Josef Kastein
Herodes
Josef Kastein

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Erster Teil

Das Fremde

1. Kapitel

Von der Treue

Im Anfang des bewußten Lebens steht die Entscheidung. Entscheidung ist Auswahl zwischen mehreren Möglichkeiten und das Bekenntnis zu einer von ihnen.

Es gibt zwei Arten des Tuns. Die eine Art setzt eine gegebene oder geschaffene Situation mit der nächstbesten Handlung fort; als Reflex, als Notwehr, als unbedachter Gehorsam. Die andere Art setzt eine Situation fort mit dem Willen, ihr eine wirkliche Fortsetzung zu geben; als Folgerung, als Sinngestaltung, als bedachter Gehorsam. Jenes Tun unterwirft sich den Dingen und Tatsachen und kennt kein ursprüngliches Ziel, sondern nur einen Weg. Dieses Tun will sich die Dinge und Tatsachen unterwerfen, und jeder Weg dient einem vorgestellten Ziel. Jenes Tun ist Erdulden, und will der Mensch nicht unter der Sklaverei dieses Gehorsams zerbrechen, muß er mühsam von der Vernunft her einen Sinn in die Abfolge des Tuns hineintragen. Dieses Tun ist Gestaltung, und das vorgestellte Ziel rechtfertigt sich in Form und Inhalt durch den Glauben. Das Kriterium solches gestaltenden Tuns ist die Entscheidung; die Bereitschaft und Fähigkeit, zwischen mehreren möglichen Fortsetzungen einer Situation eine Auslese zu treffen und sich für eine von ihnen zu entscheiden.

Mit solchen Entscheidungen wird das ungeformte Dasein hinaufgehoben in seine Gestaltung. Erst diese Gestaltung darf sich Leben nennen. Darum steht im Beginn alles Lebens die Entscheidung.

Solche Entscheidungen sind in sich wertfrei, denn sie sind Gesetze. Der Fromme mag sie vom 10 Himmel ableiten und der Vernünftler aus seinem Verstande. Sie werden immer von beiden Quellen gespeist, und sie treffen sich dort, wo die begrenzte Vernunft am Rande ihrer Möglichkeiten mit dem nicht mehr Begreifbaren zusammenprallt: im Erlebnis. Das Erlebnis preßt die unendlichen Möglichkeiten des Tuns zu nur einer möglichen Handlung und Haltung zusammen. Hat man sich einmal entschieden, dann vollzieht sich das Gesetz, nach dem ein Leben abläuft. Dann kann – zur Welt hin, zum Nebenmenschen hin, zum Gesamt der Dinge hin, die in der Menschheit geschehen – ein Ja oder ein Nein, ein Gutes oder ein Böses zur Wirksamkeit gelangen. Hat man sich einmal entschieden, dann verläuft das böse Tun mit den Schwankungen der Reue und das gute Tun mit den Versuchungen der Untreue.

Die Entscheidung, die aus dem Erlebnis entsteht, kann so tausendfach gestuft sein, wie die seelische Möglichkeit der Kreatur Mensch eine Antwort auf das Geschehen zuläßt. Aber noch in aller Mannigfaltigkeit sind sie nach hüben und nach drüben in zwei große Möglichkeiten aufgeteilt, die sich als das ewige Unvereinbare gegenüber stehen. Eine Entscheidung kann die gegebene Situation als einmalige und isolierte begreifen; dann ist auch die Entscheidung einmalig und isoliert. Oder sie kann die Situation als stets sich wiederholende und typische begreifen; dann ist auch die Entscheidung grundsätzlich und von immer gleicher Anwendbarkeit. Es kann eine Entscheidung sich stützen auf Erwägungen der Vernunft, des Verstandes, der Ratio; oder sie kann sich motivieren von der Gebundenheit her, die ein Glaube 11 gewährt. Sie kann – aus Unwille oder aus mangelnder Kraft – für Zeit gemeint und gewollt sein, oder – aus der Bereitschaft und dem Überschuß der Kraft – für das Morgige und Zeitlose. Sie kann sich zu ihrer Rechtfertigung der Moral bedienen, des Lehrsatzes aus der Konvention, die jeweils und zeitbegrenzt in der Gemeinschaft gilt; oder sie kann sich der Ethik bedienen, des geglaubten Gesetzes, dessen Zeitdauer nicht beschränkt ist. Sie kann mit ihrer Intention die Wahrheit von heute begreifen oder die Wahrheit, die ohne Bindung in die Zukunft hinein gilt.

