Josef Kastein
Herodes
Josef Kastein

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3. Kapitel

Tempel und Theater

Die grundlegenden Veränderungen, die sich in der Nachbarschaft Judäas vollzogen, mußten naturgemäß auch über das Politische hinaus innerhalb des jüdischen Staates spürbar werden. Hundert Jahre nach Alexander dem Großen hatte sich die Umlagerung sogar bis in die geographische Situation hinein vollzogen. Judäa war nach Ablauf dieser Zeit rings eingeschlossen von alten und neuen Städten mit überwiegend griechisch-syrischer Mischbevölkerung. Die ganze Meeresküste, die damals nicht zum judäischen Staatsgebiet gehörte, war von Griechen besetzt. Im Osten Palästinas, in Transjordanien, war gleichfalls eine griechisch-syrische Bevölkerung überwiegend. Selbst in Galiläa waren die Juden schon in der Minderheit, und in der Zwischenzone, die sich von dem eigentlichen Judäa trennte, lebten Griechen, Samaritaner und Juden gemischt. Solche intensive Nachbarschaft hat ihre natürlichen Auswirkungen, deren erste das starke Vordringen der griechischen Sprache war. Das wurde dadurch begünstigt, daß die Griechen den internationalen Handel besetzten und damit für Vorderasien und Nordafrika ihre Sprache zur Sprache des Handelsverkehrs unter den Völkern machten. Das im wesentlichen landwirtschaftlich aufgebaute Judäa, das nur zu einem geringen Teil Kaufleute und Handwerker besaß, mußte an diesem Prozeß im Rahmen seiner Möglichkeiten teilnehmen, wenn es nicht einfach eine Handelskolonie des geschäftsgewandten Griechen werden wollte. Und so trat es mit dem Verkauf seiner landwirtschaftlichen Produkte in Wettbewerb und Beziehung zugleich. 56 Aber so, wie in den ersten Jahrhunderten der Ureinwohner des Landes, der »Kanaani«, schon mit seinem Namen zur Bezeichnung des Kaufmanns dienen mußte, so war auch in der hellenistischen Zeit der eigentliche Händler und Kaufmann der Grieche. Die Wertung, die der Handel bei den Juden erfuhr, findet seinen Niederschlag im Ausspruch des zeitgenössischen Ben Sirach: »Zwischen Kauf und Verkauf zwängt sich die Sünde ein.«

Es ist nicht anzunehmen, daß die Judäer sogleich intime Kenntnisse von der geistigen Struktur des Griechen und seiner religiösen Situation gewannen. Was ihnen zunächst sichtbar wurde und werden mußte, waren die nach außen gerichteten Manifestationen der Tempeldienste, des Alltags, der Feste, der Spiele. Ganz ohne Zweifel waren sie lebendiger, glanzvoller und anregender als die der Judäer. Sie waren immerhin das Ergebnis einer langen zivilisatorischen Tradition. Sie waren ganz unbeschwert von jedem rituellen Formalismus und hatten ihre ausgesprochen ästhetischen Qualitäten. Sie waren zudem die Lebensformen derer, denen die tatsächliche politische Macht im Lande gehörte.

Für die Assimilation an neue Formen und Sitten ist immer die Stadt der gegebene Raum. Auf dem flachen Lande ist die Tradition gewichtiger, bindender und hemmender. So war das Einwirkungsgebiet der hellenistischen Lebensformen vor allem Jerusalem mit seiner beträchtlichen Bevölkerung. Aber auch hier war die Einwirkung durchaus keine generelle. Sie vollzog sich im wesentlichen in der sozial gehobenen Schicht, in der Sphäre des 57 Besitzes, dort, wo der Luxus der Lebenshaltung legitim ist oder wo er sich solche Legitimation aus der Tatsache des Besitzes selber verschafft. Das Mehr an Besitz scheint das Recht in sich zu schließen, dafür ein Mehr an Lebensgenuß zu erwerben, und wo es die eigene Gemeinschaft nicht bietet, läßt es sich aus der Nachahmung fremder Vorbilder leicht erwerben. Das ist ein Vorgang, der für eine Gemeinschaft so lange unproblematisch bleibt, als solche Nachahmung höchstens positive wirtschaftliche Folgen hat – indem sie Anderen Beschäftigung und Lebensmöglichkeit gibt – oder so lange sie eine Erhöhung und Verbesserung des allgemeinen Lebensstandards bedeutet. Aber Lebensformen, soweit sie das engste Maß allgemeingültiger Konvention auch nur um ein geringes überschreiten, sind immer der jeweilige Ausdruck für die innere Haltung einer Gemeinschaft. Die Art, in der ein Volk ißt und trinkt, sich kleidet und tanzt, Opfer bringt und Götter verehrt, Recht spricht und Handel treibt, ist eine direkte Aussage über ihr Wesen und ihren Charakter. Das Problem für Menschen, die solche Formen akzeptieren, beginnt darum in Wirklichkeit erst da, wo die Annahme dieser fremden Lebensform mit einer Abwertung der bisherigen eigenen Form verbunden ist, wo also die Nachahmung den Charakter der Assimilation annimmt.

