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Der innere Bruch

Mit der Übersiedlung der Familie Tolstoi nach Moskau im Herbst 1836, als Leo acht Jahre alt war, beginnt ein neuer Lebensabschnitt, der bis zu Tolstois Abreise in den Kaukasus im Jahre 1851 währt. Es sind Entwicklungsjahre. An die Stelle der ländlichen Abgeschiedenheit im Kreise seiner Erzieherinnen, der Gottesleute mit ihren Erzählungen und Legenden über reuige Sünder und Märtyrer tritt die Stadt. Es ist zu Ende mit dem Ameisenbrüder-Spiel. Nikolai sondert sich von den jüngeren Geschwistern ab, er bereitet sich zu den Universitätsstudien vor, die übrigen Brüder sind ebenfalls mit Lernen beschäftigt; der jüngste, Ljowotschka, bleibt oft sich selbst überlassen.

Das Kind wird zum Knaben, der Geschlechtstrieb erwacht, und die ganze Welt erhält einen anderen Farbton: das andere Geschlecht ersteht in ihr. Seine übergroße Sensibilität wird zu unbewußter Sensualität, die sich zum ersten Male in seiner kindlichen Liebe zu der kleinen Sonja Kaloschina äußert. Durch die unklare, unerkannte Neigung wird sowohl das Gefühl als sein Gegenstand idealisiert. Der Eindruck ist so gewaltig, daß dies erste Erwachen der Geschlechtlichkeit auf immer in seiner Erinnerung als schönste und stärkste Liebe haften bleibt.

»Ich konnte nicht auf Gegenliebe hoffen«, erzählt er in »Kindheit«, »und dachte auch nicht daran; meine Seele war auch ohnedem voller Glück. Ich verstand nicht, wie man für das Gefühl von Liebe, das meine Seele mit Freude erfüllte, noch größeres Glück verlangen und etwas anderes wünschen konnte als nur, daß dieses Gefühl nie aufhören möge. Ich war auch so selig. Mein Herz flatterte wie eine Taube, das Blut jagte ihm unnatürlich zu, und ich wollte weinen.«

Die erste unbewußte Neigung fordert keine Gegenliebe, sie berauscht sich an den eigenen, erwachenden Empfindungen; das genügt ihr. Die frühe Sensualität ist noch mit Sensibilität verschmolzen und einem kindlichen Entzücken über den Gegenstand, das sich in Tränen beglückter Rührung Luft macht. Aber schon fordert der mächtige Trieb, »daß dieses Gefühl niemals ende«, es macht »so selig«, denn »das Herz flatterte wie eine Taube, das Blut jagte ihm unaufhörlich zu.«

Der einmal erwachte Trieb verharrt nicht bei ein und demselben Gegenstand, er sucht tastend nach Erfüllung. Eine Zeit kindlicher Verliebtheit beginnt. Sie bleiben unerwidert wegen Tolstois unschönem Äußeren, das der Sohn des Dichters, Graf Ilja Tolstoi, in seinen Erinnerungen »abstoßend« nennt.

Hieraus entstehen erste Seelenqualen, die bis zu seiner Heirat nicht nachlassen. Lebenstrieb ist Liebestrieb, und so ist er gezwungen, immer wieder darüber nachzugrübeln, wie er sich Gegenliebe erringen könne. Um das zu erreichen, müßte er sich auszeichnen, die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich lenken, eine Heldentat vollbringen, dann würde man sein unschönes Äußere übersehen, dann würde »sie« nicht länger widerstehen können. Auf solche Weise, zweckbestimmt, vielleicht halb unbewußt, erwachen ehrgeizige Träume und Pläne als Abwehr und Überwindung der Leiden, die ihm aus seiner Häßlichkeit flossen.

Als richtunggebend wirkte dabei wohl der Besuch des Gouverneurs von Sibirien P. D. Gortschakoff, in Begleitung seines Adjutanten, des Grafen V. P. Tolstoi. Fürst Gortschakoff war ein Neffe von Leos Großmutter, in deren Hause der Knabe erzogen wurde; »seine Schönheit und seine Reithosen« riefen das Entzücken des empfänglichen Knabengemüts hervor. Ehrgeizige Träume bedrängen ihn.

