Josef Kastein
Herodes
Josef Kastein

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2. Kapitel

Olymp und Sinai

In den Wertungen, die eine geschichtliche Periode erfährt, gibt es keine Endgültigkeit und Übereinstimmung. Die Art des Schauens, der Ausgangspunkt der Betrachtung und oft der vorgefaßte Zweck verschieben sowohl das Bild wie das Denkergebnis. Das ist unendlich oft denjenigen Perioden der jüdischen Geschichte widerfahren, von denen Außenstehende etwas für die Bestätigung eigener oder die Widerlegung entgegenstehender Ansichten ableiten wollten. Die dunkle und schicksalsschwere Periode, in der die jüdische Geschichte zwischen der Befreiung aus dem babylonischen Exil und der Versklavung durch Rom verläuft, hat vor allen anderen solche Wertung erfahren. Man hat versucht, ihr den Sinn eines geistigen Niederganges zu geben, den erst das Entstehen der christlichen Religion beendete; einer Dekadenz, deren letzter Sinn sich in dem Abtreten vom Schauplatz der Geschichte zugunsten anderer Völker und Glaubensformen erschöpfte.

Zuweilen haben Juden versucht, einer solchen Auffassung durch Apologie oder Polemik zu begegnen. Es bedarf weder der einen noch der anderen. Jedes Volk, dessen Leben noch nicht zuende gelebt und dessen Spiel noch nicht ausgespielt ist, bestimmt sich selbst seinen Platz in der Geschichte, und seine Wertung empfängt es nicht von den Zwecken und Bedürfnissen der Anderen, sondern von seiner jeweiligen geschichtlichen Aufgabe und den jeweiligen Erfordernissen seines Eigenlebens.

So ist auch die geschichtliche Periode, die das Fundament und zugleich den Hintergrund des Themas Herodes bildet, nur zu verstehen und folglich 20 nur zu werten von den Wirklichkeiten aus, die das staatliche und geistige Leben Judäas sich nach der Rückkehr aus dem babylonischen Exil selbst bereitete. Von da aus erweist sich alles Geschehen als das Gegenteil von Dekadenz, nämlich als Schlußpunkt einer Konsolidierung und im Anschluß daran, wie eine Probe auf das Exempel, als eine aus stärkster Individualität vollzogene und im Prinzip siegreich beendete Auseinandersetzung mit einer neuen, dem Judentum bis dahin unbekannten Kraft der abendländischen Welt: dem Griechentum.

Von diesem Griechentum war wenig mehr als der generelle Name seiner Träger bis nach Judäa gedrungen. Man kannte das Land Jawan, das heißt: Jonien. Und aus dem Propheten Joël her kannte man die b'nei j'wanim, die Jonier, die kriegsgefangene Juden und Jüdinnen als Sklaven kauften. Was sich aber im Einzelnen hinter dem Griechen und seinem Lande verbarg, wußte man nicht. Es bestand auch keine Notwendigkeit, es zu wissen. Die Mannigfaltigkeit der organisatorischen und geistigen Aufgaben, mit denen die aus dem babylonischen Exil Heimkehrenden sich auseinanderzusetzen hatten, beschäftigte sie vollauf. Die stille Eindringlichkeit, mit der die Ergebnisse ihres Denkens in die Praxis des Alltags überführt wurden, hätten nicht einmal dann für eine Bekanntschaft mit dem Griechentum Raum gelassen, wenn die Begegnung mit ihm in jener von historischem Lichte nur matt beleuchteten ersten Zeit der Rückkehr erfolgt wäre. Selbst die Auseinandersetzung mit der naturgegebenen Umwelt, mit dem Orient als solchem, mit seinen Völkern, Kulturen und 21 Religionen, war im wesentlichen abgeschlossen, und was der Jude von ihnen in dem natürlichen Prozeß der Berührung und Rezeption angenommen hatte, war längst so sehr zum eigenbetonten Besitz geworden, daß er es schon wieder in der eigenen Formung gegen die Umwelt abgrenzen und es als einen Sonderbesitz eigenster Prägung unterscheidend verwenden konnte. Die Exklusivität, mit der das geschah, erledigte praktisch jede Gefahr der Angleichung an Fremdes und jede Notwendigkeit, davon Kenntnis zu nehmen. Hier wirkte ein organisatorischer Wille nach, der seine Kraft aus dem unbedingten Entschluß zur Wiederherstellung der intakten jüdischen Gemeinschaft bezog. Ein Esra und ein Nechemja, jener von der geistigen, dieser von der praktischen Zielsetzung her, hatten dem Neubau der Gemeinschaft zwei Grundlagen gegeben: die Thora als Staatsgesetz und die rigorose Ausschaltung alles Fremden als vorbeugendes Mittel gegen jede Störung in der definitiven Rezeption des Eigenen. In der Herausbildung der »mündlichen Lehre«, die nicht nur neue Gesetze, sondern durch ihre Befolgung auch neue Lebensformen zeitigte, und in dem Herauswachsen einer Gemeinschaft, deren Homogenität nicht auf biologischen Züchtungsversuchen, sondern auf der Übereinstimmung der Gesinnungen beruhte, traten die Folgen in Erscheinung. Sie machten die jüdische Gemeinschaft für jede Einwirkung der Umwelt unzugänglich.

Diese Situation änderte sich grundlegend, als das unruhige Pendel des Abendlandes aus seinen vielen kurzen Zuckungen zu einem größeren Schwung ausholte und dabei in den Orient vorstieß, um dort 22 für einige Jahrhunderte seine Herrschaft zu bestätigen und dann an den niemals ganz besiegten Kräften des Orients zugrunde zu gehen. Für Judäa stellt sich dieser Vorgang zunächst nur in den Formen politischer Umwälzungen dar, die imgrunde genommen nur den Orient als solchen angehen, nicht aber den Juden und den jüdischen Staat. Judäa stand bei aller Selbständigkeit der inneren Verwaltung unter persischer Oberherrschaft. Gegen diese politische Abhängigkeit hatte man sich nie gesträubt. Sie stellte kein Problem dar, weil sie mit den wirklichen Aufgaben des jüdischen Staates nicht kollidierte. Geschichtliche Erkenntnis und Erfahrung hatten zum Verzicht auf politische Ambitionen geführt. Der Versuch, zur Regierungsform der Theokratie zurückzukehren – auch das früheste politische Königstum der Juden war Theokratie, denn es beruhte auf dem Sakralakt der Salbung und stellte im König nichts anderes dar als einen Funktionär der Theokratie – war praktisch durchaus gelungen. An der Spitze des Gemeinwesens und als ihr Repräsentant zur Außenwelt hin stand der Hohepriester vom Tempel zu Jerusalem. Er führte die Verwaltung zusammen mit einer Gerusia, einem Rat von Ältesten. Außenpolitische Probleme wurden für diesen Staat und diese Verwaltung nicht praktisch.

