Josef Kastein
Herodes
Josef Kastein

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9. Kapitel

Adler und Kreuz

Herodes hatte das Feld behauptet. Sein Königtum, von wirklichen und vermeintlichen Gefahren ohne Aufhören bedroht, war an der Grenze des Greisentums jetzt endlich ein gesicherter Besitz.

Es war ein Besitz. Es war kein Eigentum. Das Eigentum an einem solchen Amt liegt nur bei dem, der sich ihm hingibt. Wer es nur hinnimmt, hat nur den Besitz. Er übt nur die tatsächliche Gewalt aus. Es ist ihm nicht zugeeignet. Es ist ihm von keinem Sinn und von keiner Idee aus gegeben worden. Auch der Dieb erwirbt Besitz; und des Herodes Königtum war ein geraubtes. Es stand mit allem formalen und ohne jegliches innere Recht in Judäa. Sein Inhalt war unjüdisch, gefälscht, nach dem Maßstab der übrigen Welt aufgebaut; sinnvoll nur in seiner Einfügung in eine Fehlentwicklung, die bei den Hasmonäern eingesetzt hatte. Und wäre es selbst in seinen Äußerungsformen nicht von barbarischer Roheit, sondern von der Vernunft bestimmt gewesen: es hätte ihm für alle Zeiten die Seele gefehlt, die in einem Königtum über Juden leben muß: die Seele der Theokratie. Hier war das Gegenteil gegeben und gewollt. Hier war das Königtum um eines Einzelnen willen versklavt. Er wußte es; aber mit Hinblick auf eine Kulturwelt, in der Könige sich göttliche Ehren zuschreiben konnten, hielt er solches Sklaventum für gegeben und sinngemäß. Darum konnte ihm aus seinem Amte kein Wert und kein Gewinn und für die schweren Zeiten keine Hilfe kommen. Sein Raub blieb nur bei ihm, so lange er ihn mit hartem Griff packte. 306

Dieses Zugreifen hatte er von Jugend an geübt und gelernt. Er verstand das Handwerk. Daß unter dem ewigen Zugreifen die Dinge krumm werden, verstand er hingegen nicht. Zu den vielen Lügen, mit denen er lebte, mußte er sich somit die Wirklichkeit – die von ihm in jedem Augenblick entstellte und vergewaltigte Wirklichkeit – hinzulügen. Dadurch konnte er bestehen. Aber da sie unwahr im letzten Kern war, mußte sie durch erneutes Zupacken immer wieder vor dem Zerschellen bewahrt werden; gab sie nie, was sie geben sollte. Sie konnte es nicht, denn sie war Lüge.

Jetzt aber, wenn auch spät, war alles gesichert und geordnet. Schon durfte Herodes sich, wie am Vorabend eines arbeitsreichen Lebens, ein wenig Entspannung und Verminderung der Tätigkeit gönnen. Sein Sohn Antipater nahm ihm vieles von den Lasten eines Königs ab. Er hatte ihm sogar, obgleich das seinem brüderlichen Herzen gewiß einen schweren Stoß versetzen mußte, das Amt des Henkers abgenommen und eigenhändig für das Aufhängen der Hasmonäerprinzen gesorgt. Aber das mußte so sein, weil er ja eines Tages, wenn das Leben des Vaters seinen natürlichen und ruhigen Ablauf gefunden haben würde, in pietätvoller Nachfolge das Amt antreten würde. Herodes selbst befaßte sich im wesentlichen nur noch mit der Regelung von Familienangelegenheiten. Er schickte Glaphyra samt ihrer Mitgift zu ihrem Vater Archelaus zurück, verheiratete seine Enkelkinder in möglichster Familiennähe und sorgte im übrigen für ihre Erziehung. Einige von ihnen schickte er ebenfalls nach Rom. Mit dem 307 Ressentiment eines Greisen führte er zuweilen, wenn er Freunde bei sich hatte, seine Enkelkinder vor, insbesondere die Kinder der ermordeten Prinzen, jammerte über das Schicksal seiner Söhne und wünschte sich, daß diese Enkel ihm einst mit aller Tugend und Liebe die Mühe vergelten möchten, die er für sie verwendete. Daß bei solchen dynastischen Heiraten Antipater seine eigenen Interessen nicht aus dem Auge ließ und sogar bereits fertige Kombinationen abänderte, versteht sich.

Der nach außen glänzenden Stellung des Antipater entsprach aber die innere Sicherheit keineswegs. Er befand sich aus mancherlei Gründen vielmehr in einer durchaus unbehaglichen Situation. Es spricht für seine meisterhafte Kunst der Verstellung, daß allein Herodes nicht wußte, was das ganze Volk wußte: daß er die eigentliche Triebfeder der Verwickelungen in den letzten Jahren war; daß er es verstanden hatte, Herodes zu seinem Werkzeug zu machen; daß er im vielfachen Sinne der wirkliche Mörder war. Und da das Volk das wußte und ihn einstweilen noch nicht so zu fürchten hatte wie seinen Vater, machte es aus seinem Haß und seiner Verachtung kein Geheimnis. Es benutzte jede Gelegenheit, sein Mitleid mit den Waisenkindern und seine Meinung über den, der das auf dem Gewissen hatte, ostentativ zu bekunden. Es war in seinen Äußerungen sogar so laut und wahrnehmbar, daß Antipater befürchten mußte, es würden eines Tages solche Äußerungen zum König gelangen, und dann mußte das eintreten, was unter allen Umständen vermieden werden mußte: daß man ihn befragen oder gar zur Verantwortung ziehen würde. Und 308 noch viel spezieller war die Gefahr, die ihm vom Heere aus drohte. Hier war die Stimmung infolge der Hinrichtung der Prinzen und der Abschlachtung von 300 Offizieren an sich schon eine gereizte, und diese Reizbarkeit entlud sich als offene Feindschaft gegen den, der auch vom Heere längst als der Schuldige erkannt war. Darüber hinaus bestanden nach wie vor allgemeine Gefahren, die durch die Existenz von möglichen Mitbewerbern gegeben waren. Statt der Hasmonäersöhne gab es jetzt eben Hasmonäerenkel, und er rechnete mit der Möglichkeit, daß Archelaus eines Tages seinen Einfluß aufbieten würde, um diese Enkel in den Vordergrund zu schieben. Da nun die Familie als Gesamtheit zu groß geworden war, als daß man sie in Gänze hätte ausrotten können, so war der Erfolg nur dann gesichert, wenn er schnell genug eintrat. Noch waren die Kinder zu jung, um eine Rolle zu spielen. Aber sie konnten älter werden, ohne daß Antipater das Regiment schon angetreten und sie damit endgültig ausgeschaltet hätte. Wann er das Regiment antreten würde, stand aber in bedenklicher Ungewißheit, denn dieser Herodes, dieser längst zum Abtreten reife Greis, hatte ein zähes Leben. Er zeigte nicht die geringste Bereitwilligkeit, zu sterben oder doch wenigstens so krank zu werden, daß er wirklich ausgeschaltet war. Und jeder Tag, an dem er dieses zähe Dasein behauptete, war eine eindeutige Drohung für Antipater. Es standen Gefahren hinter ihm, die ihn hetzten. Er mußte vielfache Vorsorge treffen. Er mußte die allgemeine Stimmung, die gegen ihn bestand, zu beeinflussen suchen. Er brauchte Bundesgenossen, zum mindesten aber Menschen, die 309 mit der Feindschaft gegen ihn aus lohnendem Interesse zurückhielten. Da er schon jetzt über genügende Mittel verfügte, machte er davon Gebrauch. Er beschenkte die Freunde seines Vaters, und da sie annahmen, verpflichteten sie sich dadurch. Er beschenkte die ihm befreundeten Römer und vor allem den syrischen Statthalter Saturnius. Und sie alle nahmen. Auch wo es sich dem Volke gegenüber in irgend einer Weise einrichten ließ, betätigte er sich freigebig und großzügig.

Aber zu diesen allgemeinen Bundesgenossen brauchte er einen speziellen, der ihm bei der entscheidenden Aktion zu helfen hatte. Diese Aktion hatte einzusetzen, so bald sie genügend vorbereitet war und Antipater selbst den Schauplatz der Tat vorher verlassen hatte. Im Programm des Notwendigen stand nämlich, daß er Judäa verließ und sich nach Rom begab. Er durfte, mochte der Schlag nun treffen oder nicht, keinesfalls in der Nähe sein und jedenfalls in dem Hintergrunde, der sich bald vielleicht verhängnisvoll lichten konnte. Um nach Rom zu gelangen, durfte er aber um der Unverdächtigkeit willen nicht selbst darum bitten. Er veranlaßte also Freunde in Rom, an Herodes zu schreiben, er müsse seinen Sohn Antipater unverzüglich zu Augustus schicken. Da solche Wünsche von Rom aus für Herodes einem Befehl gleichkamen, war er sofort einverstanden. Er gab dem Antipater die üblichen Geschenke mit, zugleich aber auch ein Dokument: sein Testament. In diesem Testament war verfügt, daß nach seinem Ableben Antipater alleiniger König von Judäa werden sollte; sterbe er vor seinem Vater, 310 so solle sein Sohn Herodes, den er von der zweiten Mariamne hatte, Erbe werden.

Antipater hatte, was diese letztere Möglichkeit anlangte, durchaus die Überzeugung, daß sie nicht eintreten würde. Seine ganze Aktion ging ja eben darauf hin, ihr Eintreten zu verhindern. Herodes würde ihn keineswegs überleben, denn er, Antipater, war gerade im Begriff, seinen Tod, deutlicher gesagt: seine Tötung mit aller Sorgfalt vorzubereiten. Er wußte genau, daß alle bisherigen Verschwörungen gegen das Leben des Herodes, so weit sie Mitgliedern der Familie zur Last gelegt worden waren, reine Erfindungen darstellten. Sein Plan war der erste reale; und sein Plan war jetzt reif zur Ausführung. Er hatte nur zuvor das Feld ebnen müssen. Das war geschehen. Aber jetzt war auch Eile geboten. Weder wollte er unliebsame Enthüllungen abwarten noch war er gesonnen, diesem alten Manne, diesem Objekt seines zähen und stillen Hasses von langen Jahren her, noch eine Gnadenfrist zu geben. Er stand ihm im Wege, und die Komödie des liebevollen Sohnes konnte jetzt im letzten Akt gespielt werden.

