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Verzweiflung

Der Hofarzt Andrej Behrs, deutsch-baltischer Herkunft, und seine Frau Ljubow Alexandrowna, geb. Islenewa, eine Jugendgespielin Leo Tolstois und seiner Schwester Marie, haben fünf Söhne und drei Töchter: Elisabeth (Lisa), Sofia (Sonja) und Tatjana (Tanja). Die lebensfrohe, angesehene Familie wohnt im Winter in der Amtswohnung des Arztes im Moskauer Kreml, im Sommer in ihrer Villa in Pokrowskoje bei Moskau; sie verkehrt in der Gesellschaft. Der Hofmedikus, Vertrauter und Günstling der Damen der Aristokratie, ist mit den Mädchenschulen seiner Zeit unzufrieden, läßt seine Töchter zu Hause erziehen und von den besten Lehrern und Universitätsprofessoren unterrichten. Im Hause der Jugendgespielin »Ljubotschka« (Koseform von Ljubow) verkehrt Tolstoi seit ihrer Verheiratung. Die erste Tagebucheintragung über einen Besuch bei den Behrs erfolgt im Jahre 1856, als Tolstoi achtundzwanzig, Sonja zwölf Jahre alt war (»Kostenka« ist ein Bruder der Frau Behrs):

»Ich fuhr mit Kostenka nach Pokrowskoje hinaus und wir aßen bei Ljubotschka Behrs zu Mittag. Die Kinder bedienten uns bei Tisch. Was für liebe, fröhliche Mädchen!«

In diesem Hause ist Tolstoi immer ein willkommener, gern gesehener Gast. Er hat auch Frau »Ljubotschka« als Mutter in seiner Familienchronik »Kindheit und Knabenjahre« dargestellt, als deren Held er selbst auftritt; im Hause Behrs ist das Werk Lieblingslektüre und Gegenstand der Verehrung. Sonja hat es als Elfjährige gelesen und einen so tiefen Eindruck empfangen, daß sie ganze Seiten daraus auswendig lernt und den Verfasser, den ersten wirklichen Dichter, den sie leibhaftig vor sich sieht, nicht anders als mit den verzückten Augen jugendlicher Begeisterung zu betrachten vermag. Tolstoi ist ihr der Held und Verfasser von »Kindheit und Knabenjahre«, sie staunt ihn heimlich an, wenn er zu Besuch kommt, bindet Bändchen um den Stuhl, auf dem er gesessen hat, schreibt ein paar Zeilen aus seinem Werke ab, die sie »als Amulett unter dem Mieder trägt«.

Sie fühlt sich zurückgesetzt, es verletzt sie, daß er sie so wenig beachtet, immer nur Augen für die ältere Schwester Lisa hat, sich nur mit dieser unterhält, sie sogar auffordert, an seiner pädagogischen Zeitschrift mitzuarbeiten. Sie ist eifersüchtig auf die Schwester. Wie ihr Romanheld schreibt sie ein Tagebuch und übt sich in schriftstellerischen Versuchen, wohl aus Nachahmungstrieb und aus Eifersucht auf die bevorzugte Schwester.

Neben und vor dem vergötterten Dichter spielt aber ihr Jugendgespiele und Herzensfreund Poliwanow eine beherrschende Rolle in ihrem Jungmädchenleben. Über Poliwanow tauscht sie mit Tanja, der jüngeren Schwester, Vertraulichkeiten aus. Die beiden jüngeren Schwestern halten zusammen, auch aus Opposition gegen die ältere; darum ist Tanja auch Sonjas Vertraute in ihren Herzensangelegenheiten.

Als Poliwanow vor Beendigung der Kadettenschule steht, bemerkt Tanja: »Sonja ist ihm schon lange nicht mehr gleichgültig. Diese Liebe war durch Sonjas Anteilnahme geweckt worden. Er fühlte sich einsam, unser Haus war ihm ein Daheim. Sonja brachte ihm Mitgefühl entgegen, als ihn Kummer traf. Eine seiner Schwestern starb. Die andere wurde mit achtzehn Jahren Nonne. Sonja tröstete ihn, so gut sie es vermochte. Sie plauderte mit ihm, spielte ihm seine Lieblingsarien vor und war voller Anteilnahme, wenn er in der Schule Unannehmlichkeiten hatte. Poliwanow hing sehr an ihr.«

Weiter bemerkte Tanja, daß auch Poliwanow ihrer Schwester Sonja scheinbar »nicht gleichgültig war. Sie begann oft von ihm zu sprechen, saß wohl eine Weile schweigend da, versank in Nachsinnen, sagte schließlich lächelnd:

›Weißt du, Tanja, was er mir gesagt hat? Sie haben ein wunderbares Herz. Wenn Sie da sind, bin ich ein ganz anderer. Sie üben immer einen guten Einfluß auf mich aus ,… Und noch vieles andere hat er mir gesagt‹, erging sich Sonja in Erinnerungen, wobei ihr Gesichtsausdruck bald ernst und nachdenklich, bald keck und fröhlich war.«

Tanja antwortete ihr: »Sonja, du bist ja auch in ihn verliebt. Ich habe es schon lange bemerkt, bisher aber geschwiegen.«

Darauf »blieb Sonja stumm«.

»Später aber gestand Sonja mir ihre Verliebtheit in Poliwanow«, fährt Tanja fort. »Sie bekannte, daß die Sonnabende (Besuchstage Poliwanows) für sie nun voller Bedeutung und Inhalt seien und daß er ihr dieser Tage zu verstehen gegeben habe, er liebe sie schon lange.«

So erwachte in Sonjas Herzen erste Liebe zu dem Jugendgespielen, stille, beglückende Liebe, ohne Überschwang und schwärmerische Verzückung.

Auch Tolstoi erscheint früh im Gesichtsfelde der kleinen Sonja. In ihren Erinnerungen berichtet Sofia Andrejewna später:

»Seit frühester Kindheit erinnere ich mich an Leo Nikolajewitsch. Er besuchte von Zeit zu Zeit meine Mutter, mit der zusammen er aufgewachsen war, als unsere beiden Familien – die der Tolstoi und die meines Großvaters Islenew – Nachbarn waren; jene lebte in Jasnaja Poljana, diese in Krasnoje. Als Kinder hatten wir alle Leo Nikolajewitsch sehr lieb; er spielte mit uns, regte uns zum Singen an und erzählte herrlich. Ich erinnere mich noch, daß er bei Ausbruch des Sewastopoler Krieges (ich war damals gegen elf Jahre alt) bei uns vorsprach, um Abschied zu nehmen. Meine Schwester und ich weinten schrecklich. Ich seh es noch vor mir, wie er auf einem niedrigen Mahagonistuhl mit Schnörkeln und kirschrotem Stoffbezug in unserem Salon im Kreml saß und über den Krieg sprach. Nach seinem Aufbruch knüpfte ich ein Bändchen an diesen Stuhl und rief seine auf ihm sitzende Gestalt in meiner Vorstellung hervor. Bald darauf kaufte Mutter uns die »Kindheit« und erklärte, daß es ein Werk von Leo Nikolajewitsch sei. Der Eindruck, den dieses Buch auf mich machte, war so stark, daß ich ihn nie vergessen werde.«

Ein jeder seiner Besuche bringt etwas Ungewöhnliches ins Haus; alles, was den Dichtergrafen und Freund ihrer Mutter betrifft, geht den Töchtern nahe. »Als er einmal zu uns kam und erzählte, er habe nach einem Spielverlust von tausend Rubeln die noch unbeendeten »Kosaken« verkaufen müssen, nahmen wir Mädchen uns das so zu Herzen, daß wir ruhelos durch die Zimmer irrten und weinten.«

Einst, als Tolstoi bei den Behrs Turgenjews Novelle »Erste Liebe« vorlas, machte er die Bemerkung: »Die Liebe des sechzehnjährigen Sohnes, des Jünglings, das ist die wahre, starke Liebe, die der Mensch nur einmal im Leben empfindet; die Liebe seines Vaters aber ist widerlich und lasterhaft.«

Diese Worte fielen Tanja »tief in die Seele« und sie »gedachte ihrer Liebe zu Kusminsky und Sonjas Liebe zu Poliwanow. Also ist unsere Liebe die wahre Liebe,« dachte sie, »mit einem gewissen Stolz.«

Alle Äußerungen Tolstois werden von den Mädchen gierig aufgegriffen, jedes Wort aus seinem Dichtermunde ist für sie Offenbarung, inhalts- und bedeutungsschwer.

Als Poliwanow die Kadettenschule beendet hatte und nach Petersburg abgereist war, um in die Akademie einzutreten, hinterließ er im Hause Behrs »einen unausgefüllten Platz«. Wenn nun Sonjas und Tanjas Bruder allein aus der Kadettenschule kam, »krampfte sich« Tanjas Herz »zusammen«, denn »Sonja weinte heimlich aus Sehnsucht nach Poliwanow, bemüht, ihr Gefühl für ihn zu verbergen, obwohl natürlich alle im Hause um ihre gegenseitige Verliebtheit wußten und das für eine ganz gewöhnliche Sache hielten.«

»Zwar setzte Vater eine Zeitlang Sonja und Poliwanow zu, Mama aber renkte alles ein«, berichtet Frau Tatjana Andrejewna Kusminskaja, die einstige Tanja, in ihrem Buche.