Es konnte also auch keine Erschütterung bedeuten, als Alexander der Große eines Tages als der Besieger und Nachfolger der persischen Monarchie auftrat. Auch der Zerfall seines gewaltigen Reiches und die Kämpfe seiner Strategen um das Erbe ihres Herrn ließen den jüdischen Staat völlig unbeteiligt. Als diese Kämpfe abgeschlossen 23 waren, nahmen die Judäer zur Kenntnis, daß sie jetzt unter der politischen Oberhoheit des inzwischen in Ägypten entstandenen Ptolemäerreiches standen. Dieses Faktum wurde akzeptiert, und der Wille des Volkes, daraus unter keinen Umständen ein Problem entstehen zu lassen, ging so weit, daß es sich bis zur Grenze der Revolte gegen den Hohenpriester Onias II. auflehnte, als er sich mit der Absicht trug, keine Steuern mehr an die Ptolemäer abzuführen und damit aus eigenem Entschluß die politische Unterordnung aufzuheben. Als nach hundert Jahren dieser ägyptischen Herrschaft ihre Ablösung durch den Sieg der griechisch-syrischen Seleukiden erfolgte und dieser politische Vorgang dem jüdischen Staat eine andere Oberhoheit zuwies, wurde das mit der gleichen Gelassenheit und Selbstverständlichkeit akzeptiert.

Aber in diesem gleichen Zeitablauf wurde immer mehr sichtbar und spürbar, daß schon der Beginn dieser großen politischen Umwälzungen aus der Intention des Anfangs, aus der Zielsetzung Alexanders her mehr darstellte als die Betätigung eines schlichten, nur auf Landgewinn bedachten Imperialismus. Wenn es auch die Diadochen in den Kämpfen um das Erbe zunächst vergaßen: es blieb doch die Schwungkraft des Anfangs lebendig, die hier nicht ein Reich schlechthin, sondern ein griechisches Reich gründen wollte; ein Reich, für das zwar nicht die einzelnen Formen, wohl aber die allgemeine kulturelle Durchgestaltung von vornherein ins Auge gefaßt war. Und was die bewußte Erziehungsarbeit der Könige nicht leistete, ergab sich wie von selbst aus dem 24 Einströmen von abendländischem Menschenmaterial, das auf den Spuren der großen Eroberungen daher gezogen kam, um von den neu eröffneten Möglichkeiten als Kolonisten, Händler, Abenteurer, Söldner, Baumeister oder Literaten zu profitieren, und die ihre Sprache, ihre Lebensformen und ihre Kultur in den Orient trugen. Wenn sie auch nicht alle legitimierte Vertreter der griechischen Kultur waren, so bildeten sie doch die Stützpunkte, von denen aus das Griechentum zur friedlichen und zur gewaltsamen Infiltration aufbrechen konnte. So wechselte die Nachbarschaft Judäas allmählich, aber mit beharrlichem Fortschritt ihr geistiges Gesicht, und die stille, friedliche Einwirkung dieser neuen Welt zwang Judäa so zur Aufmerksamkeit und Abgrenzung, wie die gewaltsame Propaganda ihm eines Tages zur Abwehr und um der Selbsterhaltung willen die Waffen in die Hand drückte. Das Griechentum, das hier in die Erscheinung trat, entsprach nun keineswegs – und entsprach in Wahrheit niemals – jener klassizistischen Idee und jenem nur als harmonisch und ästhetisch und vollendet gedachten Bilde, die immer noch die allgemeine Vorstellung von der Welt des Griechentums beherrschen. Es war zwar eine Welt mit einer gewaltigen Expansionskraft, aber eine in sich zerrissene und zerklüftete Welt. Der Elan, mit dem sie sich auf die Wanderung begab und mit dem sie sich zur Eroberung einer Welt anschickte, ließ ihr erstes Auftauchen als eine freudig gestimmte, der eigenen Kraft bewußte Kulturmission erscheinen. Aber was sich so als produktiver Überschwang ausgab, erwies sich schon bei der ersten 25 wirklichen Berührung mit anderen Völkern und Kulturen als eine Kraft der Verzweiflung, als die gewaltsamen Zuckungen, mit denen eine sehr bewegte Welt des Geistes und der Form sich der Agonie und dem drohenden Tode entziehen wollte. Dieses nach Asien verpflanzte Hellenentum verwandelt sich unter den geistigen Bedingungen des Orients in den Hellenismus. Dabei wurde sichtbar, daß es zwar zur Eroberung ausgezogen war, daß es aber in Wirklichkeit den Weg der Auswanderung eingeschlagen hatte, und daß es – heimatlos geworden – darauf angewiesen war, in der Fremde zu siegen oder unterzugehen. Es hat seine Spuren hinterlassen und ist untergegangen.

Die inneren und die äußeren Bedingungen, aus denen her diese Wanderung in Bewegung geriet, waren mit Konflikten und Widersprüchen stark belastet. Jahrhundertelang hatten die Griechen in immer neuen Anläufen und mit immer neuen Formen versucht, ihren Gemeinwesen eine endgültige Fassung zu geben. Im Ergebnis waren sie weder zu einer Einheit des politisch zerrissenen Landes noch auch zur Konsolidierung jener demokratischen Form gelangt, die ihnen, die mit dem Begriff der »Freien Männer« einen besonderen Sinn und eine besondere Wertschätzung verbanden, an sich angemessen war. Demosthenes wagte es auszusprechen, daß ihnen dafür die Eignung fehle und daß die Einigung des Griechentums nur durch einen Mittler von außen erfolgen könne.

Die Intensität, mit der die besten Denker der Zeit dieses Problem des unvollkommenen Gemeinwesens ventilieren; der Gedankenraum, den ein Plato und ein Aristoteles dem Idealbild des Staates 26 gewähren; und auch die bis tief in die hellenistische Zeit fortgesetzte theoretische Spekulation über Wesen und Form des Staates weisen eindeutig darauf hin, daß es bei diesem Problem um weit mehr ging als um eine politische Konzeption nach heutigen Anschauungen. Daß sie an der Form des Staates scheiterten, bedeutete nach den Denkkategorien jener Zeit – und bedeutet es imgrunde genommen auch heute noch – daß sie an der Formung der Gemeinschaft als solcher gescheitert waren. Denn der Staat war nichts anderes als die organisierte Lebensgemeinschaft. Er war der Träger nicht nur der ökonomischen und verwaltungstechnischen, sondern auch der geistigen und religiösen Funktionen. Der Magistrat baute nicht nur Straßen, sondern regelte und überwachte auch den Verkehr mit den Göttern. Alles, was in solchen Staaten geordnet und organisiert wurde, stellte in Theorie und Praxis zugleich eine Aussage über die ordnenden Kräfte selbst dar, die in den Menschen dieser Gemeinschaft anzutreffen waren. Darum bedeutete der Bankerott einer Staatsform und eines Staatswesens zugleich immer den Bankerott, zumindest aber die Krisensituation einer Idee.