Die spezielle Bundesgenossenschaft, die er zu diesem Zwecke brauchte, suchte er sich bei Pheroras, und zwar aus mehreren Gründen. Es empfahl sich nicht, Außenstehende ins Vertrauen zu ziehen. Er selbst kannte ja die eingewurzelte Sucht nach Denunziantentum. Die Teilnahme des Pheroras hingegen hatte viele Vorteile. Wenn Pheroras beteiligt war, konnte späterhin, wenn einmal die Tat ans Licht kommen sollte, das Hauptgewicht von ihm ab und auf den Oheim gewälzt werden, der zum Bruder Herodes in alter Feindschaft stand. 311 Dann konnte man tief betrübt Pheroras, den Königsmörder, beseitigen lassen. Diese alte Feindschaft ließ sich aber auch objektiv ausnutzen, zumal sie nicht nur eine rein familiäre war, sondern – auf dem Umwege über die Gattin des Pheroras – politischen Charakter trug. Diese Gattin, die ihren Mann vollkommen beherrschte, war eine eifrige und aktive Anhängerin der Pharisäer. Sie hatte derzeit, als Herodes vergeblich den Treueid für Rom und für sich von ihnen verlangte, für mehr als 6000 mit Buße belegte Pharisäer die Strafe aus eigenen Mitteln bezahlt. Sie hatte auch ihren Gatten völlig zu ihrer Auffassung bekehrt, sodaß Antipater mit diesem politischen Gegensatz durchaus rechnen konnte. Zunächst kam es allerdings darauf an, eine generelle Annäherung herbeizuführen, eine allgemeine Übereinstimmung zu schaffen. Das geschah bald, da beide dazu bereit waren. Dann vertiefte Antipater das Thema allmählich, bis es eines Tages als Grundthema ihrer Gespräche und Verhandlungen dastand. Allerdings erwuchsen daraus Schwierigkeiten, die sich aber letzten Endes als Vorteile verwenden ließen. Diese Schwierigkeiten wurden durch Salome geschaffen. Das häufige Zusammensein ihres Bruders und ihres Neffen erregte ihren Verdacht. Sie begann zu spionieren. Antipater merkte es sofort und einigte sich mit Pheroras darüber, daß sie nach außen hin ein heftiges Zerwürfnis bekunden sollten. Das geschah. Aber Salome ließ sich nicht täuschen. Sie durchschaute auch diesen Teil des Spiels. Sie spähte weiter jede ihrer Zusammenkünfte aus, wenngleich sie keine Einzelheiten der vertraulichen Gespräche erfahren konnte. Aber 312 mit der zähen Anhänglichkeit von einst witterte sie Gefahr für ihren Bruder und warnte ihn. Herodes war nur halb bereit, ihr zu glauben. Sie hatte schon zu viele unzuverlässige Dinge gesagt, und andererseits kam ein Verdacht gegen seinen Sohn Antipater ernsthaft ja garnicht in Frage. Das einzige, was ihn wirklich traf und verletzte, war die Haltung der Gattin des Pheroras, der Umstand, daß sie mit seinen unversöhnlichen Feinden, den Pharisäern, sympathisierte. Darum führte er nur gegen sie Klage und warf ihr vor, daß sie es eigentlich sei, die zwischen ihm und seinem Bruder Feindschaft stifte. Um dem jetzt ein Ende zu machen, gab er seinem Bruder dringend anheim, sich von seiner Gattin zu trennen, ehe er es ihm befehlen würde. Nur dann könne er darauf rechnen, mit ihm noch in brüderlichem Einvernehmen und in der alten Zuneigung zu bleiben. Aber Pheroras weigerte sich. Er wollte sich von dieser Frau, die für ihn den geistigen Halt bedeutete, nicht trennen. Herodes, der gegen diesen Bruder nie mit letzter Entschlossenheit vorgehen konnte, war zwar über die Mißachtung seines Willens erzürnt, beschränkte sich aber darauf, seinem Sohne und der Mutter Doris weitere Zusammenkünfte mit Pheroras zu verbieten. Seinem Sohne gab er, damit er dieses Versprechen halte, 100 Talente. Indem er ein solches Verbot auch an die Gattin seiner Jugend und seine Beraterin ergehen ließ, wußte er nicht, daß er sich damit an diejenige wandte, die mit Sohn und Schwager zusammen an der Ausarbeitung des Mordplanes beteiligt war. Aber da die Zusammenkünfte trotzdem heimlich stattfanden und Pheroras seine Gattin 313 immer noch nicht entlassen hatte, befahl Herodes ihm, Jerusalem zu verlassen und in seine Tetrarchie zu gehen. Pheroras spielte die Rolle des tief gekränkten Bruders. Er legte einen heiligen Eid ab, daß er nicht eher nach Jerusalem zurückkehren werde, als bis man ihm die Nachricht vom Tode seines Bruders überbringe; und Herodes war von dieser Gefühlsäußerung mehr geschmeichelt als beleidigt. Das zeigte ihm doch, daß sein Bruder sich über die verhängte Zurechtweisung noch gekränkt fühlen konnte. Er blieb auch starrsinnig, als Herodes ihn während einer Krankheit einmal rufen ließ, um ihm eine wichtige und geheime Mitteilung zu machen. Aber als Pheroras selbst erkrankte, gab Herodes als der ältere Bruder mit gutmütigem Kopfschütteln nach und besuchte ihn.

Pheroras hatte guten Grund, sich mit einem heiligen Eid selber von der Anwesenheit in Jerusalem auszuschließen. Und Antipater hatte guten Grund, jetzt seine Reise nach Rom anzutreten. Die Waffe, mit der Herodes jetzt endlich gefällt werden sollte, war unterwegs: Gift.

Das Gift, das für den Körper des Herodes bestimmt war, und das ihm vielleicht die physischen Qualen seines Lebensendes erspart hätte, traf ihn nicht. Dafür traf ihn das andere, das seelische Gift, um so ätzender. Daß es so kam, war einem Zufall zu danken. Pheroras starb plötzlich an der Krankheit, während derer Herodes ihn besucht hatte. Herodes war aufrichtig betrübt darüber. An diesem letzten Bruder hatte er wirklich gehangen. Um ihn zu ehren, ließ er den Toten nach Jerusalem schaffen, ihn dort feierlich beisetzen und 314 ordnete eine allgemeine Volkstrauer an. In dieser Trauerzeit erschienen bei ihm zwei Freigelassene des Pheroras und trugen ihm eine Bitte vor: er möge den Tod seines Bruders nicht ungerächt lassen, denn sie hätten die feste Überzeugung, er sei nicht eines natürlichen Todes gestorben, sondern man habe ihm in irgend einer Speise Gift beigebracht. Denn Gift sei ins Haus gekommen. Das wissen sie bestimmt. Es stamme aus Arabien, von einer Freundin des Arabers Sylläus, gegen den gerade jetzt in Rom Antipater einen Prozeß im Namen des Herodes führte. Zwei Frauen aus der Familie des Pheroras sind zu der Araberin gefahren, und just am Tage vor der Mahlzeit, nach der Pheroras gestorben ist, sind sie zurückgekehrt.

Diese Möglichkeit, daß man seinen Bruder mit Gift beseitigt habe, jagt Herodes wieder in seinen gewohnten Grimm hinein. Er macht sich sofort an die Aufklärung. Da die Folterung von Frauen am schnellsten zum Ziele führt, läßt er einige Sklavinnen jener Frauen, die das Gift ins Haus gebracht haben sollen, einfangen und peinlich befragen. Obgleich sie aus der tagtäglichen Nähe zu den Vorgängen im Hause alles wissen müssen, schweigen sie doch und leisten so lange Widerstand, wie sie es eben ertragen. Bis eine von ihnen sich verrät. Sie ruft Gott an, er möge alle diese Schmerzen über diejenige verhängen, die an dem ganzen Unglück schuld sei. Herodes wünscht zu wissen, wer diese eigentlich Schuldige sei. Er erfährt: seine Gattin Doris, die einst verstossene und jetzt so hoch in Ehren stehende Frau. Herodes begreift nicht: was tut Doris in einem Komplott gegen Pheroras? Er treibt die Untersuchung 315 geheim und mit größter Eile weiter. Sie nimmt eine Richtung an, die er nicht erwartet hat. Die Gestalt des Antipater wird immer sichtbarer. Es wird ihm bestätigt, was er seiner Schwester Salome nicht hat glauben wollen: Antipater und Pheroras sind trotz des Verbotes und der Zahlung von 100 Talenten, mit denen der Vater sich Ruhe erkaufen wollte, weiter zusammen gekommen. Antipater hat dem Pheroras und seinen Frauen wichtige Staatsgeheimnisse verraten. Antipater hat geklagt und geflucht, daß sein Vater immer noch nicht sterben will, während er, der Sohn, älter und älter wird und eines Tages sein Königtum kaum noch wird genießen können. Antipater hat auch darüber geklagt, daß noch zu viele Brüder und Vettern am Leben seien, die alle einmal Ansprüche auf den Thron erheben könnten. Antipater hat erklärt, warum Pheroras in seine Tetrarchie und er selbst nach Rom gegangen seien: sie wollten sich nicht dem gleichen Schicksal aussetzen, das Herodes, der Mörder, der Verbrecher, den beiden unschuldigen Hasmonäerprinzen bereitet hat.