Frau Behrs waren Tolstois Besuche nicht nur um der gemeinsamen Erinnerung willen lieb und angenehm; auch als möglicher Schwiegersohn war ihr der Jugendfreund und Dichter selbstverständlich hochwillkommen. Sie meinte, er bevorzuge Lisa, und ihr war die Aussicht, zuerst ihre Älteste unter die Haube zu bringen, natürlich besonders angenehm. Sonja schien auch bereits ihre Wahl getroffen zu haben, ihr Poliwanow war ja der Familie gut bekannt und offenbar ein braver Junge, so trat denn die Mutter für ihn auch vor dem Vater ein, und der Herr im Hause war sie. Selbst die Jüngste war bereits verliebt, in Kusminskij (den sie dann auch später geheiratet hat). So schien alles in schönster Ordnung, und Frau Behrs durfte sich bereits über das Schicksal ihrer Töchter beruhigt wähnen. Als sie dann später bemerkte, daß Tolstoi seine Aufmerksamkeit der zweitältesten Tochter zuwandte und damit die ganze schöne Ordnung zerstörte, war sie begreiflicherweise enttäuscht, was Sonja nicht entging, die vermerkt: »Meine Mutter war mit irgend etwas unzufrieden«, wie wir weiter unten sehen werden. Der Dichter Feth, den Tolstoi im Hause Behrs einführte, bezeichnet Frau Behrs als eine energische Dame von großer Charakterstärke.

Als Tolstoi auf der Durchreise in die Kirgisensteppe im Mai 1862 mit seinen Lieblingsschülern Fedor Tschernow und Wassilij Morosow die Behrs besucht, bemerkt die scharfe Beobachterin Tanja den beginnenden Zwiespalt im Herzen der Schwester: »Sieht sie Leo Nikolajewitsch, so strebt sie ihm mit ganzer Seele zu, erhalte ich einen Brief von Poliwanow, so liest sie ihn voller Ungeduld« (Tanja, der Backfisch, durfte noch mit einem jungen Manne korrespondieren, während sich das für die zwei Jahre ältere Sonja bereits nicht mehr schickte).

Die empfindsame, schwärmerische Sonja hatte in ihrer Begeisterung für die schöne Literatur bereits vor ein paar Jahren, als Sechzehnjährige, eine längere Erzählung geschrieben, deren Helden Poliwanow und Tolstoi sind. In der Novelle entscheidet die Verfasserin, daß Tolstoi ihre Schwester Lisa heiratet, obwohl Sonja hier und da der Wunsch kommt, selbst die Gattin des bereits in ganz Rußland berühmten und beliebten Dichters zu werden; aber die Liebe zu ihrem Jugendfreunde Poliwanow überwiegt. Zuweilen schwankt sie und spielt in ihrer Verwirrung mit dem Gedanken, Nonne zu werden, wie Poliwanows junge Schwester. Schließlich aber läßt sie es doch bei der Ehe Tolstoi – Lisa, während sie Poliwanow heiratet. So fällt in der Novelle die Entscheidung ihres Herzens aus.

Auf der Rückreise aus Samara, Anfang August, besucht Tolstoi wieder die Behrs und verhilft Sonja zu einer richtigeren Auffassung der Rolle der Ehevermittlerin in Gogols »Heirat«, die sie bei einer Liebhabervorstellung im Hause des Fürsten Obolenskij spielen soll. Er liest ihr das ganze Stück vor; gespannt lauscht sie seiner Auslegung ihrer Rolle.

Auch diesmal passiert Tolstoi Moskau »wohlbehalten«; er ist froh, daß man ihn nicht gezwungen hat, mit seiner Werbung um Lisas Hand herauszurücken. Möglicherweise war »die falsche Vorstellung« (wie er später zu Sonja sagt) zum Teil dadurch entstanden, daß er als reifer Mann bei der älteren, bereits erwachsenen Tochter mehr Anknüpfungspunkte fand, sich freier mit ihr unterhalten konnte und ihr, der jungen Dame, natürlicherweise größere Aufmerksamkeit entgegenbrachte als der kleinen Sonja, die ja vor kurzem noch ein unreifer Backfisch war. Andererseits aber wissen wir, daß Tolstoi in dieser Zeit bereit war, »ohne Liebe, ruhig« zu heiraten, um einen »eigenen Winkel« zu gründen und sich von Aksinja zu lösen. Schon Jahre vorher hatte er zu seiner Schwester gesagt, daß er – wenn die älteste Tochter nicht fünfzehn, sondern achtzehn Jahre alt gewesen wäre – »sie allein schon darum heiraten würde, weil sie aus gutem Hause und wohlerzogen ist«, berichtet Tanja. »Das stieg Lisa zu Kopf, und bald darauf begann man sie damit zu necken, daß sie in Leo Nikolajewitsch verliebt sei. Sie lächelte ihr kaltes und schönes Lächeln und stritt es nicht ab. Seitdem träumte sie von einer Ehe mit Leo Nikolajewitsch. Das dauerte so drei Jahre.«

Diese falsche Ansicht suchte Tolstoi erst zu zerstreuen, als er sich Sonja zuwandte, wenn er auch bereits im April 1862 auf der Hinreise nach Samara, im Tagebuch vermerkte: »Bei den Behrs fühlte ich mich zwangloser – man hat mich ein bißchen freigelassen.«

Während seiner Samara-Reise ist er noch voller Liebe zu Aksinja; ein Stückchen von seinem ihm durch sie liebgewordenen Bauernleben, seine beiden Lieblingsschüler, Bauernjungen aus Jasnaja Poljana, hat er mitgenommen, und er empfindet es dankbar, daß man die Kinder im Hause Behrs freundlich aufnimmt. In der Kirgisensteppe war er wieder in seiner großen Welt; Wassilij Morosow, der jugendliche Augenzeuge, berichtet später:

»Alle Baschkiren, jung und alt, gewannen ihn lieb. Er verstand es, jeden auf seine Art zu nehmen: mit einigen alten Männern unterhielt er sich ernst über Glauben, Gott, Allah, mit anderen scherzte und lachte er fröhlich, wieder mit andern ging er alle Baschkirenspiele durch; an allem nahm er teil. Jeder liebte ihn wegen des Eingehens auf seine Eigenart, und das ging so fort, Tag für Tag, die ganze Zeit über, die wir da waren.«

Auch auf der Rückreise, als er in Moskau die Behrs besucht, kommt die Absicht, eine von Frau Ljubotschkas Töchtern zu heiraten, noch nicht zum Durchbruch. Erst als er in Jasnaja Poljana anlangt und an Ort und Stelle den Eindruck wahrnimmt, den die Haussuchung hinterlassen hat, als er seine Tätigkeit, die ihm Glück und Befriedigung gab, für vernichtet hält, und das Volk, um dessen Vertrauen er jahrelang geworben, ihn »nicht mehr als einen ehrlichen Mann ansieht«, als »die Schule nicht mehr eröffnet wird«, wie er an Gräfin Alexandra Andrejewna schreibt, als er das veränderte Verhalten seiner Bauern bemerkt, die seiner pädagogischen Tätigkeit immer schon als einer müßigen Herrenlaune mit Mißtrauen begegneten, ergreift ihn Ruhelosigkeit und Unrast. Die alte Sehnsucht nach dem stillen Hafen eines patriarchalischen Familienlebens, wie er es vor mehr als zehn Jahren in seinem Briefe aus dem Kaukasus an Tantchen Jergolskaja ausgemalt hat, erwacht mit erneuter Macht in ihm: in dem »eigenen Winkel« würde er sich von all dem Unerquicklichen befreit und geborgen fühlen, auch vor Aksinja.