Dieser Vorgang war in den gehobenen Schichten der judäischen Gesellschaft festzustellen. Er kam zum Ausdruck in der Übernahme der griechischen Sprache, griechischer Sitten und Gebräuche, in der Gräzisierung der Namen und der Teilnahme an den Spielen und Lustbarkeiten der Griechen. 58 Sie wandten sich von dieser Nachahmung aus – die Gründlichkeit, mit der der Jude seine Probleme noch im Negativen erledigt, macht das verständlich – einer bewußten Angleichung zu; das heißt: sie predigten den Hellenismus als eine Lebensform, deren Einführung und Durchsetzung sie für das ganze jüdische Gemeinwesen erstrebten. Sie sahen, daß die jüdischen Formen sich von denen der größeren und mächtigeren Umwelt stark unterschieden. Sie hielten dafür, daß es notwendig sei, das anzunehmen, was aller Welt gemäß zu sein schien. Sie wollten gewiß keinen Verzicht auf ihre nationale Position, auf die Selbständigkeit Judäas als Staat. Aber sie wollten eine Revision des bisher geltenden jüdischen Staatsbegriffes. Sie wollten diesen Staat nach dem Muster der Umwelt; den Staat, der sich in Herrschende und Beherrschte aufteilt; der seinen Sinn aus der gesellschaftlichen Machtverteilung statt aus der Gesinnung bezieht; den Weltstaat mit seinem Glanz und seiner Repräsentation und seiner Wirksamkeit nach außen; und vor allem mit seiner Möglichkeit, Macht auszuüben und gewichtige Stellungen einzunehmen, von denen aus sich der Einzelne oder die herrschende Klasse Einfluß, Besitz und damit einen Zuwachs an Lebensgenuß erwerben konnte. Nach dreihundert Jahren Stille und Theokratie hielten sie die Zeit für gekommen, an den bewegten und erregenden Veränderungen der umgebenden Welt mit einer ihr gemäßen Form und mit dem ihr gemäßen Ausdruck teilzunehmen. Von der Theokratie akzeptierten sie nur noch die äußerlich sichtbare Form, die Institution des Hohenpriesters. Aber da sie 59 bereits gelernt hatten, umweltlich zu denken, mußte diese Institution selbst ihnen die Mittel an die Hand geben, die Macht zu ergreifen und den Staat nach umweltlichem Muster umzugestalten. Der Hohepriester hatte nach ihren Intentionen nicht mehr die Theokratie zu repräsentieren, sondern ein Regierungsinstrument zu sein. Damit verlor er zugleich die andere Funktion, die er bisher erfüllt hatte. Er war die Spitze dessen gewesen, was diese Theokratie im Innenraum darstellte: einer echten Demokratie. Jetzt wurde er Repräsentant einer Oligarchie. Daß die »Hellenisten« bei diesem Bemühen auf den lebendigen Widerstand des Volkes stießen, machte aus einer zur Assimilation bereiten gesellschaftlichen Schicht eine Partei zunächst im kulturellen, dann im politischen Sinne des Wortes.

Dem Verhalten der »Hellenisten« gegenüber, das sich als eine einfache, aktive Reaktion auf das Griechentum darstellt, bedeutet das Verhalten der breiten Volksmassen eine wirkliche Antwort. Sie erfolgte nach außen, zur hellenistischen Welt hin, als eine konsequente Ablehnung und Absperrung, und nach innen, zur eigenen hellenistischen Partei hin, in den Formen eines Kulturkampfes, der später in einen erbitterten politischen Kampf überging. Für das Volk als solches bestand ein Bedürfnis nach Änderungen der Lebensformen nicht. Die Theokratie tat ihren Dienst an ihnen, und tat ihn ausreichend. Daß die griechische Sprache in ihren Alltag eindrang – noch im heutigen Hebräisch gibt es viele griechische Lehnworte – besagte noch nicht das Mindeste für eine Bereitschaft zur Angleichung. Das war nichts anderes als eine 60 vermehrte Verständigungsmöglichkeit; und selbst in der alexandrinischen Diaspora, wo das allmähliche Zurücktreten des Hebräischen als Umgangssprache und die Rücksicht auf die aktive jüdische Propaganda unter den Heiden sogar die Übersetzung der Bibel in die griechische Sprache erforderlich machten, kann von einer Assimilation nicht gesprochen werden, höchstens von einer sehr lebendigen Auseinandersetzung, und die Sprache diente hier wie dort nur dazu, das Eigene auszudrücken, nicht das Fremde.

Und als fremd im entscheidenden Sinne des Wortes empfand der Judäer das griechische Wesen und die griechische Lebensart. Er, dessen Formen aus der strengen Zucht hervorgegangen waren, hatte einen klaren Blick dafür, daß diese anderen Formen nichts Zufälliges waren, sondern einen bestimmten Geist, eine besondere seelische Haltung, eine wesentliche verschiedene Art des Seins und des Erlebens widerspiegelten. Das mochte für die Griechen gut und angemessen sein. Für sie selbst war es nicht nur entbehrlich, sondern auch gefährlich. Es war nicht zu übersehen, daß jede Übernahme dieser Formen nicht nur die Auflösung der eigenen Formen, sondern auch die Vernichtung der sittlichen, moralischen und religiösen Grundlagen bedeutet hätten. Um das zu verhindern, nahm der konservative Teil der Judäer, der sich als parteimäßige Gruppierung Chassidäer, Gottesfürchtige nannte, eine doppelte Schutzhaltung ein: Absperrung gegen die fremde Form und Intensivierung der eigenen. Er tat es aus einem generell im Volke obwaltenden Bewußtsein, aus einer durchgehenden Grundstimmung, 61 die vom alltäglichen Verhalten bis in die Literatur der Zeit reicht. In den Sprüchen eines Ben Sirach grenzt sich die Weisheitslehre des Juden mit seinem tragfähigen Grunde ethischer Religiosität scharf und bewußt von den Denkformen des Griechen ab, mit einer Präzision, die schon einer antihellenistischen Tendenz gleichkommt. Für ihn ist die Welt der Heiden das eine, die Welt des Juden das andere. Man hat sie nicht mit einander zu vermischen.