Das Gebäude seines Lebens beginnt vor Herodes zu schwanken. Sollte auch dieser Sohn ein Verräter sein? Kann so viel Gehässigkeit in einem Menschen leben, kann einer so viel Verstellungskunst aufbringen, daß er bei aller Bekundung der Fürsorge und Liebe doch nur mit Ungeduld auf den Tod des Vaters wartet? Daß er selbst, Herodes, einmal mit solcher Verstellungskunst den alten Hyrkan zu sich gelockt hat, um ihn zur rechten Zeit töten zu können; daß er mit gleicher Kunst den Unterbau für den Mord an dem jungen 316 Aristobul gelegt hat: das alles weiß er in diesem Augenblick nicht mehr; denn dieses Mal geschehen die Dinge ja ihm selbst; und das bedeutet nicht, daß seine Taten von einst mit gleichem Gewicht und gleichem Angesicht gegen ihn aufstehen, sondern daß ihm grenzenloses Unrecht geschieht. Um der Weite dieses Unglücks sicher zu sein, läßt er in der Nachbarschaft des Antipater weiter forschen. Er packt sofort den richtigen Mann: den Verwalter seines Sohnes, einen Samaritaner, der gleichfalls Antipater heißt. Und jetzt wird mit einem Ruck der Vorhang von einem Bilde weggerissen, das Herodes nicht sehen will; es wird ein Spiegel entkleidet, aus dem er sich selbst mit den Zügen seines ältesten Sohnes anblickt. Der Samaritaner bestätigt alles. Er weiß auch die wahren Einzelheiten über das Gift. Dieses Gift stammt von einem Arzt aus Ägypten. Dessen Bruder Antiphilus hat es von dort geholt. Antiphilus ist ein Freund des Antipater. In seinem Auftrage hat er es bei Theudion abgeliefert. Der wiederum ist der Onkel Antipaters, ein Bruder der Doris, und Theudion hat es an Pheroras geschickt. Der hat es seiner Gattin gegeben, und die hat es aufbewahrt.

Wenn das Gift an Pheroras geschickt wurde, war es also doch nicht für ihn bestimmt? – Nein. – Für wen sonst? – Nun, für den König Herodes. Pheroras sollte es ihm im Auftrag des Antipater bei passender Gelegenheit beibringen.

Das ist selbst für einen Menschen schwer zu glauben, der sonst alles glaubt, was er nur irgendwie feindselig auf sich beziehen kann. Hier ist die Grenze erreicht. Daß er sie dennoch überschreiten 317 muß, daß zum ersten Male, seit er um seiner Lebenssicherheit willen mordete, hier wirklich ein Tatbestand Glaube verdient, bedarf ihm noch eines schlüssigen Beweises. Er wird ihm geliefert, und zwar so einwandfrei, wie ihm bislang nie ein Beweis gelungen ist. Die Gattin des Pheroras erscheint und bestätigt alles, was der Samaritaner gesagt hat. Pheroras ist an seiner Krankheit gestorben; nicht an dem Gift für Herodes. Das ist noch vorhanden. Sie ist bereit, es vorzuzeigen, denn sie hat es gleich mitgebracht. Während sie hinausgeht, um es zu holen, eilt sie auf das Dach des Palastes und stürzt sich in die Tiefe. Aber das Schicksal meint es gut mit Herodes. Es will ihm nicht die Genugtuung nehmen, dem Mordplan seines Sohnes bis in die letzten Einzelheiten folgen zu können. Es will ihm jede Klarheit geben und ihm keine Möglichkeit des Trostes lassen. Die Gattin des Pheroras ist von dem Sturz nur ohnmächtig geworden. Sonst ist sie unverletzt. Nach einer Weile ist sie sogar imstande, ihre Aussage fortzusetzen. Sie hat das Gift im Auftrage des Antipater in Verwahrung genommen. Die Verwendung des Giftes war dem Pheroras überlassen. Aber auf seinem Krankenlager hat er den Mut verloren. Er fühlte sich doch nicht zum Brudermörder geeignet. Er verlangte, daß seine Gattin das Gift in seiner Gegenwart verbrenne. Sie tat es. Aber einen Rest ließ sie doch übrig, zu keinem anderen Zwecke, als es für sich selber zu verwenden, wenn sie nach dem Tode ihres Gatten der Bosheit und der Willkür des Herodes ausgeliefert sei. Den Rest des Giftes übergibt sie jetzt dem Herodes. 318

Auch eine andere Sendung Gift kam bei Herodes an. Die Untersuchung war in größter Heimlichkeit geführt und alle Verbindungswege nach Rom waren so scharf überwacht worden, daß keine Nachricht davon zu Antipater gelangen konnte. Und wenn dieser und jener ihm auch Nachricht hätte geben können, so waren der allgemeine Haß und die Verachtung doch viel zu groß, als daß auch nur einer ihm hätte helfen wollen, geschweige denn, durch einen Verrat des Verfahrens die eigene Sicherheit aufs Spiel setzen. So war Antipater gänzlich unbefangen, wenngleich es ihn ungeduldig machte, daß Pheroras immer noch nicht zur Aktion geschritten war. Aber vielleicht hatte das aus Ägypten bezogene Gift nicht gewirkt. Darum hielt er es für ratsam, sich in Rom neues zu besorgen. Er sandte es durch seinen Diener Bathyllus in zwei Rationen zerlegt ab. Den einen Teil sollte Pheroras an sich nehmen, den anderen Teil seine Mutter Doris. Beide sollten das ihrige versuchen. Da der Bote mit der Giftsendung von den Spionen des Herodes abgefangen wurde, hielt er jetzt alle Beweise, das tödliche Beweisstück eingeschlossen, in seinen Händen. Und damit der Tragödie die verzerrte Grimasse nicht fehle, mußte er die Feststellung machen, daß die Tochter des Boëthus, die zweite Mariamne, Mitwisserin von allem war.

Über das Doppelspiel, das hier jahrelang getrieben worden war und das jeder, Herodes allein ausgenommen, längst durchschaut hatte, klärten ihn jetzt die Briefe auf, die er zur selben Zeit aus Rom empfing. Aus Gewohnheit oder aus Vorsicht setzte Antipater die alte Technik der Anschuldigung 319 der übrigen Söhne fort. Er denunzierte die Kinder der Hasmonäerprinzen, die in Rom erzogen wurden, wegen verächtlicher Bemerkungen über den Großvater. Er bestach Freunde, im gleichen Sinne zu schreiben. Er selbst fügte, um in der Rolle zu bleiben, hinzu, die Enkel seien wohl noch zu jung, um den Sinn ihrer Äußerungen zu begreifen. Er riet dem Vater zur Nachsicht.

So war das Bild abgerundet. Es war sehr klar und eindeutig in seinen Zügen. Es hätte Herodes vertraut sein müssen. Es entsprach ja ihm selbst zutiefst. Im Sohne trat er sich selbst entgegen. Das Schicksal hielt ihm einen Spiegel vor und sagte: das bist du! Aber er leugnete. Das war nicht er; das war nur sein böser Gegenspieler. Er selbst hatte allezeit und in Allem das Beste gewollt. Er hätte alle Menschen geliebt und alle Menschen hätten ihn lieben können, wenn sie nur alle jeweils das gewollt hätten, was er selber wollte. Aber alle waren böse zu ihm; um so böser, je mehr er sie liebte; am bösesten dieser Sohn, den er von allen Söhnen am meisten geliebt hatte. Er war der Böse schlechthin; nicht sein Spiegelbild. Der Spiegel mußte zerschlagen werden. Er mußte das andere Ich, das er nicht anerkennen wollte, um dieser verweigerten Anerkennung willen töten. Er mußte einen Selbstmord begehen, der ihn nicht traf. Und über die Tiefe, in die eine menschliche Kreatur so sich selber verlieren kann, müßte Gott im Himmel selber weinen. –

Mit großer Gelassenheit und Ruhe, mit der Sammlung dessen, der zum letzten und entscheidenden Schlage ausholt, trifft Herodes jetzt seine Maßnahmen. Vorerst werden die Nebendinge erledigt. 320 Die zweite Mariamne wird entlassen. Ihr Sohn wird aus dem Testament gestrichen. Der Vater Simon ben Boëthos wird seines Amtes als Hoherpriester enthoben. Die Gattin Doris, die aktive Teilnehmerin am vorbereiteten Mord, wird nicht etwa hingerichtet, wie es die erste Mariamne um nur eines Verdachtes willen wurde, sondern bekommt nur eine Strafe, in der sich seine stete und grundsätzliche Rücksicht auf den idumäischen Zweig seiner Familie deutlich bekundet: sie wird energisch zur Rede gestellt, wird ein zweites Mal in die Provinz geschickt . . . und ihr wird der ganze Schmuck abgenommen, mit dem sie sich zu behängen pflegte. Mit der Gattin des Pheroras und den übrigen Frauen ihrer Familie schließt er Frieden. Er will gänzlich frei und unbelastet für das Entscheidende sein: für die Abrechnung mit Antipater.

Um abrechnen zu können, mußte er seiner erst habhaft werden; das heißt: er mußte ihn von Rom nach Jerusalem locken. Er tat es mit der gleichen Verstellungskunst, mit der sein Sohn ihn bislang getäuscht hatte. Er bat ihn herzlich, sehr bald zu kommen, damit nicht etwa während der langen Abwesenheit ihm, dem Vater, etwas zustoße. Da zu Antipater unbestimmte Nachrichten gedrungen waren, als ob seine Mutter vom Hofe entfernt worden sei, beruhigt ihn Herodes: wenn er erst wieder da sei, werde er, Herodes, von den Vorwürfen gegen die Mutter keinerlei Notiz mehr nehmen. Nur bald kommen möge er. So machte Antipater sich zur Heimreise bereit. Unterwegs erfuhr er den Tod des Pheroras. Das kam ihm sehr ungelegen, weil jetzt der eigentliche Täter 321 entfiel und ein neuer gesucht werden mußte, der für alle Fälle die Mutter unterstützen konnte. Aber im weiteren Verlauf der Reise kamen wieder unbestimmte Nachrichten zu ihm, die wieder von der Verstoßung seiner Mutter berichteten. Er wurde unsicher. Er überlegte mit seinen Freunden, was zu tun sei. Einige rieten, bis zur Aufklärung aller Zweifel im Ausland zu bleiben. Andere rieten, schnellstens nach Judäa zu fahren, einmal, um durch zu langes Zögern keinen Verdacht zu erregen, sodann, weil sich nur an Ort und Stelle alles übersehen und ordnen lasse. Antipater, im Vertrauen auf seine Kunst in der Behandlung des Vaters, entschloß sich für die beschleunigte Heimreise. Aber schon als er in Caesarea landete, wußte er, daß er sich falsch entschieden hatte. Niemand war da, um ihn, den Mitregenten und den König von morgen, festlich zu empfangen. Es waren nur Volksmassen da, die ihn stürmisch als den Mörder seiner Brüder beschimpften und ihm die gerechte Strafe dafür wünschten. Alte Freunde gingen ihm aus dem Wege. Er schritt durch eine feindselige und haßvolle Atmosphäre.