»Jeder General, den ich traf«, berichtet er, »machte mich zittern vor Erwartung, daß er auf mich zutreten und sagen würde, er bemerke ungewöhnliche Tapferkeit und Begabung zum Militärdienst und zur Reitkunst an mir, weshalb er Papa bitten werde, mich in sein Regiment zu geben, und dann würden die Lebensveränderungen eintreten, auf die ich mit solcher Ungeduld wartete. Jede Feuersbrunst, der Lärm eines eilig heranjagenden Wagens versetzte mich in Erregung, ich wollte irgend jemandem das Leben retten, eine Heldentat vollbringen, die zu meinem Aufstieg und zu einer Veränderung meines Lebens führen würde ,…«

In »Knabenjahre«, wo Tolstoi sich selbst unter dem Namen Nikolai dargestellt hat, erzählt er von ähnlichen Sehnsuchtsträumen:

»Ich werde Husar und ziehe in den Krieg. Von allen Seiten dringen Feinde auf mich ein. Ich schwenke den Säbel und töte einen, noch ein Hieb, und ein zweiter, ein dritter fällt. Schließlich sinke ich, durch Wunden und Anstrengungen erschöpft, zu Boden und rufe: ›Sieg!‹ Der General sprengt heran und fragt: ›Wo ist er, unser Retter?‹ Man weist auf mich, er sinkt mir an die Brust und ruft unter Freudentränen: ›Sieg!‹ Ich werde gesund und gehe, den Arm in einer schwarzen Binde, auf dem Twerskoi Boulevard spazieren. Ich bin General! Da kommt der Kaiser mir entgegen und erkundigt sich: ›Wer ist dieser wundenbedeckte junge Mann?‹ Ihm wird gemeldet, daß sei der berühmte Held Nikolai. Der Kaiser tritt auf mich zu und sagt: ›Ich danke dir. Ich will alles tun, um was du mich bittest‹!«

Ein Held zu sein ist verlockend, sein strahlender Glanz würde »sie« anziehen, zumal der Kaiser selbst sein Heldentum anerkannt hat. Die höchste irdische Macht, der nichts widerstehen kann, belohnt ihn mit der höchsten Gnade, und das ist für ihn »ihre« Gunst, die Liebe des ersehnten Traumbildes. »Sieg!«

Kriegstaten lagen ihm am nächsten und waren leicht verständlich. Sein Vater hatte am Krieg 1812 teilgenommen, und in der Vorstellung des Sohnes war der Vater ein Held, seine Erzählungen von dem Feldzug sanken tief in das empfängliche Kindesgemüt. Darum wollte auch Ljowotschka ein Kriegsheld werden. Vielleicht aber fiel die Wahl gerade auf militärische Heldentaten auch darum, weil die glänzende Uniform eines Offiziers, vor allem eines Generals mit ordengeschmückter Brust besonders überwältigend wirken und »ihre« Aufmerksamkeit von seinen unschönen Zügen ablenken mußte. Die schöne Uniform würde ihm die eigene fehlende Schönheit ersetzen.

Die Knabenträume bleiben nicht nur Luftschlösser, er sucht sie zu verwirklichen, geht zu Truppenübungen und Musterungen, spielt Soldat, der Besuch des Kaisers in Moskau erfüllt ihn mit solcher Begeisterung, daß er nicht zu lernen vermag.

