrenvollen, schöpferischen Amt ruft, das einmal eine Schöpfung und ein Vorzug des jüdischen Volkes gewesen ist: nach dem Amt des jüdischen Lehrers, dessen Pädagogik eine Funktion seines Glaubens und seiner Verantwortung für die Gemeinschaft ist, und nicht eine Funktion europäischer Lehrsysteme. Die Menschen, die sich dem Lehrer, wenn er in seiner Reinheit auftritt, unterordnen wollen, sind als viele Einzelne und Zerstreute vorhanden. Um aus diesen Einzelnen eine Kraft zu schmieden, die der Aktion und nicht nur des Bekenntnisses fähig ist, taugt kein Verein und keine Organisation, kein Schema des Westens, sondern eines des Ostens: die Sammlung der Gläubigen in den Formen der Brüderschaft. Nur von daher kann der Gerechtigkeit und der jüdischen Wirklichkeit von morgen jenes Attribut werden, das ihr das Leben sichert: das der gläubigen Überzeugung. Und nur auf diesem Grunde kann – wenn auch voll Furcht vor der verpflichtenden Schwere – so etwas wie die 383 Hoffnung auf eine neue Prophetie keimen. Der Prophet wird kommen, wenn das Judentum bereit ist, wieder an Propheten zu glauben.

Was bis hierher gesagt und gedacht ist, bedeutet – jenseits von Selbstzweck und Polemik und in Verknüpfung mit dem Thema, das in diesem Buche zur Sprache stand – die Darstellung von Beispielen für das Problem des Eigenen und des Fremden, aufgebaut nach den Maßstäben, die aus dem dargebotenen Geschichtsabschnitt entnommen werden können. Denn das ist der Zweck, der ihm zugedacht ist. Im Stadium eines neuen Aufbaus gibt es keine Geschichte um ihrer selbst willen. Sie kann nur Material sein, so wie der, der sie schreibt, nur Dienst verrichten kann. Mag auch das Griechentum für uns versunken sein und mag Herodes einer Gegenwart noch so fern stehen: sie zeigen beide im Rahmen und im Raume der jüdischen Geschichte das gleiche auf: das jüdische Volk stößt das Fremde von sich, sei es ein Regiment, sei es einen Regenten. Und von beiden erleidet es gestaltendes Schicksal: von den Regimentern und von den Regenten. Es ist gut, sich dessen in einer Zeit zu erinnern, wo die freiwillige Hineinnahme des Fremden die Relation umzukehren droht; wo der Wille zum Denken in fremden Kategorien das gestaltende Schicksal in Gefahr bringt, ein erduldetes Schicksal zu werden. Das würde den Übergang vom schöpferischen zum nachahmenden Verhalten bedeuten und den Sinn eigener jüdischen Bemühungen auslöschen. Daß das Bewußtsein dafür nicht einen Augenblick aussetzen darf, ohne die Grenzlinien zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu verwischen, das 384 zeigt der gleiche Geschichtsabschnitt mit unheimlicher Klarheit. Das Fremde kann sich nie den Eingang in ein bewußtes Judentum erzwingen. Es werden ihm immer zuvor von Menschen aus den eigenen Reihen die Tore geöffnet. Es gibt wohl von der Gewalt des Draußen her eine Vernichtung der Judenheit, aber keine Vernichtung des Judentums, es sei denn, es gäbe selbst die Mittel dazu. Sie werden zuweilen im guten Glauben gegeben, mitten aus einem scheinbar aufrichtigen Bemühen. Und da lehrt dieser Geschichtsabschnitt etwas Beängstigendes und Unheimliches: was Makkabäer gebaut haben, können Hasmonäer vernichten. Es bedarf nur einer Sekunde der Unachtsamkeit und der behaglichen Anlehnung an Fremdes. Dann verwandelt sich das opferbereite Heldentum des Anfangs in die mit Zwecken beladene Eigensucht; das Eigene wird vom Entlehnten ersetzt, das Verschiedenartige vom Allgemeinen und Gleichen abgelöst. Aber das Judentum der Gegenwart hat – wie seine Vergangenheiten es taten – diese Verschiedenheit nicht nur zu bekennen, sondern auch zu betätigen. Die Aufhebung der Verschiedenheit ist Assimilation. Das gilt für die Gemeinschaft und für den Einzelnen. Aus dem Verzicht auf die eigene Sinngebung entsteht die Bereitschaft, in den Hellenismus, in das Heidentum der Welt einzugehen, das eigene Schicksal aus der Hand zu geben und Rom anzurufen, gegen den eigenen Bruder beim Imperium Schutz zu suchen, der fremden Macht Zugang zur Herrschaft zu eröffnen. Und aus dem Verzicht auf die moralische und ethische Selbstbindung entsteht ein Typ des Herodes als derjenige, der nur noch 385 sich selbst und seine Interessen hemmungslos zu betätigen hat; gehemmt nur da, wo eine Gewalt und ein Anspruch sich als stärker als die seinigen erweisen.