Für eine Flucht war es zu spät. Sehr beklommen setzte er die Reise nach Jerusalem fort. Er schmückte sich mit seinem Purpurgewand und betrat den Palast. Ihn selbst ließ die Wache eintreten; aber die Schar seiner Freunde, die ihn begleiten wollte, wurde hinausgedrängt. Da konnte Antipater über den Ernst der Situation keinen Zweifel mehr haben. Schon jetzt isoliert werden, bedeutete eine Gefahr, auf die man sich sogleich vorbereiten mußte. Er betrat den Raum des Vaters und wollte ihn mit der herkömmlichen 322 Herzlichkeit umarmen. Aber Herodes wehrte entsetzt ab. Er schrie ihm sofort das ganze Maß seiner Anklagen ins Gesicht: den Mord an den Brüdern und den geplanten Vatermord. Er gab ihm einen Tag Frist, seine Verteidigung vorzubereiten. Er hieß ihn am nächsten Tage wieder erscheinen. Dann werde Gericht über ihn gehalten werden.

Daß dieses Gericht so schnell zusammentreten konnte, beruhte auf dem günstigen Zufall, daß Varus, der damalige Statthalter von Syrien, sich gerade zur Besprechung der allgemeinen Lage in Jerusalem befand. So war die erforderliche römische Autorität vorhanden. Mit ihm zusammen führte Herodes selbst den Vorsitz, Ankläger und Richter in einer Person. Daneben fungierten noch Räte der beiden Vorsitzenden und Verwandte des Königs als Beisitzer. Als Zeugen ist von Salome bis zur letzten Sklavin alles aufgeboten, was bisher am Verfahren beteiligt war. Antipater will diese formale Ordnung von allem Anfang an durchbrechen. Er wirft sich vor seinem Vater nieder und beschwört ihn, keinen Verleumdungen Glauben zu schenken. Er will und kann sich in jeder Beziehung rechtfertigen. Aber Herodes besteht auf Ordnung, schon weil hier ein Vertreter Roms zugegen ist. Vor allem aber besteht er darauf, anklagen zu können; und noch weit mehr: klagen zu können; so zu klagen, wie er es sonst immer getan hat: als Opfer der menschlichen Bosheit. Antipater muß sich in die Mitte des Saales stellen, und nun bricht Herodes los: er hat von seinen Kindern nur Undank geerntet, am meisten von diesem da. Alles hat er für sie getan, und besonders diesem da hat er es an nichts fehlen lassen. 323 Er hat ihm nicht nur die Thronfolge versprochen, sondern ihm schon bei seinen Lebzeiten das Mitregiment eingeräumt. Vor allem aber hat er ihm Geld, sehr viel Geld gegeben. Er hatte ein gutes und regelmäßiges Einkommen, und noch jetzt für die Reise nach Rom hat er ihm 300 Talente gegeben. (Geld: das bedeutet für Herodes so viel wie ein Stück seiner Seele.) Er hat ungeheuer viel Geld verschleudert, allein 200 Talente angeblich für den Prozeß mit Sylläus. Aber in Wirklichkeit hat er sich dafür Menschen gekauft, die falsche Briefe aus Rom gegen die dort weilenden Prinzen verfaßt haben. Zum Lohn für alle empfangene Güte will er sich jetzt durch ein Verbrechen des Thrones bemächtigen. Und er, Herodes, hat geglaubt, daß die Hasmonäerprinzen sich mit solchen Plänen getragen hätten. Aber er ist unschuldig an alle dem. Er hat das alles garnicht gewollt. Alles hat Antipater auf dem Gewissen. Sein eigenes ist ganz rein. Er hat nur etwas getan, was Antipater ihm gesagt, ihm geraten, ihm zugetragen hat. Jetzt, wo Antipater als Vatermörder vor ihm steht, weiß er, daß die jungen Prinzen unschuldig sind. Und in dem Augenblick, da er das ausspricht, überfällt ihn die heidnische Furcht, die in den barbarischen Zorn umschlägt: »Aber da nun einmal ein böser Dämon dabei ist, mein Haus zu veröden und meine liebsten Kinder gegen mich aufzuhetzen, so kann ich nur die Ungerechtigkeit meines Geschickes beklagen und meine Vereinsamung beweinen. Aber niemand, der nach meinem Blute dürstet, soll mir entschlüpfen, und sollte der Schuldbeweis auch die Runde durch alle meine Kinder machen.« 324

Hier muß Herodes sein Plädoyer unterbrechen. Die Erregung, die Nachwirkungen der ausgestandenen Angst, das Mitleid mit sich selbst, das dunkle Anpochen von Schuld und Verbrechen, die sich nicht wirksam beiseite lügen lassen, überrennen ihn derartig, daß er zu weinen beginnt. Vor Weinen kann er nicht weiter sprechen. Er bittet seinen Historiker Nikolaus von Damaskus, die Rede für ihn fortzusetzen. Aber Antipater fährt jetzt dazwischen. Situationen, in denen Herodes von seiner eigenen Rührung überschwemmt wird, sind immer außerordentlich günstig. Darum muß jetzt zugepackt werden, ehe der wortreiche Historiker, der von amtswegen die Meinungen und die Gefühle des Herodes zum Ausdruck bringt, ihn wieder in das gefährliche Extrem, in die Aufwallung des gerechten Zornes treibt. Für Antipater kommt alles darauf an, Zeit zu gewinnen, eine günstige Allgemeinstimmung zu schaffen, eine Vernehmung der Zeugen zu verhindern, kurz: über diesen ganzen gefährlichen Gerichtsapparat hinweg und durch den Appell an die Güte des Vaters und durch das Hervorkehren seiner eigenen treuen Sohnesliebe zu einer Versöhnung zu kommen. Die Logik dessen, was er sagt, entstammt dabei nicht den Gesetzen des vernünftigen Denkens, sondern ist auf die Denkweise eines Herodes haarscharf abgestimmt. Er zählt mit allen Einzelheiten die vielen Wohltaten auf, die der König ihm erwiesen hat. Nicht etwa, um damit sein jetziges Verhalten zu kontrastieren, sondern um zu beweisen, daß er diese Wohltaten nicht empfangen haben würde, wenn er sie sich nicht durch ein entsprechendes Verhalten 325 verdient hätte. Jetzt kann er den Schein seines bisherigen Tuns für sich in Anspruch nehmen und geltend machen, daß er alles getan hat, was der Vater von ihm wollte; daß er ihn sogar von den Mordplänen der Halbbrüder befreit hat. Und wie wird einer, der so etwas tut, jetzt selber solche Pläne ausführen wollen? Wie wird einer, dem der Thron sicher ist, auch nur die Hand zu rühren brauchen, um ihn zu bekommen? Schon jetzt besitzt er so gut wie die Hälfte des Thrones; wie wird er da, das Schicksal der unglücklichen Prinzen vor Augen, in ihre Fußtapfen treten wollen, um vor der Zeit das Ganze zu begehren? Ihm selbst war das schmerzliche Amt zugefallen, der Vollstrecker des Todesurteils zu sein, und dadurch, daß er dieses harte Amt auf sich genommen hat, bewies er wohl zur Genüge, wie tief er an seinem Vater hängt. Und so wie er sich in Jerusalem benahm, hat er sich auch in Rom benommen. Gewiß: Leute, die seine Abwesenheit ausgenutzt haben, wollen es anders wissen. Aber man soll nur in Rom Ermittlungen anstellen, dann wird sich die Wahrheit zeigen. Was hier gegen ihn als Zeugen auftreten kann, hat nur unter dem Druck der Folter Aussagen gemacht. Die Folter aber ist verwerflich, in jeder Beziehung. Foltern darf man nicht; das ergibt keine Wahrheiten. Er sagt das nicht etwa, weil er Angst vor der Folter hat. Im Gegenteil: im Vollgefühl seiner Unschuld ist er bereit, sich der Folter zu unterziehen, damit die Wahrheit geklärt werde.

