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Vom Tanganika zum Kiwu.

Brief XXVII.

Am 6. September hatte ich Usumbura, die deutsche Station am Nordrande des Tanganika, erreicht. Wenige Tage später löste ich, dem an der Küste geschlossenen Vertrage gemäß, meine Karawane auf und behielt nur wenige Boys und Askaris zurück, die sich nach langen, mühseligen Verhandlungen zum Weiterdienst bereitfanden und mich auf meinen zukünftigen Forschungsreisen begleiten sollten (Kwa nguvu – »mit Gewalt« würden sie es selber genannt haben. Denn so bezeichnet der Neger auch eindringliche Überredung und narrt damit manchen unerfahrenen Richter. »Er hat mich mit Gewalt geheiratet«, sagt eine Zeugin im Schauri. »Ha!« ruft der Richter froh, ein Verbrechen zu wittern, und ahnt die Enttäuschung nicht, die ihm bevorsteht. Denn der Verdacht löst sich bei näherer Untersuchung in das Paradoxon auf, daß die Zeugin den Mann geheiratet hat, um ihn los zu werden, »weil er ihr keine Ruhe ließ: kwa nguvu.«) Zur Belohnung für ihre Entsagung erhöhte ich den Neuverpflichteten den Sold und gestattete ihnen, für einen Monat nach Udjidji zu gehen, um sich im Capua des Tanganika für die Genüsse schadlos zu halten, die ihnen während unseres Aufenthalts in der »Wildnis« oder bei den »Barbaren«, wie sie unhöflich die gesegneten, von uns durchzogenen Gefilde nannten, entgangen waren. Um in dieser Beziehung jeden Mißerfolg a priori auszuschließen, mußte ich jedem von seinem rückständigen Lohn 90 Mark auszahlen, die sie so gründlich ausnutzten, daß sie nach Ablauf ihrer Ferien nicht nur ohne einen Pfennig, sondern auch zerlumpt und abgerissen wie Strolche wieder bei mir sich einstellten. So rechtschaffen waren sie durch Weiber und gute Freunde gefleddert worden. Die Weiber hatten dazu den in Afrika sehr beliebten Kniff angewendet, sich ihnen als Reisegenossinnen anzubieten, um schließlich in dem Augenblick unsichtbar zu werden und in den Hütten von Kolleginnen sich verborgen zu halten, wo die ausgeplünderten dummen Teufel den Rückmarsch antreten mußten. So schwinden Treu und Glauben immer mehr aus dieser gebrechlichen Welt.

Die letzten Tage vor Auflösung der Karawane waren mit endlosen Schreibereien und Schauris erfüllt, die mir die Ausstellung von über 100 Lohnlisten verursachte. Denn nicht allein wollte jeder genau wissen, was ihm zustand – wozu nötig war, ihm jedes Päckchen Tabak, jedes Stück Seife, jeden Fetzen Zeug, jeden Pesa in bar, die er im Laufe des letzten Jahres entnommen hatte, aufzuzählen – sondern ich mußte auch die unzähligen Pumpgeschäfte in Anrechnung bringen, die die Leute untereinander gemacht hatten und unter denen förmliche Kettenpumpe waren, indem eine größere Anleihe nach jedesmaligem Abzug einer geringen Summe von Hand zu Hand lief und in immer kleinere Glieder sich auflöste. Dabei gab es viel ungeduldiges Poltern meinerseits und viel Wehklagen bei den Leuten, die gierig nach Schätzen suchten und enttäuscht waren, wenn sie Regenwürmer fanden. Denn die bekannte Zensur »Religion gut, Kopfrechnen schwach« erfährt für die meisten Neger die Einschränkung, daß sie in beiden schwach, im Rechnen sogar sehr schwach sind. Zwar zählen sie die Monde, wissen auch zur Not, daß sie nach Ablauf eines Jahres so und so viel erworben haben würden; es fällt ihnen aber nicht ein oder sie sind außer stande, alle im Laufe der Dienstzeit empfangenen Werte zu summieren und ihrem Lohn abzuziehen, so daß sie zuletzt bei der Auszahlung des Saldos bitter enttäuscht sind. Dazu kommt, daß die gewitzteren Leute, wie meistens die Wanjampara und Europäerboys unglaubliche Wuchergeschäfte machen, die ihnen dadurch erleichtert werden, daß sehr viel Neger zu ganz unsinnigen Ausgaben sich verstehen, wenn ihnen Zahlungsfrist gewährt wird. – – – – – – –

Wucher, möchte ich noch bemerken, ist Küsten- und Karawanennegern so geläufig wie Arabern und Indern und gilt nicht als schimpflich; der Kausalkonnex von Risiko und Wucher tritt hier sehr klar zu Tage. Daß z. B. ein Küsten-Inder, der Arabern im Innern Handelswaren auf Kredit gab, sich nicht – noch dazu vor Aufrichtung der deutschen Autorität – mit einem kleinen Zinsfuß begnügen konnte, ist einleuchtend, denn nur, wenn sein Schuldner Glück hatte, konnte er auf Erfüllung der Pflichten rechnen. Hatte jener aber Unglück oder war er böswillig, so besaß der Gläubiger wenig Mittel, um den 1000 Kilometer Entfernten zur Rechenschaft zu ziehen. Daß man jetzt von Amts wegen gegen den Wucher vorgehen will, um ihn einzuschränken, halte ich für ganz richtig, weil die Sicherheit der Geschäftsbeziehungen in der Kolonie ja außerordentlich gestiegen ist; aber man sollte nicht mit zu großen Schritten avancieren, um nicht unversehens die Grenze zu überschreiten, wo das, namentlich abseits der großen Karawanenstraße, immer noch vorhandene und nicht ganz geringe Risiko durch einen minder wucherhaften Gewinn nicht mehr ausgewogen werden kann.

Ich war von Herzen froh, als ich endlich unter den letzten der Schecks meinen Namen setzen konnte, die je nach den Wünschen der Leute teils in Udjidji, teils in Tabora und in der Mehrzahl an der Küste ausgezahlt werden sollten. Die meisten hatten sich doch ca. 100 Mark verdient, aber andere trugen keine Doppelkrone mehr heim. Einem der Sparsamsten erging es am schlechtesten, und der Fall ist wohl erzählenswert, weil er für die afrikanischen Verhältnisse bezeichnend ist. Ich hatte einen Träger von etwa 40 Jahren, den ältesten von allen und den zuverlässigsten, den die Karawane Kiongosi nannte, weil er immer unverdrossen an der Spitze marschierte. Diesen Mann traf in Usumbura ein Händler – aber mehr noch Tagedieb – ein Araberbastard und erkannte in ihm einen seiner Sklaven, deren er aus früherer unrühmlicher Zeit Unzählige hatte. Mindestens 15 Jahre hatten Herr und Höriger sich nicht mehr gesehen, hatte letzterer durch selbständige Arbeit für sich und den Unterhalt seiner Familie gesorgt; kein Wunder, daß der dicke Faulenzer jetzt mit Entzücken das Wiedersehen mit seinem ob dessen tief geehrten »Kinde« feierte. Ja mehr noch, um ihrer Zusammengehörigkeit einen an Deutlichkeit nicht zu übertreffenden Ausdruck zu geben, nahm er, nachdem die Eruptionen der wildesten Freude sich beruhigt hatten, die Hälfte des mühsam verdienten Lohnes in Beschlag, die ich ihm nicht vorenthalten durfte, nachdem ich mich über die Rechtslage orientiert hatte. Ich durfte es nicht, so leid es mir tat und so betrübt mein Mann auch war, der zähneknirschend zu spät einsah, daß er besser getan hätte, dem zärtlichen Empfang nicht zu trauen und die früheren, schwer zu beweisenden Beziehungen einfach abzuleugnen. – – – – – – – – – – – – – – – – –

Und nun kam ein Abend, an dem ich die Leute den langen palmenbepflanzten Weg zum Strande führen und in der Griechen-Dhau, ein wenig eng zwar, nach Udjidji verfrachten konnte. Da die meisten betrunken waren, wurde der Abschied recht herzlich, und nachdem der Mnjampara von Bagamojo mit schwungvoll lallendem Zungenschlag die Gefühle aller verdolmetscht hatte, brüllten hundert heisere Kehlen ein dreifaches »hip, hip, hurra« in die milde Septembernacht hinaus. Dann gingen die Anker an Bord, und während das Schiff langsam nach Süden glitt, kehrte ich erleichterten Gemüts zur Station zurück, gefolgt von meinen Boys, die sehr verstimmt ob ihres Hierbleibens waren.

Ja, ich war wirklich froh, den Tag erlebt zu haben, auf den ich mich seit vielen Monden schon gefreut hatte. Keinen Ärger mehr, keine Verantwortlichkeit; nicht mehr von früh bis spät den Wächter spielen müssen über mehr als 150 unruhige Köpfe; nicht mehr gezwungen, in Sonnenglut und Regen mit Routenbuch, Uhr und Kompaß bergauf, bergab zu laufen, endlich wieder deutsche Laute hören, deutsche Laute sprechen können: hinter mir das Gefühl, unter Larven die einzige fühlende Brust zu sein und – herrlich, herrlich, nicht mehr zweimal täglich meinen Geist martern zu müssen, um eine Speise zu erfinden, die mir noch nicht bis zum Halse über war, denn von jetzt ab war ich Mitglied der Stationsmesse und blieb es die nächsten Monate.

Unser ganzes Interesse war damals von dem Treiben der kongolesischen Rebellen beherrscht, die jahrelang die Tätigkeit an der Grenze lahm legten und erst zwei Jahre später, der Kämpfe und des Vagabundierens müde, auf deutsches Gebiet übertraten, wo sie entwaffnet und angesiedelt wurden. Damals aber fühlten sie sich, ob auch ihr Vertrauen auf die Zukunft schon etwas erschüttert war, doch noch als Herren des Landes, und an klaren Tagen konnten wir die Ruinen der Station Uwira sehen, die sie, beklommen durch die Ankunft meiner Expedition, die ihnen belgischen Zwecken zu dienen schien, in Brand gesteckt und verlassen hatten.

Chef von Usumbura war damals wie noch heute Herr Werner v. Grawert, der seit mehr als fünf Jahren schon auf diesem Posten ist und durch seine nie sich erschöpfende Arbeitskraft beweist, was ein starker Wille auch unter ungünstigen Verhältnissen zu leisten vermag. Daß ich bei ihm, wie bei dem gleichfalls dort anwesenden Bezirkschef von Udjidji, Herrn Hauptmann Bethe, dem die glückliche Suspension der einen Moment bedrohlich scheinenden Differenzen mit dem Kongostaat zu verdanken ist, die beste Aufnahme fand, brauche ich für den nicht zu erwähnen, der die Gastfreundschaft der meisten unserer Offiziere im Innern der Kolonie kennt.

Ich führe diese beiden Herren an, nicht nur aus freundschaftlicher Dankbarkeit für die mannigfache Förderung, die ich in all diesen Jahren von ihnen erfuhr, sondern mehr noch, weil es mir Pflicht schien, an einigen (leicht zu vermehrenden) Beispielen zu zeigen, wie unrecht es ist, von den paar räudigen Schafen, die gelegentlich die öffentliche Meinung erregen, den Maßstab für den Wert unseres kolonialen Offizierkorps zu nehmen. (Herr v. Grawert diente der Kolonie noch fast fünfzehn Jahre als Hauptmann und Major der Schutztruppe. Leider mußte er sie dann verlassen, noch im vollen Besitz seiner körperlichen Kraft, als eines der vielen Opfer, die das Gesetz der formalen Verantwortung für Verfehlungen Untergebener im militärischen Leben fast täglich fordert. Die Liebe und Verehrung seiner Freunde ging mit ihm.)

Diese unsicheren Zustände an der Grenze und kleine Wirren, die bald darauf in unserem Gebiet in nächster Nähe ausbrachen, bewirkten, daß alles vorhandene Trägermaterial für die Zwecke der Station reserviert war, so daß ich, als ich nach einiger Zeit wieder aufzubrechen gedachte, mich in einem – allerdings recht fidelen – Gefängnis festgehalten sah. Die Leute aus der Umgebung von Usumbura waren damals noch so wenig geneigt, als Träger in unbekannte Gegenden sich zu verdingen, daß ich mit viel Mühe nur ein halbes Dutzend auftrieb. Die Erlösung kam mir von Tabora in Gestalt von fünfzehn wenig verlockend aussehenden Kerlen, die, auf Befehl des immer hilfsbereiten Hauptmanns Langheld, ein gewisser Omari, ein langer, verwegener Bursche, den ich im Frühjahr in Uschirombo krankheitshalber entlassen hatte, mir zuführte. Es waren meist Wakua vom Rufidji, in der Nähe der portugiesischen Grenze zu Hause, aus einer Gegend, die früher viel Elefantenjäger hervorgebracht hat, so daß allmählich die meisten Elefantenjäger den Namen dieses Stammes angenommen haben. Sehr vertrauensvoll schauten sie nicht aus; es waren teils ganz junge Bengel, teils ziemlich bejahrte, verwitterte Gesellen, mit vielen Narben bedeckt oder einäugig, oder von Blattern und alten Krankheiten entstellt, aber zum Schwanken war keine Gelegenheit, ich bekam eben keine anderen, und wenn ich mir wie jener xenophontische Offizier eine Truppe aus lauter schönen Jünglingen hätte zusammenstellen wollen, so säße ich noch heute in Usumbura fest. So zog ich es denn vor, die Kompagnie Bullenkalb und Warze zu engagieren, um überhaupt fortzukommen. Zu Führern bekamen sie den langen Omari und einen Zwerghaften Alten, dessen Gesicht, platt wie ein Eierkuchen, durch zwei über Kreuz schielende Augen nicht verschönt wurde. Zum Überfluß erfreute er sich noch eines Fettnackens und des poetischen Namens Finesse, zu deutsch: »Stinkfrucht«.

Am 20. Dezember konzentrierte ich die ganze Gesellschaft, siebzehn Wakua plus sechs Warundi, außerdem sieben Askaris, einige Boys und die entsprechende Zahl edler Frauen, in Kajagga, am Nordende des Sees, um von dort aus einen Marsch in die Gebiete anzutreten, deren Exploration die Reise der nächsten Monate dienen sollte.