Dieser Herodes lebt heute noch. Jener historische, der die heidnische Umwelt so beeindruckte, daß sie ihm den Namen »der Große« verliehen hat – so, wie sie die Größe seit je verstanden hat – entspricht ihm in dem, was an ihm wesentlich ist, wesentlich nicht wegen seiner individuellen Eigenschaften und Schicksale, sondern wesentlich aus dem, was die Nachfahren jener Schicksalszeit als Lehre in alle Gegenwarten hineinretten können. Denn nicht Herodes als solcher ist wichtig, obgleich sein Schicksal und seine Person ungewöhnlich sind und auf das Verlangen nach ihrer Darstellung einen besonderen Anreiz ausüben. Aber ihre volle Wucht und ihre historische, über das Individuelle hinausgehende Bedeutung erhalten sie erst durch ihre Einfügung in den Gang der jüdischen Geschichte. Es gibt im Judentum keine isolierten Schicksale. An einem entscheidenden Punkte sind sie alle der Welt ihres Herkommens, dem Geiste ihres Volkes, dem Schicksal ihrer Gemeinschaft verknüpft; und sei es auch im Verneinenden, in der Berührung, die nur am Rande erfolgt, im Erlebnis, das sich verfehlt, in der schmerzhaften Spannung, mit der sie abgestoßen werden, statt zu schöpferischer Gültigkeit im Volke und seinem Schicksal zu beharren. Und wenn einer gar von außen kommt und eine Begegnung nach nichts als seinem eigenen Geiste erzwingen will, dann bleibt ihm, wenn die Begegnung sich versagt, nur 386 die ewige Fremdheit und die immanente Feindschaft.

Herodes ist der, der nur äußerlich zum Judentum gehört. Herodes ist der Kaum-Jude, der eines Tages von den unbestimmten Rändern der Gemeinschaft her, halb durch Schicksal und Zwang, halb durch Erwägungen der Zweckmäßigkeit sich zum Zentrum her in Bewegung setzt. Herodes ist der Nutznießer der Gemeinschaft, der Umwelt durch den Geist verhaftet, der Innenwelt durch den Besitzwillen. Herodes ist der, der die falschen Ziele innerhalb der Gemeinschaft setzt und sie durch Züchtung von Interessengruppen spaltet. Herodes ist der, der vom Geiste des Judentums nicht einen Hauch verspürt hat und dem, was seine Gemeinschaft glaubt und hofft und will, mit der überlegenen Fremdheit dessen begegnet, der seinen Bedarf an Geist, Gesinnung und Kultur jenseits der Grenzen befriedigt. Er ist aber auch der, der nicht nur ein geistiger Nachfahre des Antiochus Epiphanes ist, sondern auch der Beschließer der Hasmonäer, der Träger einer Fehlentwicklung, der tragische Gegenspieler der Makkabäer; Zeuge eines Bemühens und Versagens im Lebenskampf eines Volkes, das einmal Gott und von daher den Sinn der Gemeinschaft begriffen hat.

Das Eigene und das Fremde, die Treue und die Untreue, die Formgebundenheit und die Formlosigkeit, die Gesinnung und das Interesse: sie sind gleiche Aussagen über den gleichen Tatbestand. Sie sind die innere Problematik der jüdischen Gegenwart. Sie sind auch ihre Aufgabe. In dieser Generation – und bestimmt auch in der kommenden – kann sie noch nicht bewältigt werden. 387 Es können nur die Voraussetzung ihrer Bewältigung geschaffen werden: die ethisch fundierte Gemeinschaft, jene Gemeinschaft, die die Ohnmacht segnen sollte, die ihr die Schaffung staatlicher Gesetze einstweilen unmöglich macht, weil ihr dadurch der tatsächliche und der seelische Zwang erwächst, aus der Selbstzucht, aus dem Begriff des Mussar, aus dem Übereinkommen der Gesinnungen sich selber zu binden und zu regulieren. Wo dieser Wille lebt, wird sich die Form der Willensäußerung von selbst einstellen. Aber den Willen selbst formt nur das Denken in eigenen Kategorien.

Die Entscheidung über das jüdische Schicksal der Gegenwart liegt heute in ihrer Konzeption. Aber wenn sie morgen nicht in der Tat liegt, so zeiht sie die Stunde ihrer Geburt der Lüge und löscht sich selbst mit ihrem Recht auf Dasein aus.

 

Ende

 


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