Aus solchen Gedankengängen stellten die Chassidäer jede nähere Beziehung zu den Griechen unter Verbot, ihre Speisen wie ihre Spiele, die Eheschließung mit ihnen und die Teilnahme an ihren Versammlungen und Lustbarkeiten. Das mag begrenzt und engherzig erscheinen. Es war in Wirklichkeit eine sehr bewußte und ideenmäßig völlig richtige Antwort. Die Uniformierung der zivilisatorischen Formen in der Welt von heute täuscht darüber hinweg, daß sie einmal, ehe sie zur bloßen Verkehrsform degradiert wurden, eine gewachsene und organische und keineswegs eine mechanische Ordnung der Lebensbeziehungen darstellten. Das war besonders in den jüdischen Lebensformen stark ausgeprägt. So weit sie nicht aus uralter religiöser Entwicklung dem Verkehr mit Gott und der Erfüllung der Untertanenpflichten ihm gegenüber zu dienen hatten, regelten sie als das Ergebnis ethischer Normen das Verhältnis des Individuums zum Nächsten und zur Gemeinschaft; und dabei war zuweilen – ein Zeichen der inneren Lebendigkeit der Formgestaltung – das Bemühen um die Durchsetzung einer ethischen Norm stärker als ihre generelle Anwendung im praktischen 62 Leben. Es war also nur konsequent, daß diese eigene Form, ausgedrückt in den national-religiösen Gesetzen, jetzt noch eine vermehrte Betonung erfuhr; daß der verlästerte Schabbat – im betonten Gegensatz zum undifferenzierten Zeitablauf des Heiden – in seinen Vorschriften noch verschärft wurde; daß die weltliche Kultur, die der Hellenismus vermitteln wollte, in Erkenntnis ihrer grundsätzlichen Belanglosigkeit für die Existenz einer Theokratie durch vermehrtes Studium des jüdischen Grundgesetzes, der Bibel, paralysiert wurde. Alles das bedeutet zudem nicht Willkür und eine nur zeitgebundene Reaktion, sondern war eine direkte Fortsetzung der Politik der nationalen Selbsterziehung, die Esra begonnen und die Soferim weitergeführt hatten.

Im Innenraum, zur Partei der Hellenisierenden hin, mußten solche Tendenzen notwendig die Form eines Kulturkampfes annehmen. Dabei ist allerdings die Grenze zum Politischen hin von Anfang an flüssig. Das lag daran, daß die Stellung des Hohenpriesters, die bislang unantastbar war und somit außerhalb jeder politischen Kombination stand, von den Hellenisten in die Machtkämpfe hineingezogen wurden. Da die Dynastie dieser Hohenpriester traditionsgemäß aus der Familie der Zadokiten gestellt wurde, konnte an die Institution selbst nur herangekommen werden, wenn man sich dazu einer Kraft von außen bediente. Diese Kraft stellte Antiochus IV. dar, der sich selbst, entsprechend der hellenistischen Mode des Herrscherkults, den Beinamen Epiphanes, der Erlauchte, gegeben hatte, während die Judäer, die Opfer seiner erlauchten Tätigkeit, ihm den 63 Beinamen Epimanes, der Rasende, der Irrsinnige, verliehen. Dieser Antiochus hatte 15 Jahre seines Lebens als Geisel in Rom verbracht und hatte dort die Technik kennen gelernt, wie man das politische Regiment über ein Volk wirksam gestaltet. Darüber hinaus hatte er den ernsthaften Willen, ein Exponent der hellenistischen Kultur zu sein und die kulturelle Uniformität seines Reiches mit allen Mitteln, auch dem der Gewalt, zu erzwingen. Dabei begegnete ihm in den Judäern ein erhebliches Hindernis. Er konnte so wenig wie die anderen Griechen verstehen, daß der exklusive Charakter der jüdischen Religion jede Rezeption der griechischen Kultur unmöglich machte und daß das, was sich nach außen als bösartiger Widerstand ergab, nur eine schlichte und sehr beachtenswerte Haltung der Sicherheit und Treue war. Um diesen Widerstand zu beseitigen, bediente Antiochus sich der Spaltung, die die Frage: Assimilation oder Nichtassimilation im Lande erzeugt hatte. Er stützte sich dabei auf die Hellenisten als diejenige Partei, die seinen Anspruch anerkannte und bereit war, ihn nach Kräften zu fördern. Ihnen spielte er die Institution des Hohenpriesters in die Hand und gab ihnen die Möglichkeit, daraus ein vom Willen des Volkes unabhängiges Instrument zu machen. Aber der Erfolg war zunächst nur eine verstärkte Machtposition der Hellenisten in der Verwaltung des Landes. Die Hellenisierung selbst machte dadurch noch keine entscheidenden Fortschritte. Bei allem Respekt vor der hohenpriesterlichen Institution als solcher hielt das Volk sich innerlich unabhängig von den jeweiligen Vertretern, die sich diese Würden von Antiochus 64 kauften und sie so lange behielten, als nicht das größere Angebot eines Wettbewerbers sie um das Amt brachte.