Die politische Einheit, die sie selbst nicht gestalten konnten, gab ihnen Alexander der Große in seiner Eigenschaft als Führer des hellenischen Bundes. Aber für die Griechen Europas hatte dieses Geschenk nur noch einen ephemeren Wert. Sie konnten für Griechenland selbst und seine Geschicke keinen Gebrauch mehr davon machen, denn der ihnen die Einheit gab, repräsentierte noch eine andere Eigenschaft: er war der Träger der 27 panhellenischen Idee. Das bedeutet in der Praxis, daß er mit seinen Ideen und Zielsetzungen die Griechen aus der begrenzten abendländischen Heimat hinausführte und sie im Orient vor eine Aufgabe stellte, die sie nicht erfüllen konnten. Hieraus ergab sich eine zweifache Spannung und Spaltung. Die Verwerfung der radikalen Demokratie lieferte sie einer Staatsform aus, mit der ihre Denker sich zwar schon als einer Rettungsmöglichkeit theoretisch beschäftigt hatten, die aber ihrem Wesen zutiefst nicht entsprach. Ihr übersteigertes Bedürfnis nach individualistischer Haltung – von dem wir später sehen werden, welche Rolle es in der religiösen Weiterentwicklung spielt – hatte letztlich zur Verwerfung der Demokratie als Form geführt. Die Monarchie aber, von der sie den Herrscher, den starken Führer erhofften, der die Gesellschaft nach den Grundsätzen von Gerechtigkeit und Vernunft neu ordnete, verträgt eben dieser Aufgabe wegen den Individualisten nur an der Spitze, nur als die jeweils überragende und einzigartige Persönlichkeit, der alle Anderen sich bis zur religiösen Anbetung zu unterwerfen haben. So wurde der Grieche wohl von einer bankerotten Gemeinschaftsform befreit, stand aber nun mit den Motiven, aus denen er die alte Form abgestreift hatte, in einer neuen Form, in der er keine Verwendung dafür hatte.

Die Aufgabe, die Alexander sich und dem Griechentum gesetzt hatte, bestand in der allmählichen Verschmelzung der unterworfenen Völker zu einem großen, einheitlichen Reiche auf dem Wege der stufenweisen Durchdringung mit dem Geiste des Griechentums. Auch wenn nicht späterhin 28 Rom durch seine Politik der künstlichen Zersplitterung, der Unterstützung der kleinen Gemeinwesen gegen die großen und der rücksichtslosen Ausräuberung der Provinzen diesen Prozeß der Einheit gestört und vernichtet hätte, so wäre ihm ein Erfolg doch nur beschieden gewesen, wenn ein Regiment von immer gleicher Stärke diesen Prozeß geführt und überwacht hätte. Das hätte eines Alexander bedurft. Es ist keiner wieder erstanden. Ja, man konnte ihn nicht einmal nachahmen, denn schon seine Konzeption als solche war für die Griechen unannehmbar. Sie waren zwar im Prinzip bereit, Kosmopoliten zu werden, so wie es die Reichsidee Alexanders notwendig von ihnen verlangte; aber sie konnten auch diesen Kosmopolitismus nur begreifen auf der spezifischen Ebene ihres Griechentums, von eben jenem Individualismus aus, der ihnen den Weg zu einer gestalteten Gemeinschaft verlegte. Sie konnten darum auch an jeder größeren Gemeinschaft nur teilnehmen, in dem sie sich – als Kollektivindividuum – von ihr abgrenzten. Ihre Begriffe von den Barbaren trugen sie mit aller Selbstverständlichkeit an die Völker heran, mit denen sie eine kulturelle Einheit bilden sollten. Sie verstanden diese Einheit im Gegensatz zu Alexander als ihre unbedingte Vorherrschaft, und Aristoteles, der Lehrer Alexanders, setzte der Idee seines Zöglings die Maxime entgegen, daß der Grieche über die Barbaren eine Despotie auszuüben und sie wie Tiere und Pflanzen auszunutzen habe. So entsteht aus der Selbstwertung ein scheinbarer, ein unechter Kosmopolitismus, der in Wahrheit ein kaum verhüllter Imperialismus ist. Daß dieser Imperialismus zwar 29 viele Anstöße und Anregungen, aber keine endgültige Formung geben konnte, ergibt sich von selbst, wenn man sich dessen erinnert, daß sie nicht einmal zur Gestaltung ihrer eigenen Gemeinschaft gediehen waren.

Zu dieser doppelten Belastung der inneren Situation tritt nun eine doppelte Komplikation aus den Gegebenheiten, die sie in den neuen Gebieten vorfanden. Auch hier waren die staatlichen Verhältnisse keineswegs bis in das letzte hinein stabil; aber die Veränderungen vollzogen sich dort – abseits von allen abrupten Experimenten nach griechischem Muster – in weit größeren Zeitläufen und Rhythmen. Sie ließen den starken nationalen Untergrund der Völker meistens unberührt, und sie beseitigten vor allem nicht das ungeheure Gewicht uralter Traditionen, die hinter der Religion, der Kunst und dem Recht des Orients standen. Hier waren festgefügte Gemeinschaften, die jedem Versuch der Auflösung durch eine andere Kultur widerstanden, es sei denn, diese Kultur hätte ihnen grundsätzlich Neues und Förderndes für ihre religiösen Grundvorstellungen gegeben. Und das war keineswegs der Fall. Zwar die Städte und die höheren gesellschaftlichen Schichten konnten überrannt und durch die Ausweitung der allgemeinen Bildung, durch Vermittlung gesellschaftlicher Formen, philosophischer und zivilisatorischer Begriffe in hellenistisches Kolonialgelände verwandelt werden; aber das eigentliche Land, das Hinterland mit seinen durchgeformten und geprägten Menschen blieb letztlich nicht nur unberührt, sondern fand immer wieder die Kraft zu 30 betonten Reaktionen mit deutlichem nationalen und religiösen Charakter.

Solche Reaktionen bedeuten, daß die Götter des Orients in ihrem Wesen und in ihrem nie ganz aufgegebenen nationalen Charakter sich als stärker erwiesen als die neuen Götter, die ihnen der Hellenismus entgegenbrachte. Und gerade in dieser Art, in der das Hellenentum mit seinen religiösen Grundvorstellungen sich anderen Göttern und Göttervorstellungen nähert, liegt das eigentlich Schicksalhafte in der Begegnung von Abendland und Orient. Hier lag die Tragik und zugleich die Dramatik des sterbenden Griechentums. Hier, auf dieser Ebene des Religiösen, entfalten und erledigen sich die letzten Konflikte, aus denen her sich das Griechentum als eine Welt ohne Zukunft erwies.

Schon die bisherige Gleichsetzung der Begriffe Staatsform und innere Lebensform der Gemeinschaft zwingt dazu, den religiösen Motiven dieser Welt nachzugehen. Die religiösen Urformen des Griechentums liegen im geschichtlichen Dunkel. Nur so viel ist aus den nie ganz beseitigten Untergründen der späteren Religion ersichtbar, daß sie sich mit denkbar primitiven Begriffen auf dem Glauben an Geister und Dämonen aufbaute. Von einer Entwicklung im üblichen Sinne, das heißt: von einer erlebnismäßig gradlinigen Fortsetzung oder von einem revolutionären Umbruch aus Erkenntnisdrang und Erschütterung kann hier nicht gesprochen werden. Es ist vielmehr ein formaler Gestaltungswille, der über diesem primitiven Grunde ein an der Schönheit der Form orientiertes Bauwerk aufrichtete. Es war die Dichtung 31 Homers, die – ein wunderbarer Exponent der griechischen Begabung für die Harmonie der Gestalt – eine neue Religion erdichtete. Zwar verwendet sie alte Traditionselemente; aber im übrigen ist sie freies künstlerisches Schaffen, also etwas, was für das entstandene Gebilde, für dieses spezielle Werk, Organisches und Lebendiges bedeuten mag, nicht aber für die Religion, deren Entwicklung auf anderen Gesetzen beruht. Diese Dichtung machte aus der Religion ein Kunstprodukt, einen überaus farbigen Polytheismus, in dem alle menschlichen Eigenschaften mit entsprechender Steigerung, aber ohne wirkliche religiöse Sublimierung ihr Abbild fanden.