Gewiß muß zu der etwas sprunghaften und wenig soliden Art der Argumentation ein Erhebliches durch Sprache und Vortrag und Geste 326 hinzugekommen sein, um den Eindruck dieser Rede zu rechtfertigen. Und dieser Eindruck ist stark. Schon die Tränen, die ihm reich über das Gesicht strömen, rühren an das Gefühl. Wenn man nichts hört als diese Rede, kann man ihm das Mitleid nicht versagen. Auch Herodes kämpft schwer mit seiner Rührung. Nur ein einziger bleibt völlig ungerührt: der Historiker Nikolaus. Für ihn geschieht hier ein Stück Historie, nicht ein Stück gefühlsbeladener Familiengeschichte. Er hat den Auftrag bekommen, in diesem Stück Historie als Sprecher des Herodes zu fungieren. Er hat zunächst einmal diesen Auftrag auszuführen. Zunächst einmal muß das Plädoyer gehalten und in einem der 114 Bücher seiner Geschichte niedergelegt werden. Dann mag sich der Rest ergeben. Immerhin trägt er der Situation insoweit Rechnung, als er Antipaters Gefühlspathos ein anderes Pathos entgegenhält: das der strengen Sittlichkeit und Rechtlichkeit. Dabei unterläuft es ihm, daß er gestrenger ist als sein Auftraggeber. Der hat anerkannt, daß das Urteil gegen die Hasmonäersöhne ungerecht war. Nikolaus hat es aber schon anders notiert, in der amtlichen Version, und er duldet keine nachträglichen Korrekturen. Er bleibt bei der historischen, nicht bei der menschlichen Fassung der Vorgänge: das Urteil besteht zu Recht. Es läßt sich von hier aus auch besser der Kontrast aufzeigen, daß jene durch ihre Jugend und durch schlechte Ratgeber verführt waren, während dieser da, Antipater, nur aus Ruchlosigkeit gehandelt hat. Wie sich die Tat im Sachlichen darstellt, legt er an Hand der Zeugenaussagen in allen Einzelheiten dar. Und wie sich das bisherige 327 Verhalten generell darstellt, zeigt er ebenfalls mit präzisen Worten, wobei die Frage aufgeworfen werden könnte, warum er, der ständige Beobachter aller Vorgänge, jetzt plötzlich Dinge weiß, die das ganze Volk weiß und die er schon längst hätte wissen müssen, wenn er sie hätte wissen wollen. Er sagt: »Du bist es gewesen, der die Pläne deiner Brüder zuerst zur Anzeige gebracht hat. Du hast die Beweismittel gegen sie zusammengetragen und nach Fällung des Urteils ihre Hinrichtung betrieben. Wenn wir dir nun auch gerade keinen Vorwurf daraus machen wollen, daß dein Haß gegen sie so unersättlich gewesen ist, so müssen wir uns doch über dich wundern, daß du nun auf einmal in ihre Fußtapfen getreten bist; und wir können jetzt sehen, daß du damals durchaus nicht das Wohl deines Vaters im Auge hattest, sondern nur das Verderben deiner Brüder. Durch ihre Verfolgung wolltest du den Schein des liebenden Sohnes erwecken, um desto verwegener und tatkräftiger gegen den Vater vorgehen zu können. Auch hast du deine Brüder auf Grund der von dir erhobenen Beschuldigungen aus dem Wege geräumt, ohne Mitwisser und Helfer anzugeben, sodaß die allgemeine Überzeugung dahin geht, du habest vor der Anklage dich mit ihnen ins Einvernehmen gesetzt, um die Früchte des Vatermordes allein zu genießen . . . Und noch obendrein hast du deinen Vater umbringen wollen, um nicht der Verleumdung deiner Brüder überführt zu werden . . . So wolltest du allerdings keinen gewöhnlichen Vatermord begehen, sondern einen, wie er seit Menschengedenken nicht erhört wurde . . . Du begnügst dich nicht damit, deine 328 Mutter in deine verbrecherischen Anschläge zu verwickeln, sondern zerstörtest auch das gute Einvernehmen zwischen deinen Brüdern . . . Du bist gefährlicher als die giftigste Schlange, da du nicht nur dein Gift gegen deine nächsten Blutsverwandten und deinen größten Wohltäter entläßt, sondern auch im Übermaß deiner Bosheit bewaffnete Scharen und alle möglichen Ränke von Männern und Weibern gegen einen schwachen Greis aufbotest . . . Jetzt wagst du noch, hier zu erscheinen, um der Wahrheit zu trotzen? . . . Traust du denn deiner Verwegenheit und Unverschämtheit so viel zu, daß du dich der Folter unterwerfen willst?«

Damit ist ein gründlicher Umschwung der Stimmung erzielt. Nikolaus kann das als Erfolg buchen und kann jetzt Varus in ganz direkter Form beeinflussen. »Wie lange denn, Varus, willst du den König noch den Verunglimpfungen seiner Verwandten aussetzen? Wann endlich gedenkst du dieses Ungeheuer von einem Menschen zu vertilgen? . . . Wahrlich, wer dagegen nicht mit Strenge einschreitet, begeht selbst ein Verbrechen gegen die Natur.« Und dieser rethorische Erfolg zeitigt alsbald noch einen zweiten, sehr realen. Es stellt sich heraus, daß von den Intrigen des Antipater weit mehr bekannt geworden ist, als er selber annahm. Jetzt, wo seine Situation eindeutig geworden ist und keine Wahrscheinlichkeit mehr besteht, daß er je wird schaden können, entfällt auch die Furcht, die bisher vielen den Mund verschlossen hat. Nicht dem Herodes zuliebe, sondern um das ihrige zur Beseitigung und Unschädlichmachung des Antipater beizutragen, melden 329 sich jetzt freiwillig Zeugen, die Dinge zu sagen wissen, vor denen selbst die Beredsamkeit eines Antipater verstummen muß.

Varus fordert den Angeklagten auf, sich zu den Beschuldigungen zu äußern. Er wünscht sehr, schon um des Vaters willen, von ihm Beweise seiner Unschuld zu bekommen; Beweise, nicht nur Versicherungen. Aber Antipater hat nichts anderes zu geben; höchsten, daß er sich zu Boden werfen kann, um Gott und alle Menschen als Zeugen anzurufen, daß er unschuldig sei. Aber dem Römer genügt die Berufung auf Gott keineswegs. Er will zu Recht Beweise, und da er sie nicht bekommt, führt er selber einen dramatischen Schlußbeweis: er läßt das Gift bringen, das Antipater verschafft hat und läßt einen zu Tode verurteilten Verbrecher davon trinken. Der bricht sofort tot zusammen. Nach dieser eindrucksvollen Demonstration erhebt Varus sich stumm und verläßt die Sitzung. Damit hat er seine abschließende Meinung zu erkennen gegeben und das Schicksal des Antipater besiegelt. Vor seiner Abreise hat er noch eine Besprechung mit Herodes. Der Inhalt ist nicht bekannt geworden. Im Ergebnis wird jedenfalls Antipater in Ketten gelegt und ins Gefängnis gebracht. Sonst darf ihm einstweilen nichts geschehen. Wieder muß Herodes, zum letzten Male jetzt, Botschaft nach Rom geben; wieder muß er das Elend und die Zerrüttung der eigenen Familie dort preisgeben, muß eine Klageschrift an Augustus, seinen Herrn übersenden und von ihm Gewährung oder Verweigerung seines Richteramtes in Empfang nehmen. Er war schon im Begriff, Antipater selbst nach Rom zu schicken, damit er 330 sich dort persönlich verantworte. Das geheime Motiv dieser Absicht, sich von der Last des Urteils und der Urteilsvollstreckung zu befreien, wird aber durchkreuzt von einer anderen Erwägung, zu der er sich nur ungerne bekannt haben mag: Antipater kann in Rom Freunde und Helfer finden, da er ja so geschickt ist in der Behandlung von Menschen, und diese letzte Ausflucht kann und will er ihm nicht gönnen. Sein Zorn wird immer aufs neue gereizt, denn es treten immer neue Dinge zutage. Darunter ist ein raffiniert eingeleitetes Komplott gegen Salome, die durch eine Kette gefälschter Briefe aus Ägypten einer Verschwörung gegen Herodes bezichtigt wird. So gedachte Antipater seiner Tante ihr Verhalten gegen ihn und Pheroras heimzuzahlen. Er hatte dazu keine Gelegenheit mehr, obgleich er bis zur letzten Sekunde mit der gleichen Lebenszähigkeit, die seinem Vater eigen war, darauf hoffte.

Solche Hoffnung war nicht ganz unbegründet. Alter, Erregung und Krankheit hatten die Lebenskraft des Herodes endlich gebrochen. Er lebte nur noch aus Trotz, Haß und Verbissenheit weiter. Zu heilen war er nicht mehr. Das wußte er aber nur in den schwersten Augenblicken. Darum bereitete er sich nur widerstrebend auf den Tod vor. Noch einmal setzte er ein Testament auf. Hierin wird Antipas, der Sohn aus der Ehe mit der Samaritanerin Malthake, als Thronerbe eingesetzt. Die übrigen Kinder und Verwandten bekommen Legate, Leibrenten und Grundbesitz. Seiner Schwester Salome wird ein bedeutendes Vermögen zugewiesen. Für Augustus wird eine Schenkung von 1000 Talenten und für seine 331 Gattin Julia eine solche von 500 Talenten eingesetzt, ein Dank für die Güte, mit der Rom ihm das Leben ermöglicht hat. Rom allein hat ihm dieses Leben ermöglicht. Daß es ihm Judäa durch das Übermaß seiner Leistungen ermöglicht hat, kommt hier nicht in Betracht. Das war keine freiwillige Leistung. Das war aus Zwang gegeben, aus einem Haß, von dem Herodes in dieser Stunde des vorbereitenden Abschieds weiß, daß er bis heute noch nicht an Kraft nachgelassen hat. Schon ist – während der 35 Jahre seiner Regierung – eine neue Generation herangewachsen, die nicht mehr erlebt hat, wie er König wurde. Und doch ist in diese zweite Generation der Haß der Väter hineingeerbt worden. Und doch warten jahrzehntelang Menschen auf seinen Tod, durch alle Zeiten unerschütterlich auf das eine gerichtet: daß er stirbt, daß er zerbricht, daß er nicht mehr da ist. Das weiß er. Damit muß er täglich leben. Wenn einer das Haupt vor ihm beugt, arbeitet vielleicht hinter seiner Stirn der Gedanke: wann wirst du endlich sterben?

Nicht einmal mit seinem Greisentum und seiner unheilbaren Krankheit haben sie Mitleid. Im Gegenteil. Erfahrene Lehrer des Gesetzes, die Erzieher der Jugend, die da in Treue zum Gesetz und im Haß gegen Rom und Herodes heranwächst, zeigen auf ihn, den König, als Beispiel; als Beispiel dafür, wie ein Mann mit Unglück und Krankheit gestraft wird, der sich anmaßt, das Gesetz des Volkes mit Füßen zu treten. An seinen Leiden wird ihnen die Strafe Gottes gezeigt. Das ist eine wunderbare und zugleich erregende Bestätigung. Sie begreifen, was ihre Lehrer ihnen 332 sagen: daß sie den Schutz und die Wiederherstellung des alten Volksgesetzes, dieses Gesinnungsträgers, nicht aus den Augen lassen dürfen; daß sie alles, sogar ihr Leben dafür einsetzen müssen, um es zu erhalten. Woran die Alten in einem Leben voll Unterdrückung und Quälerei müde geworden sind: am aktiven Widerstand, das beginnt in der Jugend als Erbschaft neu zu wachsen. Der Drang nach diesem aktiven Widerstand ist eines Tages so weit, daß er nach einer lebendigen Demonstration verlangt. Es wird eine Tat von symbolhafter Bedeutung daraus. Sie richtet sich gegen den großen Adler, den Herodes über dem Tempeltor hat anbringen lassen. Sie enthält alles, was hier an Widerstand ausgedrückt werden soll: den Kampf gegen Rom, gegen Herodes, gegen das Bild an sich, gegen das Fremde als solches. Sie erfolgt am Lebensabend des Königs, sodaß er vor seinem endgültigen Verschwinden noch das Wissen mit hinübernehmen kann, daß hier nie verziehen und nie verzichtet wurde.