Es war für Antiochus, dem die gründliche Durchhellenisierung Syriens gelungen war, auf die Dauer unerträglich, diese Enklave antihellenistischer Opposition zu dulden. Er beschloß ihre gewaltsame Beseitigung. Er verbot daher die Ausübung der jüdischen Religion, stellte die Befolgung der Riten und Feste unter schwere Strafen, hob den Tempelkult auf und forderte zwangsweise Teilnahme an den griechischen Kulthandlungen unter Aufsicht eigens bestellter griechischer Beamter. Im Jahre 168 ließ er als Krönung dieses Vorganges im Tempel zu Jerusalem für den Zeus Olympius ein Opfer darbringen. Dieser Vorgang lebt in der jüdischen Historie unter der Bezeichnung »Greuel des Entsetzens« fort. Es begann die Zeit des religiösen Martyriums.

Gegenüber dieser Situation stellt das Volk in seiner entscheidenden Masse die Kardinalfrage. Bisher hatte die Theokratie es ihnen erlaubt, die politische Abhängigkeit zu ignorieren. Auch nachdem die oberste Institution der Theokratie durch ihre eigene hellenistische Partei entscheidend geschwächt und entwertet war, hielt die innere Anspannung die Theokratie als solche gesinnungsmäßig am Leben. Ihr Begriff des unabhängigen Staates wurde dadurch genügend gewahrt, daß sie die Gestaltung und Ordnung ihrer Lebensbeziehungen, ihr Recht, ihre Kultur und die Formen ihres Glaubens selber bestimmen konnten. Und gegen die von außen andringende Assimilation war durch die religiöse Disziplin genügend 65 Vorsorge getroffen. So weit eine aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt und der Angleichung an sie nötig war, verlegte man sie in den eigenen Umkreis. Angegriffen wurden dabei nur die Erscheinungsformen des Fremden, nicht der Fremde und das Fremde selbst. Jetzt aber war einer Auseinandersetzung mit der politischen Macht von außen nicht mehr zu entgehen, weil sie das eigentliche Lebensgebiet des Juden, seine innere Autonomie, angriff. Die innerkulturelle Auseinandersetzung hörte zwar nicht auf, aber sie trat für eine Weile zurück gegenüber den Erfordernissen eines Kampfes, dessen Motive und Ziele eindeutig waren: Abwehr des Zwanges, der sie zur geistigen Auslieferung an Fremdes bringen wollte. Man hat diese Abwehr einen Ausbruch des nationalen Geistes genannt. Die willkürliche und vielfältige Verwendung des Begriffes »national« macht die Feststellung nötig, daß diese Kämpfe das nationale Freisein nicht als eine politische Freiheit meinten, sondern als eine geistige, kulturelle und gesinnungsmäßige; daß der Angriff gegen den politischen Oberherrn nur erfolgte in seiner Eigenschaft als kultureller Zwingherr, als Repräsentant dessen, was dem Juden fremd war und was er als Fremdes von sich fern halten wollte. Daß der weitere Verlauf dieser Kämpfe dieses Ziel überschritt, daß der Übergang zum politischen Freisein nach dem mechanischen Sinne des Wortes »national« die Erfolge des Anfangs radikal vernichtet hat, stellt die eigentliche Tragik und den eigentlichen Sinn dieses geschichtlichen Abschnittes dar.

Unter dem Druck der Religionsverfolgung entweichen immer mehr Menschen aus den Städten, 66 die sich auf dem flachen Lande und in den Verstecken der Berge als eine Armee der Rebellen von morgen sammeln. Die auslösende Aktion erfolgt im Jahre 168, wie Matthatias ben Jochanan aus dem Geschlechte der Hasmonäer in Modein griechische Beamte tötet und die heidnischen Altäre zerstört. Das ist das Signal zu einem Aufstand, der sich sehr schnell zu einem wirklichen Volkskrieg ausweitet. Seine Führung übernimmt der älteste Sohn des Matthatias, Juda, der den Beinamen Makkabi bekommen hat. Es gelingt ihm, die Streitkräfte des Antiochus so wirksam zu schlagen, daß er im Dezember des Jahres 165 in Jerusalem einziehen kann. Dort findet der entscheidende symbolische Akt statt, der diesen Kämpfen seinen Sinn zuweist: der Tempel wird von der Verunreinigung durch den heidnischen Kult gereinigt und neu geweiht. Das Chanukahfest hat diesen historischen Akt in die Gegenwart aller kommenden Generationen bis auf den heutigen Tag überliefert.

Dieser erfolgreiche Widerstand der Judäer wurde von der griechisch-syrischen Umwelt mit heftigen Angriffen auf die unter ihnen wohnende jüdische Bevölkerung beantwortet. Das war ein natürlicher Vorgang, denn der Widerstand der Judäer gegen Antiochus richtete sich ja der Gesinnung nach gegen sie selbst, gegen alles, was sie dachten, taten und glaubten. Auf diese aufflammende Feindschaft antwortet Juda Makkabi sehr überlegt mit einer Aktion, die auf die Befreiung der in Galiläa, in Gilead und im Basan gefährdeten Juden und auf ihre Konzentrierung im eigentlichen Judäa, bezw. in Jerusalem gerichtet ist. So verhindert er die Auflösung größerer jüdischen Massen in den 67 gemischten Gebieten und verstärkt den Kern im Lande. Aber damit ist seine Aktivität zunächst auch grundsätzlich abgeschlossen. Sein doppelter Erfolg erhält seine offizielle Anerkennung durch den Abschluß eines Friedens vom Jahre 163, in welchem Judäa die politische Oberhoheit der Seleuziden ausdrücklich anerkennt, wogegen ihm unbedingte Freiheit der Religion und der Religionsausübung zugestanden wird. Die Situation ist also wieder beim status quo gelandet. Der Kampf gegen den Vertreter des Fremden ist prinzipiell – und zugunsten der Judäer – zum Abschluß gekommen. Alles, was jetzt weiter geschieht, trägt ein ganz anderes Gesicht und stellt klar, daß die Hasmonäerkämpfe durchaus keine einheitliche Aktion sind, sondern das etappenmäßige Ablaufen von Konflikten mit durchaus komplexem Charakter.