Die Bindung an die Harmonie und Polychromie dieser Form konnte aber auf die Dauer eine religiöse Entwicklung nicht entbehrlich machen, wenngleich die Existenz dieser Kunstform sie sehr stark behinderte. Da sie sich nicht beseitigen ließ, da sie in sich schon wieder Tradition geworden war, mußte man sich mit ihr auseinandersetzen. Diese antropomorphen Götter vermittelten wohl etwas für das ästhetische Gefühl; aber sie konnten keine Lebensfragen lösen. Sie konnten dem Menschen nicht das geben, was die Religion ihm zu geben hat: einen festen Ort im Gefüge der Welt, von dem aus das eigene Dasein seine mehr als irdische und seine mehr als zufällige Begründung erfährt. Dahin zu gelangen, bemühen sich mystische und spekulative Strömungen, die neben den polytheistischen Ideen und zuweilen in bewußtem Gegensatz dazu stehen. Die Summe dieser Bemühungen mit ihren verschiedenartigen Richtungen ergibt zwar ein packendes Bild religiöser Unruhe 32 und Vertiefung, weist aber zugleich auf, daß es hier kein Zentralproblem gibt, keinen einheitlichen Ausgangspunkt und keine für die ganze Gemeinschaft bindende Zielsetzung. Auf die Kritik der homerischen Götterwelt antwortet die Apologetik mit dem Versuch, sie durch allegorische Umwertung einem veränderten religiösen Bedürfnis anzugleichen. Philosophen finden sich mit Göttern ab, an die sie nicht glauben; Dramatiker geben ihnen im Olymp selbst eine Entwicklung oder beugen sich fromm und demütig unter die Gewalt dieser unverständlichen Götter und ihrer Aktionen. Kritik, Reformbedürfnis, müde Skepsis und fröhlich betonter Unglaube stehen wechselnd neben einander.

Wo im religiösen Leben eines Volkes keine einheitliche Idee des religiösen Wollens und des religiösen Verhaltens zur Debatte steht, da gibt es auch keine absolute Norm, nach der der Einzelne sich orientieren und nach der die Gemeinschaft, das Gemeinwesen, der Staat in seiner antiken Fassung das Zusammenleben seiner Bürger ordnen und dirigieren kann. Da gibt es für das private Dasein des Einzelnen nur die relative Schätzung, die er sich selbst gibt oder einem philosophischen System oder den Anweisungen einer Sekte entnimmt. Und für das Gemeinschaftsgefühl des Einzelnen gibt es da nur die individuelle Anarchie, eben jene, die zugleich die Form der Demokratie vernichtet. Da die griechische Demokratie – wie jeder Staat überhaupt – sich nur um das offizielle religiöse Verhalten seiner Mitglieder kümmern kann, nicht aber als solche ihre religiösen Probleme zu lösen vermag, blieben alle Versuche, die alte Frömmigkeit und 33 Fügsamkeit der Väter wieder zu beleben und die Selbstbefreiung der Geister aus den von der Gemeinschaft gezogenen Grenzen zu unterbinden, ohne jedes positive Ergebnis. Der Prozeß der Entfesselung und Auflösung ging seinen eigenen Weg weiter. Sein Träger war das Individuum, der vereinzelte, von der Gemeinschaft nicht wahrhaft gebundene Mensch, wenn er sich auch einer großen, auf Weltgeltung bedachten Kulturgemeinschaft mit tausend Formen verbunden glaubte. Und seine Triebkraft war jener Individualismus, dem dennoch in der Hingabe an eine vom Glauben motivierte Gemeinschaft keine Erlösung beschieden war.

Dieser Prozeß landet, wie es seine inneren Voraussetzungen nicht anders erwarten lassen, bei zwei Endpunkten, die in einem unauflösbaren Gegensatz zu einander stehen und damit die ganze Entwicklung als solche ad absurdum führen. Die Theorie und die philosophische Spekulation landen beim Monotheismus und bei der Ethik; die Praxis landet bei einem ausgedehnten Synkretismus und bei der Vergottung der Herrscher. Beide zusammen ergaben eine Selbstauflösung der gesellschaftlichen Form, der sittlichen Begriffe und endlich dieser Religion selbst, die dem Christentum letztlich als Beute zufiel. Die Zeit und die Umstände, die dem Griechentum einen kosmopolitischen Raum zuweisen wollten, waren in sich schon eines der stärksten Motive für den religiösen Zerfall. Die großen politischen Umwälzungen der ersten hellenistischen Zeit tragen einen ausgesprochenen Katastrophencharakter. Nichts gab mehr Gewißheit und Bestand, keine nationale 34 Form und keine wirtschaftliche Sicherheit schienen mehr garantiert. Länder werden vereinigt und zerrissen, Städte vernichtet und neu gebaut, Menschenmassen durch Willkür zersprengt oder zu einander getrieben, alte Wege werden verbaut und neue aufgerissen. Ruhende Massen, einst von der Autorität ihrer Gemeinwesen und Tempel gebunden, werden plötzlich aus der Zucht und Ordnung entlassen und in Bewegung gesetzt. Der Einzelne gilt nichts mehr und gilt doch zugleich alles, wenn er es vermag, sich in dieser Zeit der allgemeinen Umwertung an die Chance zu klammern, die sich bei jeder Umwälzung dem Unbedenklichen bietet. Aber das ist nur der Glücksfall der Wenigen, die zur Macht, zuweilen zur Herrschaft und oft sogar zu göttlichen Ehren gelangen können. Die Masse als solche sieht sich – von den gewohnten Autoritäten verlassen, weder von ihrem Staat, noch von ihren Göttern behütet – einer hoffnungslosen Isoliertheit und Verlassenheit ausgeliefert, einer Willkür des Schicksals, die sie mit dem Begriff der Tyche, des blind waltenden Geschickes, ohnmächtig benennen. Unter dem Vordringen des Sternenglaubens gewinnt dieses Gefühl der Ohnmacht noch tiefere Gewalt über sie und treibt sie in einen Fatalismus und einen ausgesprochenen Determinismus hinein.

Bei solcher Vereinzelung und religiösen Entwurzelung des Individuums muß natürlich auch der Bestand der religiösen Begriffe verletzt werden, das heißt: die religiösen Motivierungen, die sittlichen Lehrsätze, die den Alltag einer Gemeinschaft durchziehen und sein Fundament darstellen, müssen ihre stärksten Kräfte verlieren. Was 35 nicht mehr aus der allgemeinen Übung und aus der allgemeinen Respektierung geglaubt, getan und befolgt wird, muß jetzt der Einzelentscheidung anheim gegeben werden. Ethik und Sittlichkeit hören auf, Faktoren der Gemeinschaft zu sein und werden private Maximen des Einzelnen. Aber das ist eine höchst unsichere Basis und der Ausgangspunkt aller Willkür. Die Philosophie hat das erkannt und hat sich bemüht, hier auszuhelfen und ein System zu vermitteln. Sie begibt sich ihres früheren aristokratischen Charakters, bekleidet sich mit demokratischen Formen und versucht, dem Individuum seine Selbständigkeit und seinen Seelenfrieden zu geben. Dabei werden die Philosophen selbst allmählich zu Predigern und Seelsorgern und nehmen oft die Erscheinungsform einer hellenistischen Heilsarmee an, während ihre Philosophien selbst mit dem Anspruch auftreten, Religionen darzustellen. Entsprechend dem Bedürfnis, das es hier zu befriedigen galt, wandten sie sich vor allem der ethischen Praxis zu, und diese wiederum mußte – gemäß den Ansprüchen derer, denen sie zu dienen hatte – einen ausgesprochenen individualistischen Charakter tragen.