Es war mir nicht ganz leicht geworden, meine Bedürfnisse so zu komprimieren, daß ihnen mit der geringen Lastenzahl, einem Viertel der früheren, Genüge geschah, aber man lernt allmählich sich einzurichten und von unnötigem Ballast zu befreien. Es war bei meiner Ausreise, trotzdem unsere kolonialen Beziehungen im Laufe der letzten Jahrzehnte so außerordentlich gewachsen sind, doch noch sehr schwer, in Deutschland zuverlässigen Rat über die beste Art einer Expeditionsausrüstung zu erhalten, besonders weil die, die afrikanische Erfahrung haben, zu leicht geneigt sind, das meiste als bekannt oder selbstverständlich vorauszusetzen, und die wenigen Schriften, die sich mit diesen Dingen beschäftigen, auf zu großartige Verhältnisse zugeschnitten sind. Auch die an sich sehr brauchbaren Anleitungen von Wißmann und Paul Reichard sind heute in mancher Einsicht veraltet und in vielem erweiterungsfähig.

Meine Askaris verminderte ich ebenfalls, nämlich von siebzehn auf sieben Mann, trotzdem schon die erste Zahl von mehreren Seiten für zu niedrig gehalten wurde, aber ich verschiebe die Erörterung meiner Motive, weil ich hinter ihr eine Reihe anderer Fragen auftauchen sehe und ich heute wenig Neigung habe, das schwierige Problem über das zweckmäßigste Verhalten der Reisenden zu den Eingeborenen, insbesondere in unbekannten oder feindlich gesinnten Gebieten anzuschneiden.

Das große Fischerdorf Kajagga, in dem ich am 20. Dezember meine Gesellschaft konzentrierte, liegt 1½ Stunden von Usumbura entfernt, in unmittelbarer Seenähe. Der Weg dorthin führt durch reiche Bananenhaine, die von zahllosen Ölpalmen überragt werden, über Wiesen mit anmutig zu Bosketts geordneten Bäumen an der verlassenen Mission vorbei, von der nur noch ein einsamer Friedhof mit den von Gras, Schlingpflanzen und wilden Kapbeeren überwucherten Gräbern eines Paters und einiger Kinder zeugt, und zuletzt das Seeufer entlang über weißen, knirschenden Sand, den nur spärliche, niedrige Gräser hie und da mit einem schüchternen Grün überkleiden.

Von Kajagga aus blickt man, besonders wenn der Dunst der Trockenzeit, vermischt mit dem Qualm der Grasbrände, oder die Nebel der Regenperiode die Ufer einhüllen, wie auf ein Meer hinaus, und der Geruch von modernden Algen und faulenden Fischen verstärkt noch die Illusion, am Strande des Indischen Ozeans zu sein, so daß das Auge unwillkürlich den Horizont nach dem Rauche eines fernen Dampfers absucht, bis man seufzend der Wirklichkeit sich bewußt wird. Aber lassen wir jetzt die Blätter des Tagebuchs sprechen:

22. Dezember. Gestern morgen stellte mir Limba, der etwas geschwätzige, aber freundliche Chef von Kajagga, einen Kahn, den ich benutzte, um die Russisi-Mündung abzufahren. Die ersten vier Arme liegen ziemlich dicht beieinander, der fünfte und letzte weit ab im Westen. Da es mir in dem kleinen Boot, das von drei Mann mit langen Stangen vorwärts gestoßen wurde, unerträglich wurde – denn es brütete eine erstickende Glut auf dem unbewegten Wasser – ließ ich mich an den Strand setzen und folgte dem Ufer entlang nach Westen. Als ich aber nach fünf Viertelstunden noch nicht mehr als die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte, kehrte ich wieder um, denn ich hatte nichts bei mir, um einen knurrenden Magen stumm zu machen, auch lockte mich nicht die Landschaft, die Sand und Schilf, Schilf und Sand eintönig vor mir sich ausdehnte und nur selten durch ein paar elende Hütten und einen kleinen Acker unterbrochen wurde. Die Bevölkerung scheint hier fast ausschließlich vom Fischfang zu leben. Einmal traf ich ein Boot, dessen sechs Insassen auf sehr sonderbare Weise fischten. Vier Mann sprangen gleichzeitig, das Netz in Händen, kopfüber ins Wasser, tauchten nach dreißig bis fünfzig Sekunden wieder auf und ließen sich von ihren Gefährten wieder in den Kahn ziehen: ich kann mir aber kaum denken, daß man mit dieser primitiven Fangweise sehr rasch Kapitalist wird. Nur selten begegneten mir auf dem einsamen Weg Leute, meist nackte Wawira-Weiber, die ihre schöngeformten Tonkrüge zu Markt getragen hatten, und nun die unverkauften in großen Körben wieder heimschafften, und hin und wieder Männer mit langen Weidenbündeln, die sie des Nachts in ihren Booten anzünden, um Fische aus ihren dunklen Tiefen anzulocken.

Wie endlos der Weg in diesem feinen, das Auge wie Schnee blendenden Sande wird, der bei jedem Schritt über dem Fuß sich schließt und in die Schuhe dringt! Selbst der schmale, feuchte Rand dicht am Wasser ist nicht fest, wie der an den Küsten unserer heimischen Meere, sondern nachgebend und mit kleinen, knirschenden, flachgewälzten Steinen untermischt. Manchmal sitzen seidenschimmernde Eisvögel in langen Reihen auf einem faulenden Boote oder einem angetriebenen Baumstamm, oder die storchähnlichen, grotesken Klaffschnäbel fahren wie eine schwarze Wolke dicht vor mir auf und erfüllen die Luft mit kläglichem Geschrei, das dem der Ibisse ähnlich, aber nicht ganz so ohrenmarternd ist; oder ich scheuche einen kleinen Strandläufer mit weißem Leib und bronzenem Rücken auf, der immer wieder mit kurzem Schreckpfiff abfährt und in flachem Bogen nach vorne fliegt, wo er mit stoßender und im Stoße zögernder Gangart einhertrippelt, unaufhörlich mit Kopf und Schwanz wippt und bald den langen Schnabel ins Wasser taucht, bald wie eine Katze geduckt, einen großen Brummer beschleicht.

Zum ersten Russisiarm zurückgekehrt, ließ ich mich wieder vom Boot aufnehmen, fuhr den dritten Arm hinauf und durch den vierten wieder in den See zurück – zusammen mögen sie 150-200 Meter breit sein. Die Ufer sind mit ganz hohem Schilf bewachsen, das manchmal nischenförmig zurücktritt und riesigen Krokodilen nur ein vom Flusse her sichtbares Versteck bietet. Eine dieser scheußlichen Bestien, auf die ich immer mit wahrer Inbrunst feuere, schoß ich vom Boot aus und mordete ihr den heiligen Schlaf; und jäh erwachend plumpste sie halb springend, halb fallend ins Wasser, drehte sich auf den Rücken und trieb stromabwärts.

*

Des Abends saß ich noch lange am Strande, schaute sehnsüchtig über die Wasser, auf denen das Gold der späten Sonne schwamm und hatte Heimweh. Ich dachte daran, wie oft ich so während der ersten afrikanischen Wochen auf den Indischen Ozean hinausgestarrt hatte und verstand es gar nicht mehr. Denn heute umfassen nicht mehr die Meere, sondern die Länder für mich den Begriff des Trennenden.

Dann wurde es Nacht. Und nun zuckte ein Licht nach dem anderen auf, bis der See mit Tausenden kleiner Flammen bedeckt war, als schaute ich wie einst von Frascati über die dunkle Campagna hinweg auf die Lichter von Rom. Dann zog ein Trupp Fackelträger dicht an mir vorbei. Die Weidenbündel liefen längs über den Kahn, das glühende Ende ragte wie ein langhalsiger Drachenkopf weit über den Bug, das andere als dunkler Schweif weit über das Heck hinaus. Und so zogen sie, von Osten kommend, langsam in die fischreichen Gründe nach Westen, einer hinter dem anderen her, zwanzig, dreißig – wozu sie zählen – und glitten schweigend an mir vorüber in die Nacht. Und als dieser geheimnisvolle Zug wie ein Traumbild an mir vorüberfuhr, und als von Zeit zu Zeit ein mattes Leuchten auf die schwarzen Silhouetten von Männern fiel, die über den Schiffsrand gebeugt seltsam hantierten – es war aber oft, als würgten und schüttelten sie den Drachenhals, worauf sein Rachen im Zorn wieder stärker glühte und Funken spie, die zischend in der Flut verschwanden – und als sie zuletzt in das Dunkel tauchten und ich nur noch die wandelnden Lichter sah, immer zwei und zwei, eins über eins, auf dem Wasser, eins still und feierlich, eins zitternd wie ein armes Seelchen – da wurde mir seltsam schwer zu Mut und ich versank in Gedanken, denn mich quälte das Gefühl, daß ich dies alles, diesen traurigen Zug, diese Drachenboote, diese Männer, diese gleitenden Lichter schon einmal erlebt vor hundert, vor tausend, vor zehntausend Jahren – was liegt an der Zeit.

*

23. Dezember. Heute wurde mir, wie nur zu oft auf Reisen, meine Nachtruhe gestört. Schuld trug ein törichtes Weib. Ich hatte in Ruanda einige Sklavinnen losgekauft, darunter auch eine Frau namens Nirampetta mit ihrem kleinen Kind. Sie war ein paar Jahre vorher aus ihrer kongolesischen Heimat geraubt worden, die sie aber, da ihr Gedächtnis infolge epileptischen Schwachsinns mangelhaft funktionierte, nicht näher bezeichnen konnte. Ich hatte die Weiber einigen meiner Leute zugeteilt, denen sie sich bald eng anschlossen; die meisten blühten dank den besseren Lebensbedingungen und reichlicher Nahrung in kurzer Zeit sichtlich auf und baten mich, sie von ihren »Gärtnern« nicht mehr zu trennen. Ein Mißton kam erst in diese Idylle, als wir Usumbura erreichten und meine Leute sich der »Barbarenweiber« zu schämen begannen. Vollends, als sie Damen der haute volée vom Tanganika ihr eigen nannten, gab es manchen Hader, weil sich die Freigekauften aus ihren älteren Rechten nicht ohne Kampf verdrängen, noch sich von der ehrenvollen Position einer besseren Hälfte zu der minder angesehenen eines fragwürdigen Drittel degradieren lassen wollten. Und die hochnäsigen Udjidji-Weiber sorgten schon dafür, daß aus dem besseren bald das schlechtere Drittel würde. Am leichtesten gelang das der Frau meines Askaris Abdallah, weil sie nur die schwachsinnige Nirampetta zur Konkurrentin hatte. Mit der den meisten Negern eigenen Pietätlosigkeit gegen großes Unglück und Mißraten benutzte sie die arme Person, um mit ihr allerhand Allotria zu treiben und ihren »Witz« an ihr zu üben. Da ihr Salz aber ziemlich dumpf war, so hielt sie es schon für einen brillanten Einfall, der Närrin einzureden, daß wir sie in den nächsten Tagen schlachten oder verzehren wollten, wovon die Folge: ihre Flucht aus dem Lager und vergebliches Suchen unsererseits. In den ersten Stunden nach Mitternacht hörten Leute des Simba das Wimmern eines Kindes in Maisfeldern und ihm nachgehend, fanden sie das von 24-stündigem Hunger und der Angst vor umherschweifenden Bestien entkräftete Weib mit ihrem Knaben vor und brachten sie sofort zu mir. Um aber von den Posten nicht als Diebe eingeschätzt und mit Kugeln begrüßt zu werden, näherten sie sich dem Lager mit großem Hallo, das mich erweckte. Mit vieler Mühe beruhigte ich die erbärmlich zitternde Person. Als es mir endlich gelungen war, war ich zu sehr im Schlafe gestört, um mein Zelt gleich wieder aufzusuchen.

Ich ging deshalb noch lange am mattleuchtenden Strande auf und ab, den die dunkle Flut mit leisem schläfrigem Rauschen bespülte. Lauwarm wehte es vom See her, auf dem noch immer, aber jetzt weiter ab, tausende von Lichtern glühten. Der Horizont war bewölkt, im Osten lag ein schwarzes Wetter auf dem Gebirge und nur im Zenith zuckten und funkelten die Sterne in voller Klarheit. Die Nacht war schweigsamer, als ich sie je erlebte. Nicht einmal das Locken der Cikaden und Schrecken ist hörbar, nur hin und wieder das Flattern eines ruhelos streichenden Ziegenmelkers oder vom Fluß her ein dumpfer Eulenruf, dem klagend das Weibchen antwortet, und manchmal das schwere Grollen fernen Donners vom Kamm der Randberge – aber meist höre ich außer dem Murmeln der Wasser nur meinen eigenen Schritt in dem dunklen Schweigen.

25. Dezember. Die ersten beiden Marschtage durch die Russisi-Ebene boten dem Auge manchen Reiz. Nur selten konnten wir dem Strome selbst folgen, weil er von einem ungeheuren Sumpf, in dem er sich vielmals verästelt und wieder vereint, umschlossen wird. Nicht Papyrus- sondern Schilfrohrmassen füllen sein Bett aus, das sich dadurch wesentlich von den Tälern anderer afrikanischer Flüsse – des Kagera-Nil, des Malagarassi u. a. – unterscheidet. Nur an wenigen Stellen trat ein größerer Wasserarm an den Rand der Grassteppe, die wir durchzogen, und einige Male passierten wir winzige Seen, die nicht ohne freundliche Anmut waren, wie sie einsam zwischen dem hellen Grün des Hochgrases und dem etwas dunkleren Schilf sich ausbreiteten, und in der glatten, von Inseln und Inselchen unterbrochenen Wasserfläche der Himmel und die ziehenden Wolken und die graziösen Silhouetten der Palmen sich spiegelten. Enten schwimmen in kleinen Trupps auf der klaren Flut, schwarze Rallen mit rosenroten Ständern und grünem Schnabel huschen flink über die Blattpflanzen des seichten Ufers, die ersten Feuerfinken dieses Jahres wiegen sich brüstend auf dem schwankenden Schilfrohr und lassen ihr brennend rotes Hochzeitskleid in der Sonne leuchten oder jagen hinter kleinen langschnäbligen Eisvögeln her, deren sattblaue Farbenpracht ihren eifersüchtigen Neid erregt. Spinnen und Kerfe schnellen über das Wasser, Frösche und Kröten gröhlen unter den Steinen und gefräßige Libellen in allen Größen und Farben fliegen geschäftig umher oder klammern sich mit horizontal gestrecktem Leib und die schillernden Flügel weit vor den Kopf gelegt an die Spitze eines einsam den Spiegel überragenden Grases und achten der Fischchen kaum, die vergebens nach ihnen in steilem Sprunge springen und ungeschickt in ihr Element zurückfallen.