Das Verhältnis mit der Bäuerin währt immer noch. Sehr aufschlußreich über seine Beziehungen zu ihr ist die bereits erwähnte autobiographische Erzählung »Der Teufel«, in der er in dem Helden Irtenew sich, in der Bäuerin Stepanida Aksinja schildert. »Einmal«, bekennt er hier, »als gerade wieder eine Zusammenkunft mit Aksinja (wir unterstellen die richtigen Namen) verabredet war, erhielt Tantchen Besuch von der Familie (Behrs) jenes jungen Mädchens, das Tantchen gern als seine (Tolstois) Braut gesehen hätte, und er konnte nicht fort. Als er sich endlich freigemacht hatte, ging er unter dem Vorwand, er müsse zur Tenne, auf einem schmalen Seitenweg in den Wald an den Ort der Zusammenkunft. Aksinja war aber nicht mehr zu finden. Doch rundherum, soweit die Hand reichte, war alles geknickt und abgebrochen – Faulbaum, Haselnußbüsche, sogar ein junger Ahorn von der Dicke eines Knüppels. Sie hatte gewartet, sich aufgeregt und geärgert und ihm schließlich diese Andenken hinterlassen.«

Bemerkenswert ist, daß Tolstoi hier gesteht, sich von der Seite Sofia Behrs', der er nach einigen Tagen eine kaum noch verschleierte Liebeserklärung macht und die in wenigen Wochen seine Braut und Frau wird, fortgestohlen zu haben, um in Aksinjas Arme zu eilen. Andererseits läßt die Verwüstung, die die vergeblich Wartende am Ort des Stelldicheins angerichtet hat – ein Ahornbäumchen von der Dicke eines Knüppels abzubrechen, ist nicht so leicht – darauf schließen, daß Aksinja in quälender Eifersucht entbrannt war. Den Reisewagen mit den drei jungen Mädchen und ihrer Mutter, der zum Gutshof fuhr, hatte sie wahrscheinlich gesehen und des »Herrn« konnte sie ja unter den Umständen niemals sicher sein, trotz der vierjährigen Liebschaft und obwohl sie ein Kind von ihm erwartete, das bald darauf geboren wurde (der Knabe sah dem Vater sprechend ähnlich, mehr als alle seine späteren, legitimen Kinder; er wuchs als Sohn von Aksinjas Mann auf).

Tolstois Enttäuschung über das verfehlte Stelldichein war so groß, daß Aksinja (falls die Darstellung im »Teufel«, wie anzunehmen ist, der Wirklichkeit entspricht) durch Vermittlung des Waldhüters »auf morgen« wieder in den Wald »bestellt« wurde. »Sie kam und war, wie sie immer war«, während die jungen Mädchen noch im Herrenhause weilten und gerade in diesen Tagen die erste Annäherung zwischen Tolstoi und Sonja Behrs stattfand.

Vielleicht gab gerade jenes verfehlte Stelldichein den unmittelbaren Anlaß zu dieser Annäherung, als Tolstoi, verärgert über seine Abhängigkeit von Aksinja und die Heimlichkeit dieses Verhältnisses, das er vor den Seinen, dem Personal des Gutshofes, den Bauern verbergen mußte, ins Haus zu seinen Gästen zurückkehrte und die Möglichkeit der Verwirklichung seines Traumes von einem ruhigen Eheglück mit einer Frau aus seinen Kreisen ihm wohl besonders verlockend erschien. Die älteste Schwester Lisa reizte ihn nicht oder nicht mehr, so fiel sein Auge auf die zweite, Sofia Andrejewna, die achtzehn Jahre alt und von großer Schönheit war. Sonjas Jugend – sie war noch um zwei Jahre jünger als seinerzeit Valeria Arsenjewa – weckte in ihm wohl auch die Hoffnung, sie eher als einst Valeria in seinem Sinne beeinflussen, nach seinem Ideal als Gattin und Mutter formen zu können. Und Sonja war ja gewissermaßen unter seinen Augen aufgewachsen, unter »Ljubotschkas«, ihrer Mutter, Obhut, die er von Kindheit an kannte und um deren Energie und Tüchtigkeit er wußte. Wenige Wochen später sagte er ihr in ihrem Landhause bei Moskau anerkennend: »Ihre Töchter haben eine vorzügliche Kinderstube genossen«; schlechte Erziehung konnte er Sonja, wie seinerzeit Valeria, also nicht vorwerfen.

Alle diese Umstände mußten bei einem Manne seiner Veranlagung besonders schwer und bestimmend ins Gewicht fallen. Er wußte, mit wem er es zu tun hatte, und konnte eine Ehe mit einer Tochter »Ljubotschkas« viel eher sogar »ohne Liebe, ruhig« eingehen als vier Jahre zuvor mit Katharina Tjutschewa. Vor kurzem hatte er auch die Erzählung »Eheglück« beendet und damit alles Trübende, was von seiner Werbung um Valeria noch zurückgeblieben war, sich von der Seele geschrieben. Und sein verehrtes Tantchen Jergolskaja, nunmehr fünfundsiebzig Jahre alt, würde über diese Heirat glücklich sein, wie auch seine geliebte Schwester Marie eine Tochter ihrer Freundin Ljubotschka als Schwägerin freudig begrüßen würde.

Sofia Behrs ihrerseits war hier, im Hause des großen Mannes, ihrem Jugendgeliebten Poliwanow, dem sie sich bereits zugesagt hatte, ferner als in Moskau, wo »sein Platz unausgefüllt geblieben war«, und dem vergötterten Dichter in seinem Heim menschlich näher als je zuvor. Von dem Leben, das sie an der Seite Poliwanows erwartete, dessen Zukunft ja noch ganz unbestimmt war, konnte sie sich noch gar keine Vorstellung machen, während die trauliche Häuslichkeit des Dichters, der hier Herr und Mittelpunkt war, das schöne Gut mit Wald und Feld, der große Garten mit seinen Teichen nachhaltigen Eindruck auf das empfängliche Jungmädchengemüt machen mußte, war Sonja doch zum ersten Male auf dem Lande; bisher hatte sie nur die Sommerfrischen bei Moskau kennengelernt. Und als er, der berühmte Mann, der Verfasser von »Kindheit und Knabenjahre«, sich von ihrer Schwester ab- und plötzlich ihr zuwandte, die kaum schon für voll angesehen wurde, mußte sie sich nicht nur tief geschmeichelt fühlen, sondern in Herz und Kopf der Achtzehnjährigen dürfte große Verwirrung entstanden sein, die das Bild des fernen Poliwanow verdrängte, während Tolstoi, der Dichtergraf, Gutsherr und Bewerber, überwältigend groß in den Vordergrund trat.

Und der ältesten Schwester gegenüber war ihr seine Aufmerksamkeit Triumph und Genugtuung. Sonja hatte Lisa immer schon beneidet, war eifersüchtig auf sie gewesen wegen der Bevorzugung, die »ihr« Dichter der Schwester erwies, und diese Schwester hatte sie noch dazu aufs tiefste gekränkt, sich über etwas, was Sonja in kindlicher Überschwenglichkeit als heilig galt, lustig gemacht! Hatte Lisa doch einst auf Sonjas Talisman, das Päckchen mit des Dichters Worten aus »Kindheit und Knabenjahre«, das Sonja neben dem Kreuzchen auf der Brust trug, mit großen Buchstaben geschrieben: »Närrin!« Seitdem galt ihr Lisa im Unbewußten als Feind, an dem sich zu rächen sie, ohne wissentliche Absicht, immer bereit war.

Über diesen denkwürdigen Tag, ihren ersten Tag in Jasnaja Poljana, wo sie kaum fünf Wochen später als Herrin einziehen und ihr ganzes Leben verbringen sollte, berichtet Sofia Andrejewna selbst:

»Während des Abendessens setzte ich mich oben auf den Balkon und freute mich an dem herrlichen Blick auf den Garten, die Teiche, die Tannen und den Himmel, in dessen Mitte zwischen Bäumen der Mond hell leuchtete. Ich erinnere mich noch des wunderbaren Gefühls von Glück, Freiheit, Freude, Ruhe, das in mir auf diesem Balkon erwachte. Ob ich wohl spürte, daß hier mein ganzes weiteres Leben verlaufen würde, oder kam es daher, weil ich noch niemals auf dem Lande gewesen war? Es war jedenfalls sehr schön. Leo Nikolajewitsch kam zu mir heraus und sagte auch etwas sehr Angenehmes: daß wir Frohsinn in sein Haus gebracht hätten, daß ich wunderbar schlicht und klar sei, daß Langeweile einziehen werde, wenn wir wieder abreisten ,… Dann wurden wir nach unten gerufen, in das Zimmer mit den Strebepfeilern. Wie ungewöhnlich mir damals alles erschien!«

Weiter berichtet Sofia Andrejewna, als sie und das Dienstmädchen am Abend die Betten machten, habe es sich herausgestellt, daß nur für drei Gäste Schlafstellen vorhanden waren. Tolstoi, der gerade ins Zimmer trat, schlug vor, daß eines der jungen Mädchen auf einem ausziehbaren Lehnstuhl schlafe, worauf Sonja ausrief:

»›Ich will auf dem Lehnstuhl schlafen!‹

›Und ich richte Ihnen das Bett her‹, sagte Leo Nikolajewitsch und begann mit unbeholfenen, ungewohnten Bewegungen ein Laken zu entfalten. Ich war verlegen, zugleich aber lag etwas Angenehmes, Intimes in diesem gemeinsamen Bettemachen.

Als alles fertig war und wir nach oben kamen, empfing uns Schwester Lisa mit einem fragenden Blick. Jeder Augenblick dieses Abends steht lebendig vor mir.«

Die Anwesenheit der jungen Mädchen in seinem Hause erregte Tolstoi offenbar ebenso sehr wie die Intimität seiner Häuslichkeit Sonja. Das war für beide vielleicht der entscheidende Augenblick, als er ihr für die erste Nacht in seinem Hause das Bett selbst herrichtete.