In die fieberhafte Stimmung dieser Jugend schlägt plötzlich die Nachricht, Herodes sei gestorben. Sie stürzen aus den Lehrhäusern und jagen zum Tempel hinauf. Als ihre Führer gehen zwei geachtete Männer ihnen voran: Juda ben Sariphai und Matthia ben Margeloth. Sie decken mit ihrer Autorität das, was hier geschieht. Einige der jungen Menschen steigen auf das Dach des Tempels, lassen sich von dort an starken Seilen herunter und stürzen den Adler von seiner Verankerung. Die anderen fallen darüber her und zertrümmern ihn mit Axthieben. Es entsteht ein Tumult. Der Kommandant des Palastes, aufs höchste 333 beunruhigt, rückt mit einer Abteilung Soldaten aus. Die Menge weicht zurück, aber die beiden Führer und vierzig der Jünglinge weichen nicht. Sie werden gefangen genommen und zum König geführt, zum immer noch lebenden König Herodes.

Er hat sofort die Bedeutung dessen verstanden, was da geschehen ist; er kann es nur nicht gleich formulieren; richtiger: er darf es nicht, weil es ein Eingeständnis wäre. Er müßte sich dann eingestehen, daß hier wieder einmal die Welt, die er wohl hat unterdrücken, aber nie hat bezwingen können, ihm ihre Andersartigkeit entgegenhält, ihn damit abermals verneint, auslöscht, mit verächtlicher Gebärde beiseite schiebt; nach mehr als dreißig Jahren Königtum, am Ende eines Lebens, das unendlich Vieles, aber nie das Letzte hergegeben hat. Diese Niederlage kann er sich nicht selbst bereiten. Darum muß sein aufgewühlter Zorn eine entsprechende Begründung finden. Das ist nicht sehr leicht. Im Augenblick findet er nur das nächste und platteste Motiv seiner ungeheuren Erregung: sie haben sein Weihgeschenk zerstört, das er dem Tempel und damit dem jüdischen Gott gegeben hat. Erst später, wie er den Gedanken fortspinnt, kommt er auf die Idee, es könne sich hier, bei der Zerstörung des für Rom gemeinten Bildwerkes, um eine Tempelschändung handeln. Aber je unsicherer seine innere Position ist, desto gewaltiger ist das moralische Übergewicht, mit dem die Täter ihm begegnen; so wie es immer war, wenn er nicht diesem oder jenem eingeschüchterten Einzelnen begegnete, sondern der Masse in ihren anonymen Vertretern; so wie es damals bei der Verschwörung der zehn 334 Jerusalemer Bürger gewesen ist. Sie gestehen die Tat ohne weiteres ein. Sie war vorbereitet und geplant, und ist so ausgeführt worden, wie sie geplant worden ist. Und wer sie dazu angestiftet habe? Sie zucken die Schultern. Hier gibt es keine Anstiftung. Hier gibt es nur ein ewiges Gebot: das Gesetz der Väter. Es verpflichtet sie, wo es verletzt wird, sogar dazu, die Anordnungen des Königs zu mißachten. Der Adler war eine Gesetzesverletzung. Lange genug hat er über dem Tempeltor geschwebt. Er mußte verschwinden; und er ist verschwunden. Herodes höhnt, daß es ihnen vielleicht sogar Freude mache, in den Tod zu gehen. Sie stimmen ihm gelassen zu: ja, denn sie sind nicht Verbrecher, sondern Menschen, die im Gehorsam gegen Gott ihr Schicksal auf sich nehmen; und das ist ein großer Lohn. Das bedeutet den Anteil an der kommenden Welt.

Herodes hätte sie sofort umbringen lassen können, so wie er Menschen aus geringerem Anlaß hat umbringen lassen. Aber er wagt es nicht. Das Volk steht hinter ihnen. Er muß sich schon zu einem regulären Prozeß entschließen, um für alle Fälle Deckung zu haben. Er wagt auch nicht, diesen Prozeß in Jerusalem zu führen, wo die großen Massen zu nahe sind. Er läßt alle Verhafteten nach Jericho bringen. Dorthin beschied er auch eine Reihe von Ältesten aus Jerusalem, die ihm – ob sie wollten oder nicht – dem Scheine nach als Richter zu dienen hatten. Die Verhandlung fand im Theater statt. Die Aussicht, hier noch einmal einen Schlag gegen den unterirdischen Haß der Jahrzehnte führen zu können, wirkt auf Herodes trotz seiner schweren Krankheit wie ein 335 Stimulans. Zwar kann er nicht aufstehen, geschweige denn gehen; aber was hier geschieht, ist ihm wichtig genug, daß er sich auf einer Bahre ins Theater bringen läßt und, halb aufgestützt, ein faulender Leib, ein vergifteter und zerrütteter Organismus, mit dem ganzen Jähzorn, der ganzen barbarischen Ichsucht, dem ganzen kranken Größenwahn seines Lebens klagt und anklagt. Damit verrät er, wie persönlich er sich getroffen fühlt. Er muß sich und den Anderen noch einmal bestätigen, was alles er für das Volk getan hat, mit welchen Mühen und Sorgen er es groß und glücklich gemacht hat. Auf seine eigenen Kosten, aus seinen eigenen privaten Mitteln, hat er etwas geschaffen, was die Hasmonäer während ihrer ganzen Regierungszeit nicht haben schaffen können: er hat ihnen einen prächtigen Tempel gebaut. Er hat sich vorgestellt, wenn er einmal gestorben wäre, würde das Volk ihm Dank dafür wissen. Aber nein: noch während er lebt, beleidigt man ihn und sein Werk, ihn in seinem Werke. Von diesem Werke hat man sein Weihgeschenk heruntergerissen. Das ist Tempelschändung. Ja, das ist noch mehr: das ist Gotteslästerung. Jetzt sieht er es deutlich: das ist ja Gotteslästerung! Es hat nur den Anschein, als ob man ihn persönlich damit treffen wollte, als ob es eine private Beleidigung sei. Es ist und bleibt Gotteslästerung. Und diese Gotteslästerung muß mit der ganzen Strenge des jüdischen Gesetzes bestraft werden; nach eben jenem Gesetz der Väter, mit dem die Schuldigen ihm geantwortet und ihn verhöhnt haben.

Wie alle anderen Gerichtsverfahren, die Herodes durchführen ließ, war auch dieses nur eine 336 Komödie. Daß immer sein Wille zu geschehen habe, stand von vornherein fest. Der Täter war nicht minder bedroht wie der Richter, wenn er nicht helfen wollte, den von Herodes schon vorher bestimmten Ausgang herbeizuführen. Und so konnten auch diese Richter nur erklären, daß sie die Tat mißbilligten und daß die Täter bestraft werden müßten. Herodes tat es in abgestufter Form, ohne sich im übrigen um das »Gesetz der Väter« zu kümmern. Juda ben Sariphai, Matthia ben Margeloth und diejenigen, die das Dach des Tempels erstiegen hatten, wurden lebendig verbrannt. Die übrigen wurden nur einfach hingerichtet. Daß in der Nacht der Hinrichtung eine Mondfinsternis stattfand, war dem Volke ein Zeichen, daß die strafende Hand Gottes schon über dem Täter ausgestreckt war.

Diese Aktion war eine Entspannung für Herodes gewesen. Aber sie hielt nicht lange vor. Die Krankheit trat in ihr letztes, widerwärtiges Stadium. Es scheint, als habe er neben anderen Gebrechlichkeiten an einem Leberkrebs gelitten. Die Auswirkungen einer Geschlechtskrankheit zerfraßen ihn. Er litt ungewöhnliche Qualen. Alle Kunst der Ärzte wurde aufgeboten. Jedes Heilmittel wurde versucht, denn Herodes selbst glaubte noch nicht an seinen Tod. Das Leben hatte ihm zu viel von dem gegeben, was er zu genießen fähig war; und wenn es schon jetzt abgeschlossen werden mußte, so durfte es nicht geschehen, ehe die eine große Frage bereinigt war, ohne die zu sterben schlechthin unmöglich war: die Abrechnung mit Antipater. Aber ihm waren die Hände gebunden, so lange nicht die Boten aus Rom zurückkamen 337 und die Entscheidung des Augustus brachten. Jeden Tag wartete er auf Nachricht. Jeden Tag machte die Krankheit ihre zersetzenden und auflösenden Fortschritte. Und jeden Tag ließ Antipater sich im Gefängnis berichten, wie weit die Krankheit des Vaters gediehen sei. In der Hoffnung auf die Boten aus Rom und in der Hoffnung auf die Krankheit des Herodes machten Vater und Sohn einen Wettlauf mit dem Tode.