»Ich ließ alles stehen und liegen; mehrere Tage lang war ich trotz aller Vorstellungen nicht imstande, mich auch nur zu einer einzigen Stunde vorzubereiten. Warum sollte ich mich überhaupt noch um irgend etwas kümmern, wenn jeden Augenblick eine vollständige Veränderung meines Lebens eintreten mußte? ,… Wir gingen zum Schloß. Ich entsinne mich sehr wohl, wie Seine Majestät, entgegen unseren Erwartungen, von der Hinterfront abzufahren geruhte, wie ich, ganz außer mir, zusammen mit allem Volk ihm entgegenstürmte, hurra schrie und den sich nähernden Wagen anstarrte, wie eine Droschke mich anfuhr, zu Boden warf, ich aber wieder aufsprang und weiter eilte, wobei ich fortfuhr zu schreien, und wie schließlich Seine Majestät die Menge, also auch mich, grüßte, und welch ein Glück das für mich war.«

So nähern sich die Kinderträume, wenn auch nur sehr entfernt, gewissermaßen doch der Wirklichkeit. In der Vorstellung des Knaben hat der Kaiser ihn gegrüßt, ihn bemerkt, zwar nicht als Helden, aber doch bemerkt. Die krankhafte Zuspitzung löst sich, Ljowotschka kehrt zur Wirklichkeit zurück, ist aber auch fernerhin immer mit dem Gedanken beschäftigt, sich auszuzeichnen, Aufmerksamkeit zu erregen, mehr zu sein als die anderen, weshalb er zusammen mit den älteren Brüdern Fechten, Tanzen und Reiten lernt.

Als St.-Thomas, ein neu eingestellter Erzieher, dem die Gründe des stürmischen Seelenlebens seines Zöglings, das dieser schamhaft vor allen zu verbergen sucht, verschlossen blieben, ihn wegen Faulheit bestraft, entbrennt der Knabe in leidenschaftlichem Haß gegen ihn.

»Niemals werde ich«, erzählte er, »den fürchterlichen Augenblick vergessen, wie St.-Thomas, mit dem Finger auf den Fußboden vor sich weisend, mir befahl niederzuknien, und ich vor ihm stand, blaß vor Wut, und zu mir sagte, daß ich eher sterben, als vor ihm niederknien würde, und wie er mit aller Kraft auf meine Schultern drückte und mir den Rücken verrenkend mich doch zwang niederzuknien ,… Ich weiß nicht mehr wofür, aber jedenfalls für etwas, was gewiß keinerlei Strafe verdiente, sperrte St.-Thomas mich zuerst in eine Kammer ein und drohte mir dann mit der Rute. Und ich empfand fürchterliche Entrüstung und Empörung und Abscheu nicht nur gegen St.-Thomas, sondern auch gegen die Gewalt, die er mir antun wollte ,… Es war ein richtiges Haßgefühl, nicht jener Haß, der angeblich Genuß daran findet, einem Menschen Böses zu tun, sondern jener Haß, der uns einen unüberwindlichen Abscheu gegen einen Menschen einflößt, der eigentlich unsere Achtung verdient, und sein Haar, seinen Hals, seinen Gang, den Ton seiner Stimme, alle seine Glieder, alle seine Bewegungen widerlich erscheinen läßt und zugleich mit einer unbegreiflichen Gewalt uns zu ihm hinzieht und zwingt, mit unruhiger Aufmerksamkeit seine geringsten Handlungen zu beobachten.«

Gewiß wird jeder noch so achtenswerte Mensch, der unsern innersten, wichtigsten Absichten entgegentritt, zu unserem Feinde, dem aus Haß Böses zuzufügen Befriedigung und Genuß auslöst. Wie das Gute befriedigtem Liebesgefühl entspringt, ist das Böse Ergebnis des Hasses. Nach der Intensität des Genusses erweisen sich Böses und Gutes als gleichwertig, gleichermaßen befriedigen sie Liebe und Haß. Liebe führt zu unüberwindlicher Neigung, Haß zu »unüberwindlichem Abscheu«, unabhängig von den äußeren oder inneren Eigenschaften des Feindes, der vielleicht sogar »unsere Achtung verdient.«

Der Haß gegen den Erzieher wurde noch dadurch verstärkt, daß der Knabe nach dem Tode des Vaters, der kurz nach der Übersiedlung nach Moskau starb, sich innerlich noch einsamer fühlte und besonders empfindlich war. Heldentaten, Ruhm sollten ihn aus dieser Einsamkeit erlösen. Warum sollte er sich da »überhaupt noch um irgend etwas kümmern, wenn jeden Augenblick eine vollständige Veränderung« seines Lebens eintreten mußte! Wozu noch lernen, wozu der ganze Unterricht, er mußte ja jetzt selbständig werden, sein eigenes, freies, unabhängiges Leben beginnen, wie es der älteste Bruder teilweise schon führte. Der erwachende Lebensdurst erfaßt den Knaben mit gewaltigem Ungestüm und macht sich in aufbrausendem Haß gegen den Erzieher Luft, der ihm hemmend in den Weg tritt.