Am nächsten Tage, als ein Picknick im Walde stattfindet, weiß Tolstoi es so einzurichten, daß er und Sonja reiten, während die übrige Gesellschaft im Wagen fährt. Er hält sich an der Seite des jungen Mädchens, plaudert mit ihr und vernachlässigt ihre Schwester Lisa offensichtlich, denn zugleich mit der Annäherung an Sonja erwacht in ihm das Bestreben, von Lisa nunmehr in aller Augen in unzweideutiger Weise abzurücken, um sich seine Handlungsfreiheit zu sichern. Wie immer, wenn er etwas durchsetzen will, geht er dabei recht schonungslos vor, nach einer seiner »Lebensregeln«: »Was du dir vorgenommen hast, unbedingt zu vollbringen, das tu auch, ohne auf irgend etwas Rücksicht zu nehmen.« So läßt er wenig später auf der gemeinsamen Reise nach Moskau, wie wir bald sehen werden, Lisa allein auf dem Außensitz der Kutsche und flüchtet auf den Bock, als nicht Sonja, sondern eben Lisa seine Nachbarin werden soll, so daß die arme Verschmähte nach der Ankunft »schluchzend in ihr Zimmer stürzte«.

Frau Behrs und ihre Töchter bleiben einige Tage in Jasnaja Poljana und setzen dann ihre Reise fort, die sie unternommen haben, um den Großvater auf seinem fünfzig Werst von Jasnaja Poljana entfernten Gute Iwitzy zu besuchen.

»Beim Großvater hatten wir frohe Tage«, berichtet Sofia Andrejewna, »wir wurden beständig gefeiert durch Festessen, durch Ausflüge zu den Nachbarn, durch Bälle usw. Eines Abends waren gerade viele Gäste da; wir waren herausgeputzt und tanzten fröhlich, als plötzlich Leo Nikolajewitsch eintrat. Er war herübergeritten und hatte die vierzig oder fünfzig Werst ohne Unterbrechung zurückgelegt. Wir alle, besonders mein Großvater, freuten uns schrecklich. Leo Nikolajewitsch trat auf mich zu und sagte: ›Wie schmuck Sie hier alle sind; schade, daß Tantchen Sie nicht so gesehen hat. Warum haben Sie sich denn in Jasnaja nicht so schön gemacht?‹

Als dann alle abgefahren waren oder sich in ihre Zimmer zurückgezogen hatten, die Kartentische noch aufgeklappt standen, die herabgebrannten Kerzen zu verlöschen begannen, gingen wir immer noch nicht schlafen ,… Ich war schon in der Tür, als Leo Nikolajewitsch mich zurückrief:

›Sofia Andrejewna, warten Sie noch ein wenig.‹

›Was ist?‹

›Lesen Sie mal, was ich schreiben will.‹

›Gut.‹

›Ich schreibe aber nur die Anfangsbuchstaben hin, und Sie müssen die Worte erraten.‹

›Wieso denn? Das ist doch unmöglich! Na, schreiben Sie.‹

Leo Nikolajewitsch bürstete die Notizen der Kartenspieler fort, nahm ein Stückchen Kreide und schrieb: ›1. J. u. I. V. n. G. m. m. a. l. a. m. A. u. d. U. d. G.‹«

»›Ihre Jugend und Ihr Verlangen nach Glück mahnen mich allzu lebhaft an mein Alter und die Unmöglichkeit des Glücks‹,« las Sonja mit Tolstois Hilfe, wie ihre Schwester Tanja in ihrem Buche entgegen der Darstellung Sofia Andrejewnas mit offenbar größerer Wahrheitstreue berichtet. Tanja, »der kleine Teufel«, lebhaft und neugierig, so scharf beobachtend und so empfänglich, daß sie im Jahre 1924 als fast achtzigjährige Greisin ihre Erinnerungen mit jugendlicher Frische und Anmut und nie fehlender Gedächtnistreue niederschreibt, Tanja hat Augen und Ohren überall; während der Erklärung zwischen ihrer Schwester und Tolstoi hockt sie unter dem Flügel und hört atemlos zu.

Sonjas Fingerspitzen werden vor Spannung kalt, ihr Herz pocht stürmisch, sie lauscht angestrengt in sich hinein, und in der Erregung scheint ihr – wohl ganz ehrlich –, daß sie auf eine geheimnisvolle Weise durch eine Art Hellsehen und innerer Verbundenheit mit Tolstoi den ganzen Satz allein, ohne jede Unterstützung, entziffert hat.

»Ich nahm ein Stückchen Kreide«, berichtet Sofia Andrejewna weiter, »und schrieb hastig meine Antwort nieder, auch bloß die Anfangsbuchstaben. Ich erinnere mich weder an meine Worte noch daran, ob Leo Nikolajewitsch sie richtig las. Ich weiß nur noch, daß er wieder die Kreide ergriff und schrieb: ›I. I. F. h. e. f. V. v. m. u. I. S. L., S. u. T. m. s. z.‹

›In Ihrer Familie herrscht eine falsche Vorstellung von mir und Ihrer Schwester Lisa; Sie und Tanja müssen sie zerstören‹.«

Das war, wenn auch in verschleierter Form, bereits eine Liebeserklärung, wenige Tage nach der ersten, stummen Annäherung in Jasnaja Poljana. Diesen Eindruck hatte Sonja, weshalb sie das wichtige Ereignis noch in später Nacht in ihr Tagebuch eintrug:

»Erregt und beglückt ging ich nach oben schlafen. Lisa war bedrückt, sie hatte gesehen, daß Leo Nikolajewitsch fast nicht von meiner Seite wich. Meine Mutter war mit irgend etwas unzufrieden, Tanja schnarchte schon. Ich zog mich in meine Ecke hinter der Scheidewand zurück, holte Tagebuch, Tintenfaß und Feder hervor, setzte mich auf den Fußboden, legte Tagebuch und alles andere auf einen Stuhl, da kein Tisch da war, und machte mich ans Schreiben. Hier gestand ich mir zum ersten Male meine Liebe zu Leo Nikolajewitsch. Dieses Tagebuch wurde an meinem Hochzeitstage verbrannt.

Am nächsten Tage, bevor Leo Nikolajewitsch fortritt, nahm er meiner Mutter das Versprechen ab, auf dem Rückwege in Jasnaja Poljana einzukehren.«

Das geschah denn auch, und bei der Abreise aus Jasnaja Poljana schloß sich Tolstois Schwester Marie ihrer Freundin Ljubotschka an. Sofia Andrejewna berichtet weiter:

»Unter dem Vorwand, seine Schwester zu begleiten, kam auch Leo Nikolajewitsch mit. Der Reisewagen hatte vier Innen- und hinten zwei Außensitze (Eisenbahnverbindung gab es damals noch nicht). Es wurde vereinbart, daß abwechselnd je eine Poststrecke weit meine Schwester Lisa und ich hinten bei Leo Nikolajewitsch sitzen sollten. Ich erinnere mich, wie Leo Nikolajewitsch mir lange Geschichten über den Kaukasus erzählte, über sein Leben dort, wie es Abend wurde und ich einzunicken begann, eingelullt durch das Schaukeln des Wagens und seine leise zärtliche Stimme. Ich schämte mich einzuschlafen, ich kämpfte dagegen an, doch der Schlaf war so unüberwindlich und beglückend.

Die letzte Strecke vor Moskau mußte, der Reihenfolge gemäß, ich hinten sitzen. Da rief mich meine Schwester Lisa erregt beiseite und bat mich inständig, ich möchte sie bis Moskau neben Leo Nikolajewitsch sitzen lassen. Mir war es leid darum, ich lehnte ab, aber das Glück hatte mich gütig gemacht, ich gab plötzlich nach und stieg in den Wagen, Lisa den Außensitz überlassend. Kaum aber war ich eingestiegen, als Leo Nikolajewitsch herunterkletterte und auf den Bock stieg. Meine Schwester blieb allein.

Als wir in Moskau ankamen, stürzte Lisa in ihr Zimmer und brach in Schluchzen aus ,… Am nächsten Morgen fuhren wir in unser Sommerhaus in Pokrowskoje, wo ich geboren bin und wo ich mein Leben lang jeden Sommer verbracht hatte.

Leo Nikolajewitsch war in Moskau geblieben, hatte sich bei einem Schneider eine kleine Wohnung gemietet und kam beständig zu uns nach Pokrowskoje hinaus, zuweilen im Wagen, meist aber die zwölf Werst zu Fuß.