Den isolierten Menschen der Masse beschäftigen aber praktische Lebensfragen weit dringlicher als generelle religiöse Probleme, und so kann es nicht ausbleiben, daß anstelle geschlossener religiöser Systeme nur moralische Systeme voll differenzierter Kasuistik entstehen. Das hatte eine doppelte Folge, die zwar nicht gewollt, der aber nicht auszuweichen war. Diese Art der Ethik trug einesteils dazu bei, das Individuum noch mehr zu isolieren, indem sie sein privates 36 Wohlergehen als die höchste Norm anerkannte. Darüber hinaus aber verfehlte sie nicht nur jede religiöse Bindung, sondern bedeutete auch die Auflösung der alten Volksreligion. Eine Ethik kann niemals Ersatz für eine Religion sein, sondern immer nur eine Funktion der Religion. Ethik ist aber auch niemals ein ursprünglich philosophisches System. Als solches kann sie nur nachträglich auftreten. Ihre Quelle ist immer kollektives religiöses Erlebnis. Dieses Erlebnis konnte nicht willkürlich neu geschaffen werden. So weit es in den Massen aus alter Tradition noch vorhanden war, stellte es die typisch heidnische, aus Furcht und Selbstsucht geborene Frömmigkeit dar. Mit Hinblick auf sie hat Epikur gesagt: »Erfüllte Gott die Gebete aller Menschen, so würden sie bald alle zugrunde gehen, da sie beständig einander alles Schlimme wünschen.«

So bezeugen diese Versuche, zu einer ethischen Orientierung zu kommen, letzten Endes den Mangel an verpflichtenden sittlichen Motiven, und das wiederum ist nur zu verstehen aus einer grundlegenden religiösen Desorientierung. Noch da, wo ein philosophisches System eine ganz besondere Höhe ersteigt, in der Stoa, ist der Ausgangspunkt nicht die religiöse Bereitwilligkeit, Hingabe und Unterordnung, sondern die durchaus rationalistisch und intellektualistisch begriffene Würde des Menschen. Allerdings ist sie zugleich in ihrer Anschauung von der Welt eindeutig monotheistisch: die ganze Welt ist von einer und derselben göttlichen Urkraft durchdrungen, und ihr untersteht auch der Mensch. Im ganzen Kosmos wirkt ein göttliches, unpersönliches 37 Urwesen. Aber von diesem pantheistischen Monotheismus aus gibt es keinen Zugang zu einer gelebten Religion, und in dem Versuch, trotzdem mit der bestehenden Volksreligion und ihren Göttern in Kontakt zu kommen, muß wieder das unzulängliche Mittel allegorischer Umdeutung angewendet werden. Solche Umdeutung beraubte aber die bestehenden Religionsformen ihres letzten Inhalts und ließ sie leer und verwendungsunfähig zurück. In Wahrheit war dieser hellenistische Monotheismus nicht Ausgangspunkt einer Religion, sondern theoretisches und spekulatives Endergebnis einer in der Auflösung begriffenen und ihres Sinnes beraubten Religion.

Die äußeren Anzeichen dieses Niederganges stellen sich wieder in doppelter Schicht dar, in zwei äußersten Extremen, die beide Exponenten einer gewaltigen religiösen Unruhe sind. Diese religiöse Empfänglichkeit, die zu dem Ergebnis gekommen ist, daß sie die Welt nicht meistern kann, zieht sich in Vereinen, Sekten und mystischen Zirkeln von ihr zurück. Sie sucht das, was ihre grauenhafte Isolierung aufheben kann: die Vereinigung mit dem Göttlichen; das also, was die staatliche Religion ihr nicht geben kann, weil hier die ewige Distanz zwischen Mensch und Gott notwendig betont werden muß. In asketischer Lebensweise, in strengen Regeln des ethischen Verhaltens und mit Geheimnis und Frömmigkeit beladenen Riten suchen sie nach ihrer seelischen Entlastung. Sie wollen damit zugleich das Gegengewicht schaffen gegen jene andere Erscheinungsform des hellenistischen Lebens, die sich aus der erschlafften Wirksamkeit ethischer Grundsätze von selbst 38 ergab: gegen die Entartung sittlicher Begriffe, die Auslösung aller Moralvorstellungen, gegen die Entfaltung von Pomp, Luxus, Üppigkeit, gegen das orgiastische, hemmungslose Leben der Genußsucht. Hier, in diesem Bezirk des Entfesselten, verlief auch der Prozeß der Auseinandersetzung mit dem Göttlichen auf seiner adäquaten Ebene. Polytheistische Religionen zeigen an sich schon die Eignung, sich andere Götter anzugliedern. Die hellenistische Zeit fand dafür durch die Berührung mit den mannigfachen Völkern und Religionen reichlich Gelegenheit. In dieser Rezeption fremder Götter offenbart sich zugleich das Suchen nach Anschluß an neue, noch nicht erfahrene religiöse Kräfte, von denen möglicherweise eine Befriedigung der immanenten Unruhe zu erwarten ist. Aber diese Welt tat aus ihrer Krisensituation her noch ein anderes: da sie sah, wie die Geschicke der Welt und der Menschen von jenen Einzelnen bestimmt wurden, die – als Despoten oder als milde Herrscher – jeweils an der Führung waren, so gewährte sie ihnen ohne weiteres göttlichen Rang und göttliche Ehren. Die Fähigkeit, Menschen zu vergöttlichen, hatte die griechische Religion ja schon aus ihrem Heroenkult mitgebracht. Aber der hellenistische Herrscherkult geht noch darüber hinaus. Er meint den Gott im Herrscher nur um seiner Herrscherposition willen, und gewährt ihm diesen Rang oft schon zu seinen Lebzeiten.

So klafft diese hellenistische Welt aufgerissen zwischen einem Individualismus, der keine Gemeinschaft formen kann, und einem kollektivistischen Gebaren, hinter dem die uneingestandene 39 Hoffnung steht, aus der unfruchtbaren Freiheit sich in die Gebundenheit einer größeren Gemeinschaft zu retten; zwischen lautem Pomp, der Welt zugewandten Schmuck und Dekorum, und einer weltabgewandten, der Mystik ausgelieferten Stille; zwischen Orgie und Askese; zwischen Vielgötterei und Monotheismus. Und darüber steht keine Möglichkeit der Auflösung. –

Die hier gegebene Darstellung meint keineswegs, das Hellenentum und den Hellenismus in jeder ihrer Manifestationen erfaßt und dargestellt zu haben. Das ist nicht notwendig. Der Hellenismus hat zwar in sich und als solcher eine geschlossene und erfaßbare Gestalt, aber er ist in seinen Auswirkungen auf die verschiedenen Völker, denen er begegnete oder mit denen eine Auseinandersetzung stattfand, so durchaus verschieden, daß diese Geschichte der Begegnung und Auseinandersetzung für jedes Volk getrennt dargestellt werden müßte. Wo es darauf ankommt, das Verständnis für die Begegnung des Hellenentums mit dem Judentum vorzubereiten, genügt es, das in den Vordergrund zu stellen, was bisher gesagt worden ist. Denn hier finden sich die Elemente, aus denen die Begegnung noch in ihrer grundsätzlichen Verfehltheit historische Folgen zeitigte.