Später ändert Tolstoi beträchtlich seine Meinung über St.-Thomas, obwohl ein Nachklang der kindlichen Empörung immer noch durchzuhören ist. »Wenn ich diesen Menschen jetzt ohne Erregung beurteile, so finde ich, daß er ein guter Franzose war, aber ein Franzose durch und durch. Er war nicht dumm, recht gebildet und erfüllte seine Pflicht gegen uns gewissenhaft.« Und wenn dieser Franzose die außerordentliche Begabung seines Zöglings erkannte und äußerte: »Ce petit a une tête! C'est un petit Molière. Ce petit Léon a une tête! Vous verrez, quel homme ce sera!«, so erlahmten allmählich auch die Beschuldigungen des leidenschaftlichen und versonnenen Knaben, und oft gab sein Haß friedlicheren Gefühlen Raum, und der Zögling bekennt: »Mir scheint sogar, daß ich ihn liebe.« Aber auch dieses zweifelnde Liebesgefühl wird durch befriedigten Ehrgeiz hervorgerufen: »St.-Thomas ist mit mir zufrieden, er lobt mich, und ich hasse ihn nicht nur nicht, sondern wenn er zuweilen sagt, bei meiner Begabung, bei meinem Verstande müßte man sich schämen, dies oder das nicht machen zu können, dann scheint mir sogar, daß ich ihn liebe.«

Wir sehen auch hier, daß er mit seinem Erzieher Frieden schließt, wenn er sich in dem Glauben an seine ungewöhnliche Bedeutung bestärkt fühlt; durch diese Bedeutung wird er sich auszeichnen und »sie« erwerben. Ungestüm beherrscht der Geschlechtstrieb Tolstois Leben von Kindheit an, und ebenso heftig wie seine Liebesempfindungen sind seine Haßgefühle, so daß nicht nur er selbst haßt, sondern sich auch von allen gehaßt wähnt: »Damals war ich fest davon überzeugt, daß alle, von der Großmutter bis zum Kutscher Philipp, mich haßten und sich an meinen Qualen weideten.«

Das gibt ihm unbewußte Befriedigung. Bleibt seine Liebe auch unerwidert, sein Haß wird Antwort heischen. Wenn er nicht das Glück genießen kann, so soll Leid ihm die Seligkeit der Gegenliebe ersetzen. Er will leiden, wie die Glaubenseiferer und Heiligen – von denen ihm seine Tante Osten-Sacken und all die Wallfahrer, Mönche und Nonnen in Jasnaja Poljana erzählt haben – an der Unvollkommenheit der Welt gelitten haben. Leid ist ebenso süß wie Liebe. Auch hierin bleiben der jugendliche und der alte Tolstoi sich gleich, und die Ursache liegt hier wie dort im unbefriedigten Sexus. Der achtundsechzigjährige Greis empfindet beinahe dasselbe wie der elfjährige Knabe, der von seinem Erzieher in der Kammer eingesperrt worden war:

»Es ist gegen Abend. Ich liege und kann nicht einschlafen. Mir ist weh ums Herz. Erschöpft. Durchs Fenster höre ich, es wird Tennis gespielt, gelacht ,… Alle haben es gut, bloß ich leide und kann mich nicht überwinden. Es ist jenem Gefühl ähnlich, als St.-Thomas mich einsperrte und ich in meinem Gefängnis hörte, wie alle fröhlich waren und lachten.«

Hieraus entspringen später seine Worte: »Man muß Erniedrigungen auf sich nehmen und gut sein«, wie es die christlichen Märtyrer getan haben, das Vorbild der Gottesleute in Jasnaja Poljana.