Seine Anwesenheit in unserem Hause war für mich ein zweifelloses Glück, ich wagte es aber nicht, mich meinem Gefühl zu überlassen, da ich fürchtete, meiner Schwester in den Weg zu treten. Ich erinnere mich, wie ich einmal erregt nach oben lief, in unser gemeinsames Mädchenzimmer mit einem großen italienischen Fenster, und wie meine Schwester Tanja bei meinem Anblick verwundert fragte: ›Was ist dir?‹ Ich stieß hervor: ›Ich fürchte, mich in den Grafen zu verlieben.‹

Es war eine schwierige Lage. Meine Schwester war in Leo Nikolajewitsch verliebt. Mein Vater, immer eifersüchtig und mißtrauisch, verging vor Eifersucht, da er annahm, Leo Nikolajewitsch mache unserer Mutter den Hof. Sie war damals achtunddreißig Jahre alt und sehr schön, während Leo Nikolajewitsch vierunddreißig Jahre zählte. Nur ich allein spürte dunkel, daß seine ganze Aufmerksamkeit auf mich gerichtet war.«

Tolstoi besucht die Behrs in Pokrowskoje fast täglich. Er wiederholt seine ihm bereits einmal abgeschlagene Bitte, Sonja möchte ihm ihre Erzählung zu lesen geben, deren Held Dublitzkij er ist, und ihr am Hochzeitstage bezeichnenderweise vernichtetes Tagebuch, und diesmal gibt sie seinem Drängen nach. Beides bringt er ihr schon am nächsten Tage »mit nachlässig gleichgültiger Miene« zurück – wir erkennen hier den einstigen snobistischen Befolger des comme il faut wieder –, »gestand aber später, daß er die Nacht nicht geschlafen und alles durchgelesen habe«. Sofia Andrejewna berichtet weiter:

»Das ging so fort bis zu unserer Übersiedlung nach Moskau. Damals war auch Nil Popow, ein junger Universitätsprofessor für Geschichte, unser Gast. Er machte mir auch den Hof, gefiel mir aber gar nicht.

Ich erinnere mich, wie Leo Nikolajewitsch mich einmal durch irgend etwas gereizt hatte und ich mich mit Popow auf die Verandastufen setzte und ausgelassen mit ihm plauderte. Das rief den ersten Eifersuchtsausbruch bei Leo Nikolajewitsch hervor, was ich durchschaute.

Etwa am 10. September zogen wir in die Stadt ,… Eines Abends spielte ich den Walzer »Il baccio« und meine Schwester Tanja sang. Darauf ging sie hinaus; Leo Nikolajewitsch stand hinter mir, an den Ofen gelehnt. Er begann zu sprechen, wie nur er es konnte, zärtlich, voller Einfühlung, gescheit. Es handelte sich dabei immer um das gleiche, daß er zu alt sei für ein junges Glück, und um mich. Doch jedesmal, wenn ich erregt das Spiel unterbrach, wiederholte er: ›Spielen Sie, spielen Sie!‹

Ein Gast kam und störte unsere Einsamkeit zu zweien, aber eigentlich wurde an diesem Abend fast alles gesagt

An diesem oder einem der nächsten Tage sandte Sonja einen Absagebrief an Poliwanow. Sofia Andrejewna fährt fort:

»Wenige Tage später, ich weiß nicht mehr wieviele, war mein Bruder mit einigen Kameraden aus der Kadettenschule bei uns. Die ganze Familie hatte sich am Abend im Speisezimmer versammelt, wo Tee getrunken wurde, während die Kadetten etwas aßen. Leo Nikolajewitsch hielt mich im Zimmer meiner Mutter zurück und reichte mir über den Tisch hin einen Zettel, geschrieben auf einem Viertelbogen einfachen weißen Papiers, mehrmals gefaltet und ganz speckig. Offenbar hatte er ihn schon lange bei sich getragen. Das war am 16. September 1862. In dem Zettel hielt er um mich an.

Ich ergriff das Stückchen Papier und flog, wie ein Wirbelwind an unserer bei der Abendmahlzeit sitzenden Familie vorbeistürmend, nach unten in unser Mädchenzimmer. Ich schloß die Tür ab und begann zu lesen, atemlos vor Erregung. Als ich an die Worte kam: »Wollen Sie meine Frau werden?« konnte ich nicht weiterlesen und erstarb gleichsam. In diesem Augenblick wurde heftig an der Tür gepocht. Ich fragte: ›Wer ist da?‹ Es war meine Schwester Lisa. Ich schloß die Tür auf. Sie fragte: ›Nun, was ist?‹ Ich antwortete: ›Der Graf hat mir einen Antrag gemacht.‹

Meine Schwester schrie auf, warf sich auf ihr Bett und begann zu schluchzen, ja bekam geradezu Krämpfe. Ich erschrak und erklärte, um sie zu beruhigen, ich hätte sie angeführt, ich würde ablehnen. Meine Mutter trat ein und sagte, Leo Nikolajewitsch warte auf mich. Ich erwiderte, ich könnte ihm gar nichts sagen, solange meine Schwester in einem solchen Zustande sei. Mutter fuhr meine Schwester streng an, mir aber sagte sie, wenn ich ablehnte, würde er sich darum doch nicht in Lisa verlieben, nahm mich bei den Schultern und mit den Worten ›Geh zu ihm!‹ stieß sie mich fast aus dem Zimmer hinaus. Ich ging, gleichsam nicht meinem, sondern ihrem Willen gehorchend. Als ich in Mutters Zimmer trat, stand Leo Nikolajewitsch an der Wand neben dem Ofen. ›Nun, was?‹ fragte er mich. ›Natürlich, ja‹, sagte ich.«

In so überstürzter, für sie selbst unerwarteter Weise entwickelten sich Sofia Andrejewnas Beziehungen zu Leo Nikolajewitsch. Nach dem Besuch auf seinem Gute und seiner verschleierten Erklärung im Hause ihres Großvaters in Iwitzy ist die von ihrem Herzen eingegebene Lösung in ihrer Erzählung, in der sie Tolstoi ablehnt und Poliwanow heiratet, vergessen, und sie schreitet blind dem Abgrunde zu. Die Aufmerksamkeiten des großen Dichters schmeicheln ihr. Tolstoi läßt sie nicht zur Besinnung kommen, heftet sich an ihre Fersen, läßt nach einem vierjährigen Liebesverhältnis Aksinja im Stich und folgt dem jungen Mädchen spontan nach Moskau, als fürchte er, sich auch nur einen Augenblick von ihr zu trennen, um sich diese Möglichkeit einer Heirat in Übereinstimmung mit dem längst festgelegten Programm seines Ehelebens nicht entgehen zu lassen. »Nicht nur, daß er sich die Liebe zum Weibe nicht ohne Ehe vorstellen konnte, sondern er stellte sich zuerst die Familie vor und dann erst die Frau, die ihm diese Familie geben sollte.«

Der Gedanke, daß es Sonja Behrs sein könnte, ist ihm während ihres Besuches in Jasnaja Poljana gekommen. Er zieht Tantchen Jergolskaja ins Vertrauen und berät sich mit ihr. Die Tante ist natürlich hocherfreut, macht ihn aber darauf aufmerksam, daß Aksinja von ihm ein Kind erwarte, was ihn jedoch nicht näher berührt. Sein Standesgefühl rechtfertigt die Annäherung an Sonja Behrs, und er begleitet sie nach Moskau. Auch Lisas Leiden sieht er nicht oder will es nicht sehen, obgleich er ihr ja wohl Grund zu Hoffnungen gegeben hatte.

Sonja, getäuscht durch ihre schwärmerische Verehrung für den Dichter und getrieben durch das eifersüchtige Bestreben, ihn ihrer Schwester abspenstig zu machen, beeilt sich, nach Tolstois kaum noch verhüllter Erklärung am Klavier, dem Jugendgeliebten Poliwanow ihre Absage zu senden, um dem unerwarteten glänzenden Bewerber ihr Jawort zu geben. Als ihr angesichts des Kummers ihrer Schwester im letzten Augenblick Bedenken kommen, mischt sich die energische Mutter bestimmend ein, die sich als praktische Frau mit der neuen Sachlage bereits abgefunden hat.

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Den gleichen Eindruck überstürzter Hast empfangen wir auch aus Tolstois Tagebüchern trotz all seines Zauderns und Zögerns. Die Eintragungen erfolgen jetzt wieder fast täglich, wie zur Zeit seiner Verliebtheit in Valeria Arsenjewa. Immer wieder versucht er vergeblich, sich über die Natur seiner Empfindungen für Sofia Andrejewna klar zu werden. Nur an der Wohlerzogenheit Sofia Andrejewnas zweifelt er nicht, war sie doch unter seinen Augen aufgewachsen. Die Eintragungen beginnen am 23. August, und ungefähr von diesem Zeitpunkt an rechnet er selbst den Anfang seiner Werbung, von der er sagt, daß sie drei Wochen währte; der schriftliche Antrag erfolgt am 16. September. (Die Erläuterungen in Klammern, hier und auch später, stammen von uns.)