Dann wieder zogen wir über endlos sich ausdehnende, bebend heiße Steppen, die, wenn dicker Morgennebel die Berge im Westen verbirgt, unbegrenzt scheinen, und auf denen Dumpalmen bald in dichten Hainen sich zusammendrängen, bald in längere oder kürzere Reihen aufgelöst hier 2 und 3, dort 10 und 20, eine hinter der anderen herziehen, wie die müden Nachzügler einer geschlagenen Armee. Manchmal eile ich auf bequemem Pfade weit voraus, und schaue, im Schatten einer der zahlreichen Kandelaber-Euphorbien geborgen, deren breit ausladende Kronen als dunkle Flecken neben den schlanken Palmen das Landschaftsbild beherrschen, auf die Karawane zurück, die im Gänsemarsch durch die Ebene sich windet, bisweilen von üppiger Kraut- und Schlingvegetation aufgehalten wird, aber meist ungehindert, bald zwischen den frischen Gräsern der Steppe, bald zwischen großen Buschkomplexen niedriger Hyphaenen auftaucht.

So große Ansammlungen von jungen Dumpalmen wie hier fand ich sonst nirgends, was geschieht mit ihnen? Offenbar verhindern die Grasbrände ihr Hochkommen, sonst müßte sich hier ein ausgedehnter Hain an den anderen anschließen. Diese Dumpalmen am Russisi haben alle eine besondere Form; sie ähneln Borassus darin, daß sie auch eine amphoraartige Anschwellung haben, deren Hals mit zunehmendem Alter immer länger wird; aber es fehlt ihnen die edle, gedrungene, stilvolle Gestalt, der die Borassuspalmen ihre Schönheit danken, die allein genügt, eine sonst reizlose Landschaft schmückend zu verklären. Ich vermute, daß die Russisipalmen einer westlichen Spezies angehören. ( Hyph. ventricosa?).

Mein erstes Lager hatte ich in der Nähe des stellenweise 120 Meter breiten Stromes. Der Abend war klar; die westlichen Randberge traten aus dem feuchten Dunü; scharf hob sich vom roten Himmel der höchste Kamm ab, zu dem das zerklüftete Gebirge in vier bis sechs immer stärker aufsteigenden Ketten heranwächst.

Am zweiten Tage marschierten wir meist längs eines Russisiarmes, der zwischen dem hohen Schilf in reißendem Laufe dahinströmt. Einige Male begrüßte uns aus den dichten Rohrmassen langgezogener gellender Kriegs- und Spottruf, offenbar von Leuten des aufsässigen Sultans Kinoni, die sich aber in weiser Vorsicht sehr gut verborgen hielten. Später verließen wir den Russisi, weil ich hoffte, mit Hauptmann B., der von einer Strafexpedition das erbeutete Vieh nach Usumbura brachte, den Christabend verleben zu können und gingen seinen Signalschüssen nach, die wir weiter östlich gehört hatten. Aber die eingeborenen Führer führten uns in die Irre und verschwanden zuletzt ganz, noch dazu an einer Stelle, wo weit und breit weder Wasser noch Ansiedelungen sichtbar waren, so daß wir auf Umwegen wieder zum Flußbett zurückkehrten und totmüde dort anlangten. Die Gegend, in der wir lagerten, gehörte zu dem kleinen Sultanat Ramatta.

Nachmittag fiel feiner Landregen, dem abscheuliche nasse Kälte folgte, und schließlich waren Lager und Zelte von dichten, vom Sumpf des Russisi herstammenden Nebeln eingehüllt. Deswegen legte ich mich früh und verbrachte den heiligen Abend im Bett und dachte wehmütig der behaglichen Festfreude unter kerzenstrahlendem Baume vor zwei Jahren in Berlin. Aber doch dankte ich meinem Schöpfer, daß sich heute nicht, wie vor einem Jahre im Blatternlager am Malagarassi, das Heulen des Sturmes in dem Uferwald, das Dreschen des Regens gegen die Dächer und das Stöhnen der mit dem Tode Ringenden zu jener schaurigen Musik vereinte, deren deprimierenden Eindruck ich mein Leben lang nicht vergessen werde. Damit verglichen dünkte es mich diesmal fast mollig in meinem von Teedampf, Tabakqualm und Arakdüften erfüllten Zelte, und hätte nur ein gutes Buch über die heimwärts zu den Freunden wandernden Gedanken hinweggeholfen, so wäre nicht viel zu wünschen übrig geblieben.

Bergfrieden, im April 1901.

Brief XXVIII.

Von dem Lager bei Ramatta, mit dem mein letzter Brief abschloß, bis zu dem Ausfluß des Russisi aus dem Kiwusee brauchte ich sechzehn Marschtage, also achtzehn von Usumbura aus. Das ist sehr viel und spricht scheinbar gegen meine Fußgängerschaft; der Hund liegt aber wo anders begraben, wenn ich nämlich langweilig bin, dann nicht im Gehen, sondern in der Aufnahme des Terrains und es ist mir beim besten Willen nie möglich gewesen, weniger als das drei- bis vierfache der für einen einfachen Marsch nötigen Zeit für mein Routier aufzuwenden. Dazu kam damals – und mein Tagebuch klagt oftmals darüber – daß es in dem erst seit Wochen erschlossenen Gebiet noch keine zuverlässigen Führer gab, was mich vielfach zu kleinen Märschen zwang, weil angeblich der nächste Wasser- oder Lebensmittelplatz zu weit abläge. Stellte sich dann, wie meist, am nächsten Tage heraus, daß die Angaben erschwindelt waren, so befanden sich die Lügner längst wieder in Sicherheit, da sich die Führer immer nur für einen Tag verdingt hatten.

Dies war aber fast die einzige Unannehmlichkeit dieses Weges. Die Marschschwierigkeiten waren sehr gering, weil man, wenn nicht in der Ebene selbst, so auf einem Plateau marschiert, das dicht über dem Russisital sich erhebt. Nur eine Anzahl Flußübergänge waren höchst fatal. Erst im letzten Drittel oder Viertel der Tour, also im Norden, wo der Russisi als wilder Bergstrom zwischen steilen Wänden dahinbraust, kostet man die üblichen Anstrengungen eines Gebirgsmarsches aus.

In politischer Beziehung zerfällt das Gebiet zwischen dem Ostrande des zentralafrikanischen Grabens und dem Russisi in zehn bis zwölf kleinere Sultanate, von denen die meisten ca. 150 bis 200 Geviertkilometer bedecken mögen. Nominell sind sie unselbständig, und ihre Herrscher, die alle dem hamitischen aus den Gallaländern südlich von Abessinien stammenden Geschlecht der Watussi angehören, sind ursprünglich Vasallen des Fürsten von Urundi, des »Muesi Kissabo«, gewesen. Aber, wenn auch die große Masse der Bewohner den Eindruck ziemlich unvermischter Warundi macht, so ist der hohe Kamm der Randgebirge und die breite Urwaldwildnis ein zu bequemes Bollwerk gewesen, um nicht bei der von großen Ideen nationaler Zusammengehörigkeit unberührten Bevölkerung Selbständigkeitsgelüste wachzurufen, um so mehr, als auch das Mutterland in eine Unzahl sich gegenseitig befehdender, teils unabhängiger, teils mit der Zentrale nur noch locker verknüpfter Häuptlingsschaften zersplittert ist. Der noch bestehende Rest von Zusammenhängen scheint fast allein dadurch sich zu erhalten, daß dem Muesi irgend eine Art religiöser Bedeutung innewohnt, die es vielen Häuptlingen ratsam erscheinen läßt, die Brücken zu ihm nicht bis zum Pfeilergrund abzubrechen.

Wenn man bedenkt, wie unendlich verschieden die gesamten Lebensverhältnisse der am Tanganika sitzenden See-Warundi von denen der Berg-Warundi sind, und wie weit die mannigfachen Einflüsse zurückgreifen, die durch die Anwesenheit der Wasuaheli und Araber und des deren Fußspuren folgenden Gemenges westlicher Stämme sich an dem See-Warundi betätigten, so staunt man, wie hartnäckig sie trotz allem im Äußeren, Sprache und Sitten der Eigenart ihres in seltener Abgeschlossenheit lebenden Stammlandes treu geblieben sind. Dasselbe gilt für die im Russisigraben sitzenden Warundi, nur daß für sie die Verlockung, von der Väter Bräuchen abzufallen, wesentlich kleiner und, je nördlicher sie wohnten, um so geringer gewesen ist.

Nach dieser flüchtigen Orientierung lasse ich nun wieder das Tagebuch sprechen.

28. Dezember. Heute erreichten wir das Land des geflüchteten Sultans Kinoni und lagerten am Muhirafluß in einer großen Gruppe von Kandelabereuphorbien, die vor wenigen Tagen auch der Expedition von Hauptmann B. als Lagerplatz gedient hatte. Ich erkannte dies daran, daß unter einem Baume, wo jedenfalls der Speisetisch gestanden hatte, Mangokerne in solcher Unmenge verstreut waren, daß ich Neid und Leibweh zugleich bekam. Welch' einen gesegneten Appetit müssen die Herren gehabt haben, um über solche Quantitäten Sieger zu werden. »Auch das ist Größe«, würde Zarathustra sagen. Der Weg hierher war in seinem letzten Teil, wo wir dem etwas verengten Tal des Russisi folgten, durch die schöne Uferlandschaft mit ihren herrlichen Tamarinden- und Mwulebäumen genußvoll, nur mußten wir uns den Zugang zu ihr durch einen steilen Abstieg über eine 50 Meter hohe Wand nicht ohne Beschwerde erkämpfen, weshalb das Vieh und was von Trägern nicht schwindelfrei war, über die Höhe ging. Im übrigen war der Marsch der letzten vier Tage durch die Sultanate Ramatta, Kundamwa und Uwjuko nur stellenweise anstrengend und oft eintönig. Von Ramatta aus stiegen wir eine Böschung hinan und befanden uns auf einem Plateau, das allmählich ansteigend mehr oder minder wellig den Russisi tagelang begleitet, von tiefeingeschnittenen Gräben und Mulden durchzogen wird und zum Flußtal bald mit steilen Wänden, bald mit sanft geneigten Hängen abfällt. Auch die ganz respektablen Nebenflüsse des Russisi, die von Osten kommen, fließen an solchen Steilwänden vorbei, wodurch der Abstieg besonders jetzt, wo die Wege naß, weich und schlüpfrig sind, sehr beschwerlich wird. Der Anstieg jenseits pflegt weniger schwierig zu sein, weil bei diesen Bruchlinien die nach Süden schauende Seite die flacher abfallende ist. Landschaftlich bot die Gegend nicht allzuviel. Teils strauch- und baumlose Steppe, teils Busch, dann wieder baumreichere Gegenden (Akazien und Euphorbien), manchmal Strecken, die wie Rapsfelder leuchten, weil sie mit einer goldgelben Komposite wie besät sind, dann wieder Hochgras und wieder Busch und alles immer gleich en masse, so daß für den schweifenden Blick stundenlang keine Abwechselung vorhanden ist.

Nicht daß deshalb die Landschaft jedes Genusses bar wäre; unser Winter ist ja längst vorüber und Frühling und Sommer zugleich, Blüte und Frucht herrschen jetzt über die Fluren. Ist es nicht schön, wie alles in frischem Grün prangt, wie an den Akazien die Schoten in langen, grünen Büscheln hängen, wie die Kandelabereuphorbien mit purpurnen Beeren besetzt sind, an denen sich in Scharen die langschwänzigen Mausvögel gütlich tun, oder wie an vielen Bäumen der Wind die locker haftenden, der drängenden Frucht weichenden Blütenkelche herabgefegt hat und nun golden oder rot oder weiß ein Blumenteppich zwischen dem Grunde der Stämme schimmert; und wie nirgends mehr ein gelbes welkes Gras sichtbar ist, weil die Oktoberstürme längst die alten spröden Stengel geknickt haben, und über den modernden emporwuchernd das frische Junggras mit seinem saftigen Grün jede kahle Stelle verbirgt!?

Ansiedelungen der Eingeborenen fanden wir wenig an unserem Wege, aber doch ist die Bevölkerung, die sich mehr im Osten in der Nähe der Vorberge zusammendrängt, keineswegs klein an Zahl. Dafür zeugte auch die Masse der Lebensmittel, die uns als Gastgeschenk herangeschleppt wurden: Mehl, Maniok, Mais, Zuckerrohr, Bananen in solcher Fülle, daß sie mir, selbst von drei Dutzend Negermägen nicht zu überwältigen schien. Heute, wo wir in feindlichem Gebiet lagen, zeigte sich allerdings, daß ich die Aufnahmefähigkeit der Leute immer noch unterschätzte, denn viele gingen, weil sie keine Zehrung mehr hatten, in die erntereifen Maisfelder, die von den Besitzern verlassen, weithin das Tal des Muhira erfüllten.

Diese armen Teufel von Eingeborenen, die jetzt vielleicht im Pori von wilden Pflanzen kümmerlich leben, tun mir leid, aber auch hier gilt der alte Spruch des Horaz: Quidquid delirant reges, plectuntur Achivi. – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Die wütenden reges heißen hier statt Agamemnon und Achilles Kinoni und Wasasa. Kinoni hat ein großes Land am rechten Russisiufer, das am Tanganika beginnt und dem Fluß bis zu seiner Porta folgt; auf dem linken Ufer hat er eigentlich nichts zu suchen; aber die Belgier schenkten ihm vor Jahren auch dort ein Stück Land. Zum Dank beging er den schmählichen Verrat, Leutnant Dubois, der von den Rebellen geschlagen, bei ihm für eine Nacht sich verbarg, seinen Feinden auszuliefern und den Belgiern, als sie auf deutschem Gebiet Zuflucht suchten, das mit dem Nachtrab folgende Vieh abzutreiben. Der Strick schien ihm sicher, falls die kongolesischen Truppen wieder Herren des Landes werden würden. Aber es kam anders; man versöhnte sich, weil Kinoni inzwischen sich auch die Feindschaft der Deutschen zugezogen hatte, und es vorteilhaft schien, in ihm einen Verbündeten für alle Eventualitäten zu haben. Ich fürchte, die Herren werden noch recht schlechte Erfahrungen mit ihm machen; wenn wir ihn aber je erwischen, entgeht dieser häßliche, durch die langjährige Araberwirtschaft am Tanganika korrumpierte Sklavenhändler seinem Schicksal sicher nicht.