Von allen Reaktionen, die das Hellenentum erfahren hat, war die durch das Judentum die negativste. Während der griechische Geist sich das politisch allmächtige, aber kulturell noch ungeprägte Rom so völlig unterwerfen konnte, daß endlich das Griechentum selbst sich in der römischen Welt seine eigene Fortsetzung suchte, fand es in das politisch belanglose, aber kulturell bereits 40 sehr geprägte Judentum keinen Eingang. Hier traf der Hellenismus auf eine schon ausgeformte und in sich geschlossene Welt, und so konnte es nicht bei einer einfachen passiven Reaktion bleiben. Es mußte vielmehr eine reguläre Antwort erfolgen. Um das Verständnis für den Verlauf der Auseinandersetzung vorzubereiten, muß zunächst der innere Gegensatz dieser beiden Welten kurz umrissen werden. Sein Schwergewicht liegt in der Religion, der religiösen Kultur und der sich auf dem Wege über die Ethik daraus ableitenden Verschiedenheit der Lebensauffassung und der Lebensform. Alles andere: Kunst, Wissenschaft, Philosophie und allgemeine Zivilisation spielen hierbei eine durchaus untergeordnete Rolle. Sie stellen nicht den konstruktiven Grund einer Gemeinschaft dar, sondern nur seine produktive Ausweitung. Sie sind also für das Wesen und damit für die Gegensätzlichkeit der Denkweise von Gemeinschaften sekundärer Natur.

Von hier aus gesehen liegt der entscheidende geistige Gegensatz zwischen Hellenismus und Judentum in dem Unterschied von Monotheismus und Polytheismus, von Eingott und Olymp, von homerischer Dichtung und Sinai-Offenbarung, von Mythologie und echtem Mythos. Solche Gegensätze sind unauflösbar. Sie sind durch keine noch so subtile Philosophie zu überspringen. Sie weisen auch der Gemeinschaft, die sich dem einen oder dem anderen zurechnet, getrennte Bahnen und abweichende Möglichkeiten der Entwicklung zu. Nur aus einem monotheistischen Glauben kann eine Gemeinschaft sich einheitliche Selbstmotivierungen und ein geschlossenes ethisches System 41 geben. Das macht sie von der äußeren Form des Gemeinwesens, von der politischen Struktur des Staates unabhängig, denn sie kann jede Form mit dem gleichen geistigen Inhalt füllen. Zerbricht die Form, so bleibt doch der Inhalt intakt. Das Judentum hat bewiesen, daß es lange Jahrhunderte hindurch ohne Staatsform hat leben können. Auch schon zur hellenistischen Zeit war der judäische Staat nach einer Struktur aufgebaut, die bereits auf einer Tradition beruhte. Es war eine erneute Form der Theokratie. Was man als Nomokratie benennt, ist nur die Technik ihrer Realisierung. Der Grieche stand noch im Stadium des Experimentes und war gerade an einer entscheidenden Etappe gescheitert. Er hatte mit seinem Bedürfnis nach Individualität eine zulängliche Motivierung der Gemeinschaft verfehlt. Der Jude – nicht minder Individualist, aber in der freiwilligen Selbstbindung an die Theokratie von der Problematik des Gegensatzes zwischen dem Einzelwesen und der Gesamtheit befreit – hatte in seiner Bibel ausreichende Motivierungen. Aus jener Zeit selbst stammt der Ausspruch Simons des Gerechten: »Auf drei Dingen beruht die Welt: auf der Thora, auf dem Gottesdienst und auf Mildtätigkeit.« Das war keine theoretische Konzeption, sondern eine präzise Aussage über das, was der Jude als das Fundament der Welt und seiner eigenen Gemeinschaft verstand. Und solche Lehrsätze sind nicht – wie die Versuche der hellenistischen Philosophie, ethische Systeme aufzustellen – auf der Willkür und der Denkkraft des einzelnen Philosophen beruhende Abstraktionen, sondern direkte Ableitung aus dem rezipierten 42 heiligen Gesetzbuch. Auch das Recht mußte von daher anderen Charakter bekommen. Während beispielsweise die Sklaverei noch von Aristoteles als von der Natur gewollt und in der Verschiedenheit der Rassen begründet angesehen wird, hatte der Jude bereits ein Recht, das den Fremden schützte.

Der Individualismus des Griechen war mit einer Zentrifugalkraft versehen und sprengte den politischen wie den religiösen Raum. Der Individualismus des Juden war mit einer Zentripetalkraft versehen und verdichtete den Raum des Daseins beständig. Beim Griechen sprengte die Willkür des Moralstatuts die sittliche Haltung. Beim Juden band die Eindeutigkeit der ethischen Lehre das moralische Verhalten bis zur Rigorosität. Träger der Frömmigkeit war beim Juden die Gemeinschaft des Volkes, beim Hellenisten die Sekte und der mystische Zirkel. Das Suchen des Griechen nach religiösen Einzelmanifestationen vergrößerte seine Götterwelt zu einer farbigen und letztlich durch ihre Masse belanglosen Vielfältigkeit. Beim Juden führte die Kollektivität der Gottesverehrung zu einem Kult von puritanischer Einfachheit und Glanzlosigkeit. Für den Griechen wurde der Begriff der Tyche die ohnmächtige Erkenntnis seines religiösen Versagens. Für den Juden wurde der Glaube an die Gerechtigkeit Gottes, die Theodizee die Bestätigung für den Sinn seines Lebens.

Man mag diese Feststellung mit einem Werte versehen oder nicht: ganz offenbar ist immerhin, daß es auf dieser Ebene für den Juden nichts gab, was er vom Griechen hätte annehmen können oder gar 43 annehmen müssen. Selbst wenn man von den subjektiven Voraussetzungen des Juden absieht, ist auch objektiv zu sagen, daß jede Annahme einen Rückschritt bedeutet hätte. Letztlich verfehlte sich die Begegnung aus der Verschiedenartigkeit dieser Ebenen.

Als Kernstück der Auseinandersetzung mit der hellenistischen Welt stellt sich für den äußeren Anschein der Krieg dar, den Judäa gegen die seleuzidische Dynastie führte, und von dem noch zu sprechen sein wird. Aber in Wirklichkeit war das eine Auseinandersetzung lediglich mit der politischen Macht, die dem Juden die neue Kultur aufzwingen wollte. Obgleich die Berührung zwischen Juden und Griechen auf einer sehr breiten Fläche erfolgte, durch die ganze schon damals sehr ausgedehnte jüdische Diaspora hindurch, erfolgte doch ein Austausch nur in der ägyptischen Diaspora. Und diese Auseinandersetzung hat weltgeschichtliche Nachwirkung gehabt, da sie in die ursprüngliche geistige Formung des Christentums eindrang. Aber für die jüdische Geschichte ist auch diese reiche Kontroverse der Diaspora mit der hellenistischen Kultur letzten Endes belanglos geblieben. Denn da, von wo aus das Antlitz des Judentums seine entscheidende Gestalt bekam, in Judäa und seiner jüdischen Bevölkerung, wurde die Auseinandersetzung in den eigenen Innenraum, in die eigene Gemeinschaft verlegt. Der Hellenismus bekam also insoweit gar keine Gelegenheit, auch nur in eine Diskussion mit dem Kern des jüdischen Volkes einzutreten. Ihm wurde von vornherein die Antwort verweigert. Die interne Antwort des jüdischen Volkes ist mithin nicht 44 hier, sondern getrennt darzustellen. Hier soll nur eine Überschau gegeben werden, wie die griechische und die von ihr beeinflußte römische Welt, wie die heidnische Umwelt generell dieses jüdische Volk sah, als es ihm mit dem Anspruch, sein kultureller Umformer und Erlöser zu sein, begegnete; welches Bild es sich von ihm machte; welche Urteile es fällte und in die Zukunft überlieferte; und wo die Motive dafür liegen.