23. August. »Bei den Behrs übernachtet (in Pokrowskoje). Sie ist ein Kind. Ähnlich. (Wohl: der Liebe ähnlich.) Der Wirrwarr aber ist groß ,… Ich habe Angst vor mir selbst: Wie, wenn auch dies nur der Wunsch zu lieben, aber nicht Liebe ist? Ich bin bemüht, nur ihre schwachen Seiten zu sehen, und doch ist es das (wohl: das Rechte). Ein Kind. Ähnlich.«

Der Wunsch, daß es doch die Liebe sei, wenn sein Gefühl ihr auch nur »ähnlich« ist, der Drang und – wie wir gesehen haben – gewissermaßen der Zwang zu heiraten, und die Furcht, sich auch dieses junge Mädchen entgehen zu lassen, das mehr als bisher jedes andere seinem festgelegten Ideal einer Gattin entspricht, lassen ihn kaum irgendwelche Mängel, »schwache Seiten« an Sofia Andrejewna sehen. Alles versinkt »im Wunsch, zu lieben«, er sieht schließlich nur Tugenden an ihr, was er später in der »Kreutzersonate« als Verblendung brandmarkt: »Ich hielt nicht nur sie für das vollkommenste Wesen, ich hielt während meines Brautstandes auch mich für das vollkommenste Wesen.«

Wie sehr es ihm darauf ankam, auf jeden Fall zu heiraten, ist auch daraus ersichtlich, daß er noch vor den Zweifeln an seinem Gefühl von dem Verlangen spricht, zu einem »gemütlichen, geruhsamen Lehnstuhl« hinzufinden, den er sogar einen »abgeklärten, rechtschaffenen« Lehnstuhl nennt, also zu einem ruhigen Eheglück, »ohne Leidenschaft« (wie er später im Tagebuch sagt), das ihm schützende Zuflucht vor all den Wirrnissen seines Junggesellenlebens sein soll. »Ruhig, gemütlich« spaziert er auch am 26. August zu Sonja hinaus.

24. August. »Stand gesund auf, mit besonders klarem Kopf. Es schrieb sich leicht, doch der Inhalt ist dürftig. Nachher war mir so wehmütig zumute wie seit langem nicht. Ich habe keine Freunde, nein! Ich bin allein. Ich hatte Freunde, als ich dem Mammon diente, und habe keine, da ich der Wahrheit diene. An S. (Sonja) weniger gedacht. Wenn aber doch, so war mir wohl.«

26. August. »Zu den Behrs zu Fuß hinausgegangen, ruhig, gemütlich. Mädchenlachen. Sonja war nicht gut, war vulgär, zieht mich aber an. Gab mir ihre Erzählung zu lesen. Welche Kraft in dieser Wahrhaftigkeit und Schlichtheit! Ich las alles, ohne daß mein Herzschlag stockte, ohne eine Spur von Eifersucht oder Neid, aber ›geradezu abstoßend‹ und ›von veränderlicher Gesinnung‹ (mit diesen Worten kennzeichnet Sonja den Helden ihrer Erzählung Dublitzkij-Tolstoi) ist mir heilsam nahe gegangen. Habe mich (wieder) beruhigt. All das ist nicht für mich. (Mein Los ist) Arbeit und bloße Befriedigung des Geschlechtstriebs.«

Sonjas Bekenntnis ihrer Liebe zu Poliwanow und ihr hartes Urteil über sein unschönes Äußere, an dem er immer schon so stark gelitten hat, veranlassen ihn zum Verzicht. Er tröstet sich durch die Versicherung, Sonja sei nicht gut, sei vulgär, noch ein Kind, nichts für ihn. Sein Los ist Arbeit und »bloße Befriedigung des Geschlechtstriebs«, also Fortsetzung seines Verhältnisses mit Aksinja, die ihm in geistiger Hinsicht nichts zu bieten vermag; in seiner Erbitterung sucht er auch sie herabzusetzen.

Am 28. August, seinem vierunddreißigsten Geburtstage, erhält er von den Behrs »Sträuße von Briefen und Blumen«, fährt aber infolge seiner Absicht, auf Sonja zu verzichten, nicht hin, sondern begibt sich überraschenderweise zu den Tjutschews, wohl um die Möglichkeit einer Verbindung mit der Tochter des großen Dichters noch einmal zu überprüfen. Es ist jene Katharina Tjutschewa, über die er einmal in sein Tagebuch schrieb, er würde sie »ohne Liebe, ruhig« heiraten, wenn sie ihm nicht so abweisend begegnet wäre. Aber Katharina, eine junge Dame der Gesellschaft, erinnert ihn wohl an Valeria Arsenjewa, hat er doch einst seiner Freundin, der Gräfin Alexandra Andrejewna, über Katharina geschrieben, an ihr seien ihm manche Züge unsympathisch, die sie wohl »von Ihren alten Weiblein«, den Hofdamen, übernommen habe. Sonja Behrs hingegen, die kaum Achtzehnjährige, das »Kind«, ist in die Gesellschaft noch gar nicht eingeführt, »sie geht noch nicht aus«, hat noch nichts ihm Mißfallendes von der verhaßten großen Welt annehmen können. So fällt auch in dieser Hinsicht der Vergleich zugunsten Sonjas aus.

Am nächsten Abend, den 29. August, ist er wieder bei Sonja und schreibt ins Tagebuch, eingedenk seines Entschlusses und ihres abweisenden Urteils über ihn: »Es ist nicht mehr Liebe wie vorher, nicht Eifersucht, nicht einmal Bedauern, obwohl dem ähnlich, sondern etwas Süßes – ein bißchen Hoffnung (die nicht sein darf). Ich Schwein! Ein bißchen davon, was wie Bedauern und Weh ist. Aber eine wunderbare Nacht, und ein gutes, süßes Gefühl. Sie veranlaßte mich, meinen Brief (Seine Antwort auf ihre Geburtstagsgratulation und seine Entschuldigung, weil er ihr an diesem Tage ferngeblieben?) mit ihr durchzugehen. Ich wurde verlegen. Sie auch ,… Wehmut, aber doch schön. Maschenka (seine Schwester Marie) sagt: ›Du zögerst immer noch?‹ Wie sollte man da nicht zögern!«

Daß er trotz allem hofft, scheint ihm seiner unwürdig, weshalb er sich selbst beschimpft, aber die Erkenntnis, »Wie sollte man da nicht zögern!«, wird bald durch anderes übertönt.

30. August. »Zu den Behrs. S. (Sonja) mit P. (Popow). (Wir erinnern uns an Sofia Andrejewnas Bericht über ihr Kokettieren mit Popow und Tolstois Eifersuchtsausbruch.) Bin nicht eifersüchtig; ich glaube nicht daran, daß nicht ich es sei. Es gab etwas wie einen Streit, aber diese Nacht! Auch sie sagt: ›Mir ist wehmütig und ruhig zumute'‹ Spazierten, plauderten. Zu Hause beim Abendbrot – diese Augen, und diese Nacht! ,… Du Narr, das ist nicht für dich geschrieben, und doch bin ich verliebt wie (einst) in S. (Sonetschka) K.(Kaloschina) und in A. (die Fürstin A. Obolenskaja). Sonst nichts. Übernachtete bei ihnen, konnte nicht schlafen; und immer sie. ›Sie haben noch nicht geliebt?‹ fragte sie, und mir war das so komisch und solch eine Freude.«

Über »diese Augen«, deren Tiefe ihn bezauberte, sagt er später im »Teufel« (wir fügen wieder die richtigen Namen ein):

»Ihre Augen waren schön, klar, sanft und zutraulich. Diese Augen vor allem hatten es ihm angetan. Und wenn er an Sonja dachte, sah er immer diese klaren, sanften, zutraulichen Augen vor sich. Und die Augen schienen ihm alles zu sagen, was er wissen mußte ,… Noch als Fünfzehnjährige war Sonja in alle hübschen und interessanten Männer verliebt gewesen. Und eben diese Verliebtheit gab ihren Augen den eigentümlichen Ausdruck, der ihn (Tolstoi) so fesselte.

In demselben Winter war sie gleichzeitig schon in zwei andere junge Männer (Poliwanow und Popow) verliebt gewesen; sie wurde rot und erregt, nicht nur wenn einer von den beiden ins Zimmer trat, sondern auch, wenn bloß ihre Namen genannt wurden. Als aber ihre Mutter später Andeutungen machte, er (Tolstoi) habe anscheinend ernsthafte Absichten, nahm ihre Verliebtheit in ihn so sehr zu, daß die beiden anderen ihr fast gleichgültig wurden.« Und schließlich »wurde ihre Verliebtheit beinahe zur Krankheit«.