Mag auch hier die Unterscheidung nicht eine Unterscheidung des Wertes sein, so ist sie dennoch eine Unterscheidung des Schicksals. Denn nur, was so zum Grundsätzlichen, zum Gläubigen, zum Zeitlosen, zum ethisch Gebundenen und Zukünftigen hin sich bekennt und entscheidet, ist seinem Wesen nach einer Fortsetzung fähig. Alles andere steht in der Zeit und vergeht in der Zeit. Es trägt höchstens das Schicksal einer Generation. Aber was so in der Fortsetzung über sich hinausstrebt, bindet die Geschlechter zu immer neuem Erleben und zu immer neuem Schicksal. Die Form dieser Bindung ist Tradition. Ihre innere Gesinnung ist die Treue.

Tradition ist die Weitergabe von Lebensformen und von Glaubensinhalten durch die Kette der Geschlechter. Lebensform und Glaubensinhalt sind nicht von einander zu trennen, wenn die Verbindlichkeit von beiden für unbegrenzte Dauer bestehen soll. Denn Lebensform an sich ist nur ein unweltlich bedingtes Verhalten, ein Beharren im Zustand des labilen Gleichgewichts. Eine 12 Eroberung, ein technischer Fortschritt, ein Erdbeben oder ein neuer Götze können sie verändern, abwandeln, in ihr Gegenteil verkehren. Wenn kein Sinn sie heilig spricht, wenn kein Glaube in ihr als der gewachsenen Form seine Wohnung sucht, ist sie nichts als das Strandgut der Kulturen. Und der Glaubensinhalt kann der Lebensform nicht entraten, weil diese irdische Welt und dieses Dasein der Bewährungsraum aller lebendigen Religion ist. Sie bedarf immer der irdischen Manifestation, des geformten und geprägten Verhaltens zu ihrem Ausdruck und ihrer Verwirklichung. In der Tradition wirkt der Glaube durch das Medium der Form.

Die so geprägte Lebensform ist aber nicht das gleiche wie die unwandelbare, wie die ewig starre und erstarrte Form. Sie wird in lebendiger und fruchtbarer Spannung gehalten durch ihre Möglichkeit zur Exklusivität, zur betonten und bedachten und gewollten Abgrenzung gegen die Lebensformen anderer Gemeinschaften und anderer Welten. Aber auch noch in der Übernahme von Formen, die auf fremden Grunde gewachsen sind, gibt echte Tradition selbst der entlehnten Form ihren selbständigen Sinn durch das Hineintragen des nur eigenen Bekennens. Und wo die uralte Form, vom Leben oder von der Not bedrängt, sich wandelt, ist es ein sinnbegabter Wandel, eine bedachte Umformung, eine echte Fortsetzung des alten Inhaltes. Erst in der Entartung, wenn der Glaubensinhalt nichts mehr an Unmittelbarkeit trägt und nichts mehr an Lebenswärme in die Form hineingeben kann, entsteht die 13 Verkümmerung, die Verzerrung der Tradition: die Form um ihrer selbst willen.

In einer Tradition, die so gehalten und gelebt wird, liegt nichts an Willkür und Zufälligkeit. Sie ist mit all ihren großen Zügen und all ihren kleinen Ausbuchtungen von der Entscheidung des Anfangs her motiviert. Aus dieser Motivierung wird sie wesenhaft, denn mit ihr regelt eine Gemeinschaft ihr alltägliches Verhalten zu Gott. Mit ihr gibt sie dem Alltag einen immer gegenwärtigen, einen immer zum Transzendenten hin gebundenen Sinn. Mit ihr trägt sie noch das kleinste, scheinbar unwesentliche Tun über alle Gegenwart hinaus zur lebendigen Verknüpfung mit dem Ehemals und dem Zukünftigen.

In jedem kleinen Tun das Wesenhafte und Unbedingte begreifen, in jeder halb bewußten Handlung um ihre letzte Verknüpfung mit dem Außerirdischen wissen, ist eine ungeheure Belastung für einen Menschen und eine Gemeinschaft. Diese Belastung kann nur getragen werden, wenn das Bewußtsein, das jedesmal neu anspringen müßte, um die Handlung in ihrem Sinn zu rechtfertigen, abgelöst wird durch eine seelische Grundhaltung, in der ein für allemal beschlossen liegt, was eigentlich in jedem Augenblick neu erkämpft werden müßte: in der Grundhaltung der Selbstbindung und der Unterordnung in Freiwilligkeit. Den Göttern gehorchen ist Sklaventum. Einen Gott auf sich nehmen ist schöpferische Freiheit. In solcher Freiheit die Formen des Lebens heilig sprechen und als heilig empfinden, ist im allertiefsten Sinne eine Haltung der Treue.