Einige Wochen vor meinem Abmarsch von Usumbura war an der Linie Tanganika – Kiwusee eine Postenkette eingerichtet und das Land okkupiert worden, um gegen die Rebellen eine vernünftige, d. h. die allein diskutable Grenze zu haben. Hinc illae lacrimae auf Seiten der Kongolesen, die bis heute noch nicht gestillt wurden und hoffentlich nie auf Kosten der Eingeborenen, die indessen längst die Vorteile unserer Herrschaft eingesehen haben, getrocknet werden. Der Offizier, der vom Kiwu zum Tanganika zurückkehrte, wollte unterwegs all die kleinen Sultane mit sich nehmen und nach Usumbura zur Huldigung bringen, wo diesem Parterre von Königen in gemeinsamen Beratungen die Liebe zu ihren neuen Herrn injiziert und über das Maß ihrer Rechte und Pflichten diskutiert werden sollte. Der Gedanke war an sich sehr vernünftig, aber vielleicht etwas verfrüht. Die Sultane standen untereinander schlecht, befehdeten ihre Nachbarn und waren Freunde mit den Nachbarn ihrer Nachbarn, so daß man fast immer abwechselnd das Gebiet einer der beiden großen Parteien passierte. Infolgedessen fürchtete mancher vielleicht, daß er in Usumbura von seinen Gegnern angeklagt werden könnte, und glaubte sich um so leichter widersetzen zu können, als er irgendwelche deutsche Machtentfaltung noch nicht gesehen hatte. Immerhin ging es im Anfang recht gut und die einflußreichsten Häuptlinge schlossen sich dem Offizier an, darunter auch der oben genannte Wasasa, der in ständigem Kampf mit seinem Nachbar Nigensi, einem Unterchef des Königs von Ruanda, lag. Wasasa und Kinoni waren Freunde, und es fiel daher nicht auf, daß, als die Expedition in des letzteren Land kam, Wasasa erklärte, seinen großen » ami et allié« besuchen und gemeinsam mit ihm den Offizier nach Usumbura begleiten zu wollen. (Das sei zur Erklärung des Folgenden vorausgeschickt; was dann weiter geschah, meldet die Fortsetzung meines Tagebuchs.)

In der Gegend meines heutigen Lagers muß es gewesen sein, wo sich vor wenigen Wochen das Abenteuer des Herrn v. X. abspielte, dessen Gerücht sehr rasch zum Tanganika eilte und in beunruhigend übertriebener Darstellung durch Simba von Kajagga uns übermittelt wurde. Herr von X. hatte mit Wasasa verabredet, ihn und Kinoni an einem gewissen Punkte zu treffen und gemeinsam die Reise fortzusetzen. Wasasa erschien auch, aber ohne Kinoni, dafür brachte er zweiundzwanzig von dessen Leuten mit, die, mit Hinterladern bewaffnet, zum Teil frühere kongolesische Soldaten waren. Wasasa erklärte plötzlich, bei Kinoni zu bleiben und später gelegentlich mit ihm zur Huldigung zu erscheinen. Da dies offenbar eine leere Phrase und ganz gegen die Verabredung war, auch die getroffenen Dispositionen umstürzte, für die es vorteilhaft war, mit allen Sultanen gleichzeitig zu verhandeln, so drängte der Offizier ihn, seinem Worte treu zu bleiben. Wasasa weigerte sich aber und zog sich hinter die Bewaffneten zurück, die eine drohende Haltung annahmen, trat auch auf Aufforderung nicht wieder hervor, sondern trotzte. Die Lage war kritisch. Herr v. X. hatte nur drei Askaris bei sich, da die übrigen weitab in der arrière-garde sich befanden, und Zurückweichen wäre verhängnisvoll gewesen. So ritt er denn in aller Ruhe und den Ernst der Sache scheinbar ignorierend auf Wasasa zu, um ihn höchst eigenhändig hinter seiner Brustwehr hervorzuholen. Aber im selben Augenblick krachten zweiundzwanzig Gewehre und pfiffen die Geschosse, worauf sich Wasasa mit allen Bewaffneten zur Flucht wandte. Es ist Herrn v. X. bis heute rätselhaft geblieben, wie es möglich war, daß er und selbst sein Reittier unverletzt blieben; vielleicht waren die Schützen zu aufgeregt oder kam ihnen die Entscheidung zu plötzlich, aber tatsächlich waren alle Projektile zu hoch gegangen. Herr v. X. also verlor weder real noch bildlich seinen Kopf, sondern verfolgte die in wilder Flucht Davonstrebenden augenblicklich im Galopp und schoß vom Sattel aus sein Gewehr ab. Da er aber meines Wissens früher bei einem rheinischen Infanterieregiment und nicht bei den Tscherkessen gestanden hat, so vermehrte auch er nur die Durchlöcherung der Natur an drei wesentlich verschiedenen Stellen. Beim vierten Male knackte es nur – denn das ist der Vorteil der Magazingewehre, daß man immer glaubt, fünf Schüsse im Lauf zu haben, während man meist schon welche abgefeuert hat. Kaum hörten die Flüchtenden das willkommene Geräusch, als sie sich ihrerseits umwandten und Herrn v. X. mit Lanzen und Pfeilen zu spicken versuchten, der nun nichts anders tun konnte, als – rückwärts, rückwärts, Don Rodrigo – sich von seiner Truppe wieder aufnehmen zu lassen, die indessen auf wenige hundert Meter nahe gekommen war, um dann mit frisch geladenem Gewehr einen neuen – übrigens fruchtlosen Vorstoß zu machen. Dieses Vorgehen der beiden Sultane, das zweifellos verabredet war, mußte natürlich gründlich gerächt werden, wenn wir nicht auf Etablierung unserer Herrschaft verzichten wollten. Kinoni konnte man leider wenig anhaben, weil sein Hauptland jenseits der Grenze liegt und er vorsichtigerweise all sein Vieh schon in den Tagen vorher hinübergeschafft hatte. Das war um so bedauerlicher, als er der Verführer war und zu Wasasa gesagt haben soll: »Wir sind mit den Kongolesen fertig geworden, und das waren doch sogar Männer; sie raubten Vieh, Elfenbein usw., und da sollten wir nicht die deutschen Weiber unterbekommen, die immer nur schenken und schenken?«

Ich weiß nicht, ob diese Worte tatsächlich gefallen sind; jedenfalls wurden sie von Eingeborenen berichtet, und so oder so sind sie in mehr als einer Beziehung charakteristisch und besonders darin, daß sie zeigen, wie leicht Schwarze zur renommistischen Überhebung gegen Leute geneigt sind, von deren Macht sie keinen zu hohen Begriff haben. Diese Macht braucht nicht tatsächlich zu sein; es genügt oft, sie ihnen zu suggerieren; am allerwenigsten darf man solche Redensarten überschätzen und aus ihnen die Ansicht extrahieren, daß es überall und unter allen Umständen nötig sei, ein okkupiertes Volk erst einmal zu »be«kriegen, um es »unter«zukriegen. Gegen diese noch in manchen Köpfen haftende Anschauung werde ich immer ankämpfen, weil sich in ihr ein Verhängnis birgt, im übrigen aber auf die ganze »Macht«frage gelegentlich zurückkommen.

Es wurde also gegen die beiden Sultane eine Strafexpedition inszeniert. Das ist eine sehr unerfreuliche Aufgabe, besonders für gewissenhafte Bezirkschefs, deren vom Gouvernement gepflegter Ehrgeiz vor allem darin bestehen soll, die Wohlhabenheit ihrer Distrikte nach Möglichkeit zu fördern. Dem würden gehäufte Strafzüge natürlich durchaus entgegenwirken. – – – – – – – – – – – – – – – – –

Ich las jüngst ein Referat über einen Vortrag, in dem ein in der Südsee tätig gewesener Missionar in irgend einer Abteilung der Deutschen Kolonialgesellschaft seine Erlebnisse und Erfahrungen der Öffentlichkeit übergab, wobei er auch auf Strafexpeditionen zu sprechen kam; mit Recht wünschte er, sie vermindert zu sehen, weil doch meist die Unschuldigen darunter zu leiden hätten. Va bene; nur hätte er auch verraten sollen, was man an ihre Stelle setzen könnte. Dem Leser ist ja aus diesem oder jenem amtlichen Bericht bekannt, wie solche Züge verlaufen. Meist heißt es da, daß man dem Gegner keine größeren Verluste beibringen konnte, weil er sich in den Busch flüchtete; dann wird der Materialschaden erwähnt, so und so viel verbrannte Hütten, so und so viel Beutevieh usw. In den Rapporten der Kriegsschiffe heißt es noch meistens, daß man die Boote der Insulaner in Grund gebohrt und ihre Palmenhaine zerstört hat. Letzteres ist aber eine Spezialität der Südsee; in Deutsch-Ostafrika pflegt man die Kulturen (Bananenschamben usw.) zu schonen, um den Bezirk nicht zu sehr zu schädigen. Ich gebe dem Herrn Pater gern zu, daß oft, ja meist sogar sehr viel Unschuldige leiden müssen. Bei einem Beamten, der Land und Leute seines Wirkungskreises kennt, wird sich diese unangenehme Begleiterscheinung auf ein Mindestmaß einschränken lassen; aber es ganz zu vermeiden, finde ich kein Mittel, wenn man auf Strafexpeditionen nicht ganz verzichten will. Sicher ist, daß sie von Jahr zu Jahr seltener und bei wachsender gegenseitiger Kenntnis schließlich ganz verschwinden werden. Aber vorläufig dürfen wir zufrieden sein, daß sie rar sind. Ich bin gewiß der letzte, der das Heil darin sucht, unsere Herrschaft über die Eingeborenen mit Gewalt zu stabilisieren, und was man so landläufig »Pazifikation« nennt, dünkt mich oft – sit venia verbo – »Bellifikation«. Auch sind Strafexpeditionen oft ganz wirkungslos nämlich, wenn die Gegend gleichsam nur en passant heimgesucht wird; das ist die »Pazifikation bis zur Rückenwendung«. Dann kehren die Geflüchteten am nächsten Tage wieder zurück, begraben ihre Toten, bauen sich neue Hütten auf und gehen ihren Rachegelüsten nach, sobald ein Reisender mit geringen Kräften ihr Land durchzieht. So ging es mir, als ich in Urundi, den Weg eines anderen kreuzend, für die Verluste büßen sollte, die er den Watussi beigebracht. Ihren Zweck erfüllt eine Strafexpedition höchstens dann – abgesehen von Vernichtungskriegen, die niemand befürworten wird – wenn sie sich wochen- und monatelang in der zu bestrafenden Gegend aufhält. Da werden die Leute, wenn sie der Hunger plagt, rasch mürbe und wagen so leicht nicht mehr, sich aufzulehnen. Daß Unschuldige und Friedliche mitleiden müssen, ist gewiß traurig, aber es hat oft das Gute zur Folge, daß solche gern in andere Bezirke ziehen, deren Häuptlinge loyal sind und kein Unheil über ihre Untertanen heraufbeschwören. Das ist dann eine sehr heilsame Lehre, weil jeder fortziehende Mann, so gut wie jeder getötete, von seinem Herrn als unangenehmer Verlust empfunden wird, denn jeder Häuptling sucht den anderen nicht nur in der Zahl der Herden, sondern auch der Untertanen zu überbieten. Ich komme auch darauf noch zurück. Im ganzen kann ich hier wie in anderen Beziehungen nur sagen: Prophylaxe oft mehr wert als Therapie. Suchen wir die Eingeborenen kennen zu lernen, treiben wir Ethnographie – was nicht heißt »Bogen und Speere sammeln« – lehren wir die Eingeborenen uns kennen, d. h. europäische Ethnographie treiben, dann werden Konflikte, die Strafzüge gebären, so verschwindend selten sein, daß kein vernünftiger Mensch seine Zeit damit vergeuden wird, nach einem Ersatzmittel für sie zu suchen. – – – – – – – – – – – – –

Kinoni war also nicht zu fassen; er saß mit seinem Vieh und fast allen seinen Leuten wohlgeborgen am rechten Ufer des Russisi, lachte über die Grenze hinüber und verspottete gewiß den verführten Wasasa, seinen Gast, der dadurch zwar für den Augenblick persönliche Sicherheit genoß, sich aber kaum wohl dabei fühlen mochte, da er voraussehen konnte, daß ihn die Rache für den feigen Mordanschlag um so schwerer treffen würde. Auch wußte er, daß es auf der ihm bekannten Erde kein jämmerlicheres Schicksal gibt als das depossedierter Herren, die sich im Besitz ihrer Herden reicher als jeder Europäer dünkten und mit ihrem Verlust über Nacht zu Bettlern wurden, die bestenfalls an fremden »Höfen« umherirren, überall mit der Zeit lästig fallen, ein kümmerliches, mit Hohn bitter gewürztes Gnadenbrot verzehren und um jeden Vorteil ihren Verfolgern ausgeliefert werden.

Zwar eine Strafe traf auch Kinoni. Er verlor sein Ländchen, das unter seine Nachbarn geteilt wurde, aber dieser Verlust war zu verschmerzen, denn es war ja nur ein kleiner Appendix zu seinem Stammgebiet. Anders Wasasa. Für ihn stand alles auf dem Spiele: Land, Vieh, Leute. Nachdem Herr v. X. von der fruchtlosen Verfolgung der Leute Kinonis zurückgekehrt war, marschierte er noch in derselben Minute in Eilmärschen in Wasasas Land zurück, überraschte es vollkommen, zerstörte seine Hauptdörfer, erbeutete sein Vieh und etablierte sich mitten in seinem Lande, um die Unterwerfung zu erzwingen. Dabei sagte er sich sehr richtig, daß, wenn es ihm hier gelänge, eine vollständige Demütigung des Aufsässigen zu erzielen, selbst mit den härtesten Mitteln, die Folgen immer noch human sein würden, weil vor der Niederlage Wasasas die gesamten Graben-Warundi erschrecken würden, wie Dörfler vor nächtigem Feuerschein, und weil die Asche der Hütten und die vergebens des Schnitters harrenden Felder und die nach ihren Rindern sich sehnenden Hürden und Ställe einen jeden Verwegenen warnenden Schrei ausstoßen würden, den vom Kiwu bis zum Tanganika die Bergwände bis in die entlegensten Schluchten sich zuwerfen würden, daß jenes freche Wort gelogen und die Deutschen keine Weiber sind, wenn sie auch mit jedem freundlichen Wirt als freundliche Gäste Freundschaft pflegen und Gastgeschenke austauschen. Daß es gelang und daß seitdem all die Jahre Ruhe, Frieden und offenes Vertrauen im Russisigraben herrschte, sei vorweg bemerkt, und wie es gelang, werden die Blätter des nächsten Briefes melden, Heute aber möchte ich mich noch auf ein amoenum diverticulum, einen »Nebenlustpfad« begeben, auf den mich folgende Erinnerung aus meinem Tagebuch lockte.