Der Friedensschluß hatte nur – und zwar, wie sich später herausstellte, für eine begrenzte Zeit – die nationale Unabhängigkeit im Sinne einer kulturellen Selbstbestimmung garantiert. Das Problem im Inneren wurde dadurch nicht berührt, sondern im Gegenteil noch verschärft, denn der gewonnene Sieg mußte der Erledigung der internen Spannung naturgemäß vermehrten Anstoß und größere Dringlichkeit geben. Die Parteigänger der Assimilation, deren Existenz durch die bisherigen Ereignisse durchaus nicht erschüttert war, stellte eine immanente Bedrohung der Opfer und der errungenen Erfolge dar. Der Wunsch nach ihrer Beseitigung, mindestens aber nach ihrer Ausschaltung, war selbstverständlich, schon weil die kulturelle Assimilation sich mit flüssigen 68 Grenzen einer politischen Auslieferung an das Griechentum näherte. An den Vertretern der Assimilation war diese nationale Erhebung der Hasmonäer spurlos vorübergegangen. Hier wurde um eine geistige Konzeption gekämpft, die nicht die ihrige war. Der Sieg der Hasmonäer war für sie nicht nur eine persönliche Bedrohung, sondern auch eine Gefährdung ihrer Ziele. Das führte zu Reaktionen und zur Verschiebung der inneren Problematik, denn die früher eindeutige Position der Chassidäer, die politische Oberhoheit der Seleuziden zu tolerieren, mußte in dem Augenblick eine Wandlung erfahren, in dem die Hellenisten sich an die Seleuziden wandten, um bei ihnen Schutz gegen das Volk als solches, gegen ihr eigenes Volk zu suchen. Sie fanden diese Hilfe bei Demetrius I., der wieder von sich aus einen Hellenisten zum Hohenpriester einsetzt und ihm den Feldherrn Bacchides nebst Soldaten beigibt, damit er sich in dieser Position erhalten und von ihr aus die Hellenisierung gründlicher durchführen könne.

Damit sind alle bisherigen Erfolge des Volkes und der Hasmonäer wieder erledigt. Das Fremde sitzt jetzt zielbewußt und mit einer soliden Machtposition in den eigenen Reihen. Das nationale Problem ist nicht gelöst, sondern verdoppelt: die Seleuziden haben ihre mangelnde Bereitschaft bewiesen, sich an der inneren Gestaltung Judäas uninteressiert zu erklären, und die Hellenisten besorgen im eigenen Lande die Geschäfte des Griechentums. Juda Makkabi begibt sich sofort von Jerusalem weg auf das flache Land, um von dort aus den inneren Feind erfolgreicher anzugreifen. Er 69 identifiziert sich – ungleich den späteren hasmonäischen Herrschern – noch vollkommen mit dem chassidäischen Teil des Volkes. Aber im Ergebnis stößt er nicht auf den inneren, sondern auf den äußeren Feind, auf eine erhebliche syrische Übermacht, und fällt in diesem Kampfe. Seine Anhänger lösen sich auf. Das Spiel ist verloren und die Idee einer loyalen Duldung der politischen Herrscher gewinnt wieder die Oberhand.

In dem Willen, seinen Erfolg auszunutzen, überspannt Bacchides die Situation, errichtet Festungen mit Garnisonen im Lande und nimmt Geiseln gefangen. Er schafft damit nicht nur eine neue Opposition, sondern zwingt auch zu der Erkenntnis, daß bei der grundsätzlichen Einstellung der Seleuziden ein weitergehendes Maß an äußerer politischer Unabhängigkeit erforderlich ist, um die Existenz Judäas in den ihm gemäßen Formen zu garantieren. Dahin gehen jetzt mit wachsender Zielsicherheit die Bemühungen der hasmonäischen Brüder. Jonathan tritt in den Vordergrund, kämpft mit sehr viel Vorsicht und Geschick und erreicht durch seine Erfolge, daß die Feindseligkeiten im Jahre 157 eingestellt werden und die seleuzidische Regierung sich abermals verpflichtet, nicht mehr in die innere Gestaltung des Landes und die inzwischen schon scharf abgezeichneten inneren Kämpfe einzugreifen. Als sichtbare Manifestation dieses erneuten status quo läßt Jonathan sich im Jahre 152 die Stellung eines Hohenpriesters vom Volke übertragen und macht das Amt damit wieder legitim.