Es lag schon in der religiösen Unruhe und der allgemeinen geistigen Beweglichkeit des Griechen begründet, daß er den Sitten und der Geschichte anderer Völker ein lebhaftes Interesse entgegenbrachte. Zwar war dieses Studium anderer Völker weder sehr objektiv noch sehr gründlich, aber es hatte doch ein positives Element in sich: den guten Willen, kennen zu lernen und sich am Erkannten zu orientieren. Je müder und lebensüberdrüssiger der Hellenismus wurde, desto mehr suchte er in entlegenen Völkern und entlegenen Zeiten ein Ideal aufzuspüren, dem nachzuleben der Mühe wert war. Solches Suchen und solche müde Unzufriedenheit legen aber nur allzuleicht den Keim zu einer Haltung des Ressentiments, und es muß naturgemäß dann sehr groß werden, wenn man Völkern begegnet, die über alles das verfügen, was dem Suchenden fehlt, und die doch nicht bereit sind, sich mit ihm über den Austausch zu verständigen. Es liegt in der Natur des Polytheismus, daß er bei aller Eifersucht auf seine nationalen Götter die Götter anderer Völker immerhin als existent und zulässig anerkennt. Aber er kann nie einem Monotheismus gegenüber tolerant sein, weil diese Glaubensform die Existenz 45 seiner Götter wenn auch nicht immer leugnet, so doch für unwirksam und unwesentlich erklärt. Der Monotheismus, noch wenn er schweigt, verneint den Polytheismus, entwertet seine Götter und stellt die Gläubigen dieser Götter in einen Raum ohne wahren Glauben. Kommt noch – wie beim jüdischen Volke – hinzu, daß eine prinzipielle, bis in das Alltägliche hineinreichende Absperrung gegen die Vertreter des Polytheismus, gegen die Heiden vorgenommen wird, und überlegt man, daß dennoch die Anziehungskraft dieses Glaubens den Heiden beeindruckte, ihn zur Nachahmung jüdischer Formen zwang und daß von hier aus, in Proselyten und Halbproselyten, ein beginnender Prozeß der Abbröckelung sich abzeichnet: so ist der Grundhaltung einer seelischen Notwehr mit all ihren bedenklichen Folgen der Weg bereitet.

Was dem Heiden bei seiner Begegnung mit dem Juden äußerlich erkennbar wurde, war nicht gerade viel. Denn der Jude sperrte ihn aus. Er ließ ihn vor allem nicht in seinen Tempel hinein und ließ ihn auch in seinem Hause nicht an seinen Bräuchen teilnehmen. Der Jude sonderte sich mit seinem Gott und seinem religiösen Tun ab. Darüber hinaus aber leugnete er auch die Existenz der anderen Götter. Er trieb das bis zum Landesverrat, als er sich weigerte, an den vorgeschriebenen Herrscherkulten teilzunehmen. Auch da, wo er in griechischen und gräzisierten Städten wohnte und Bürgerrechte genoß, betete er nicht zu den Stadtgöttern. Das war ein unzulässiger Partikularismus. Mit voller Logik verlangten darum die Jonier von Agrippa, daß er den Juden das Bürgerrecht 46 entziehe. Wenn sie darauf beständen, es zu besitzen, so sollten sie auch zu den gleichen Stadtgöttern beten. Und es ist eine weitere Konsequenz, wenn auch ein ungeheures Mißverständnis, daß die Ablehnung der heidnischen Götter dem Juden, dem Gottgläubigen kat exochen, das Prädikat eintrug, er sei ein Atheist.

Zur Ablehnung der Götter trat die Ablehnung der heidnischen Lebensformen, und zwar in planmäßiger Weise und durch Vorschriften derart, daß der Jude nicht mit dem Heiden essen und trinken soll, sich nicht mit ihm verheiraten darf und seine Vergnügungen nicht teilen soll. Daß hier die Sorge um die Reinhaltung der eigenen Sitten das Motiv war, wurde nicht erkannt und nicht gewertet. Aus seinem unbefangenen Glauben an sich selbst und den Wert seiner Lebensform erklärte der Heide den Juden als einen Misanthropen, als einen Hasser des Menschengeschlechts. Er hielt ihn, dessen Gesetze schon fast bei der Hybris des sozialen Verhaltens gelandet waren, für ein asoziales Geschöpf. Posidonius von Apamea formuliert es: »Denn alleine von allen Nationen weigerten sie sich, irgend eine gesellschaftliche Beziehung zu anderen Völkern zu haben und betrachten sie alle als Feinde.«

Auch auf allgemeinem kulturellen Gebiete überschlägt sich die anfangs dem Juden günstige Wertung sehr bald, wie überhaupt im ganzen eine deutliche Stufenleiter des negativ werdenden Urteils festzustellen ist. Während noch Hermippos zu berichten weiß, daß Pythagoras seine Philosophie von den Juden entlehnt habe, und Klearchos von Cypern von Aristoteles das Urteil über 47 einen gelehrten Juden tradiert: »er war ein Grieche nicht nur der Sprache, sondern auch der Seele nach«; während noch Theophrast und Megasthenes in den Juden ein Geschlecht von Philosophen erblicken; und während anfangs die Version verbreitet war, die Juden stammten von den Philosophen Indiens ab – ist man bald bei dem Ergebnis gelandet, die Juden seien ein belangloses, barbarisches Volk und ihre Religion barbara superstitio, barbarischer Aberglaube, eine grandiose Betrügerei, erfunden von einem Charlatan mit Namen Moses. Das Gesetz des Juden, dieser ausgeprägte Moralkodex, wird für unmoralisch erklärt, und Fabius Quintilianus formuliert abschließend: »Es ist ein Schandfleck für die Staatengründer, ein Volk organisiert zu haben, das den anderen Völkern schädlich ist, und das trifft zu für den ersten Erfinder des jüdischen Aberglaubens.« Die jüdische Diaspora hatte allerdings solchen generellen Behauptungen nicht minder generelle Behauptungen entgegengesetzt, wie etwa derart, Plato, Aristoteles und Zenon ließen sich sämtlich aus dem Pentateuch ableiten und seien nichts anderes als Plagiatoren von Moses.