29. Dezember. Als ich beute morgen aufbrechen wollte, wurde ich durch eine Gesandtschaft aufgehalten, die mir Geschenke brachte und mich bat, meinen Einfluß für ihren Häuptling Muhambasi aufzuwenden, der seit langem im Usumbura an der Kette säße. Warum? wüßten sie nicht. Um so besser konnte ich es ihnen sagen, denn ich erinnerte mich des großen bärtigen, finster dreinschauenden Mannes ganz gut, der in Untersuchungshaft war, weil er in starkem Verdacht stand, die kongolesischen Rebellen zu einem Handstreich gegen die deutsche Station aufgefordert zu haben. M. war merkwürdigerweise kein Landeskind, sondern ein aus Uganda stammender Mohammedaner, der zu Rumalisas Siehe Brief VI. Zeiten auf irgend eine dunkle Weise Chef des Distrikts Kundamwa in Uwjuko geworden war. Ich fragte die Leute, wie sie sich das dächten, daß ich Muhambasi befreien sollte. Antwort: Ich möchte einen Brief an Hauptmann B. senden, Ich: Ob es ihnen recht sei, wenn ich zum Beispiel Grüße schickte und die Bitte, er möge mir von der Mangoernte auch ein paar Äpfel übrig lassen. Allgemeines Händeklatschen, was soviel bedeutet, wie: Unsern tiefgefühltesten Dank. Es tat mir daraufhin fast leid, ihnen erklären zu müssen, daß ein Brief von mir, gleichviel welchen Inhalts, das Schicksal ihres Häuptlings nicht sehr erleichtern würde, was sie aber nicht glauben wollten, bis ich ihnen auseinandersetzte, daß ich in Amtssachen ein bana mdogo kapissa sei, worauf es ihnen leid zu tun schien, daß sie einem so »ganz kleinen Herrn« so viel Lebensmittel gebracht hätten. Schließlich gab ich ihnen als Wegzehrung eine Menge Zeug und den Trost mit, daß, wenn schlimmstenfalls ihr Häuptling gehenkt würde, das Unglück nicht so groß sei, weil er nicht ihres Blutes sei, und daß sich gewiß leicht ein anderer Küstenmann finden würde, der an Muhambasis Stelle ihnen die schönsten Weiber und die beste Nahrung wegnehmen würde, wie es ihren Wünschen entspräche. Darauf entließ ich sie. – – – – – – – – – – – –

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Der Respekt vor beschriebenem oder bedrucktem Papier ist bei allen Negern lächerlich groß, selbst bei Küstennegern, wenngleich diese – zwar selbst meist Analphabeten – die Entstehung eines Briefes kennen und besser, als die armen Toren von Kundamwa, wissen, daß erst der Inhalt den Wert eines Schreibens ausmacht. Trotzdem suchen auch sie, besonders auf Reisen, bei jeder Gelegenheit einen Paß, der nur ihren und den Namen des betreffenden Europäers zu enthalten braucht, zu erlangen, und oft genug fand ich in dem Nachlaß Verstorbener wertlose Fetzen, wie Kuverts, gleichgültige Notizbuchblätter usw. Nicht selten allerdings heben sie sich so ein fortgeworfenes Stück Papier auf, weil es sich doch einmal bezahlt machen könnte, so wie ein verständiger Dieb, der einen Dietrich findet, ihn zu sich stecken wird, auch wenn er heute und morgen keine Verwendung für ihn weiß. Als ich 1897 durch Tabora kam, wurden gerade neue, auf schwarz-weiß-rotem Grunde gedruckte Formulare für die Stationsboten eingeführt und die Häuptlinge des Bezirks davon in Kenntnis gesetzt, weil es wiederholt vorgekommen war, daß irgend ein schwarzer Gauner einen von einem Europäer fortgeworfenen Zeitungsfetzen oder eine unbezahlte Rechnung benutzt hatte, um von Dorf zu Dorf zu ziehen und auf Grund solcher »Amtsschreiben« förmliche Steuern für die Station zu erheben, hier eine Hacke, dort eine Ziege oder was ihm gerade des Mitgehens wert dünkte. Und solche Fälle ereigneten sich nicht zu selten.

Auch folgende lustige Erinnerung könnte ich hier anfügen: In Uhu traf ich einmal einen Elefantenjäger und fragte ihn nach seinem Erlaubnisschein. Darauf holte er ohne Zögern aus einer der gepunzten Ledertäschchen, in denen die Wakua Über Wakua cf. Brief XXVII. ihre Kugeln, Zündhütchen und Werg verwahren, ein sauber in Zeug vernähtes Päckchen und reichte es mir mit so ruhigen Augen, daß ich schon einen Moment schwankte, ob ich mir die Arbeit des Auftrennens nicht besser erspare. Dann tat ich es aber doch, und das erste, was mir in die Hände fiel, war ein schmutziges Kuvert mit der Adresse eines Offiziers, der früher, vor Olims Zeiten, in der Kolonie tätig war. Doch das bessere kam erst; in dem Umschlag nämlich befand sich der eigentliche Jagdschein in Gestalt einer gedruckten Verlobungsanzeige, die noch dazu so uralt war, daß der glückliche Bräutigam indessen, wenn er sich einigermaßen Mühe gegeben hatte, dreifach gesegneter pater familias sein konnte. Gott weiß, wie sie dem Mann in die Klauen gekommen war; er war vom Stamme der Wassumbwa, aus dem Innern der Kolonie, und an ihn wird sie wohl nicht gerichtet gewesen sein. Als ich ihn darauf aufmerksam machte, daß dies doch ein etwas seltsamer Jagdschein sei – zwar hätte er mir entgegnen können, daß Verlobungsanzeigen manchmal darin Jagdscheinen gleichen, daß sie als Schein über eine erfolgreiche Jagd ausgestellt werden, doch das fiel ihm offenbar nicht ein – tat er sehr verwundert und behauptete, so und nicht anders habe er ihn in der Station von Tabora erstanden, und so und nicht anders sähen jetzt alle andern aus. Als ich ihn, immer neugieriger gemacht, fragte, wie er das meine, da er doch nicht lesen könnte, antwortete er mir – ich weiß nicht, ob mehr kühn als wahr – daß auf den alten Scheinen Regen und Wasser den »Wein« weggespült hätten, auf den neuen aber nicht, (Wein – damit meint er Tinte. Es gibt viele Eingeborene im Innern, natürlich Waschensi i. e. barbari, die Tinte und Wein mit demselben Worte wino bezeichnen; vielleicht stammt es von der Art, wie man durch die griechischen Händler verproviantiert wird, denn da fragt man sich oft, ob man nicht besser täte, die Tinte zu trinken und mit dem Wein seine Korrespondenzen zu führen.) Um damit Schluß zu machen – ich war keine Amtsperson und mußte den Mann, den erst der Regen den Unterschied zwischen Tinte und Druckerschwärze gelehrt hatte, laufen lassen, riet ihm aber aufs eindringlichste, um alle gouvernementalen Karawanen einen großen Bogen zu machen, oder, wenn anders ihm sein Sitzfleisch lieb wäre, sich bald einen andern Gewerbeschein zu erstehen.

Erwähnenswert ist auch folgende Historie, die geradezu von Papier- und Zeitungs-Fetischismus zeugt. Ich ließ mir erzählen, daß man in einem Museum für Völkerkunde – ich glaube in Leipzig – wohl nur als Kuriosum ein Bündel Zeitungen zeigt, das einem Postraub entstammt und (durch einen Leutnant K., wenn ich mich recht erinnere) einem im Gefecht gefallenen Eingeborenen, der es als Talisman auf den Kopf gebunden hatte, abgenommen wurde. Ich ahne nicht, wogegen dieses Amulett sich bewähren sollte, vielleicht weiß einer unserer heimischen Zeitungsfetischisten, deren es ja unter den Stammtischpolitikern von Dinkelsbühl bis Labiau eine Menge gibt, besser Bescheid. Ganz schüchtern nur möchte ich behaupten, daß der getötete Eingeborene das Zeitungsbündel als Schutz gegen den Druck einer Last getragen haben wird, womit alle Konjekturen hinfällig würden.

Ich will mit der Aufzählung von Einzelfällen abschließen, denn auch so wird der Leser mir glauben, daß die Schrift, bzw. beschriebenes oder bedrucktes Papier in dem Vorstellungskreis der Neger eine besondere Rolle spielt. Ist dies eigentlich wunderbar? Gewiß nicht. Ein Volk, das noch nicht dahin gelangt ist, seine Worte in Laute zu zerlegen und für die Laute Zeichen zu erfinden, kann ja nicht anders als aufs stärkste betroffen sein, wenn es sieht, daß es möglich ist, über beliebige Entfernungen durch eine Art Ornamente auf einer Art Zeug seine Gedanken sich zu vermitteln. Wie der Bauer bestürzt ist, der zum ersten Male ein Telephon kennen lernt, so der Neger, der zum ersten Male Zeuge ist, wie der Weiße ein stummes Papier sprechen »hört«. Teufelswerk! Ich wünschte, ich könnte dem Leser die Verblüffung der Eingeborenen plastisch schildern, wie ich sie manchmal sah, wenn mir ein Europäer Leute mit irgend einem Wunsch zuschickte, z. B. mit der Bitte, sie ärztlich zu behandeln, wie sie die Augen aufrissen, wie sie sich auf den offenen Mund schlugen, wie sie sich in Ahs und Ehs der Bewunderung überboten, wenn ich sie nach einem Blick in das Begleitschreiben fragte: Wer von Euch ist A aus X-dorf und wer B aus Z-berg? Und du, A, zeige deine Beinwunde, und du, B, sage, wo deine Brust schmerzt usw. usw. Und wenn ich ihnen versicherte, daß da kein Spuk dahinter stecke, und ich solche Kunst jedem intelligenten Jungen in einem halben Jahre beibringen wollte, so hielten sie es für Spott und gingen unüberzeugt davon. Teufelsarbeit.

In Ruanda sind die abergläubischen Vorstellungen, die sich mit dem Schreiben verknüpfen, besonders groß; ich muß mit ihnen rechnen, und sie beeinflussen meine Arbeit bisweilen störend. Wenn es irgend möglich ist, vermeide ich es, einen Eingeborenen über mich interessierende (z. B. ethnographische) Dinge auszufragen und gleichzeitig das Gehörte niederzuschreiben; lieber frage ich ihn so oft, daß ich es hinterher aus dem Gedächtnis rekapitulieren kann oder ich schreibe so, daß es ihm nicht auffällt.

Besonders unheimlich ist den Eingeborenen die Tätigkeit des Kartenmachens, weil da neben dem Schreiben noch allerhand anderer Hokuspokus verübt wird. Da sitzen sie in Haufen auf Grashängen und in Bananenhainen und lassen die Karawanen an sich vorüberziehen, begierig, die unbekannte Erscheinung des Weißen, oder wie wir in Ruanda heißen, des Roten, von dem sie so viel schon haben fabeln hören, zu beobachten. Aber was treibt der Mann eigentlich? warum schreitet er nicht wie andere Sterbliche einher? was für ein undefinierbares Eisen Kompaß. hält er in seiner Hand, bald dort-, bald hierhin zielend und was für Zeichen malt er dann mit einem Holz Bleistift. auf die kleinen weißen Stoffstückchen Routenbuch., die er mit sich führt. Und warum deutet er jetzt auf diesen, jetzt auf jenen Berg oder Bach oder Hüttenkomplex und fragt um ihre Namen, um jedesmal neue Ornamente zu malen, ähnlich denen, die hierzulande Schilder und Matten haben? Alles zusammen ein Gebaren, das ihnen fremd, in jeder Einzelheit unverständlich und von geheimnisvoller Bedeutung ist. Und nun stecken sie die Köpfe zusammen, » alagura – er zaubert« und laufen zum mtwale, zum Häuptling, und der Häuptling läuft zum mupfummu, zum Priester, und der schlachtet schnell Küken und zählt die Fettpartikel auf ihren Mägen oder schlachtet Ziegen und schaut in das siedende Fett oder läßt die Würfelschale oder den Reibestock oder was sie sonst noch an Orakeln besitzen, wahrsagen, bis auf die eine oder andere Weise entschieden ist, ob jene Zauberei Gleichgültiges oder Schlimmes bedeutet und zur Folge hat. Kündet der Mund des Orakels ein Übel, dann kommen die Gegenmaßregeln. Dann schicken die Großen des Landes von Ort zu Ort: »treibt dem Fremden den Führer ab, lockt ihn auf falsche Wege, vermeidet die Dörfer der Vornehmen, verschweigt ihm alle Namen oder betrügt ihn mit erfundenen. Nach Bergen fragt er und meint die Felder, die sie tragen; nach Flüssen fragt er und meint die Rinder, die sie tränken; nach Hütten fragt er und meint die Bananenhaine, die sie beschatten. Lügt, lügt, lügt. Das ist eure Waffe; denn wenn ihr die wahren Namen sagt, dann werden, wenn der Rote in sein Land zurückgekehrt ist, eure Felder euch keine Frucht, eure Rinder euch keine Milch, eure Bananen euch keinen Wein mehr geben, weil Frucht und Labe verschwinden und dem Manne folgen werden, der sie verzauberte. Teufelsarbeit!«

Sic vos non vobis – nidificatis aves,
Sic vos non vobis – vellera fertis oves,
Sic vos non vobis – mellivicatis apes,
Sic vos non vobis – fertis aratra boves.