Was jetzt in den folgenden Jahren geschieht, ist noch von der Idee her bestimmt, der politischen 70 Unabhängigkeit – und damit der nationalen Autonomie – eine größere und festere Basis zu geben. Aber ohne daß die Grenzen deutlich sichtbar werden, tritt der Übergang zu einer ausgesprochenen Eroberungspolitik ein. Es hätte eines bestimmten und sicheren Maßstabes bedurft, zu erkennen, wann der politischen Sicherheit genüge getan war und wann folglich auf die äußere Expansion zugunsten einer zielbewußten inneren Konsolidation Verzicht zu leisten war. Aber es geschah hier, daß über dem Tun der Sinn des Tuns allmählich verloren ging, und daß ein neuer Sinn sich aus dem Tun selbst ableitete. Dieser Kampf um Macht, um Größe, um Einfluß und Besitz, um Ausdehnung bis an die Grenze des jeweils Erreichbaren stellte ein Charakteristikum der Zeit dar, eine typische Aktionsform dieser hellenistischen Welt, die die Einheitsidee des großen Alexander verstümmelt hatte, um daraus despotische Einzelleistungen zu machen. In diese gleiche Linie trieben jetzt die Hasmonäer hinein. Ihr Ausgangspunkt, sich vom Tun und Denken der Anderen mit allen Mitteln, selbst dem der Kämpfe und persönlichen Opfer frei zu halten, landete bei dem Bestreben, das Tun der Anderen zu imitieren. Daß dabei auch etwas vom Denken der Anderen sich in ihre Aktionen einschlich, daß sie – wenn im Anfang gewiß unbewußt – dabei zugleich die Gesinnung der Anderen kopierten, war naheliegend. Es hätte nicht nur tüchtiger Krieger, unerschrockener Kämpfer und abwägender Politiker bedurft, das zu verhindern. Es hätte vor allem eines starken und immer gegenwärtigen Bewußtseins für den inneren Sinn der Situation 71 bedurft. Daß dieser Sinn sich schwächte und in den entscheidenden Augenblicken völlig aussetzte, bedeutet nicht mehr und nicht weniger als die Niederlage des Geistes der jüdischen Assimilation gegenüber dem Geiste des Hellenismus, eine Niederlage, die im Ergebnis das Volk als Ganzes traf und die es nie erlitten hätte, wenn sie ihm nicht aus seinen eigenen Reihen her bereitet worden wäre.

Der äußeren Situation nach verlaufen die Dinge jetzt wie folgt: Jonathan wird, begünstigt durch Thronfolgestreitigkeiten unter den Seleuziden, zum Ethnarchen von Judäa ernannt, das heißt: zum formellen zivilen und militärischen Oberhaupt des Staates. Unter weiterer Ausnutzung der Situation lassen er und sein Bruder Simon sich Vollmacht geben, ein Heer zu halten und Judäa samt seinen Grenzgebieten von den Truppen Demetrius II. zu säubern. Dabei gelingen Eroberungen in Galiläa und im südlichen Küstendistrikt. Als Folge dieser gefestigten Position kann Simon mit den Seleuziden Verträge abschließen, in denen er bereits einen unabhängigen jüdischen Staat vertritt. In diesem Staate läßt er sich vom Volke die dreifache Würde eines Hohenpriesters, des militärischen Oberbefehlshabers und des Fürsten übertragen. Die Theokratie hat damit eine betont weltliche Vertretung bekommen – wenngleich eine ausschließlich nach außen gemeinte Vertretung –, ein Vorgang, der sich durch das Bedürfnis nach größerer politischer Unabhängigkeit rechtfertigte und vom Volke ohne Widerstand akzeptiert wurde.

Aber von dieser Situation aus, die eine 72 Endsituation hätte sein müssen, nehmen die Dinge ihren Ablauf in Richtung auf die Katastrophe. Alles, was den Bedürfnissen des jüdischen Staates entsprach, war an sich erreicht. Es war keinerlei Bedürfnis vorhanden nach einer Erweiterung der Position, insbesondere nicht nach weiteren Eroberungen. Es bestand weder ein Raummangel für die Bevölkerung, noch für die wirtschaftliche Betätigung. Die strategischen Sicherungen der Grenzen waren ausreichend. Jeder Versuch, trotzdem expansiv zu werden, war aus geistigen und technischen Gründen von vornherein zum Tode verurteilt. Schon die bisherige Vergrößerung – obgleich notwendig und mit Rücksicht auf die frühere Ausdehnung des Reiches legitim – war sachlich doch nur möglich gewesen auf Grund der Uneinigkeit unter den seleuzidischen Herrschern. Eine vermehrte Ausweitung verlangte eine materielle Kraft, die das jüdische Reich nicht besaß. Zu einer erfolgreichen Gewalteroberung hätte es aber im weiteren einer viel größeren geistigen und kulturellen Übereinstimmung mit dem Umwelt bedurft. Aus der Sonderung, Absonderung und Verschiedenheit von Jahrhunderten kann man nicht ohne Übergang eines Tages zur politischen Herrschaft über fremde Völker und Länder aufbrechen, besonders dann nicht, wenn sie gerade die Beute einer Eroberung durch eine völlig entgegengesetzte Welt der Kräfte geworden ist.