Im Strahlenglanz von heldenhaft getragenem Leid und edler Güte verblaßt das häßliche Äußere und »sie« vermag nicht länger zu widerstehen. Um »ihretwillen« wollte er Heldentaten vollbringen, lernte er fechten, reiten, tanzen; nun ist auch die Bereitwilligkeit, zu leiden, hinzugekommen.

Nach dem Ableben der Tante Alexandra I. Osten-Sacken und der Übersiedlung der Geschwister nach Kasan wird die Schwester der Verstorbenen, Pelageja I. Juschkowa, Erzieherin und Vormund der Waisen, und wieder gerät Tolstoi unter weiblichen Einfluß. Aber diesmal ist es nicht eine demütige halbe Nonne, sondern nach dem Zeugnis des Schriftstellers Sagoskin eine Frau, die bis ins Mark Weltdame und von ultra aristokratischen Grundsätzen durchtränkt war. An Stelle der Sucht nach Heldentum »treten bestimmte, obwohl verschiedenartige Wünsche nach Erfolg vor den Menschen: vornehm, gelehrt, berühmt, reich, stark zu sein, daß heißt so, daß die Menschen einen für gut hielten.«

Die Mittel und Wege zur Erringung »ihrer« Gunst werden immer mannigfaltiger. In dem neuen gesellschaftlichen Kreise gehört dazu, vor allem ebenso zu sein, wie es die Jugend dieses Kreises war, das heißt »comme il faut«, denn ohne diese Voraussetzung »kann es weder Glück noch Ruhm, überhaupt nichts Gutes auf Erden geben«. Darum teilt er jetzt die ganze Menschheit ein in »Menschen comme il faut« und in solche »comme il ne faut pas.«

»Zu meinem ›comme il faut‹ gehörte erstens und hauptsächlich ein ausgezeichnetes Französisch, besonders eine gute Aussprache. Die zweite Bedingung waren lange, gepflegte, saubere Nägel; die dritte war die Fähigkeit, sich elegant zu verbeugen, zu tanzen und sich zu unterhalten; die vierte, sehr wichtige, war Gleichgültigkeit gegen alles und der stete Ausdruck einer gewissen eleganten, halb verachtungsvollen Langeweile ,… Das ›comme il faut‹ war für mich nicht nur ein wichtiges Verdienst, eine erlesene Eigenschaft, eine Vollkommenheit, die ich erstrebte, nein, es war eine unumgängliche Daseinsbedingung, ohne die es weder Glück, noch Ruhm, überhaupt nichts Gutes auf Erden geben konnte. Ich hätte keinen noch so berühmten Künstler, keinen Gelehrten, keinen Wohltäter der Menschheit geschätzt, wenn er nicht ›comme il faut‹ gewesen wäre. Ein Mensch ›comme il faut‹ stand hoch über ihnen und über jedem Vergleich.«

So wird, um »sie« zu erringen, fortwährend ein Programm aufgestellt, werden Mittel und Wege erwogen, wie man die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich lenken könne. Der Knabe träumte von überwältigendem Heldentum, der Jüngling von Vornehmheit, Gelehrtheit, Ruhm, Reichtum, Kraft. Die Generalsuniform, die die äußeren Mängel verdecken sollte, wird ersetzt durch glänzende Beherrschung des Französischen, lange, gepflegte Nägel, vollendete Verbeugungen, gutes Tanzen, geschickte Unterhaltung, elegante Blasiertheit, ein schmuckes Zimmer, tadellose Handschuhe, einen eigenen Wagen, gut sitzende Hosen – wobei es insbesondere auf »das Verhältnis der Hosen zu den Schuhen« ankam –, also vorwiegend durch schmückende, dekorative Äußerlichkeiten, die die Mängel der Gesichtszüge des jungen Mannes verdecken sollten.