Aber die Boten kamen nicht. Die Krankheit marschierte. Herodes versuchte ein Letztes. Er ließ sich zu den warmen Schwefelquellen von Kallirrhoe, dem heutigen Zerka Ma'in bringen, um dort an den Bädern zu gesunden. Es nutzte ein wenig. Die Ärzte rieten ihm als Fortsetzung der Kur zu Bädern in warmem Öl. Als er das erste Mal hineingelegt wurde, verfiel er in Zuckungen wie ein Sterbender. Er spürte, daß es zu Ende ging. Krämpfe packten ihn und schüttelten ihn. Er bereitete sich auf abschließende Handlungen vor. Er ließ den Soldaten seiner Leibwache und ihren Führern Geldbeträge auszahlen. Auch seine Freunde beschenkte er, Vorauszahlungen auf ein gutes Angedenken. Dann ließ er sich nach Jericho bringen. Dort befiel ihn die »schwarze Galle«, das heißt: eine hochgradige Gelbsucht. Die Ärzte ließen die Hände sinken. Hier konnten sie nichts mehr tun. Herodes verstand das. Gleichwohl durfte er noch nicht sterben. Er mußte dieses zerrüttete Dasein noch über die Zeit hinauszwingen, da die Boten aus Rom kamen. Bis zum Vollzug der letzten Rache mußte dieser verfallende Körper noch gezwungen werden, über der Erde zu bleiben. Dann mochte er sterben. Aber dieses 338 Sterben war dennoch schon in der Vorstellung mit einer ungeheuren Qual belastet: mit dem Gedanken, wie die Welt seinen Tod aufnehmen würde. Würde sie, da ein so großer und mächtiger König hinging, in Klagen und Weinen ausbrechen? Konnte er sich, um sich das Sterben zu erleichtern, wirklich in dem Gedanken sonnen, es werde eine Lücke nach ihm zurückbleiben, eine Leere, die von den Menschen schmerzlich empfunden würde? Er wußte: dieser und jener, der zu seinen Lebzeiten viele Geschenke von ihm bekommen hatte, würde neben dem offiziellen Ausdruck der Trauer ein aufrichtiges Bedauern darüber verspüren, daß diese einträgliche Quelle jetzt versiegt sei. Dieser und jener – und es waren viel mehr als die Geldempfänger – würden noch über seinen Tod hinaus stumm sein vor Schrecken und Entsetzen und dem Schicksal nicht trauen, das ihnen erlaubte, jetzt frei zu atmen. Hier und da würde auch eine Stadt um ihn trauern, der er Bauten oder Geld geschenkt hatte; je weiter von Jerusalem entfernt, desto aufrichtiger vielleicht das Bedauern über den Tod des Mäzen. Aber in Jerusalem, im Lande selbst – das war ihm eben jetzt von neuem bewiesen worden – würden Sturzwellen von Freude und Erleichterung das Land durchziehen, und der Tag seines Tode wäre für alle, vom Greis bis zum Kind, das eben begreifen gelernt hat, ein großes, wenn auch schweres und sehr ernstes Fest. Das war die Endsumme seines Lebens.

Er beschloß, diese Summe noch über seinen Tod hinaus zu korrigieren. Daß seine Verwandten ihm ein prunkhaftes Leichenbegängnis bereiten 339 würden, stand ohne weiteres fest. Aber das allein genügte ihm nicht. Er wollte die Gewißheit haben, daß Trauer und Klage über das ganze Land hin schallten, wenn auch nicht um seines Todes willen, so doch wenigstens anläßlich seines Todes. Er ließ aus dem ganzen Lande und den verschiedensten Ortschaften die angesehensten und bekanntesten Männer nach Jericho kommen. Dort schloß er sie in der Rennbahn ein. Dann ließ er Salome kommen. Unter Stöhnen und Ächzen gab er ihr einen Auftrag. Sie solle für ein würdiges Leichenbegängnis sorgen; für eines, wie es so bald kein König wieder haben würde. Und wenn sie die Nachricht bekomme, daß er nicht mehr am Leben sei, solle sie Soldaten um die Rennbahn stellen, ohne sie aber vorher von seinem Tode zu verständigen. Denn es war ihm selbst zweifelhaft, ob sie dann noch, wenn sein Befehl nicht mehr galt und der Widerstand dagegen nicht der Todesstrafe gleichkam, tun würden, was sie zu tun bestimmt waren: alle Juden, die dort eingeschlossen waren, mit Pfeilschüssen zu töten. Das würde dann, war Herodes überzeugt, durch das ganze Land hin eine laute und würdige Totenklage ergeben. Sie möge diesen seinen letzten Willen getreu erfüllen. Er beschwor sie bei ihrer steten schwesterlichen Liebe, er beschwor sie bei ihrem Glauben an Gott, ihm diese letzte Ehrung zu verschaffen. Salome versprach es, um es dann, in einer letzten Anwandlung von Scham und Entsetzen, nicht zu erfüllen.

Nachdem er diese Vorsorge getroffen hatte, kamen auch endlich, endlich die lange erwarteten Boten aus Rom. Sie brachten günstige 340 Nachrichten. Augustus war mit allem einverstanden, was Herodes unternehmen würde. Er konnte, wenn er wollte, den Sohn töten lassen. Es war ihm aber auch ausdrücklich anheim gegeben, ihn milder zu bestrafen, ihn etwa nur in die Verbannung zu schicken. Aber das stand für Herodes nicht in Frage. Diese letzte große Enttäuschung seines Lebens mußte verschwinden, und zwar noch ehe er selbst die Augen schloß. Daß das geschehen würde, gab ihm für eine Weile Kraft und neuen Mut. Damit ließ sich noch einige Augenblicke leben: das Leben des Schuldigen in der Hand zu halten und dem Schicksal zu vergelten, was es ihm hatte bereiten wollen. Diese letzte Genugtuung seines zerflackernden Lebens wollte er noch auskosten. Bis jetzt war es ein Wettlauf mit dem Tode gewesen. Aber jetzt hatte er einen Vorsprung. Er fühlte, wie kurz er war. Schauer von Schmerzen jagen durch seinen Körper, daß er es nicht mehr erträgt. Sie nehmen so überhand, daß er alles andere darüber vergißt und mit diesen Schmerzen und mit sich selbst ein Ende machen will. Er läßt sich einen Apfel geben und ein Messer, um ihn zu schälen. Er sieht sich um, ob niemand ihn beobachtet. Dann hebt er das Messer, um es sich in die Brust zu stoßen. Aber das Schicksal hat ihm einen Wächter auf den Weg gestellt, damit ihm dieser Gnadenstoß von eigener Hand nicht zuteil werde. Ein Vetter, der zufällig in die Nähe kommt, kann im letzten Augenblick seinen Arm ergreifen und den Stoß abwenden.

Geschrei und Tumult durchziehen den Palast. Verwirrung und Aufregung verbreiten sich nach allen Seiten. Es klingt, als beweine man einen 341 Toten. Antipater hört es in seinem Gefängnis. Das ist Musik für seine Ohren. Das ist Hoffnung. Nun muß man sofort handeln. Schon läßt er den Aufseher kommen, verspricht ihm für jetzt und später goldene Berge, wenn er ihn nur jetzt, in dieser Sekunde noch in Freiheit setzen wird. Es ist mit dieser einen Sekunde alles zu gewinnen. Vielleicht ist er in diesem Augenblick mit dem Recht der Erbfolge schon König. Aber der Kerkermeister weiß es besser. Herodes lebt noch, ist also noch zu fürchten, und folglich muß man ihm Nachricht geben, daß der Sohn die Freiheit wünscht. Er tut es. Herodes hat noch die Kraft, zu verstehen, daß er beinahe seinen kostbaren Vorsprung verspielt hätte. Um ein geringes wäre durch voreilige Verzweiflung die große Sekunde der Genugtuung versäumt worden. Jetzt läßt er sie eintreten. Mit kreischender Stimme beordert er einige Trabanten, sofort in das Gefängnis zu gehen und Antipater umzubringen. Es geschieht. Der Leichnam wird ohne alle Ehrenbezeugungen, so wie man einen unbekannten Toten wegschafft, in Hyrkania begraben. Wie zu Augustus diese Nachricht kommt, sagt er: »Das ist ein Mensch, bei dem ein Schwein es besser hat als ein Sohn.« Der Vorsprung, der Herodes gegönnt ist, beträgt fünf Tage. Er hat noch Zeit, sich seines Sieges über das Schicksal zu freuen und noch einmal, in einer erneuten Abänderung seines Testamentes, seinen eigenen und freien Willen über sein Dasein hinaus zur Geltung zu bringen. Er zerreißt das Land. Er verfügt im Tode darüber wie im Leben: als sein privates Eigentum. Archelaus bekommt den Thron von Judäa. Antipas, der nach dem 342 vorausgegangenen Testament dieses Amt haben sollte, wird Tetrarch von Galiläa und Peräa. Sein Sohn Philippus erhält ebenfalls eine Tetrarchie, zu der Gaulonitis und Trachonitis gehört. Die Schenkungen der früheren Testamente werden erneuert und erweitert. Dann, wie nichts mehr zu tun ist und die Natur nichts mehr an Kraft hergeben will, überläßt er sich endlich dem Tode. Er stirbt nicht in Jerusalem, sondern da, wo der andere, zum fremden Volke hin gerichtete Tempel der Heiden steht: in Jericho. (Im Jahre 4 vor der heutigen Zeitrechnung.)

Während ein ganz tiefes Aufatmen der Erleichterung durch das Volk ging, ballten sich zugleich die Widerstände, die eine Generation lang unter gewaltigem Druck niedergehalten waren, zu einem fanatischen, ungeordneten Ausbruch. Aber sie warteten ab – sie kannten den Respekt vor der Majestät des Todes – bis das Leichenbegängnis und die vorgeschriebene siebentägige Trauer vorüber waren. Das Leichenbegängnis diente ihnen immerhin als eine Schaustellung, wie Judäa sie noch nicht gesehen hatte. Bei der Aufbahrung wurde der gesamte königliche Schmuck ausgestellt. Herodes lag auf einer Bahre, die mit Goldschmuck und Edelsteinen übersät war. Eine kostbare Decke aus Purpur war darüber gebreitet. Der Tote selbst war in ein purpurnes Gewand gehüllt. Man hatte ihm das Diadem auf die Stirne gedrückt und die Königskrone darüber befestigt. Auf der rechten Hand lag das Szepter, das Symbol seiner königlichen Macht. Vor dem Zuge marschierte das stehende Heer mit allen seinen Anführern, sämtlich in vollem Kriegsschmuck. Dann 343 kam die Bahre, umgeben von allen Verwandten. Dann kamen diejenigen, die ihn im Leben als seine Getreuen täglich vor seinem eigenen Volke beschützen mußten: seine Leibwache, die Thrakier, Germanen, Gallier, sämtlich in voller Kriegsrüstung. Dahinter marschierten fünfhundert Diener, die Schalen mit Räucherwerk und Spezereien trugen. So bewegte sich dieses feierliche Aufgebot von Jericho bis in die neu gegründete Stadt Herodium; ging einen Weg von 200 Stadien, von mehr als 30 000 Metern über das mißhandelte, verarmte, zerrissene und entwürdigte Land. In Herodium wurde er begraben.