Daß die Hellenisten im Lande bereit waren, dieser mangelnden Voraussetzung abzuhelfen, ergab sich aus ihrer unverminderten Bereitschaft zur Assimilation. Diese Bereitschaft erhielt einen mächtigen Antrieb dadurch, daß ihre prinzipiellen 73 Feinde von gestern, die Hasmonäer, unmittelbar nach der Entstehung ihrer Dynastie sich »hellenisierten«, das heißt: eine geistige und damit auch eine praktische Haltung einnahmen, die sich mit der der »Hellenisierenden« von gestern in voller Übereinstimmung befand. Die Dynastie trifft auf der Suche nach der notwendigen Stütze innerhalb der Gesellschaft auf die ihr adäquate Schicht und okkupiert sie, während sie zugleich weiter von ihr umgeformt wird. Die beiden werden Bundesgenossen auf dem Wege der Assimilation. Was hier unter Assimilation zu verstehen ist, wird durch die jetzt folgenden Kämpfe im Inneren eindeutig festgestellt. Die Masse des Volkes beginnt, den Hasmonäern die Gefolgschaft zu verweigern. Die Kriege des Jochanan-Hyrkanus mit den kleinen Nachbarvölkern werden mißbilligt. Daß er ein stehendes Söldnerheer aus überwiegend kleinasiatischen Griechen errichtet, wird wegen der steuerlichen Belastung unangenehm empfunden. Daß er das restliche Gebiet der Idumäer im Süden Jerusalems erobert und nur denjenigen das Verbleiben im Lande erlaubt, die sich zur jüdischen Religion bekennen, also eine Art Zwangsbekehrung vornimmt, wird als bisher einmaliger Vorgang in der jüdischen Geschichte mit größtem Mißtrauen betrachtet. Man hatte nichts gegen Proselyten einzuwenden, die sich aus wirklicher Überzeugung zum Judentum bekannten, aber alles gegen diese Halbjuden, gegen diese hemijouaioi, die nur unter äußerem Druck zum Judentum kamen. Sie waren und blieben trotz ihrer äußeren Zugehörigkeit Fremde, geformt durch 74 ihre eigenen Bedingungen des Herkommens, des Glaubens, der Lebensform.

Dieser feindliche Widerstand des Volkes beruhte so auf einer prinzipiellen Einstellung, wie es die entgegengesetzte Haltung der Hellenisten gleichfalls tat. Was nach außen als politische Differenz in die Erscheinung tritt, ist nur der Ausdruck weltanschaulicher Differenzen. Am Begriff und an der Wertung des Fremden spaltete sich das Volk in zwei Lager, deren parteimäßige Bezeichnung Pharisäer und Sadduzäer wurde. Sie entsprechen der schon vorher akut gewordenen Gruppierung von Chassidäern und Hellenisten, nur daß ihre Problemstellung sich als Folge der Hasmonäerkriege und der fortschreitenden inneren Entwicklung erheblich kompliziert hat. Die Eindeutigkeit des theokratischen Staates war gestört. Das weltliche Oberhaupt des Fürsten – Juda Aristobulus nahm bereits den Königstitel an – ließ die Frage praktisch werden, ob hier nur eine organisatorische Änderung eingetreten oder ob zugleich eine Änderung des Inhalts gemeint sei. Die Pharisäer waren nach wie vor bereit, die neue Form mit dem alten Inhalt auszufüllen. Die Sadduzäer, denen sich die Hasmonäer mit ganz geringen Ausnahmen anschlossen, verlangten in der Konsequenz der Angleichung, daß der Staat seiner äußeren und seiner inneren Struktur nach den Staaten der hellenisierten Umwelt gleiche. In der Möglichkeit einer geistigen Motivierung waren sie dabei den Pharisäern gegenüber durchaus im Nachteil. Der Pharisäer – zu dem bezeichnenderweise die Gelehrten hielten, diejenigen, die sich über die geistigen Grundlagen der Gemeinschaft ernsthafte 75 Sorgen machten und die die alte Weise des jüdischen Denkens fortsetzten, an jedes Faktum mit einer von vornherein gestalteten Idee heranzugehen – hatte eine klare geistige Grundlage. Der Staat war für ihn nur ein Formgebilde der Gemeinschaft, und er hatte keine selbständige und keine nur aus seiner Existenz als Staat abgeleitete Funktion zu erfüllen. Er hatte nur der organisatorische Raum zu sein, in dem Probleme des Glaubens, der Gesinnung, der Lebensgestaltung – die im weiteren Sinne auch die Ordnung der wirtschaftlichen Verhältnisse umfaßt – verwirklicht wurden. Dieses seines besonderen Inhalts wegen hatte der Staat als solcher sich von den Staaten der Welt abzuheben, so wie der Einzelne – wenn auch mit beispielhaftem Verhalten, das Gültigkeit für alle Menschen haben sollte – sich mit den Mitteln religiöser und ethischer Selbstdisziplin von der Umwelt und ihren fremden Inhalten zu unterscheiden hatte. Das Politische und Militärische mochte in besonderen Situationen seinen sehr bedingten, dienenden Wert haben. Als Ziel und Selbstzweck war es entbehrlich und wurde bewußt außerhalb des Verstehens gestellt.