31. August. »Auch heute morgen das gleiche süße Gefühl und eine Fülle des Liebeswebens. Zu den Tjutschews (gefahren) ,… Jemand sprach (im Nebenzimmer) und mir schien, es wäre ihre Stimme ,… Das ist nicht für dich, alter Teufel, schreibe du Rezensionen! Fing an, ihr zu schreiben, wurde gestört, und das ist gut. Ich kann jetzt nicht (mehr) fort von hier, das ist die Sache.«

3. September. »Bei ihnen anfangs nichts (Bemerkenswertes), dann Spaziergang ,… Ich bin ruhig! Auf der Rückfahrt dachte ich: entweder ist alles Zufall, oder sie empfindet ungewöhnlich fein, oder es ist nichts als Koketterie – heute einer, morgen ein anderer ,… oder es ist alles zusammen: Zufall, feines Empfinden und Koketterie. Im ganzen aber – nichts, nichts, Schweigen ,… Niemals noch hat sich mir meine Zukunft an der Seite einer Frau so klar, so freudvoll und ruhig in Gedanken dargestellt. – Vergiß nicht: du bist Dublitzkij, alter Teufel, Onkel Ljawon ,… Vor allem aber: es wäre doch so einfach, so zeitgemäß, ohne Leidenschaft, ohne Angst, ohne einen Augenblick der Reue

5. September. »Kam hin ,… Gingen spazieren, und es ist nicht das Rechte, nicht das Rechte, nicht das Rechte. Und dabei habe ich gestern nacht nicht schlafen können, so deutlich sah ich das Glück vor mir. Am Abend sprachen wir über die Liebe. Noch schlimmer.«

6. September. »… böse und mit leeren Händen fortgegangen. Ich bin zu alt, um herumzuhängen. Geh ganz und haue den Knoten durch. Es war schön, allein durch den Abend (zur Stadt) zu wandern. Ins Theater, dann noch etwas. (? ,…) Außer den Behrs hatte ich nichts all diese Zeit.«

7. September. »Ich habe es Wassenka (sein Freund W. S. Perfiljew) gesagt und bin ruhiger geworden ,… Heute bin ich allein zu Hause, und da läßt sich meine Lage irgendwie freier überdenken. Dublitzkij, dräng' dich nicht da hinein, wo Jugend, Poesie, Schönheit, Liebe ist ,… Habe mich heute mit Wassenka betrunken und wir lagen einander gegenüber und schnauften: das ist dir angemessen! – Blödsinn alles! Kloster (das heißt klösterliche Einsamkeit), Arbeit, das ist das Rechte für dich, von dessen Höhe du ruhig und freudig auf fremde Liebe und fremdes Glück hinabschauen kannst, – und ich war ja in diesem Kloster, bin aber wieder (in die Welt) zurückgekehrt. Ja. Ein unaufrichtiges Tagebuch. Im Hintergrund der Gedanke, daß sie (bald) bei mir, neben mir sitzen und es lesen wird, und ,… und auch dies ist für sie.«

8. September. »Bin doch zu den Behrs zu Mittag gegangen. A. J. (Andrej Jefstafjewitsch – der Vater, Dr. Behrs) blieb in seinem Zimmer, als wäre ich ein Dieb. (Wir wissen bereits, daß Dr. Behrs fürchtete, Tolstoi mache seiner Frau Ljubotschka den Hof.) S.(Sonja) öffnete mir. (Sie sieht so aus) als hätte sie abgenommen. Es ist für mich nichts an ihr von dem, was immer an anderen (Frauen) ist – nichts bedingt Poetisches und Anziehendes; und doch fesselt sie mich unwiderstehlich ,… In der Nacht gingen wir spazieren.«

9. September. »Sie errötet und ist erregt. Ach, Dublitzkij, bilde dir nichts ein! Fing an zu arbeiten und kann nicht. Statt der Arbeit ist ein Brief an sie entstanden, den ich nicht absenden werde. Aus Moskau abreisen kann ich nicht, kann ich nicht. Ich schreibe ohne Hintergedanken, für mich, und bemühe mich, keinerlei Pläne zu schmieden. Mir ist, als wäre ich schon ein Jahr in Moskau. Bis drei Uhr nicht geschlafen. Wie ein sechsjähriger Knabe baute ich Luftschlösser und quälte mich.«

10. September. »Erwachte am 10. September um zehn, müde nach der nächtlichen Erregung. Arbeitete träge und wartete auf den Abend wie ein Schüler auf den Sonntag. Wanderte (durch die Straßen) und ,… in den Kreml. (An diesem Tage haben die Behrs ihre Stadtwohnung bezogen.) Sie war nicht da ,… Als sie eintraf, war sie streng und ernst. Und wieder schied ich, der Hoffnung bar, aber stärker verliebt als vorher. In der Tiefe meiner Seele (aber) sitzt (doch) Hoffnung. Ich muß, ich muß unbedingt diesen Knoten durchhauen ,… Herrgott! hilf mir; Herr, belehre mich! Wieder eine schlaflose und qualvolle Nacht, ich fühle, ich, der die Leiden der Verliebten verlacht! Was man verspottet hat, dafür muß man sich später plagen. Wieviele Pläne habe ich gemacht, wie ich es ihr, wie ich es Tanja sage, und alles vergeblich ,…«

11. September. »Mein Gefühl ist den ganzen Tag über ebenso stark wie gestern. Ich wagte es nicht, zu ihnen zu gehen ,… Niemand als Gott kann mir helfen. Ich bitte Ihn ,… Müde, eine Art physischer Erregung.«

12. September. »Ich bin so verliebt, wie ich nicht geglaubt habe, daß man lieben könne. Ich werde verrückt, ich erschieße mich, wenn das so weiter geht. War am Abend bei ihnen. Sie ist reizend in jeder Hinsicht. Ich aber bin der abstoßende Dublitzkij. Ich hätte mich vorher in acht nehmen müssen, jetzt kann ich nicht mehr haltmachen. Mag ich auch Dublitzkij sein, aber in meiner Liebe bin ich schön. Ja. Morgen gehe ich am Vormittag zu ihnen. Es gab (günstige) Augenblicke, die ich aber nicht ausgenutzt habe. Ich war scheu, ich hätte einfach sprechen sollen. Jetzt möchte ich nur zu gern zurückgehen, um vor allen alles zu sagen. Herrgott, hilf mir!«

13. September. »Nichts ist geschehen ,… Jeden Tag denke ich, man könne nicht ärger leiden und zugleich glücklich sein, und jeden Tag werde ich toller. Wieder ging ich (von ihnen) fort, das Herz voller Wehmut, Reue und Glück. Morgen gehe ich gleich nach dem Aufstehen hin und sage alles oder ,… Vier Uhr nachts. Ich habe ihr einen Brief geschrieben, den ich morgen, das heißt, heute abgeben will. Gott, welche Angst ich habe, jetzt zu sterben. Glück – und ein solches! – scheint mir unmöglich. Mein Gott, hilf mir!«

14. September. »Nur anderthalb Stunden geschlafen, bin aber frisch und fürchterlich nervös. Am Morgen das gleiche Gefühl ,… In den Kreml ,… Die Lage scheint sich geklärt zu haben. (Vielleicht Anspielung darauf, daß Frau Behrs sich mit seiner Werbung nicht mehr um die älteste, sondern die zweitälteste Tochter abgefunden hat.) Sie (Sonja) ist sonderbar ,… Ich kann nicht für mich allein schreiben. Es scheint mir so sehr, ich bin so davon überzeugt, daß ich bald keine Geheimnisse mehr für einen, sondern (nur noch) Geheimnisse für zwei haben werde; sie wird alles lesen ,… Nervös abgespannt ging ich zu Bett. Schlief aber wenig, sechs Stunden. Gestern war ich schon ruhiger, heute bin ich noch ruhiger. Was wird wohl werden?«

15. September. »Nichts gesagt, aber gesagt, daß ich etwas zu sagen hätte. Wassenka von Nikolenkas (seines Bruders Nikolai) Tod erzählt. Wie ein Kind geweint. Morgen!«

Die Eintragungen begannen mit der Feststellung, daß es »so einfach, so zeitgemäß« wäre, diese Ehe »ohne Leidenschaft« einzugehen. Sie spiegeln seine wachsende Erregung und die Qualen der Unentschlossenheit, so daß er schließlich keinen anderen Ausweg als Gottes unmittelbare Einmischung sieht: »Herrgott, hilf mir, belehre mich! ,… Niemand außer Gott kann mir helfen ,… Ich bitte Ihn ,… Mein Gott, hilf mir!« während er ihres Jawortes doch bereits nach der Erklärung in Iwitzy sicher sein mußte.

Seine Zweifel, Qualen, Hemmungen rühren von dem Mißtrauen her, das er dem gegenseitigen Gefühl entgegenbringt; er ist seiner Liebe zu ihr, ihrer Liebe zu ihm, dem abstoßenden Dublitzkij, nicht sicher, obwohl er weiß, daß sie ihn nicht abweisen wird. Darum fleht er sie in seinem Antragschreiben so inständig, in allen nur möglichen Wendungen an, nur ja ehrlich zu sein: »Sie sind ein ehrlicher Mensch, Hand aufs Herz, sagen Sie mir ohne Übereilung, um Gottes willen, ohne Übereilung: was soll ich tun? ,… Um Gottes willen, prüfen Sie sich gut! ,…« Das ist nicht mehr Schüchternheit des Verliebten, der an »ein solches Glück« nicht zu glauben wagt, hier spricht die Angst des innerlich immer wachen, großen Instinktmenschen vor der unglücklichen Zukunft, die er sich selbst bereitet.