Als die siebentägige Trauerzeit verstrichen war, ging Archelaus, als im Testament vorgesehener Nachfolger auf den Thron, zum Tempel hinauf, um sich dem Volke vorzustellen. Er tat es als der mögliche König von morgen, denn es blieb Rom überlassen, das Testament zu bestätigen oder abzuändern. Aber für alle Fälle wollte er sich schon jetzt die Sympathie des Volkes sichern, die sein Vater nie gehabt hatte. Das war unendlich schwer, denn nach Ablauf der sieben Tage, da das Volk auf höheren Befehl durch Stille seine Trauer um den Verlust dieses Königs zu bekunden hatte, brach mit spontaner Gewalt eine andere Trauer aus, die länger als sieben Tage hatte schweigen müssen; eine Trauer, die mit wirklicher Erschütterung durch die ganze Stadt hallte, da sie wirklich eigenes Schicksal umfaßte: die Wehklage über den Tod der vierzig Jünglinge und ihre Führer Juda ben Sariphai und Matthia ben Margeloth. Vierunddreißig Jahre herodianischer Regierungszeit, die zum Verstummen verdammte 344 Verzweiflung einer Generation, das zusammenbrechende Schicksal eines ganzen Volkes lebten sich in der einen Klage um ihre Märtyrer aus.

Archelaus hatte nicht das Format seines Vaters. Wenngleich der Gewalt durchaus nicht abgeneigt, kam ihm doch im Augenblick alles darauf an, zunächst beruhigend zu wirken. Die offizielle Begrüßung, die er erfuhr – man kannte ja nichts Gutes und nichts Böses von ihm – nahm er als Ausdruck des Vertrauens und der Liebe. Er fragte sich aber wohl insgeheim, woher diese Zuneigung komme und womit sie begründet sei. Vielleicht lag sie in der Hoffnung auf bessere Zustände. Darum gab er im Voraus ein generelles Versprechen ab: er werde sich bemühen, seine Untertanen milder zu behandeln, als sein Vater es getan habe. Wie weit das notwendig war, erfuhr er sogleich aus einer Reihe von Forderungen, die ihm entgegengerufen wurden: das Volk verlangte Verminderung der Abgaben, unter denen es nicht mehr leben konnte; es verlangte Aufhebung der Marktzölle, die jede Ware verteuerten; es verlangte endlich Freilassung der vielen Gefangenen, die in allen möglichen Kerkern des Landes lagen. Archelaus, von der Tatsache erschreckt, daß man ihn und seine bekundete Gesinnung beim Wort nahm, sagte alles zu, was man forderte. Aber damit war es nicht geschehen. Diese Wünsche kamen aus dem Nächstliegenden, aus dem Druck der täglichen Not. Es lagen noch andere Wünsche bereit; Wünsche, hinter denen eine Idee stand, eine Zielsetzung. Es wurde verlangt, daß der von Herodes eingesetzte Hohepriester sofort sein Amt verlasse. Man wollte hier die Reinheit wieder 345 herstellen. Man hatte mindestens noch nicht auf einen würdigen Vertreter der Theokratie verzichtet. Dann kamen andere Wünsche. Sie entstammten einem Gebirge von Gefühlen, die sich, durch allzu langen Druck verunstaltet, zu einer Forderung verdichteten, die kein moralisches Schwergewicht hatte und nur aus der Verzerrung der Situation zu begreifen ist: man verlangte Rache für den Tod der Gesetzeslehrer und der Jünglinge. Aber an wem Rache nehmen? Herodes war tot. Aber da sie aus der Tiefe ihrer Verzweiflung einen Ausgleich der Rache forderten, sollte sie an denen genommen werden, die sich von Herodes in Amt und Würden hatten einsetzen lassen, an seinen Freunden, die sich durch diese Freundschaft zu Mitschuldigen seiner Gesinnung machten.

Diese Forderung wurde vom Tempel aus erhoben. Zum ersten Male seit Jahren fand dort wieder eine Volksversammlung statt, die sich aus eigenem Recht einberufen hatte. Archelaus war besorgt, wie er sie beschwichtigen könne. Er war im Begriff, nach Rom zu reisen, um sich sein Königtum bestätigen zu lassen. Da mochte er keinen Herd der Unruhe zurücklassen. Er schickte, um zu vermitteln und zu beruhigen, einen Offizier in die Versammlung, der sagen sollte, man müsse abwarten, bis er von Rom zurück sei. Dann könne man über die Forderungen verhandeln. Aber die Versammlung schrie den Abgesandten schon beim ersten Worte nieder. Sie verlangte ihren Ausgleich für das Morden des Herodes. Sie erhielt Zulauf aus der ganzen Stadt. Das Passahfest stand bevor. Es war viel Volk vom Lande und von den anderen Städten in Jerusalem; und darunter 346 waren sehr viele, die nicht des Festes wegen gekommen waren, sondern in der Absicht, mit ihrer Gegenwart und mit ihrer Kraft den täglich mehr aufbrechenden Widerstand gegen das Regime und seine Fortsetzer zu unterstützen. Archelaus schickte neue Boten mit Vermittlungsvorschlägen. Sie wurden verjagt. Er wurde ängstlicher. Er ließ in aller Stille einen Tribunen mit einer Kohorte Soldaten in den Tempel einrücken. Das Volk wandte sich mit einer stürmischen Bewegung gegen sie und erschlug sie fast bis auf den letzten Mann mit Steinen. Dann wandte es sich, als sei nichts geschehen, wieder dem Opferdienst zu. Das war der offene Aufruhr. Archelaus begegnete ihm mit aller Gewalt, die ihm zur Verfügung stand. Er bot seine ganzen Truppen auf. Die Reiter umzingelten das ganze Tempelgebäude, damit kein neuer Zuzug eindringen könne. Die Fußsoldaten bekämpften drinnen die Meuterer. Sie wurden nach hartem Kampfe zersprengt. Dreitausend von ihnen ließen dabei ihr Leben. Die Judäer haben das dem Archelaus nicht vergessen. Sie haben später von Augustus verlangt, daß sie direkt der Provinz Syrien zugeteilt und einem römischen Landpfleger unterstellt würden. Lieber das ganz Fremde, zu dem man nur die Beziehung der äußeren Herrschaft hat, aber nach Innen tun kann, was man tun muß, als jene Art des Fremden, die in den eigenen Reihen hockt und eine Legitimation für sich in Anspruch nimmt, die ihr nicht zukommt. Das halb Fremde ist noch schlimmer als das Fremde, weil die Scheidung schwerer und damit die Vermischung entstellender ist.

Nun konnte Archelaus einstweilen nach Rom 347 reisen, um sein Königtum zu erstreiten. Er mußte es gegen den enterbten Antipas behaupten. Während Augustus ihn noch seines Wohlwollens versicherte, war der syrische Finanzverwalter des Augustus, Sabinus, schon von Caesarea aus nach Jerusalem geeilt, um die Schätze des Herodes in Verwahrung zu nehmen. Und dann traf auch schon ein Brief des Varus in Rom ein, daß in Judäa unmittelbar nach der Abreise des Archelaus ein Aufstand ausgebrochen sei. Er hatte ihn, so gut es ihm gelingen mochte, gedämpft. Dann war er nach Antiochia zurückgegangen. Zwar hatte er, da er mit weiteren Unruhen rechnete, eine Legion nach Jerusalem gelegt, aber das Erscheinen des Sabinus hatte alle Vorsorge über den Haufen gerannt. Dieser Sabinus hatte es sich im Palast des Herodes bequem gemacht, und so sah das Volk nur einen haßvollen Gegenstand durch den anderen abgelöst: den König von Roms Gnaden durch den Finanzverwalter von Roms Autorität. Er benahm sich, als gehöre ihm die Stadt. Die Juden waren entschlossen, ihm zu zeigen, daß die Stadt ihnen gehöre. In drei Gruppen geteilt, umzingelten sie die römische Besatzung und belagerten sie. Sabinus verkroch sich in den Turm Phasael, gab von da oben seine Befehle und ließ dringende Nachrichten an Varus gehen, daß die Legion vernichtet würde, wenn nicht sofort Hilfe käme. Es wurde ein erbitterter Kampf. Die Hallen des Tempels gingen dabei in Flammen auf. Die Soldaten stahlen 400 Talente aus dem Tempelschatz. Sabinus kam eilends vom Turm herunter und stahl den Rest. Das Volk sammelte sich von neuem und belagerte den Königspalast. 348 Im Lande ringsum flammten, als habe Jerusalem das Zeichen gegeben, die Aufstände auf. Alte Soldaten des Herodes schlossen sich zu Freischärlertrupps zusammen; in Galiläa sammelte Juda, der Sohn des von Herodes ermordeten Ezechias, Bewaffnete um sich; viele andere, die die Befähigung zur Führung von Volksgruppen in sich spürten, bewaffneten sich und führten einen Guerillakrieg gegen die Römer und gegen die Anhänger des alten und des neuen Königs. Überall im Lande gingen die Paläste des Herodes in Flammen auf. Varus erkannte die Gefahr. Er warf alle Truppen, die ihm unterstanden, und alle Hilfstruppen, deren er habhaft werden konnte, nach Judäa. Einen Herd des Aufruhrs nach dem anderen, eine zerstreute Gruppe der Kämpfer nach der anderen brachte er zur Ruhe. Auf Streifzügen durch das ganze Land ließ er nach den eigentlichen Anführern des Aufstands forschen. Es war eine Hydra. Zweitausend Mann wurden ihm eingeliefert. Diese zweitausend Mann ließ er ans Kreuz schlagen.

Damals begannen die Kreuze im Lande zu wachsen. Die daran hingen, waren Juden, die um ihr Volk und ihr Land, um die Unberührtheit ihrer ureigenen Idee gegen das Fremde und Nichteigene kämpften. Es ist uns nicht überliefert, was sie sagten oder was sie schrien, als sie dort verendeten.

 


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