Und wie befohlen, so geschieht es, dann bekommt der Reisende keine Führer mehr, oder die Führer suchen ihn aus dem Lande herauszulocken, dann trachtet man den Stromforscher vom Fluß fortzuscheuchen, dann verwirrt man ihn durch falsche Namen und anders mehr. Und so kann es kommen, wie es Ramsay passierte, daß er eine Viertelstunde vom Njawarongo, zu dem er strebte, entfernt war, ohne ihn zu finden, daß ich in derselben Gegend wiederholt umkehren mußte, weil man mich vom Mhogofluß fort und an falsche Arme geführt hatte, oder daß ich im Westen des Kiwusees zwölf Tage durch ein Land marschierte, ohne den richtigen Namen zu erfahren – denn, meine Schilderung war keine Kombination vager Eindrücke, sondern eine einfache Zusammenfassung ganz bestimmter Erfahrungen, wenn ich auch ihren Zusammenhang nicht von heut auf morgen zu verstehen gelernt habe. (Natürlich ist es nicht überall gleich schlimm, aber auch nur selten damit gut bestellt, wie die Unmenge falscher oder sich widersprechender Namen auf den Karten bezeugt, die freilich auch noch andere Ursachen haben.) Wer in einem solchen Fall sich bemüht hat, den Gängen und Irrgängen der Negerseele nachzugeben, wird auch duldsam in anderen Fällen sein, in denen er sie nicht auf den ersten Blick zu erhellen vermag. Vieles am Neger erscheint uns unlogisch, aber innerhalb seines Vorstellungskreises denkt er durchaus logisch, nur ist es nötig, um seine Logik zu verstehen, das Erdreich zu erforschen, in dem sie wurzelt und Nahrung zieht. Die Folgerungen dieser Erkenntnis kann jeder Nachdenkliche selber ziehen.

Noch eines anderen Erlebnisses erinnere ich mich, das die gleiche Frage berührt. Es war ein paar Jahre später. Schon kannte man mich genügend in Ruanda, um von mir nichts zu fürchten. Ich war am Akanjaru und hatte eine Höhe erstiegen, die mir einen weiten Blick auf das Flußtal eröffnete. Während die Karawane von dem mühsamen Aufstieg ausruhte, trat ich unter einen Baum, zwischen dessen Ästen ein Bienenhaus befestigt war, vor dem die Bienen summend ab- und zuflogen. In seinem Schatten ließ ich mich nieder und zeichnete das Terrain. Als ich eine halbe Stunde später wieder aufbrach, fragte mich schüchtern ein Eingeborener aus der Schar derer, die meiner Arbeit aufmerksam zugeschaut hatten, ob wohl die Bienen jetzt wegfliegen und mir ihren Honig zutragen würden. Es war nämlich der Eigener des Bienenhauses. Ich beruhigte ihn, und er glaubte mir; um so unerklärlicher aber blieb ihm und seinen Kameraden der Zweck meiner Tätigkeit unter seinem Baume.

Zum Schluß noch eine Bemerkung: »Brief« heißt in der Sprache der Völker von Ruanda und vom West-Kiwu »Papuru«, also sehr an Papyrus und Papier anklingend. Der Ausdruck ist zu sehr verbreitet und bis in die entlegensten Winkel dieser Länder bekannt, als daß man seinen Ursprung auf ein jüngeres Datum zurückführen dürfte. Ich bin zu wenig orientiert, ob Papyrus der alten ägyptischen Sprache entlehnt oder griechischen Ursprungs ist; wenn das erstere, so möchte ich glauben, daß auch Papuru ein uraltes Wort und über Uganda, das ja zweifellos in weit zurückliegender Vergangenheit irgend welche Beziehungen und Zusammenhänge mit Ägypten gehabt hat, nach Ruanda und in die angrenzenden Länder eingeführt ist. Aber dies mag sich so oder auch anders verhalten. »Denn«, lautet die Weisheit Zarathustras, »was liegt daran!«

Insel Wau, Juli 1901

Brief XXIX.

Die Schilderung meines Weges im Russisi-Graben ist im vorigen Brief nicht sehr weit gediehen, weil ich mich auf einen Seitenweg drängen ließ, als ich der Lockung nachgab, dem Leser eine flüchtige Skizze von der Bedeutung der Schrift im Vorstellungsleben des Negers zu geben. Sie konnte und sollte nicht vollständig sein, weil ich, wie in allen anderen Fragen, auch hier mich auf meine eigenen Erfahrungen beschränken wollte.

Wir waren im letzten Brief am Muhirafluß und in Wehenusa, der Landschaft des uns feindlichen Kinoni, angekommen. Dem Führer, den ich dort von den Leuten von Kundamwa erhielt, setzte ich meinen Wunsch auseinander, mich wie bisher möglichst in der Nähe des Russisi-Betts zu halten, aber da ich mich nur schwer mit ihm in der Landessprache verständigen konnte, führte er mich auf einen anderen, vom Strome weit ablaufenden Weg. Er glaubte nämlich, daß ich nicht an dem Offizier ungesehen vorbeiziehen wollte, der sich in Wasasas Gebiet zu dem früher angegebenen Zweck niedergelassen hatte, und als ich merkte, daß all mein Flehen und alle Künste der Rhetorik von seinem Dickschädel abprallten, ergab ich mich in mein Schicksal und marschierte in den nächsten drei Tagen vom Muhira zum Standquartier des Herrn v. X.

Ich lege mein Tagebuch zur Seite, um mich nicht zu längerem Verweilen auf Einzelheiten des Weges verleiten zu lassen, und beschränke mich im folgenden auf die am deutlichsten haftenden Erinnerungen.

Nachdem wir unweit des Muhira den Njamaganna, einen anderen Nebenfluß des Russisi, überschritten hatten, marschierten wir meist über eine leicht wellige Hochebene mit jungem Akazienwuchs oder kahlen, von einzelnen Kandelaber-Euphorbien unterbrochenen Grasflächen, durch die schnurgerade und weit sichtbar das rote Band eines breiten, von Viehherden festgetretenen Weges läuft. So lange wir durch Kinonis Gebiet ziehen, sind die Ansiedlungen am Wege zerstört und verlassen. Verbrannte Hecken, die höheren Bäume mit welk herabhängenden Blättern auf der dem Hofe zugekehrten Seite, dem Hüttengrundriß entsprechende Aschenscheiben, aus denen die drei Herdsteine und die rotgeglühten Scherben tönerner Krüge und Töpfe herausragen, hier und da verkohlte Stümpfe von Stacketen oder kleine Häufchen schwarzgedörrter Bohnen, auch manchmal kleine Eisenklumpen von geschmolzenen Hackenblättern und über allem ein scharfer, kalter Brandgeruch – kurzum: das typische Bild einer von einem Strafzug heimgesuchten Gegend. Nur keine Skelette kann ich dem Leser vorzaubern, noch vor Schreck wahnsinnige Greise in Silberhaar, die zwischen den Ruinen kauern, noch Mütter-Jammern, Kinder-Irren; von lebenden Wesen überhaupt nur ein paar magere Köter, die in den Aschenhaufen herumschnuppern und eifrig wühlen. Nach Überbleibseln ihrer Herren? O nein, sondern wahrscheinlich nach etwaigen Resten von Ratten, Eidechsen und ähnlichen Bewohnern der Hüttendächer.

Denn das Gros der Bevölkerung hatte schon einige Tage vor dem im vorigen Brief geschilderten Anschlag der Soldaten Kinonis sich selbst und das wertvollste an Habe in Sicherheit gebracht, wahrscheinlich, weil die Leute direkt von Kinoni dazu aufgefordert wurden, oder weil sie Unrat witterten, als er seine Herden auf das jenseitige Russisi-Ufer treiben ließ.

Nördlich der Grenze von Wehenusa kamen wir in das Gebiet des befreundeten Sultans Ssekkisanga, ein neues Glied der bunten Reihe, die Tembo, Muhambasi, Ssekkahole, Kioni, Ssekkisanga, Wasasa, Ngensi heißt und immer abwechselnd einen uns feindlich, einen uns friedlich gesinnten Sultan bezeichnet. Daß auch je die geraden und ungeraden Glieder der Kette untereinander eine befreundete Partei bilden, erwähnte ich schon. Es ist ganz charakteristisch, weil es zeigt, wie schwer hier gute Nachbarschaft gehalten wird, wenn nicht eine starke natürliche Grenze die Leute scheidet. Auch Erbfeinde gibt es in Afrika. Tout comme chez nous.

In Ssekkisangas Gebiet lagerte ich am Njakagunda-Fluß. Der Sultan schien der nicht ganz seltenen Plebejertugend zu huldigen, daß man gegen seine Freunde sich ruppig benehmen und auf sie die geringsten Rücksichten nehmen darf. Denn er erschien nicht im Lager und schickte mir nur einen armseligen Krug Pombe als Gastgeschenk, aber von Lebensmitteln nicht die »Bohne« – letzteres hier durchaus kein deplazierter Ausdruck, weil die Bohnenernte gerade eingeheimst war –, worauf ich die Überbringer mit einem so gewinnenden Lächeln ansah, daß sie sich schleunigst mitsamt der Pombe zur Flucht wandten, beziehungsweise, um mich ohne Übertreibung auszudrücken, irgendwo im Lager untertauchten und einem meiner Leute den Nektar verhandelten, dessen Erlös sie schwerlich ihrem Herrn übermittelt haben werden. Um so nobler zeigte ich mich gegen Ssekkisanga; denn als ich in einem abendlichen Appell festgestellt hatte, daß zwei meiner Leute, darunter natürlich der lange Omari, den ich als Wächter über sie gesetzt hatte, sich ohne Erlaubnis in die Dörfer am jenseitigen Ufer absentiert hatten, angeblich um Holz zu holen (trotzdem es dessen in der Nähe des Lagers in reicher Auswahl gab), in Wirklichkeit um zu stehlen, verhängte ich, um von einer Wiederholung abzuschrecken, über die Schuldigen hamsischrin, d. h. »25«, die heilige Zahl der Kulturpioniere und mehr noch der Kulturtrainknechte.

Diese Exekution sollte auf dieser Expedition eine, sehr mühevolle Arbeit werden, weil mein kleiner Boy Mabruk sich offenbar von den Trägern hatte bestechen lassen und den bekannten Kiboko, der den ganz unpassenden Schrecknamen Nilpferdpeitsche führt – er ist gar keine Peitsche – in Usumbura »vergessen« hatte. Das stellte sich leider erst jetzt heraus, wo es zu spät war, ihn holen zu lassen. Darauf hatten die Leute wohl gerechnet, denn sie wußten, daß ich in den ersten Tagen meiner Reise ein Auge und mehr als eins zuzudrücken pflege, um keine Ungehörigkeiten zu sehen und keine Bestrafungen nötig zu haben, damit die Karawane erst etwas vom Ausgangspunkt der Expedition sich entferne und zu Desertionen weniger geneigt sei. Nun bin ich durchaus kein großer Anhänger der Prügelstrafe und bediene mich ihrer fast ausschließlich nur bei Übergriffen meiner Leute gegen Eingeborene, aber deshalb und für alle Fälle ist es immer angenehm, wenn die Träger wissen, daß ein »Nilpferd« überhaupt im Gepäck des Herrn sich befindet und seine Anwendung immer über ihren Häuptern schwebt – ich würde sagen: wie das Schwert des Damokles, wenn dies Instrument nicht schon zu sehr abgegriffen und von jedem Lokalreporter bei passender Gelegenheit aufgehängt würde. Um es zu ersetzen, mußte ich in Notfällen, wie im Ssekkisanga-Lager, sämtliche verfügbaren Riemen vom photographischen Apparat, Siedethermometer, bis zum Krimstecher aneinanderschnallen, wodurch jedoch nur ein sehr minderwertiges Ersatzmittel entstand. Zwar gebärdeten sich die Delinquenten fürchterlich, hinterher aber gestanden sie meinem Boy Mabruk, daß sie überhaupt nichts gespürt hätten. Das nächste Mal versuchte ich, die Riemen zu verstärken, der Effekt schien großartig, die Leute brüllten, daß mir vor Mitleid die Tränen über die Backen liefen, in ihren Zelten aber hielten sie sich dann die Bäuche vor Lachen. Schließlich gab ich alle Gewaltkuren auf und hielt mich an Debisch sein Prinzip, wie es in der Knopfiade überliefert ist:

Dies war Debisch sein Prinzip,
Oberflächlich ist der Hieb,
Nur des Wortes Kraft allein
Schneidet in die Seele ein.

Und wirklich war die Wirkung nicht schlechter als die des Kiboko, denn so oder so machten die Leute doch, was sie wollten.

Am nächsten Tage (30. Dezember) zogen wir jenseits des Njakagunda durch eine Landschaft von dem gleichen Charakter wie die Märsche vorher; nur für eine gewisse Strecke erinnere ich mich an ein Bild, das einen eigenen Charakter hatte und durch Tausende und Abertausende weißer Blumen, die ebenso wie die Blätter sehr lang gestielt waren, erzeugt wurde. Nach allen Richtungen dehnten sich weithin diese lieblichen Gefilde, durch die sich wie durch blühende Lilienfelder die Karawane schlängelte. Rasch näherten wir uns heute den Vorhügeln der Berge im Osten, die seit mehreren Tagen unseren Marsch zur Rechten begleiteten. An ihrem Fuße mußten wir zum zweiten Male über den Njakagunda und jenseits die Höhe hinan. Der Weg von der Furt bis zum Kamm war mit ganz frischer, übelduftender, von Fliegenschwärmen bedeckter Elefantenlosung wie bedüngt; von den Tieren selbst sah ich nichts, auch dann nicht, als das geübte Auge meiner Wakua sie fern in der mit Akazienbusch bestandenen Ebene entdeckte.

In dieser Gegend befand sich immer eine große Herde, die auf zweihundert Stück geschätzt wurde, bisweilen nach dem Kongostaat hinüberwechselte, aber immer wieder hierher zurückkehrte. Ein dänischer Jäger, der später hier ein paar Jahre lebte, holte sich ein Stück nach dem anderen heraus, und ob sie auch jedesmal durch die Schüsse verscheucht wurden, nach acht Tagen waren sie doch wieder in derselben Gegend. So hängen die Tiere merkwürdig beständig an einem bestimmten Gebiet. Der Jäger war auch einer jener fast tragischen Existenzen, wie man sie besonders zahlreich außerhalb Europas findet; von jedem Winde umgetrieben, auf allen Erdteilen das Glück suchend und es jedesmal wieder verlierend, so oft seine Hand es auch am Gewandsaum zu fassen glaubte, zuletzt nach vielen Entbehrungen und Entsagungen dem Ziele nahe – Kurzschluß: finita la commedia. So auch dieser Däne; jahrelang hauste er als Wilder unter Wilden, endlich hatte er soviel erworben und erspart, um daran denken zu können, ein Leben unter freundlicheren Bedingungen beginnen zu können; da kommt das Schicksal und macht den dicken Strich; Dysenterie und exitus. Jetzt vermodert er an derselben Stelle, wo die Gebeine so vieler seiner tierischen Opfer zerstreut sind.

siehe Bildunterschrift

Häuptling Kaware auf Reisen.