Was seine Verliebtheit betrifft, so müssen wir hier und später seines Bekenntnisses im »Teufel« gedenken: »Die Hauptsache aber war, daß die Annäherung zwischen ihnen in einer Zeit stattfand, als er (Tolstoi) reif zur Ehe war. Er hatte sich in sie verliebt, weil er wußte, daß er heiraten müsse. Erst war es bloßes Wohlgefallen an Sonja; als er aber beschlossen hatte, daß sie seine Frau werden solle, fühlte er sich viel stärker zu ihr hingezogen. Er fühlte, daß er verliebt war.«

Daß diese Worte autobiographische Geltung haben, wird sowohl durch die Eintragungen während der dreiwöchigen Werbung als auch durch das weitere bestätigt. Zuerst hatte er beschlossen, daß sie seine Frau werden solle, dann verliebt er sich in sie, spürt aber selbst, daß das »nicht das Rechte, nicht das Rechte, nicht das Rechte« sei.

Allmählich ändert sich dann der Ton der Eintragungen, er spricht von seiner wachsenden Verliebtheit, gesteht aber gleichzeitig, daß er in seinem Tagebuch unaufrichtig sei, weil er seit langem voraussieht, daß Sonja es lesen wird; so schreibt er immer im Hinblick auf sie, um die er wirbt. Mag auch sein Äußeres abstoßend sein, er hat »sie« doch erobert, durch seinen Ruhm, durch seine dichterische Größe. Wenn er auch trotz aller gegenteiligen Versicherungen spürt, daß sie nicht die Frau ist, die er zum Leben braucht, – ihr entsagen, jetzt wo der Sieg so nahe ist, kann er nicht mehr. Die Spannung zwischen Für und Wider ist so groß, daß er schließlich einen Tag vor der Entscheidung einem Weinkrampf unterliegt – eine Eigenschaft, die wir an ihm in Augenblicken hilfloser Erregung seit seiner Kindheit kennen.

So überreicht er ihr endlich nach all dem Zögern und Zweifeln seinen schriftlichen Antrag am Abend des 16. September – am nächsten Tage, zu Sofia Andrejewnas Namenstage trifft nämlich Poliwanow in Moskau ein, was Tolstoi wohl zweifellos wußte. Darum muß die Entscheidung vor dem Wiedersehen der beiden fallen.

Der Brief lautete:

»Sofia Andrejewna! Ich ertrage es nicht länger. Drei Wochen lang sage ich mir jeden Tag: heute sage ich ihr alles – und gehe mit derselben Wehmut, Reue, Angst und Seligkeit im Herzen fort. Und jede Nacht, wie auch jetzt, mustere ich meine Vergangenheit, quäle mich und sage: Warum habe ich es ihr nicht gesagt – und überlege, wie und was ich hätte sagen müssen. Ich nehme diesen Brief mit, um ihn Ihnen einzuhändigen, wenn ich wieder nicht dazu komme oder nicht den Mut habe, Ihnen alles zu sagen. Die falsche Vorstellung Ihrer Familie Hier und weiter von Tolstoi unterstrichen. von mir besteht, wie mir scheint, darin, daß man glaubt, ich wäre in Ihre Schwester Lisa verliebt. Das stimmt nicht. Ihre Erzählung sitzt mir fest im Kopfe, weil ich nach ihrer Lektüre zu der Überzeugung gekommen war, daß ich, Dublitzkij, kein Recht habe, von Glück zu träumen ,… daß Ihre außerordentlichen poetischen Anforderungen an die Liebe ,… daß ich den Mann, den Sie lieben sollten, nicht beneidet habe und nicht beneiden werde. Ich glaubte, ich könnte mich an Ihnen freuen, wie an Kindern. In Iwitzy schrieb ich: ›Ihre Anwesenheit mahnt mich zu lebhaft an mein Alter und die Unmöglichkeit des Glücks, und gerade Sie ,…‹

Aber damals und später belog ich mich selbst. Damals hätte ich noch alles abbrechen und mich wieder in mein Kloster einsamer Arbeit und eifrigen Schaffens zurückziehen können. Jetzt kann ich es nicht mehr und fühle, daß ich in Ihrer Familie Verwirrung angerichtet habe. Daß das schlichte liebe Verhältnis zu Ihnen als einem Freunde, einem ehrlichen Menschen dahin ist. Und ich kann nicht fort und darf nicht bleiben. Sie sind ein ehrlicher Mensch, Hand aufs Herz, sagen Sie mir ohne Übereilung, um Gottes willen ohne Übereilung: was soll ich tun? Was man verspottet hat, dafür muß man sich später plagen. Ich wäre vor Lachen gestorben, wenn man mir vor einem Monat gesagt hätte, man könnte sich quälen, wie ich mich in dieser Zeit quäle, und selig quäle. Sagen Sie mir als ehrlicher Mensch: wollen Sie meine Frau werden? Aber nur, wenn Sie von ganzem Herzen mutig ja sagen können, sonst sagen Sie lieber nein, wenn in Ihnen auch nur ein Hauch von Zweifel ist. Um Gottes willen prüfen Sie sich gut! Es wird mir furchtbar sein, Ihr Nein zu hören, aber ich sehe es voraus und werde in mir die Kraft finden, es zu ertragen. Wenn ich aber als Gatte nie so geliebt werden soll, wie ich liebe, so wird das furchtbar sein ,…«

16. September. »Habe es gesagt. Sie: Ja. Sie ist wie ein angeschossener Vogel. Das Niederschreiben erübrigt sich. All das ist unvergeßlich und unbeschreiblich.«

17. September: »Bräutigam, Geschenke, Sekt ,…«

18. September. »Am Morgen gearbeitet. Dann zu ihr ,… Sie war liederlich ,… Sie ist nicht einfach.«

19. September. »Ich bin ruhiger ,… Sie war besorgt.«

In diesen Tagen (das Datum fehlt) schreibt er an die Gräfin Alexandra Andrejewna: »Sonntag, den 23. September heirate ich Sofia Behrs, die Tochter meiner Kindheitsgespielin Ljubotschka Islenewa. Um Ihnen einen Begriff davon zu geben, was sie für ein Wesen ist, müßte man Bände vollschreiben; ich bin so glücklich, wie ich es seit meiner Geburt nicht war.«

So endet der einleitende Abschnitt zu dem Lebensbund zwischen Tolstoi und Sofia Behrs. Die Hast, mit der sie zu einer Entscheidung drängten, hatte auf beiden Seiten eine erregte, fieberhafte Nerven- und Seelenspannung hervorgerufen, die ihnen die Klarheit des Blickes nahm. Seine eigentliche Erklärung und Sonjas stumme Zusage erfolgte, als sie den Walzer »Il baccio« spielte und er ihr von seinem Alter und der Unmöglichkeit eines Glücks für ihn sprach.

»An diesem Abend wurde fast alles gesagt«, berichtet Sofia Andrejewna. Natürlich hörte er aus ihrem Schweigen ihr Ja heraus, weshalb er im Tagebuch auch vermerkt, er sei bereits glücklich. Zu dem letzten entscheidenden Schritt kann er sich aber trotzdem immer noch nicht entschließen, da er an sich, an seinem Gefühl zu ihr zweifelt. Auch das vierjährige Liebesverhältnis mit Aksinja wirkt sich hemmend im Unbewußten aus. Er weiß nicht, ob er bleiben, ob abreisen soll, so verworren ist alles in ihm. Bereits in Iwitzy hätte er um sie anhalten können und ihr Jawort erhalten, was sie ihm an jenem denkwürdigen Abend ja auch klar zu verstehen gegeben hatte. Dazu war er aber seines Gefühls zu ihr noch zu wenig sicher, und so folgte er ihr nach Moskau in der Hoffnung, daß sich der Wunsch, zu lieben, wirklich in Liebe verwandeln würde.

Als er dann, trotz all der Zweifel und Hemmungen, durch die Anmut des jungen Mädchens bezaubert, sich ihr schließlich erklärt hat und die gefürchtete Entscheidung endlich gefallen ist, atmet er erlöst und beseligt auf und ruft stürmisch aus, er sei unsagbar glücklich, so glücklich, wie er es seit seiner Geburt nicht war.

Als er sich in Aksinja verliebte, klang seine Stimme anders, ohne fiebrigen Überschwang. Damals war die Liebe »eine Pflanze, die sich entfaltet« und »schlicht, ruhig und freudig auf Gottes Welt wachsen soll«. Diese Ruhe, die nach seinen eigenen Worten über das Glück hinaus geht, fehlt hier, sowohl jetzt als später. Denn es ist nicht Liebe, die ihn mit Sofia Andrejewna verbindet, sondern eben nur der »Wunsch, zu lieben«, was er mit durchdringendem Scharfblick am Tage seiner Ankunft in Moskau erkannt, später aber gewollt vergessen hat.

Seiner Überschwenglichkeit steht Sofia Andrejewnas Haltung entgegen; sie ist: »streng und ernst«, ist »besorgt«. Davon, daß ihr ganzes Wesen sich in ihrem Gefühl zu ihm »entfaltet«, merken wir nichts; es ist bei ihr mehr »ein poetisches Verlangen« nach Liebe als wirkliche Liebe.


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