Die Wissenschaft läßt ihn kalt; kein einziger der Professoren an der Universität Kasan weckt in ihm ein Interesse nach wissenschaftlichen Kenntnissen, das Studium enttäuscht ihn, er schwänzt oft das Kolleg, erscheint nicht zu den Prüfungen, tut er es notgedrungen aber doch, so wird er beschämenderweise als Faulpelz attestiert. Ihn interessiert nur das gesellschaftliche Leben, seine Bemühungen sind darauf gerichtet, ›comme il faut‹ zu sein und im Kreise der jeunesse dorée zu glänzen. Dazu bot sich ihm hier reichlich Gelegenheit.

Kasan spielte damals die Rolle der Hauptstadt des ganzen Wolga- und Kamagebiets, die vornehmste Gesellschaft strömte hier zusammen, um sich zu vergnügen, nach dem einförmigen Landleben zu zerstreuen und für eine standesgemäße Partie der Töchter zu sorgen. Das Leben dieser adligen Kreise floß leicht und unbekümmert dahin, die Menschen, deren Existenz durch die Leibeigenschaft gesichert war, machten sich über den nächsten Tag keine Sorgen. Ein junger Mann, der zur Gesellschaft gehörte, brauchte sich um Essen und Trinken nicht zu kümmern, »da es wenigstens zwanzig bis dreißig Familienhäuser gab, in denen täglich viele Leute ohne jede Einladung zum Mittagessen zusammenkamen; man brauchte nur das Haus zu wählen, in dem man sich am besten zu vergnügen hoffte. Bald nach der Beendigung des Mittagessens, nachdem man Kaffee getrunken und über alles Mögliche geplaudert hatte, ging man nach Hause, um zu schlafen, was allgemeiner Brauch war. Am Abend begab man sich wieder zu irgendeinem Empfang oder auf einen Ball, die immer mit einem lukullischen Abendessen beschlossen wurden. Diese Gelage zogen sich weit über Mitternacht hin, und nicht selten brachen die Gäste erst um fünf, sechs Uhr morgens auf. Am nächsten Tage stand man dann nicht vor zwölf Uhr auf, um mit dem gleichen Tagesablauf zu beginnen.«

Ein solch offenes Haus führte auch Tolstois Tante P. I. Juschkowa. Die empfängliche Natur des jungen Mannes paßte sich bald der Lebensweise dieses aristokratischen Kreises an. A. Ostrowskij berichtet: »Die alteingesessenen Kasaner erinnern sich noch, ihn auf allen Bällen, Gesellschaftsabenden und Zusammenkünften der großen Welt gesehen zu haben; er wurde überall eingeladen, tanzte immer, war aber weit davon entfernt, ein Günstling der Damen zu sein, wie es seine Altersgenossen, adlige Studenten, waren; an ihm war stets eine seltsame Eckigkeit und Schüchternheit bemerkbar. Er war ein griesgrämiger Kauz, plump und stets verlegen, den niemand anders als der ›Philosoph‹ oder ›Ljowotschka‹ nannte.«

Fast dasselbe berichten über den Studenten Tolstoi auch die Damen, die in jungen Jahren auf den Bällen in Kasan mit ihm getanzt haben. Sinaida Thiele, geborene Molostwowa, pflegte zu sagen, seine Gesellschaft sei »zwar interessant gewesen, wirkte aber bedrückend«. N. A. Sarnizyna schrieb 1896, Tolstoi wäre »auf Bällen immer zerstreut« gewesen, weshalb »viele jungen Mädchen ihn sogar für einen langweiligen Kavalier« gehalten hätten.

Obwohl Tolstoi überall ein gern gesehener Gast, obgleich er eine gute Partie, Graf, ›comme il faut‹ ist, langweilen sich die jungen Mädchen in seiner Gesellschaft, die sie als bedrückend empfinden. Sich der Mängel seines Äußeren quälend bewußt, ist er eckig und schüchtern, plump, verlegen. Er hat keinen Erfolg.

Sein Versuch, der jungen Sinaida Molostwowa den Hof zu machen, endet mit einem Fiasko, was ihn zur Verzweiflung bringt.