Von der Höhe des Hügels öffnet sich der Blick auf ein liebliches, sanft ansteigendes Tal mit vielen Feldern und dunklen Decken. Aber keine Menschenseele belebt es: und das schärfer zuschauende Auge merkt bald, daß die Gehöfte zerstört und verlassen sind. Hier beginnt Wasasas Gebiet, und der Njakagunda, der um unseren Berg herumläuft und den wir jetzt zum dritten Male überschreiten, bezeichnet die Grenze, wir lagern dicht am Flusse, der stromaufwärts bald wieder im Osten zwischen engen Wänden verschwindet, zu unserer Rechten einen von alten Euphorbiengruppen gekrönten Hügel. In ihm versteckt finde ich auf einem Spaziergang Spuren eines frischen Lagers; hier verborgen haben die Eingeborenen in ihr Tal hinabgeschaut und zugesehen, wie ihre Hütten in Flammen aufgingen und die Rinderherden ihres Häuptlings von den Fremden fortgetrieben wurden, denn hier befanden sich die Hauptdörfer des Wasasa.

Am dritten Tage (31. Dezember) folgten wir dem Talweg, bis Signalschüsse einer Askaripatrouille uns belehrten, daß wir irregingen. So stiegen wir die Berge rechts von uns hinauf; ziemlich hoch hinan und mit vieler Mühe, denn es war für alle seit langer Zeit wieder der erste Gebirgsmarsch. Als wir endlich oben anlangten, wurden wir durch einen weiten Ausblick in das Njakagunda-Tal belohnt, den ich später noch besser und in größerer Behaglichkeit vom Lager des Herrn v. X. genießen konnte. Dies sahen wir nicht allzuweit von uns auf einem hohen Bergrücken liegen, der sich gleich vielen anderen von der Kette, die wir eben erstiegen hatten, loslöste und rechtwinklig zu ihr dem Flußbett zustrebte, zu dem er mit steiler Wand abfiel. Aber zwei tiefe Täler trennten uns von ihm, und zu meinem Schmerz gab es keinen Weg über die verbindende Höhe, von der all die langgestreckten Querläufer entsprangen. So half es nichts, wir mußten über einen Parallelrücken erst zum Njakuganda hinabsteigen, das Nebental kreuzen, den nächsten Parallelrücken erst wieder hinaufklettern, wobei das zweite Nebental zu unserer Rechten blieb, und nun gab es oben einen Pfad, der sich dem Abhang anschmiegte und zu dem dritten Rücken führte, auf dem das Standquartier des Offiziers lag. Er war zwar etwas überrascht, mich hier zu sehen, aber doch sehr erfreut, das neue Jahr nicht allein begrüßen zu brauchen, und sorgte mit gewohnter Liebenswürdigkeit für die Unterbringung meiner Karawane.

Drei Tage brachte ich bei ihm zu, weil es mich interessierte, die weitere Entwicklung der Wasasa-Affäre zu beobachten. Sehr angenehm war der Aufenthalt auf diesem kahlen Grasberge, dem nicht das kleinste Bäumchen Schatten spendete, gerade nicht, und ich fühlte meinem Wirt die Ungeduld nach, mit der er der Beilegung des Zwistes entgegensah. Die Sonne brannte fürchterlich auf diesen schmalen Rücken, der zwei Stufen hatte, von denen die eine uns und den Askaris, die andere den Trägern eingeräumt war. Es fehlte uns an Bewegung, denn jeder verfügbare Platz war mit Hütten überbaut und rechts und links fielen von dem kaum 15 Schritt breiten Kamm die Grashänge so steil ab, daß ein Klettern auf ihnen geradezu lebensgefährlich war. Gleich den ersten Tag sollte das mein braver Maskathengst an sich erproben; er stürzte, als er vergnügt weidete, auf den glatten Gräsern hin, kam ins Rollen, überschlug sich zahllose Male und blieb zuletzt mit gebrochenem Genick tief unten in einer Schlucht liegen, deren üppige Vegetation ihn auffing. Ich war sehr unglücklich und es tröstete mich nur wenig, daß ich den Eselboy, der ihn, wie täglich hätte anbinden sollen, bis ins dritte und vierte Glied verfluchte, und ihm drohte, ihm selbst Sattel und Zaumzeug anzulegen, aber er begriff kaum meinen Schmerz über eine Sache, die doch nicht mehr zu ändern und so offenbar amri ja mungu (Befehl Gottes) war.

Regnete es, so wurde der Boden durch die vielen Leute, die im Lager aus- und eingingen, bald so erweicht, daß man bis zu den Knöcheln im Schmutz versank und den Kot an den Stiefeln ins Zelt schleppte. Dazu der Unrat und die Unruhe des großen Menschenkonfluxes, in nächster Nähe eine stattliche Viehherde, die die Fliegen aus 10 Meilen im Umkreis ins Lager zog, das Brüllen der Kälber und Ziegen mit dem der »kriegsgefangenen Säuglinge« melodisch vereint, von früh bis spät Trommeln, um die Geflüchteten zurückzurufen, überall ein Geruch von faulendem Rindfleisch oder der noch infamere einer Lieblingsspeise vieler Träger: Ziegenklauen und Ziegenköpfe nicht à la tortue, sondern à la Tortur zubereitet. Denn da sie mit Haut und Haaren am offenen Feuer geröstet werden, so kann der bei dieser Prozedur entstehende Gestank im Handumdrehen drei starke Europäer umlegen. Aber unsere Neger möchten diese Würze des Mahls um keinen Preis missen.

Das einzig Erfreuliche war der prächtige Blick in das Njakagundatal, dessen Genuß nur durch die Kirchhofsruhe der Landschaft etwas getrübt wurde. Wir befanden uns hier in der reichsten Gegend des Wasasa-Gebietes, und gerade deshalb gebot die traurige Notwendigkeit des Strafzuges, hier am schärfsten vorzugehen. Man sah den Njakagunda aus bewaldeter, gewundener Schlucht herabsteigen und in das ziemlich breite Tal eintreten, durch das er sich mit zahllosen Krümmungen nach Südost schlängelte, um zuletzt scharf nach Westen einzubiegen, und zwischen hohen Wänden zu verschwinden, denselben, die ihn in der Nähe unseres letzten Lagers aufnahmen und unseren Blicken verbargen. Bis zu unserer Höhe hinauf dringt sein Rauschen, glänzen seine schäumenden Wirbel im Sonnenschein, wenn er übermütig über große Steine springt oder an Felstrümmern vorüberschießt, um dann wieder ganz gesittet zwischen mit hohem Rohr bestandenen Ufern dahinzueilen, hier die tief herabhängenden Zweige eines einsamen Baumes schaukelt, dort sich verengt und vollkommen unter dem von beiden Seiten zum Laubgang geneigten Schilf sich eingräbt und bei jeder Schlucht einen kleinen Bach aufnimmt, dessen klares Wasser als dunkles Band von den lehmgelben Fluten sich abzeichnet, bevor es sich mit ihnen vermischt.

Nach Ost und West steigen die Talwände auf, steil, hoch, von zahlreichen Schluchten und Nebenschluchten, Mulden und Furchen zerrissen und in unregelmäßige Blöcke durch einige schmale Quertäler geteilt, von denen das größte einem von Osten kommenden Nebenfluß als Bett dient. Bisweilen stehen einzelne Gruppen oder ganze Parzellen von hohen Bäumen, wie sie der Urwald des Randgebirges trägt, in den Einschnitten und erinnern daran, daß einst Wildnis diese ganze Gegend bedeckte. Aber jetzt reiht sich auf den Bergen Bananenhain an Bananenhain und in den Bücken stehen die Felder, oft an so jäh steigendem Hange, daß man nicht begreift, wie die Leute dort die Hacken handhaben konnten. Die Bohnen sind schon meist abgeerntet, aber noch steht der Mais, erntereif, vergebens der Schnitter harrend, so weit er nicht für den Bedarf des Lagers gesichelt wird: Mais auf den Kämmen und in den Mulden, Mais vor allem im Tale selbst, auf beiden Ufern des Flusses und jeder Krümmung und jeder Schleife seines Laufes folgend.

Aber das Leben fehlt. Die Hütten sind eingeäschert und die Leute geflohen Nirgends steigt mehr Herdrauch zum Himmel, nicht schallt mehr das Hämmern der Schmiede, noch das Klopfen des Rindenzeuges aus den schweigenden Hainen, dieser charakteristische Laut der Warundi-Siedlungen; kein Jauchzen und Schreien der die Herden zur Tränke führenden Hirten, kein Lachen und Rufen spielender Kinder, und kein modulierender Sang eines einsam arbeitenden Weibes, den ich so oft aus verborgener Hütte aufsteigen hörte, wenn er als einziger Laut bald in tiefem Alt, bald in schneidenden Fistelklängen über der in Mittagsgluten schlafenden Landschaft zu schweben schien. Alles wie ausgestorben und inmitten der stummen Öde unser Berg mit dem lärmenden Lager die einzige Insel des Lebens.

Wie war das gekommen? Als Herr v. X nach dem verfehlten Anschlag auf sein Leben in Eilmärschen in Wasasas Gebiet zurückkehrte, hatte der flüchtige Häuptling natürlich bereits Boten auf anderen Wegen dorthin gesandt, um zu retten, was zu retten war. Ihm kam es vor allem darauf an, seine Herden in Sicherheit zu bringen, womöglich auf das rechte Russisi-Ufer, oder wenn dazu keine Zeit mehr war, zu ihm befreundeten und mit uns in Eintracht lebenden Sultanen. Zwar war auch das ein Risiko für ihn, da er bei einer späteren Rückforderung sehr von dem guten Willen der Bewahrer abhängig sein würde, aber immerhin durfte ihm das vorteilhafter dünken, als sein Eigentum in unseren Händen zu wissen. Sein Plan mißlang durch die Schnelligkeit unserer Askaris. In wenigen Tagen befand sich die Mehrzahl seiner Rinder in unserer Gewalt, und die anderen folgten dank den Kundschafterdiensten, die die einzelnen Hilfstruppen der ihm feindlichen Bezirke, namentlich der mit ihm in ständigem Grenzstreit liegenden Wanjaruanda uns leisteten. Bei diesen Beutezügen kam es bisweilen auch zu blutigen Zusammenstößen, wenn die verfolgten Hirten das Vergebliche ihrer Flucht sahen und im letzten Moment die Tiere zu verteidigen suchten. Manche waren so rabiat, daß sie lieber die Rinder mit Speeren totstachen, als sie in unsere Hände fallen ließen. Sonst aber hatten die Leute auf Widerstand verzichtet und waren geflohen, so daß in ganz kurzer Zeit der ganze Distrikt im Besitz der deutschen »Weiber« war.

Als Wasasa diese Botschaften vernahm, verging ihm der Spott, und er begann zu unterhandeln. Aber noch war dafür die Zeit nicht gekommen. Er sollte noch mürber werden. Der Hauptzweck war erreicht; man hatte den Graben-Warundi gezeigt, daß wir ebenso harte Feinde wie gute Freunde sein könnten, und daß es uns an Macht, unsere Herrschaft auszuüben, nicht fehlte. Jetzt geboten Menschlichkeit und Klugheit in gleicher Weise, die im Pori umherirrenden Leute zurückzurufen. Von früh bis spät dröhnten die Trommeln, von früh bis spät riefen befreundete Eingeborene in die Täler hinab, daß jeder friedlich Gesinnte zurückkommen und seine Hütten wieder aufbauen könnte. Zuerst kamen zwei, drei, die vielleicht der Hunger in die Maisfelder getrieben hatte, oder Leute, die in den Bananenhainen verborgen waren, um uns zu beobachten, und so zufällig die frohe Botschaft vernahmen. Am nächsten Tage waren es schon 10 oder 20, und als ich am 4. Tage den ungemütlichen Ort verließ, 50 oder 60, die Gefangenen nicht mit eingerechnet. Ich sprach oben von dem Geschrei der »kriegsgefangenen Säuglinge«; ich will das jetzt erklären, um nicht in den Verdacht zu kommen, Hunnenbriefe zu schreiben. Es war nämlich vorgekommen, daß Weiber, Rinder und Kranke von den fliehenden Leuten in Stich gelassen wurden; diese wurden gesammelt und in unserem Lager verpflegt, damit sie nicht den Entbehrungen des Poris ausgesetzt wären, daneben auch, um auf die Flüchtlinge eine Pression auszuüben. Unter ihnen gab es manche, die nach bekanntem Muster beteten: »Herr, gib uns unser täglich Brot und jährlich eine Kriegesnot.« Denn da außer Mais nichts aufzutreiben war, so wurde reichlich Vieh geschlachtet und das Fleisch unter unsere eigenen Leute, sowie unter die Gefangenen verteilt, was für viele der letzteren ein Festessen war, wie sie es sonst nur alle paar Jahr einmal genießen. Gleichwohl sehnten sie sich natürlich aus der ungewöhnlichen und unsicheren Situation heraus.

Jeden Abend erschienen die zurückgekehrten Leute im Lager und brachten neue, die gezählt wurden; denn, sobald das erste Hundert voll war, durften sie ihre Hütten wieder aufbauen. Die Leute sahen zumeist ziemlich mitgenommen aus, vor allem ungepflegt. Man sah ihnen an, daß sie die letzte Zeit im Pori gelebt hatten, während sonst die Graben-Warundi sich sauber mit Rhizinusöl oder mit Butter zu salben pflegten, war ihre Haut jetzt trocken und von Lehm und Erde schmutzig; die gutgearbeiteten schwarzen oder ziegelfarbigen Rindenstoffe, die sie als Kleidung bevorzugten, sahen ramponiert aus, und der kleinen roten Perlen, von denen viele Warundi große Bündel um den Hals tragen, gleichsam ein Schätzungsmittel ihres Reichtums, hatten sich die meisten entäußert, wahrscheinlich um in anderen Bezirken Lebensmittel zu kaufen. Ihrer äußeren Veränderung schien auch die innere zu entsprechen. Die Warundi sind sonst sehr lebhaft, zu dummen Streichen nach Gassenjungenart gern aufgelegt und haben für jeden und alles ein Gelächter bereit. Das war jetzt anders. Ihr ewiges Händeklatschen bei dem gleichgültigsten Wort, das Herr v. X. zu ihnen sprach, bewies ihre innere Unsicherheit und den Wunsch, ihre Demütigung möglichst nach außen zu projizieren. Übrigens arrangierte sich alles sehr rasch. Sobald die ersten Hundert wieder angesiedelt waren und ihre Felder abernteten, kamen in kurzer Folge alle die Tausende von Flüchtigen zurück und mit ihnen das alte lustige Leben. Nur Wasasa saß noch jenseits des Russisi und bat und bettelte um Frieden. Jetzt war er soweit, wie man wollte; jetzt drohte ihm noch mehr als der Verlust seiner Herden, denn nichts hinderte uns, sein Gebiet, das wieder die früheren Züge trug und das sich den Teufel darum sorgte, daß sein Häuptling außer Landes war, – il n'y a rien de changé; il n'y a qu'un Mroundi de moins – unter seine drei Nachbarn zu verteilen, die mit tausend Freuden diesen Machtzuwachs akzeptiert hätten.