Die negativen Wertungen der Griechen und Römer lassen sich noch in gewissem Umfange erklären aus der grundlegend anderen Weltanschauung der Heiden. Weit bedenklicher ist aber schon, daß eine ganze Reihe von wesentlichen Urteilen auf nichts als ausgesprochener Ignoranz beruht, einer Ignoranz, die sich sogar auf das biblisch aufgezeichnete und mithin stets kontrollierbare Material bezieht. Hier ist der nackte Unwille zur Kenntnisnahme des Materials – wie er sich dem 48 Juden gegenüber bis in die Gegenwart hinein fortsetzt – das entscheidende. Das gilt in der hellenistischen Zeit vor allem für das Verständnis der jüdischen Religionsform. Ganz allgemein wird daraus ein Pantheismus gemacht. Moses habe gelehrt, die Gottheit sei nichts anderes als das, was uns umgibt, nämlich das, was wir Himmel oder Welt oder Natur nennen, meint Strabo. Plutarch hält dafür, daß der Gott der Juden mit dem Bacchus der Griechen identisch sei. Und Celsus berichtet: »Was zunächst bei den Juden erstaunt, ist, daß sie den Himmel anbeten und die Engel, die darin wohnen; während die verehrungswürdigsten und mächtigsten Teile des Himmels: Sonne, Mond, Fixsterne und Planeten, von ihnen verachtet werden. Als ob das Ganze göttlich sein könnte, ohne daß es zugleich die Teile wären . . .« Noch Juvenal glaubt, daß die Juden die Wolken und die Himmelsgötter anbeten.

Von gleicher Sonderlichkeit sind die Auffassungen, die über den Schabbat verbreitet sind. Fast alle meinen, am Schabbat – den Dio Cassius als Saturnstag bezeichnet – werde entweder gefastet und gebetet oder . . . getrunken. Das weiß selbst Plutarch: »Wenn die Juden ihren Schabbat feiern, regen sie sich gegenseitig zum Trinken und zum Betrinken an, oder wenn ein wichtiger Grund sie daran hindert, kosten sie wenigstens etwas reinen Wein.« Dieser Tag und diese Institution waren dem Heiden überhaupt unverständlich. Selbst ein Denker wie Seneca kommt zu dem erstaunlichen Ergebnis: »Septimam fere partem aetatis suae perdant vacando«, den siebenten Teil ihres Lebens verlieren sie durch Faulenzen. Die Strenge 49 dieses ›Faulenzens‹ erstaunte immer wieder, und mehrfach wird betont, daß die Eroberung Jerusalems nur durch das Verbot des Kämpfens am Sabbat erfolgt sei. »Statt auf den Wällen zu wachen« meint Agarthachides, »vollzogen die Einwohner ihre albernen Gebräuche, sodaß ihr Land sich einem tyrannischen Herrscher unterwerfen mußte und die ganze Absurdheit ihres Gesetzes klar wurde.«

Von solchen wertbetonten Urteilen ist der Weg nicht weit zur Diffamierung und zur schlichten Lüge, denn in beiden kann sich die seelische Ohnmacht nur zu gefällig entladen und sich ein Gegengewicht schaffen für die Tatsache, vor etwas Unbegreiflichem zu stehen. Sie nahmen ihren Ausgang im hellenistischen Ägypten, da, wo die Dichte der jüdischen Bevölkerung, die starke wirtschaftliche Konkurrenz und die Hemmungslosigkeit der Diskussion über die geistige Thematik der Zeit besondere Spannungen erzeugen konnten. Zudem bestand in Ägypten immer noch eine unerledigte Ranküne gegen den Juden, der sich des Auszuges aus diesem Lande als des entscheidenden Aktes seiner nationalen Gestaltung rühmte. Manetho, ein ägyptischer Priester aus der Zeit der ersten beiden Ptolemäer, schreibt in seiner ›Geschichte Ägyptens‹ zugleich die Gegenerzählung zum jüdischen Exodus. Man hatte Ägypten schon längst mit der ursprünglichen Herkunft der Juden in Verbindung gebracht. Sie stammen entweder von den Ägyptern selbst ab oder sind aus Ägypten geflohene Sklaven, oder aber sind, wie der zuverlässige Tacitus zu melden weiß, von der Insel Kreta geflohen. »Da der Berg Ida auf Kreta 50 berühmt ist, wurden die benachbarten Völker Idaeos genannt«, wovon sich später die Bezeichnung Judäer zwanglos ableitet. Aber Manetho gibt doch die schlüssigste Erklärung, die so einleuchtend war, daß sie jahrhundertelang gegolten hat: die Juden sind ägyptische Sklaven, die wegen Aussatz und Unreinlichkeit aus dem Lande verjagt wurden. Sein geistiger Nachfahre Apion hat unter Anwendung der gleichen Technik und auf dem gleichen Niveau auch eine plausible Erklärung für den unverständlichen Schabbat gefunden: »Nach sechs Tagen Marsch (beim Auszug aus Ägypten) stellten sich bei ihnen Geschwülste an den Schamleisten ein. Aus diesem Grunde ruhten sie am siebenten Tage in dem heute Judäa genannten Lande, wo sie ein Asyl fanden.«

Damit ist der Weg frei gemacht für die Anwendung von zwei wirksamen Waffen, deren sich die kommenden Zeiten für die Beurteilung des Judentums und des Juden gerne und beständig bedient haben: der Diffamierung und der bewußten Lüge. Während zuweilen mit betontem Erstaunen darauf hingewiesen wird, daß der jüdische Kult ein bildloser sei, weil das göttliche Wesen eine bildhafte Darstellung nicht vertrage, wird gleichwohl berichtet, im Allerheiligsten des Tempels zu Jerusalem werde der Kopf eines Esels verehrt, oder die Statue eines Mannes mit langem Bart, der auf einem Esel sitze. Beide Behauptungen finden sich neben einander bei dem großen Historiker Tacitus. Er sagt: »Ihr Gott ist ein erhabenes und ewiges Wesen, unnahbar und unzerstörbar. Darum dulden sie keinerlei Bildwerke, nicht in den Städten und schon gar nicht im Tempel.« Zugleich 51 berichtet er von der Eselsstatue, ein Beweis dafür, daß die Lüge eine legitime Tochter des Hasses ist.

Ihre Lebenskraft, die bis in die Gegenwart reicht, hat sie bewiesen an der Ritualmordlegende. Apion berichtet, daß die Juden in jedem Jahre – Damokrit dagegen meint, es geschehe nur alle sieben Jahre – einen Griechen gefangen nehmen, ihn im Tempel mästen, ihn dann schlachten und von seinen Eingeweiden genießen, wobei sie sich schwören, nie gegen andere Völker, insbesondere nicht gegen Griechen Gutes zu tun. Diese Schlachtung zu rituellen Zwecken wurde späterhin von den Römern dem jungen Christentum vorgeworfen. Von da aus wurde sie, als das Christentum Staatsreligion geworden war, wieder auf den Juden zurückübertragen. Ihre endgültige Erledigung hat sie bis heute noch nicht gefunden.

Diese kurze Übersicht mag zeigen, daß die heidnische Welt und ihr bedeutendster Exponent, der frühe und der späte Hellenismus, keinen Zugang zum Verständnis des Judentums fanden. Diese Welt war zu gegensätzlich. Sie gelassen abzulehnen, erlaubte die Situation der religiösen Agonie nicht. Man konnte sie nur entweder akzeptieren oder mit steigendem Haß bekämpfen. Man entschied sich für das Letztere. Man hatte keine andere innere Möglichkeit.

 


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