Da er die Möglichkeit, sich in dichterischem Schaffen auszuleben, noch nicht entdeckt hat, sucht er einen anderen Weg der Überwindung seines Mißerfolgs und beschließt, zu Hause, auf seinem Gut Jasnaja Poljana, das er geerbt hat, sich ernstlich der Wissenschaft zu widmen. Den Anlaß dazu gab ihm sein Kommentar zu Rousseaus »Discours«, den er auf Anregung eines Universitätsprofessors schrieb, und zwar willig schrieb, weil er hier selbständig arbeiten und denken konnte.

Nach diesem ersten Mißerfolg beim Weibe sucht er Rettung in der Flucht nach Jasnaja Poljana, ganz so wie er später bei seinem ergebnislos verlaufenen Roman mit dem Kosakenmädchen Marianna nach Silistria, vor Valeria Arsenjewa ins Ausland flieht.

Auch nach der Abreise von Kasan ist er bestrebt, Mittel und Wege zu finden, um »sie« zu erwerben. Wenn ihm in Kasan weder sein ›comme il faut‹, noch sein Titel dazu verholfen hat, so wird er es jetzt auf andere Weise versuchen, er wird Gelehrter werden. Und schon arbeitet er ein Studienprogramm aus »für die nächsten zwei Jahre auf dem Lande«. In diesen zwei Jahren müsse er:

1. Den ganzen Kursus der juristischen Wissenschaften durchstudieren, die für das Schlußexamen an der Universität notwendig sind.

2. Die praktische Medizin und einen Teil der theoretischen studieren.

3. Sprachen studieren: Französisch, Russisch, Deutsch, Englisch, Italienisch und Lateinisch.

4. Landwirtschaft studieren, sowohl theoretisch als praktisch.

5. Geschichte, Geographie und Statistik studieren.

6. Mathematik studieren, Gymnasialkursus.

7. Dissertation schreiben.

8. Einen mittleren Grad der Vollkommenheit in Musik und Malerei erreichen.

9. Lebensregeln aufschreiben.

10. Einige Kenntnisse in den Naturwissenschaften erwerben.

11. Aufsätze aus allen Fächern schreiben, die er studiert.

Seine leidenschaftliche Natur begnügt sich nicht mit einer bestimmten, fest umrissenen Wissenschaft, er muß sich in ganz kurzer Zeit auf allen Gebieten des menschlichen Wissens Kenntnisse erwerben, um sich als ungewöhnlicher Mensch hervorzutun, vor allem aber sich »Lebensregeln« vorzeichnen; er fährt fort:

»Für das ganze Leben ein Verzeichnis meiner Pflichten und Beschäftigungen ausarbeiten, schriftlich den Zweck meines Lebens und Lebensregeln niederlegen, die dann immer, ohne Abweichung einzuhalten sind.«

Eine der Hauptregeln, die er sich nach seiner Ankunft in Jasnaja Poljana zur Richtschnur stellte, lautete: »Betrachte den Umgang mit Frauen als ein unvermeidliches Übel des gesellschaftlichen Lebens und suche sie nach Möglichkeit zu meiden.«

Diese Regel erscheint besonders bedeutsam, wenn wir an seine Flucht aus Kasan infolge seiner unglücklichen Liebe zu Sinaida Molostwowa denken.

An die Stelle der Generalsuniform, des äußeren ›comme il faut‹ sollen nun innere Eigenschaften treten: Wissen, Bildung, ethisches Streben. Zu letzterem sollen ihm die Lebensregeln verhelfen, durch die die bedingten Umgangsvorschriften der großen Welt ersetzt werden. Ist es dem Knaben und Jüngling nicht gelungen, »sie« durch ein gepflegtes Äußere zu erobern, so führt innere Selbstvervollkommnung vielleicht eher zum Ziele.

Alle Anstrengungen, »sie« durch ein vollendetes ›comme il faut‹ und vornehme Herkunft zu gewinnen, sind fehlgeschlagen. So entstand ein innerer Bruch, der zu Tolstois Flucht aus Kasan aufs Land führte.


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