Es kam nicht dazu, Wasasa kroch zu Kreuze; erschien nach langem Zaudern selbst, um Verzeihung zu bitten, und erhielt sogar noch das Versprechen, bei guter Führung einen Teil seiner Herden zurückzuerlangen, worauf er wieder in seine Rechte eingesetzt wurde. Seit dieser Zeit herrscht Ruhe, Friede und Vertrauen im Russisi-Graben zwischen den Warundi und ihren Herren, »den deutschen Weibern«.

Am 4. Januar brach ich wieder auf: ich hoffte, noch am gleichen Tage in einem nach Westen gerichteten Marsch aus den Bergen herauszukommen und die Russisi-Ebene zu erreichen. Ich kam auch soweit, daß ich sie nur noch durch ein Tal und einen nicht zu hohen Rücken getrennt unter mir liegen sah, aber der Luha-Fluß, der das Tal durchströmt, gebot mir Halt. Es war unmöglich, die 20 Meter breite und über mannstiefe Furt mit ihrer reißenden Strömung zu passieren, die später noch vielen Karawanen Opfer an Menschen und Tieren kosten sollte. Meine Hoffnung war, daß der seit 24 Stunden ausgebliebene Regen auch noch die nächste Nacht uns verschone. Die Heiligen, die wohl einsehen mochten, daß ich nicht bis zur Trockenzeit auf das Fallen des Flusses warten konnte, erbarmten sich meiner, und dank ihrer Fürsprache sank der Wasserspiegel bis zum nächsten Morgen so weit, daß wir, wenn auch mit Zagen und Bangen, uns hinüber wagten. Wie überall an gefährlichen Übergängen hatten sich auch hier Einwohner der Umgegend eingefunden, die jeden Stein und jeden Wirbel des Flußbettes kannten und aus ihrer Kenntnis und Gewandtheit Nutzen ziehend, an manchem ängstlichen Träger förmlich Chantage trieben.

Von der Höhe des letzten Berges hatten wir einen weiten Auslug in das mehrere Kilometer breite, von Schilf ganz erfüllte Russisital, durch das sich das in der Sonne glänzende Band des mächtigen Stromes in weitgeschweiften Windungen nach Süden zieht. Sieht man das Tal aufwärts in gleicher Größe auch nach Norden sich dehnen, so ist man geneigt, es auch dort als Bett des Russisi anzusprechen, bis man nach vergeblichem Suchen sieht, daß er direkt westlich von unserem Standpunkt in enger Pforte aus den jenseitigen Bergen bricht. – Am nördlichen Pfosten der Porta befand sich seit einigen Wochen eine kleine Station unter einem schwarzen Unteroffizier, auf die ich zuhielt. Unterwegs mußte ich wieder über einen Bach, der nach Angaben eines mir entgegengeschickten Askaris in den letzten zwei Tagen um vier Meter Breite und etwa ???5/4 Meter Tiefe gefallen war, was auch die Wassermarke bestätigte. Zwei Tage später wird er vielleicht wieder die alte Höhe haben. So rasch kann in tropischen Gegenden der Stand eines fließenden Wassers wechseln.

Den nächsten Tag (6. Jan.) benutzte ich zu einem Ausflug zwei Stunden stromauf in das Tal des Russisi zu seiner bei Europäern und Eingeborenen berühmten natürlichen Brücke. Die Landschaft ist überall wundervoll, wenn auch der Zutritt zu ihr stellenweise schwer zu erkämpfen. Zunächst glaubt man einer Tiroler Ache zu folgen. Die bewaldeten Ufer, die freundlich schwatzenden, über Steine und an kleinen Strauchinselchen in raschem Lauf vorbeieilenden Wasser, die hohen, mit lichtem Wald bestandenen Berge, blumenbesäte Wiesen, bisweilen ein kleines, klares Gerinnsel – das ist alles so lieblich, behaglich und anheimelnd, daß dem Wanderer wohl und wehe dabei zu Mute wird. Aber dann verengt sich das Tal noch mehr; steil wachsen die Steinmauern aus dem Fluß, den die wildbrausenden Strudel und Schnellen mit weißem Schaum bedecken, dicht an jäh stürzenden Abgründen steigt ein trotziger Pfad die Felswände hinauf und hinab, während sich, wer nicht schwindelfrei ist, auf schmalem Sumpfsteig zwischen Strom und Berg, bis zum Knie versinkend, vorwärts kämpfen muß. Die Ufer schmücken sich mit fremd anmutender Vegetation; gleich Kalmus duftende, großblättrige Kardamum-Stauden, die am Grunde eine köstlich schmeckende, purpurne Frucht tragen, drängen sich zu dichten Gärten zusammen, überragt von weitausladenden Ficus und schlanken Phönixpalmen, deren orangefarbige Beeren in reichen Büscheln herabhängen; Dracänen spiegeln ihre bizarren Formen im Wasser, auch wilden Pfeffer findest du stellenweise im Schatten des Dickichts, in dem Loranthusarten überwiegen. Du merkst plötzlich, wie weit du von der Heimat bist, von der du eben noch träumtest. Nach zwei Stunden erreicht man die Felsbrücke, die, kaum zwölf Meter lang, und drei Meter breit, an der engsten Stelle die Ufer verbindet. Zwischen ihr und dem Wasserspiegel ist keine Lücke, kein Durchlaß, sondern sie taucht in die Fluten, wie tief weiß niemand, weil die Gewalt der Strömung jeden Meßversuch unmöglich macht.

Wie ein wilder, schweißbedeckter Stier kommt der Fluß angeschossen, wirft sich gegen die Felsen und taumelt brüllend zurück; aber noch einmal stößt er mit tief gesenktem Haupt vor, dringt durch den unterirdischen Gang, taucht rasend vor Schmerz und wild um sich schlagend zur Höhe und jagt mit einem Wutgebrüll, das jede menschliche Stimme übertönt, pfeilschnell talabwärts, wehe dem, der sich ihm entgegenstellte. Mit furchtbarer Gewalt brausen die Wasser in starkem Gefälle hinab, Strudel neben Strudel, alles ein weißer Gischt; man sieht nicht, wo sie verschwinden, noch wo sie auftauchen, man sieht sie nur diesseits an den Stein anprallen und jenseits in wildem Strudel sich drehen, ein lärmendes, aber herrliches Schauspiel.

Am Ende der Brücke steht noch eine junge Ficus, eine immana, ein Seelenbaum, den Luabugiri, der frühere König von Ruanda gepflanzt hat, als er gegen Bunjabungu, das auf dem rechten Ufer liegt, in den Kampf zog. Steil, fast senkrecht steigt ein paar hundert Meter tief der Weg hinab, den er, in sein Verderben ziehend, mit seinen Kriegern kam. Am Baum hängen Stroh- und Metallringe, Opfergaben frommer Wanderer, und auf der Brücke zeigt man in den Fels gegraben die Fußspur des königlichen Leibhundes und erzählt eine der Roßtrappe ähnliche Sage. Die Ufer an beiden Seiten zeigen sonderbare Figurationen, versinterte Bäume und Wurzeln, wie man sie am Kiwu-See überall findet. Es ist wohl das vom Russisi entführte kalkhaltige Seewasser, das an dieser Stelle, wo ständig die Brandung die Ufer bespritzt, diese Gebilde erzeugt.

Über den Marsch der nächsten Tage ist wenig zu berichten, wir steigen die Berge im Westen der Ebene hinauf und bleiben von da ab im Hochgebirge. Im ersten Teil des Weges sind die Steigungen des Terrains groß und ich muß auf den regenglatten Wegen Steigeisen an die Sohlen schnallen. Die Gegend ist menschenleer, weil Wasasa sie vor drei Monaten verwüstet hat. Aber jetzt ist das Gebiet zu Ruanda geschlagen, und schon sieht man hier und da Leute des jungen Mtussi Kissasi Hütten bauen und die verwilderten Bananenschamben zu reinigen.

Am zweiten Tage kommen wir nach Mukinjaga, der großen Grenzprovinz von Ruanda. Damit beginnt ein reich besiedeltes Gebiet, das Ngensi zum Chef hat. Immer wieder führt der Weg durch ausgedehnte Bananenhaine, in deren Schatten die großblättrige Colocasia angepflanzt ist. Ngensi besuchte mich mit seinen Söhnen, benahm sich nett und anständig und brachte mir ein Rind und andere Geschenke, darunter soviel Pombe, daß ich ihm die Hälfte, d. h. ca. 15 Krüge zurückgeben mußte. Das stellte sich später als unklug heraus, weil es meine Nachtruhe empfindlich störte. Denn einer seiner Leute, die sich an dem von mir zurückgewiesenen Weine berauschten, setzte sich in seiner Trunkenheit in den Kopf, daß er im Zelt des » mami« des »Fürsten« schlafen müsse und blieb so hartnäckig dabei, daß er trotz zweimaligen Hinausfliegens noch ein drittes Mal ins Lager zurückkehrte.

In den nächsten Tagen waren die Steigungen meist nicht sehr groß, weil die Täler sehr hoch gelegen sind. Auffallend waren viele große Sümpfe, die in der Regenzeit zum Teil unter Wasser stehen und zum Russisi abfließen. Letzteren haben wir fast stets ein paar Kilometer zu unserer Linken; war er auch selbst nicht sichtbar, so sahen wir doch die steilen Hänge seiner Talwände. Am 10. Januar öffnete sich uns ganz unvermittelt ein Ausblick auf das Südende des Kiwu und nicht ganz zwei Stunden später lagerten wir in Tscha-Ngugu, dem letzten Posten der vor wenigen Wochen errichteten Kette zwischen Tanganika und Kiwu-See, hoch über dem Ausfluß des Russisi, dessen Rauschen zu uns heraufdrang, und mit weiter Schau auf die blauen Fluten und die grünen, schöngeformten Inseln und Halbinseln, die auf offenen und verschwiegenen Buchten und den dunklen Urwald der Berge im Kongostaat, deren Gipfel und Kämme in schweres Regengewölk hineinragten. In Tscha-Ngugu saß ich drei Tage, ehe ich mich zur Abreise entschloß. Die Ursache meines Zögerns mag komisch erscheinen, ohne es zu sein – ich wartete nämlich auf meine Zahnzangen. Als ich einige Stunden von Usumbura entfernt war, hatte mich ein Brief mit der Bitte eines Offiziers eingeholt, ihm meine Instrumente zu leihen, um sich eines Quälgeistes zu entledigen. Er reiste dann zur Küste, übergab die Zangen einem anderen Herrn, dieser wieder einem anderen, und so kam es, wie es oft mit geliehenen Dingen geschieht, daß man vergaß, sie mir zurückzuschicken. In Tscha-Ngugu wußte ich das leider noch nicht, und so wartete ich denn vergebens. – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Die Sache war wirklich für mich ernster als es scheint. Es gehört ja zu den unangenehmsten Begleiterscheinungen eines mehrjährigen afrikanischen Aufenthaltes, daß man keine Gelegenheit hat, für seine Kauer zu sorgen, denn bis zu einem Zahnarzt haben wir es im Innern noch nicht gebracht. Jeder Zahn, der erkrankt, ist darum unrettbar verloren. Aber damit fände sich der Philosoph schließlich ab, wie mit jedem Verlust, den er doch einmal auf seiner Pilgerfahrt durch dieses Jammertal zu erleiden haben würde; wogegen seine Philosophie aber nicht aufkommt, das sind die mit dem Absterben des Zahns verbundenen Schmerzen. Und wenn er auch jedes andere Leid durch innige Betrachtung sub specie aeterni auflösen könnte, hier scheitert seine Kunst. Ich erinnere mich einer Grütznerschen Zeichnung, eines Mönchs mit verschwollener, verbundener Backe und darunter die kommentierenden Worte: »Kein Mensch ist so unglücklich, daß ihn Zahnschmerzen heiter stimmen möchten.« Es ist die Predigt eines kariösen Zahnes, die diese Weisheit verkündet, aber es steckt viel Wahres darin. Hier im Innern Afrikas kann ein kranker schmerzhafter Zahn geradezu zum Verhängnis werden, denn die Neger, die in ärztlichen Handleistungen unter sich gar nicht ungeschickt sind, werden sofort zaghaft und ängstlich, sobald sie an ihrem Herrn ihre Fähigkeiten erproben sollen. Da rächt sich so manche Schroffheit. Derselbe Mann, den ich seinen Kameraden mit kühnem Zug Abszesse eröffnen sah, mußte mir, als ich an Blutvergiftung daniederlag, fast jedesmal drei- bis viermal das Rasiermesser durch die Haut ziehen, bis er tief genug geschnitten hatte. Genau so war es beim Zahnziehen, wie ich in einem früheren Briefe erzählt habe. Hat man in solchem Falle kein Instrument, so kann man an Knochenhautentzündung mit all ihren Folgen zugrunde gehen, und tatsächlich starb ein westafrikanischer Reisender, ich glaube, Pogge war es, auf diese gräuliche Manier; und nicht lange Zeit nach der Niederschrift dieses Briefes hörte ich von einem kongolesischen Offizier, der den rasenden Schmerz dieses Leidens in der Tiefe des Tanganika begrub. Und sich mit ihm. – – – – – – – – – – – – – – – – –

Doch genug davon. Denn wenn ich mich so lebhaft in diese fatalen Erinnerungen versenke, bekomme ich davon am Ende noch Zahnschmerzen und der Leser womöglich desgleichen. Ich wollte aber absichtlich einmal eine solche scheinbare Nichtigkeit erörtern, weil ich auch sonst vielfach die Erfahrung gemacht habe, daß gerade die das Leben des Afrikareisenden am unangenehmsten beeinflussenden Ereignisse dem Erzähler den undankbarsten Stoff liefern und deswegen am häufigsten verschwiegen werden. Außerdem aber muß ich auch auf einen meiner eifrigsten Leser Rücksicht nehmen, meinen früheren Barbier nämlich, und den interessiert ein solches Thema ungeheuer. –

siehe Bildunterschrift

Am Urwaldrand.

Insel Kwidiwi, August 1901.


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