Zu den Sadduzäern gehörte auch die Priesterschaft, wie sie sich nach ihrer Usurpierung durch die Hasmonäer entwickelte, die Aristokratie der Geburt, des Amtes und des Besitzes, die gehobene gesellschaftliche Schicht, die naturgegebenen Träger der Assimilation. Ihre Motivierung erhielt ihre Kraft aus der Macht, über die sie verfügten. Eine schlüssige geistige Begründung mußten sie ersetzen durch einen Angriff auf die traditionelle Form des Staates und durch die reformistische 76 Forderung, daß Staat und Religion von einander getrennt werden müßten. Diese Angriffe drücken sich sehr oft, besonders in den späteren Stadien, in der Form dogmatischer Gegensätze aus, wie etwa in der abweichenden Vorstellung vom jenseitigen Leben und ähnlichem. Aber diese fast theologisch anmutenden Streitereien lassen den Kern der Differenz unberührt, das wirkliche lebensgestaltende Verhalten, und dieses Verhalten bedeutete im Effekt, daß die Sadduzäer auf eine geistige Begründung der Nation, der Gemeinschaft, überhaupt Verzicht leisteten. Sie waren zwar bereit, sich zur Befolgung der geltenden Thoragesetze zu bekennen, aber sie lehnten die Herleitung weiterer Gesetze und Traditionen aus dem Text der Thora ab. Sie hielten dafür, diese Entwicklung sei bereits abgeschlossen. Während sie sich also auf der einen Seite als Konservative gebärdeten, die die Thora bis auf das Wort befolgen wollen, wollten sie alle gegenwärtige und kommende Entwicklung aus den kulturellen Begriffen herleiten, die sie von der hellenistischen Umwelt empfingen. Auf den alten jüdischen Stamm gedachten sie ein fremdes Reis zu pfropfen, überzeugt, damit das getan zu haben, was für das Judentum und die Welt wünschenswert und möglich war. In beiden hat der weitere Ablauf der Geschichte sie desavouiert.

Pharisäer und Sadduzäer wollen also gleichermaßen aus den bisherigen Befreiungskämpfen den Gewinn ziehen. Aber vom gleichen Ausgang her landen sie bei weltverschiedenen Zielen. Die letzte Formulierung ihrer Differenzen liegt in den Fragestellungen: mechanischer Staat oder civitas dei; 77 eine Gemeinschaft, die kraft ihrer staatlichen Struktur und seiner Hilfsmittel oder die aus der geistigen Motivierung und aus der Gesinnung existiert; Fortsetzung des Eigenen oder Übernahme des Fremden. Diese Fragestellung ist zwangsläufig; denn besteht der Staat einmal in einer weltlichen und nur weltlichen Organisationsform, so sind der Fürst oder die Oligarchie an der Theokratie nicht mehr notwendig interessiert. Wenngleich sich die Theokratie – es ist eine Frage der inneren Entscheidung – sehr wohl auch in einem weltlich organisierten Staate realisieren läßt, bedarf es doch dazu ungewöhnlicher Leistungen, vor allem des entschiedenen Bekenntnisses zur eigenen Form. Solche Leistungen und solches Bekenntnis hatten weder die Sadduzäer noch die Hasmonäer aufzuweisen. Die Übernahme hellenistischen Denkens hatte die Kräfte dazu entscheidend geschwächt. Das Endergebnis war der totale Verlust des Staates.

Bereits unter Alexander-Jannäus (103–76), der mit seiner sinnlosen Kriegsspielerei das Land wirtschaftlich ruinierte, haben sich die prinzipiellen Gegensätze zu solcher Schärfe gesteigert, daß das Volk rebelliert. Jahrelang dauert ein erbitterter und blutiger Bürgerkrieg, in dem die Pharisäer in der Übersteigerung der feindseligen Abwehr sogar den Seleuziden Demetrius III. zur Hilfe rufen. Daß die Pharisäer unter der Herrschaft der Salome-Alexandra vorübergehend das Regiment in die Hand bekommen, bedeutet im Ergebnis nicht einen Sieg ihrer Idee, sondern bewirkt im Gegenteil, daß die aus der Verwaltung zeitweilig verdrängten Sadduzäer sich des zweiten 78 Machtinstrumentes bemächtigen können, das dieser in der Verweltlichung begriffene Staat zur Verfügung hat: des Heeres. Dieses Machtinstrument konnten sie im entscheidenden Moment den Hasmonäern in die Hände spielen und damit den Geschicken Judäas die entscheidende Wendung geben. Das geschah unter den Söhnen der Salome-Alexandra, die beide keine hervorragenden Herrschereigenschaften besaßen. Hyrkan, der zum Hohenpriester bestellt war, zeichnete sich durch eine an Beschränktheit grenzende Trägheit und Gutmütigkeit aus, die ihn jeder Beeinflußung zugänglich machte. Sein Bruder Aristobul war charaktermäßig das Gegenteil: energisch, zähe und beweglich, aber mit einem sehr begrenzten politischen Blick, der ihm im entscheidenden Augenblick zum Verhängnis wurde.

Sofort nach dem Tode der Mutter, als der ältere Hyrkan automatisch in die Königswürde aufrückte, begann Aristobul einen Streit um die Erbfolge. Sein Recht auf den Thron leitete er aus seiner größeren Begabung her. Das war ein genügender Grund zum Krieg. Da seine sadduzäischen Freunde ihm das Heer zur Verfügung stellten, hatte er Hyrkan gegenüber leichtes Spiel. Er beherrschte sofort die Situation. In dem Friedensvertrage, mit dem dieser kurze Kampf beendet wurde, verzichtete Hyrkan zugunsten des Aristobul auf die königliche Gewalt. Er begnügte sich mit dem Amt des Hohenpriesters. Wie zwei fremde Herrscher, die staatspolitische Geschäfte mit Eheschließungen besiegeln, verheiratet Hyrkan seine Tochter Alexandra mit Alexander, dem Sohne des Aristobul. Dieser »Friede«, diese 79 Zweiteilung der Gewalten, die den Sadduzäern das schönste Ergebnis ihres Bemühens schien, war der Anfang vom Ende. Er wurde eingeleitet durch ein Zwischenspiel von besonderer Dramatik.

 


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