Wenn ein Volk durch die Jahrhunderte hin solche 14 Treue in seine Lebensformen hineinpreßt und sie in die Welt trägt, in jene Welt, die durch die gleichen Jahrhunderte mit ewigem Wechsel von Form und Inhalt an ihm vorüberzieht: dann ist dem Mißverstehen und der Fremdheit jeder Zugang geöffnet. Denn den Sinn der beharrenden Form kann nur begreifen, wer selbst einmal durch dieses gleiche Erlebnis der Treue gegangen ist. Wer nur von außen her der Form begegnet, sieht sie in der Vereinzelung und Unverbundenheit. Von daher kann Treue in ihren Erscheinungsformen absurd sein. Sie kann der Verstocktheit, der Hartnäckigkeit, der Begrenztheit ähnlich sehen. Sie kann das Erstaunen und den Widerspruch der Welt erregen. Sie kann sogar den Haß erzeugen, wenn die Hand, die dem Beharrenden um eigener Erkenntnisse willen eine neue Form geben möchte, zurückgestoßen wird, da dem Beharrenden zu anderer Lebensform keine seelische Möglichkeit geboten ist. In solcher Gebundenheit, die das Odium der Weltfeindlichkeit auf sich nehmen muß, sich inmitten aller Welten behaupten zu wollen, bedeutet im geschichtlichen Ergebnis, die Treue durch das Martyrium zu erhärten.

Völker sind sehr verschieden für das Martyrium begabt. Es gibt Völker, denen die Selbstaufopferung um einer Überzeugung willen so wunderbar, so überirdisch erscheint, daß sie die Märtyrer sorgsam aufzählen und ihnen in ihrem Kult eine bleibende Stätte der Verehrung bereiten. Es gibt aber auch die andere Weise, daß ein Volk durch endlose Jahrhunderte hin den Märtyrer als den erzeugt, der in allen Stadien des geschichtlichen Weges das ruhige und selbstverständliche Zeugnis 15 für das Erlebnis der Treue ablegt. Ihn braucht man nicht zu sammeln und ihm Denkmäler zu setzen. Er setzt sich selber in die Geschlechter hinein fort. Er richtet sich selber immer wieder auf, und das Andenken an ihn ist bereit, wenn die Zeit und die neue Erlebnisfähigkeit es fordern.

In vielen Lebensformen haben die Völker der Welt sich den Ausdruck ihres Wesens geschaffen. Fast immer, wenn es ihnen nicht an Macht gebrach, haben sie versucht, mit diesen Formen gegen andere Gemeinschaften vorzudringen, um ihnen mit dem Zwang der Form zugleich ihre geistige Prägung zu geben. Sie haben das Angesicht der Welt in diesen Kämpfen verändert; sie haben Kunst gezeugt und unendliches Elend; sie haben Kulturen geschaffen und den Abgrund der Not nicht mit einem Hauch ausgefüllt. Sie haben alle nicht den Mut und die Demut gehabt, in der gläubig gebundenen Erfüllung der eigenen Lebensform zunächst den eigenen Umkreis zu beschließen, um wirkendes und legitimes Beispiel für die Welt zu werden und zu sich selber hin jene Treue zu bekunden, die sich vor dem Forum Gottes rechtfertigen kann: sie hätten dem Erlebnis des Anfangs die Treue gewahrt und hätten es nicht entwürdigt durch die Gewalt.

Eine Erbschaft der Treue will verwaltet sein mit der letzten Rechtlichkeit und Lauterkeit der Seele. Sie ist eine Aufgabe der Zeitlosigkeit, bestimmt, vom Vater dem Sohne gegeben zu werden, damit eines Tages – das Erlebnis abzurunden – aus dem ewigen Glühen der Treue jenes Feuer geschürt werde, an dem die tiefe Glaubenslosigkeit der Welt sich läutern kann, damit Gott im 16 Alltag wieder eine Stätte habe. Im Sinn der Lebensform, in ihrem ethischen Gehalt und in ihrer Fähigkeit, das Leben zu meistern, wird sich alsdann das Schicksal der Welt entscheiden. –

Alles, was bis hier gesagt ist, ist eine Aussage über den Juden, über die Tradition des Juden und über das Schicksal des Juden, das ihm aus der Entscheidung und der Treue bereitet worden ist und bereitet werden wird. Um für eine schwankende und in der Gewißheit ohnmächtige Zeit noch einmal sichtbar zu machen, wie solches Schicksal aus solcher Treue historisch verläuft – und zu keinem anderen Zwecke – ist dieses Buch geschrieben worden. –

 


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